Fibromyalgie
Die Schmerzkrankheit erkennen und erfolgreich behandeln
Das Leben mit Fibromyalgie bringt viele Beschwerden und Einschränkungen mit sich und wirft vor allem viele Fragen auf. Hier erfahren Sie das Wichtigste über Symptome, Schmerzen, Behandlungsmethoden, Medikamente, Dauer und Heilbarkeit der chronischen Schmerz-Krankheit.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Fibromyalgie “
Das Leben mit Fibromyalgie bringt viele Beschwerden und Einschränkungen mit sich und wirft vor allem viele Fragen auf. Hier erfahren Sie das Wichtigste über Symptome, Schmerzen, Behandlungsmethoden, Medikamente, Dauer und Heilbarkeit der chronischen Schmerz-Krankheit.
Lese-Probe zu „Fibromyalgie “
Fibromyalgie von Dr. med. Eberhard Wormer Vorwort
„Ein für den Schmerz fühlloser Mensch wäre ein ebenso kontradiktorischer Begriff, als ein unsterblicher Mensch." Voltaire
Fibromyalgie, ein Leiden, das bis heute viele Fragen aufwirft: Warum peinigt mich dieser
Schmerz? Warum diese Angst, Schlaflosigkeit, Erschöpfung und Zermürbung?
Leiden gehört zur menschlichen Befindlichkeit, conditio humana. Aber muss es gerade ein so rätselhaftes wie hartnäckiges Schmerzleiden wie Fibromyalgie sein? Ein Leiden, das bis heute viele Fragen aufwirft: Warum ich? Warum peinigt mich unberechenbarer Schmerz? Warum diese Angst, Schlaflosigkeit, Erschöpfung und Zermürbung? Warum glaubt man mir nicht? Warum sind viele Ärzte so hilflos? Warum hilft keine Medizin? Gibt es einen Ausweg aus dem Labyrinth der Schmerzen und Beschwerden? Was hilft wirklich? Ja, es stimmt. Der ganze Mensch leidet, wenn die unerklärliche Schmerzkrankheit von ihm Besitz ergreift. Es ist, als ob im Inneren eine Schmerzmaschine ein quälendes Eigenleben entwickelt hat. Eine Höllenmaschine, die Teufelskreise von Angst und Schmerz, Erschöpfung und Depression, Rückzug und Isolation, von Zweifeln und Verzweiflung antreibt. Man möchte Sand in ihr Getriebe streuen. Man möchte sie zum Stillstand bringen. Das vorliegende Buch befasst sich einmal mehr mit den ungelösten Fragen zur Fibromyalgie. Es versucht, Antworten darauf finden, was der Schmerz und speziell die Schmerzkrankheit sein könnten, was die Ursachenforschung herausgefunden hat, wie man Fibromyalgie erkennt und behandeln kann. Einige Antworten treffen sicher zu: Das Fibromyalgie-Syndrom existiert wirklich; Fibromyalgie ist keine genuin organische oder psychische Erkrankung; es gibt keine einfachen und schnellen Lösungen für schmerzkranke Menschen.
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Wenn Sie selbst Betroffener sind, werden Sie in diesem Buch vieles finden, was Sie bereits wissen. Und es ist durchaus möglich, dass Sie auf manchen Gebieten mehr wissen als der Autor dieses Buches. Dann sind Sie bereits auf dem Weg, der nach aktuellem Wissensstand die bestmögliche Strategie gegen die Schmerzkrankheit ist: Sie helfen sich selbst. Tatsächlich betonen die FMS-Leitlinien der deutschen Schmerzexperten den hohen Stellenwert, der der Eigeninitiative und Beharrlichkeit der Patienten zukommt. Es wird kein schneller Sieg über die Schmerzkrankheit möglich sein. Aber es gibt berechtigte Hoffnung, dass mit kleinen Etappensiegen und durch Überwindung kleinerer Niederlagen Fortschritte in Richtung einer besseren Lebensqualität erzielt werden können. In jedem Fall sollten Sie von der Medizin und von Ärzten nicht allzu viel Hilfe erwarten. Für Hunderttausende Schmerzkranke stehen hierzulande nur wenige Ärzte und Einrichtungen zur Verfügung, die eine fundierte Schmerztherapie anbieten können.
In diesem Buch finden Sie Informationen zur Geschichte der mysteriösen Schmerzkrankheit, Theorien, Fakten und Fiktionen zur Fibromyalgie sowie eine Darstellung von Symptomen und Funktionsstörungen. Darüber hinaus werden medizinische Therapie- und Selbsthilfekonzepte vorgestellt. Eine wichtige Rolle spielen die aktuellen FMS-Leitlinien (2012). Dabei steht vor allem die Diskussion über die Wirksamkeit der Behandlungsangebote im Vordergrund. Naturgemäß setzen Schmerzkranke alles daran, ihren unerträglichen Zustand zu verbessern, weshalb nicht alle Therapien berücksichtigt werden können. Die Auswahl im vorliegenden Buch beschränkt sich auf die in Bezug auf Wirksamkeit und Anwendung am besten untersuchten Maßnahmen.
So viel ist sicher: Die erfolgreiche Therapie der Fibromyalgie ist eine individuell für Sie maßgeschneiderte Therapie. Sie selbst sind die erste Instanz für Therapieentscheidungen. Der Sieg über die Schmerzkrankheit wird darin bestehen, niemals nachzulassen, sie zu bekämpfen.
Dr. med. Eberhard J. Wormer
Leitmotiv Schmerz
Das sind die zentralen Fragen: Was ist Schmerz, was könnte er sein, was könnte er bedeuten? Solche Fragen kann nur der schmerzgeplagte Mensch selbst beantworten. Er allein ist der Experte. Dennoch haben Künstler, Philosophen und Wissenschaftler versucht, das Phänomen Schmerz darzustellen und zu ergründen. Chronischer Schmerz bleibt ein zerstörerisches Phänomen. Und doch gibt es Hoffnung.
Was ist Schmerz?
Schmerz ist privat. Schmerzen sind Privatsache. Nur die Person, die vom Schmerz betroffen ist, leidet qualvoll. Niemand sonst kann wirklich nachempfinden oder sicher wissen, wie groß dieses Leid ist. Und doch ist Schmerz sinnvoll und lebenswichtig: Das Warnsignal schmerzvoller Empfindung wird durch einen körperlichen Reiz produziert und ist Hinweiszeichen auf drohende Gefahren für Leib und Leben, die es schleunigst zu beseitigen gilt. Ohne Schmerzgefühl wären wir Angreifern jeder Art und tödlichen Verletzungen ausgeliefert. Wir könnten nicht lange überleben. Was geschieht aber, wenn das komplizierte System der Schmerzempfindung aus den Fugen gerät? Was geschieht mit uns, wenn Störungen der Schmerzverarbeitung auftreten? Was geschieht, wenn man überhaupt keine Schmerzen empfinden kann oder von Dauerschmerzen gepeinigt wird? Wie entstehen solche Störungen? Gibt es Abhilfe?
All diese Fragen stellen sich Menschen mit chronischen Schmerzzuständen immer wieder. Und sie suchen verzweifelt nach Antworten. Sie sind gezwungen, Tag für Tag mit Schmerzen zu leben, deren zermürbende Wirkung anderen verborgen bleibt, deren elende Wahrheit von anderen angezweifelt wird und deren Prognose ungewiss ist. Solche Fragen stellen sich Menschen, die an chronischen Schmerzen unbekannter Ursache leiden: Fibromyalgie oder FMS (Fibromyalgie-Syndrom).
Der private Schmerz
„Alles am Schmerz ist subjektiv, nichts ist messbar. Was wir nicht persönlich empfunden haben, können wir uns kaum vorstellen, und was uns die Leidenden sagen, richtet sich nur an unsere Einbildungskraft: Ihr Schmerz brennt sie, er ist wie ein feuriges Eisen, das in ihrem Fleische bohrt. Er zerreißt sie mit einer Zange. Er dreht ihre Nerven um. Er ist wie ein Hundebiss, der etwas herausreißt. Wir begreifen die Dauer dieser Hölle nicht, und wenn wir Genaueres erfahren wollen, so gelingt es dem Kranken nicht, über diese Worte hinauszugehen." René Leriche
Was ist Schmerz?
Jeder glaubt zu wissen, was Schmerz ist. Versucht man das Schmerzphänomen zu definieren, zeigt sich rasch, dass dieses Unterfangen schwieriger ist als vermutet. Es handelt sich offenbar um eine sehr komplexe Empfindung.
Der Mediziner H. C. Busch versuchte, dieser Komplexität gerecht zu werden: „Schmerz hat in der Form gesteigerten Bewusstseins einerseits Wahrnehmungscharakter, andererseits hat er im Schmerzverhalten, zum Beispiel durch Abwehrbewegungen, einen Willensaspekt. Im Wesentlichen ist Schmerz jedoch ein Gefühlsprozess, ein so starkes Gefühl, dass es auch zu Veränderungen der Atmung und des Kreislaufs kommen kann." (2002) Körperlicher Schmerz ist demnach vielfältig und ambivalent: Wahrnehmung, Empfindung, Gefühl, Abwehrreaktion, physiologische Funktionsveränderung. Schmerz ist multidimensional und vielgestaltig.
Der Philosoph C. Grüny bezeichnet Schmerz als „zerstörte Erfahrung": Mit Schmerz ist nichts anzufangen (... und doch kann man ihn nicht ignorieren). Schmerz ist der Inbegriff des Negativen und Widrigen (... und doch muss man etwas gegen ihn unternehmen). Schmerz ist unproduktiv und destruktiv (... und doch provoziert er Reaktionen). Schmerz ist nicht sinnvoll (... und doch aktiviert er Sinnsuche und Schuldzuweisung). Mit einem Wort: Schmerz ist inakzeptabel!
Mit Sinn- und Bedeutungsfragen, mit Schuldzuweisungen oder Psychologisierung oder Moral ist unerklärlichen Schmerzzuständen nicht beizukommen. Es gibt keinen zornigen Gott, der dem Individuum die schmerzvolle Strafe aufbürdet. Ebenso wenig sind die Sturmflut und das Erdbeben vom christlichen, jüdischen oder islamischen Gott verhängte Strafurteile für Ungläubige und Sünder. Die Frage „Warum leide gerade ich an Schmerzen?" ist nicht zu beantworten. Sie ist falsch gestellt. Schmerz und Leidensfähigkeit sind Zustands- und Erfahrungsmöglichkeiten jedes Menschen. Sie kennzeichnen die humane Befindlichkeit.
Akuter und chronischer Schmerz
Akuter Schmerz ist ein lebenswichtiges Warnzeichen, das vor körperlichen und auch psychischen Risiken schützt. Schmerz tritt beispielsweise unmittelbar bei Verletzungen, als Zahn-, Bauch-, Kopfschmerzen, als Muskelkater, bei Verbrennungen, extremer Hitze, Kälte oder Lautstärke auf. Die Schmerzen sind meist zeitlich und örtlich begrenzt. Sie verschwinden, wenn man die Ursache der Schmerzen beseitigt oder Störungen behandelt. Und manchmal verschwinden Schmerzen so plötzlich, wie sie gekommen sind.
Chronischer Schmerz kann sich aus akutem Schmerz entwickeln, Wochen oder Monate anhalten, sich schubweise verstärken oder abschwächen, lokalisiert oder im Körper ausgebreitet auftreten. Lässt sich keine Ursache finden, die man beseitigen kann, ist der Schmerz selbst die Krankheit. Chronischer Schmerz führt zu komplexen Veränderungen in wichtigen Körpersystemen (Hormone, Nervensystem, Kreislauf, Motorik) und zu Anpassungsvorgängen an die vermeintliche Dauerbedrohung, die in der Regel stressbedingte Funktionsstörungen und schwer beeinflussbare Beeinträchtigungen nach sich zieht.
Die schmerzhafte Erfahrung
Betrachtet man die eigene Alltagserfahrung, so wird jeder Mensch, der Schmerz erleidet, bestätigen, dass er Schmerz als „negativ", widrig und als Bruch seiner bisherigen „Normalität" im bislang schmerzfreien Körper erlebt. Schmerzhafte körperliche Erfahrung trifft das Individuum in der Regel unvorbereitet. Dieses „Getroffenwerden" vom Schmerz wird eine ohnmächtige Reaktion der unmöglichen Flucht oder vergeblichen Rückzugsbewegung hervorrufen. Davon zeugt der Ausdruck des Leidens. Da man dem eigenen Schmerz nicht entfliehen kann, wird er nach und nach die Aufmerksamkeit vollständig auszufüllen suchen. Schmerz totalisiert. Und mit zunehmender Stärke der Schmerzen wird der Mensch sich gezwungenermaßen auf ihn konzentrieren müssen: Die Außenwelt verliert an Bedeutung, die innere Dominanz des Schmerzerlebens verstärkt sich. Der Betroffene erlebt sich mehr und mehr als Gefangener seiner schmerzhaften Welt. Entwickelt sich akuter Schmerz zur Schmerzkrankheit, droht aus der Störung eine allmähliche Zerstörung des Individuums zu entstehen. Ein Bruch mit allem, was zuvor als normales menschliches Leben gelten konnte. Man denke an die Folter.
Schmerzerfahrung bleibt immer an den materiellen Körper gebunden. Schmerz steckt im Fleisch. Dass Schmerz eine biologisch sinnvolle Erfahrung ist, wurde von klugen Köpfen tatsächlich angezweifelt: Fluchtreflexe oder vegetative Reaktionen auf Verletzung mögen biologisch sinnvoll sein - nicht aber die chaotische Schmerzreaktion mit Auflösung sensomotorischer Strukturzusammenhänge, Zerfall und Apathie. Und immer wenn der Mensch vom Unerklärlichen und „Sinnlosen" getroffen wird, gibt es Erklärungs- und Sinngebungsversuche: Götter bestrafen die Schuld des Menschen, Schmerz und Gewalt werden zivilisatorisch glorifiziert. Schuldgefühle sind im christlich-jüdischen Kulturkreis omnipräsent. Schmerz ist Strafe.
Eine der wenigen spezifischen Beschreibungen der Schmerzerfahrung, die Allgemeingültigkeit beanspruchen, ist die medizinische Schmerzdeutung. Aber für den Schmerzkranken ist eine solche Festlegung problematisch: Er kann zwar auf Erklärungsangebote der Medizin mit Therapie- und Heilungsversprechen zurückgreifen, dennoch werden die Angebote nicht der subjektiven Schmerzerfahrung gerecht. Der Patient weiß mehr über den einen Schmerz als jeder Arzt. Alternativen zur medizinischen Sichtweise sind aber kaum zugelassen.
„Bin ich es noch,der da unkenntlich brennt?"
Rainer Maria Rilke
Die schmerzhafte Empfindung
Die wissenschaftliche Erkenntnistheorie, Wahrnehmungspsychologie und -physiologie begreifen Schmerz als Empfindung. Schmerzrezeptoren und -reize sind am Schmerzgeschehen beteiligt. Sie verstärken sich proportional zur Intensität des Verletzungsreizes und lassen mit der Abheilung nach. Ein solches Modell erklärt aber weder die Beschwerden der Trigeminusneuralgie noch den chronischen Schmerz bei Fibromyalgie.
Im Jahr 1965 stellten Melzack und Wall die Theorie der „Schmerzschwelle" (Gate-control-Theorie) auf: Im Hinterhorn des Rückenmarks soll es eine Art „Schranke" geben, die Empfindungssignale passieren lässt, filtern oder blockieren kann. Dieses Modell war lange sehr populär, hat sich aber als unzureichend erwiesen. Auch ein Schmerzzentrum im Gehirn, etwa analog zum Sehzentrum, ist bislang nicht gefunden worden. Die aktuelle neurophysiologische Forschung geht davon aus, dass an der Schmerzempfindung das gesamte zentrale Nervensystem beteiligt ist und dass die Lernfähigkeit des Gehirns (Neuroplastizität) ein wesentlicher Mechanismus der Schmerzverarbeitung ist. Die Fähigkeit, jede Art von Lernprozessen zu vollziehen und „im Fleisch zu speichern".
Schmerzempfindungen sind philosophisch-abstrakt oder naturwissenschaftlich schwer zu fassen. Am besten ist Schmerz als prominente Wahrnehmung im Kontinuum der Empfindungen zu verstehen. Er ist eine besondere „Farbe" im Spektrum des Berührungsempfindens, im Extremfall Lust oder Schmerz. Die Empfindungsqualität reicht von kaum merklich bis unerträglich. Schmerz ist eine dem Individuum zugehörige einzigartige Empfindung.
Ist das Erlebnis des Schmerzes ein Gefühl oder eine Empfindung? Diese Frage versuchten Psychologen und Psychiater zu ergründen. Ein Gefühl ist nicht nur ein passiver Zustand, sondern bringt den Menschen in Bewegung: Wenn Schmerzen auftreten, wird der Mensch aktiv versuchen, die Ursache zu beseitigen. Er wird nach Wegen suchen, um sie loszuwerden. In diesem Sinne wäre Schmerz mehr als bloße Sinnesempfindung. Er wäre eine „Leistung" des Organismus.
Die Philosophen Bergson und Klages betrachten Empfindung und Gefühl als unterschiedliche Prozesse: Empfindung wird demnach dem körperlich lokalisierbaren Erlebnis von Widerstand, Intensität, Druck und Gegendruck zugeordnet, während Gefühl in der metaphysischen Seele existiert. Die gefühlte Unlust des Schmerzes ist Ausdruck der Ohnmacht des leidenden Menschen und von der Schmerzhaftigkeit selbst zu unterscheiden. Schmerz erzeugt bei Mensch und Tier gedrückte Stimmung (Depression) und Fluchtneigung. Man entgeht aber dem Schmerz nicht. Er brennt, durchbohrt und sticht das Fleisch. Es bleibt nur der Aufschrei.
Auch der Philosoph Kant geht von einem Kontinuum der Schmerzempfindung aus, deren Sinnhaftigkeit mit der Stärke des Gefühls variiert: „Je stärker die Sinne, bei eben demselben Grade des auf sie geschehenen Einflusses, sich affiziert zu fühlen, desto weniger lehren sie. Umgekehrt: Wenn sie viel lehren sollen, müssen sie mäßig affizieren." Je stärker das Gefühl schmerzvollen Leidens ist, desto sinnloser wird es empfunden.
Vokabular Schmerz
Eine Einführung in die medizinische Diagnostik aus dem Jahr 1610 des Arztes Theodor Majus (May) listet folgende Schmerzqualitäten auf: „Juckend, scharf, prickelnd, stechend, klopfend, beißend, fressend, dehnend, streckend, drückend, pressend, stoßend, durchstechend, durchbohrend, schwimmend, mit Spannungsverlust verbunden, durch Schweregefühl gekennzeichnet, hüpfend, laufend, durch große Kälte gekennzeichnet, Erschöpfungsschmerzen."
Der schmerzvolle Ausdruck
Laokoon gilt als Ikone des schmerzvollen Ausdrucks. Er war Priester des Apollon und des Poseidon in Troja, das die Griechen zehn Jahre erfolglos belagerten. Nach Abzug der Griechen blieb ein großes hölzernes Pferd vor Trojas Mauern zurück.
Laokoon warnte vor einer List der Griechen und mahnte die Trojaner vergebens zur Vorsicht. Als Laokoon in Begleitung seiner Söhne am Meeresstrand ein Stieropfer zu Ehren Poseidons darbrachte, kamen zwei Schlangen über das Meer und griffen an: Die Schlangen verketteten die Leiber des Priesters und seiner Söhne, bissen den jüngeren Sohn in die Brust und den sich vor Schmerz aufbäumenden Laokoon in die Hüfte. Sie umschlangen den älteren Sohn und töteten alle drei. Die Laokoon-Gruppe ist eine virtuose Skulptur der rhodischen Künstler Athanadoros, Hagesandros und Polydoros der klassichen Antike. Im Antlitz des Laokoon verbinden sich der seelische Schmerz des Vaters angesichts seiner tödlich bedrohten Kinder und der extreme physische Schmerz des Individuums im Todeskampf.
Schmerz und Qual sind auch Hauptthemen der Selbstporträts der mexikanischen Malerin Frida Kahlo (1907-1954). Als moderne dramatische Selbstdarstellung des schmerzvollen Ausdrucks gilt das Bild „Die gebrochene Säule", entstanden kurz nach einer Rückenoperation. Es erzeugt eine fast unerträgliche Spannung durch die Betrachtung der Bewegungsunfähigkeit dieser in ein orthopädisches Stützkorsett gezwängten Frau, deren nackte Haut mit Nägeln gespickt ist. Der dargestellte Körper ist in der Mitte aufgerissen, zeigt eine mehrfach gebrochene ionische (Wirbel)Säule von fragiler Stabilität.
Die dargestellte Person befindet sich inmitten der Einsamkeit einer bedrückend wirkenden trostlosen Landschaft des Leidens. Obwohl Tränen über ihre Wangen rinnen, präsentiert sich Frida Kahlo in majestätischer Würde, aufrecht, unbeugsam, klaglos. Sie verzieht keine Augenbraue. Als ob sie uns sagen wollte: Ich werde niemals aufgeben, ich werde kämpfen!
Der schmerzvolle Ausdruck hat zwei Aspekte: vegetative Veränderung im Rahmen einer „Notfallreaktion" (erhöhte Pulsfrequenz, Adrenalinausschüttung, erhöhte Muskelspannung, Erregung) und Appellcharakter (Bewegungen, Aufschrei). Zudem gibt es kulturelle Unterschiede: Die in der indianischen Kultur verwurzelte Künstlerin Frida Kahlo verzieht keine Miene, nur die Tränen kann sie nicht aufhalten. Der Laokoon der antiken Hochkultur zeigt die schmerztypischen Kontraktionen der Gesichtsmuskulatur. Dem chronisch Schmerzkranken der Moderne fehlt häufig jeder körperliche oder verbale Ausdruck für die Schmerzen, die ihn peinigen. Das stumme Leiden der Betroffenen wird kaum von der Außenwelt registriert. Die flehende Bitte um Hilfe, die Bestätigung und Anerkennung des Leidens fallen meist aus.
Der schmerzkranke Mensch
Chronische Schmerzen wirken zerstörerisch auf den ganzen Menschen. Der eigene Bewegungsspielraum wird eingeschränkt. Die Welt schrumpft. Die Wahrnehmung der Realität verändert sich, stimmt nicht mehr mit der Wahrnehmung Außenstehender überein. Eine unüberwindliche Mauer trennt den Schmerzkranken vom Rest der Welt. Chronischer Schmerz verringert auf diffuse Weise die Aktivität des Betroffenen. Raum und Zeit verengen sich. Soziale Beziehungen und Kommunikation schwinden.
Ein Schmerzkranker kann nicht ununterbrochen den schmerzvollen Ausdruck zeigen, der ihm das Mitgefühl seiner Umgebung verschaffen würde. Gerade deshalb zweifelt man an der fühlbaren Existenz seiner Schmerzen. Man wird die Bitte um Schonung ignorieren und versucht sein, ihn als Simulanten hinzustellen. Der schmerzkranke Mensch hat keine Wahl. Er kann seinem Zustand nicht ausweichen, er kann das Unerträgliche nur fatalistisch akzeptieren.
Für den FMS-Patienten ist der Schmerz endlos. Er schwankt in der Intensität, wandert im Körper, kann schubweise kommen und gehen. Er kann so unerträglich werden, dass normale Lebensaktivität zur qualvollen Unmöglichkeit wird. Der Albtraum des FMS-Patienten ist zudem die Gewissheit, dass er zwar hier und da seine Beschwerden günstig beeinflussen kann - aber der Schmerz kann immer wieder alle Bemühungen und Erfolge zunichtemachen.
Schmerzkranke müssen ständig mit erneut einsetzenden heftigen Schmerzen rechnen. Es bleibt nur die Hoffnung auf schrittweise Linderung. Das chronische Schmerzsyndrom gehört zu den größten ungelösten Rätseln der Medizin.
Ein schmerzkranker Mensch, der zum Gefangenen seiner Schmerzerfahrung geworden ist, wird sich mit der Zeit über sein Schmerzsyndrom definieren. Mediziner haben dann häufig das Etikett „Schmerzpersönlichkeit" zur Hand. Fehlt eine Diagnose oder wird das vorliegende Problem gar geleugnet, wird der Betroffene noch stärker in die soziale Isolation getrieben. Widersprüchliche Aussagen der Ärzte verunsichern die Selbstwahrnehmung. Das Leiden nimmt zu. Und vielleicht beginnt der Betroffene, seiner eigenen realen Schmerzempfindung zu misstrauen und den inneren Rückzug anzutreten. Die Außenwelt teilt seinen Schmerz nicht. So wird die unerklärliche Schmerzkrankheit zum namenlosen Übel, zur Illusion oder böswilligen Täuschung degradiert.
© Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Wenn Sie selbst Betroffener sind, werden Sie in diesem Buch vieles finden, was Sie bereits wissen. Und es ist durchaus möglich, dass Sie auf manchen Gebieten mehr wissen als der Autor dieses Buches. Dann sind Sie bereits auf dem Weg, der nach aktuellem Wissensstand die bestmögliche Strategie gegen die Schmerzkrankheit ist: Sie helfen sich selbst. Tatsächlich betonen die FMS-Leitlinien der deutschen Schmerzexperten den hohen Stellenwert, der der Eigeninitiative und Beharrlichkeit der Patienten zukommt. Es wird kein schneller Sieg über die Schmerzkrankheit möglich sein. Aber es gibt berechtigte Hoffnung, dass mit kleinen Etappensiegen und durch Überwindung kleinerer Niederlagen Fortschritte in Richtung einer besseren Lebensqualität erzielt werden können. In jedem Fall sollten Sie von der Medizin und von Ärzten nicht allzu viel Hilfe erwarten. Für Hunderttausende Schmerzkranke stehen hierzulande nur wenige Ärzte und Einrichtungen zur Verfügung, die eine fundierte Schmerztherapie anbieten können.
In diesem Buch finden Sie Informationen zur Geschichte der mysteriösen Schmerzkrankheit, Theorien, Fakten und Fiktionen zur Fibromyalgie sowie eine Darstellung von Symptomen und Funktionsstörungen. Darüber hinaus werden medizinische Therapie- und Selbsthilfekonzepte vorgestellt. Eine wichtige Rolle spielen die aktuellen FMS-Leitlinien (2012). Dabei steht vor allem die Diskussion über die Wirksamkeit der Behandlungsangebote im Vordergrund. Naturgemäß setzen Schmerzkranke alles daran, ihren unerträglichen Zustand zu verbessern, weshalb nicht alle Therapien berücksichtigt werden können. Die Auswahl im vorliegenden Buch beschränkt sich auf die in Bezug auf Wirksamkeit und Anwendung am besten untersuchten Maßnahmen.
So viel ist sicher: Die erfolgreiche Therapie der Fibromyalgie ist eine individuell für Sie maßgeschneiderte Therapie. Sie selbst sind die erste Instanz für Therapieentscheidungen. Der Sieg über die Schmerzkrankheit wird darin bestehen, niemals nachzulassen, sie zu bekämpfen.
Dr. med. Eberhard J. Wormer
Leitmotiv Schmerz
Das sind die zentralen Fragen: Was ist Schmerz, was könnte er sein, was könnte er bedeuten? Solche Fragen kann nur der schmerzgeplagte Mensch selbst beantworten. Er allein ist der Experte. Dennoch haben Künstler, Philosophen und Wissenschaftler versucht, das Phänomen Schmerz darzustellen und zu ergründen. Chronischer Schmerz bleibt ein zerstörerisches Phänomen. Und doch gibt es Hoffnung.
Was ist Schmerz?
Schmerz ist privat. Schmerzen sind Privatsache. Nur die Person, die vom Schmerz betroffen ist, leidet qualvoll. Niemand sonst kann wirklich nachempfinden oder sicher wissen, wie groß dieses Leid ist. Und doch ist Schmerz sinnvoll und lebenswichtig: Das Warnsignal schmerzvoller Empfindung wird durch einen körperlichen Reiz produziert und ist Hinweiszeichen auf drohende Gefahren für Leib und Leben, die es schleunigst zu beseitigen gilt. Ohne Schmerzgefühl wären wir Angreifern jeder Art und tödlichen Verletzungen ausgeliefert. Wir könnten nicht lange überleben. Was geschieht aber, wenn das komplizierte System der Schmerzempfindung aus den Fugen gerät? Was geschieht mit uns, wenn Störungen der Schmerzverarbeitung auftreten? Was geschieht, wenn man überhaupt keine Schmerzen empfinden kann oder von Dauerschmerzen gepeinigt wird? Wie entstehen solche Störungen? Gibt es Abhilfe?
All diese Fragen stellen sich Menschen mit chronischen Schmerzzuständen immer wieder. Und sie suchen verzweifelt nach Antworten. Sie sind gezwungen, Tag für Tag mit Schmerzen zu leben, deren zermürbende Wirkung anderen verborgen bleibt, deren elende Wahrheit von anderen angezweifelt wird und deren Prognose ungewiss ist. Solche Fragen stellen sich Menschen, die an chronischen Schmerzen unbekannter Ursache leiden: Fibromyalgie oder FMS (Fibromyalgie-Syndrom).
Der private Schmerz
„Alles am Schmerz ist subjektiv, nichts ist messbar. Was wir nicht persönlich empfunden haben, können wir uns kaum vorstellen, und was uns die Leidenden sagen, richtet sich nur an unsere Einbildungskraft: Ihr Schmerz brennt sie, er ist wie ein feuriges Eisen, das in ihrem Fleische bohrt. Er zerreißt sie mit einer Zange. Er dreht ihre Nerven um. Er ist wie ein Hundebiss, der etwas herausreißt. Wir begreifen die Dauer dieser Hölle nicht, und wenn wir Genaueres erfahren wollen, so gelingt es dem Kranken nicht, über diese Worte hinauszugehen." René Leriche
Was ist Schmerz?
Jeder glaubt zu wissen, was Schmerz ist. Versucht man das Schmerzphänomen zu definieren, zeigt sich rasch, dass dieses Unterfangen schwieriger ist als vermutet. Es handelt sich offenbar um eine sehr komplexe Empfindung.
Der Mediziner H. C. Busch versuchte, dieser Komplexität gerecht zu werden: „Schmerz hat in der Form gesteigerten Bewusstseins einerseits Wahrnehmungscharakter, andererseits hat er im Schmerzverhalten, zum Beispiel durch Abwehrbewegungen, einen Willensaspekt. Im Wesentlichen ist Schmerz jedoch ein Gefühlsprozess, ein so starkes Gefühl, dass es auch zu Veränderungen der Atmung und des Kreislaufs kommen kann." (2002) Körperlicher Schmerz ist demnach vielfältig und ambivalent: Wahrnehmung, Empfindung, Gefühl, Abwehrreaktion, physiologische Funktionsveränderung. Schmerz ist multidimensional und vielgestaltig.
Der Philosoph C. Grüny bezeichnet Schmerz als „zerstörte Erfahrung": Mit Schmerz ist nichts anzufangen (... und doch kann man ihn nicht ignorieren). Schmerz ist der Inbegriff des Negativen und Widrigen (... und doch muss man etwas gegen ihn unternehmen). Schmerz ist unproduktiv und destruktiv (... und doch provoziert er Reaktionen). Schmerz ist nicht sinnvoll (... und doch aktiviert er Sinnsuche und Schuldzuweisung). Mit einem Wort: Schmerz ist inakzeptabel!
Mit Sinn- und Bedeutungsfragen, mit Schuldzuweisungen oder Psychologisierung oder Moral ist unerklärlichen Schmerzzuständen nicht beizukommen. Es gibt keinen zornigen Gott, der dem Individuum die schmerzvolle Strafe aufbürdet. Ebenso wenig sind die Sturmflut und das Erdbeben vom christlichen, jüdischen oder islamischen Gott verhängte Strafurteile für Ungläubige und Sünder. Die Frage „Warum leide gerade ich an Schmerzen?" ist nicht zu beantworten. Sie ist falsch gestellt. Schmerz und Leidensfähigkeit sind Zustands- und Erfahrungsmöglichkeiten jedes Menschen. Sie kennzeichnen die humane Befindlichkeit.
Akuter und chronischer Schmerz
Akuter Schmerz ist ein lebenswichtiges Warnzeichen, das vor körperlichen und auch psychischen Risiken schützt. Schmerz tritt beispielsweise unmittelbar bei Verletzungen, als Zahn-, Bauch-, Kopfschmerzen, als Muskelkater, bei Verbrennungen, extremer Hitze, Kälte oder Lautstärke auf. Die Schmerzen sind meist zeitlich und örtlich begrenzt. Sie verschwinden, wenn man die Ursache der Schmerzen beseitigt oder Störungen behandelt. Und manchmal verschwinden Schmerzen so plötzlich, wie sie gekommen sind.
Chronischer Schmerz kann sich aus akutem Schmerz entwickeln, Wochen oder Monate anhalten, sich schubweise verstärken oder abschwächen, lokalisiert oder im Körper ausgebreitet auftreten. Lässt sich keine Ursache finden, die man beseitigen kann, ist der Schmerz selbst die Krankheit. Chronischer Schmerz führt zu komplexen Veränderungen in wichtigen Körpersystemen (Hormone, Nervensystem, Kreislauf, Motorik) und zu Anpassungsvorgängen an die vermeintliche Dauerbedrohung, die in der Regel stressbedingte Funktionsstörungen und schwer beeinflussbare Beeinträchtigungen nach sich zieht.
Die schmerzhafte Erfahrung
Betrachtet man die eigene Alltagserfahrung, so wird jeder Mensch, der Schmerz erleidet, bestätigen, dass er Schmerz als „negativ", widrig und als Bruch seiner bisherigen „Normalität" im bislang schmerzfreien Körper erlebt. Schmerzhafte körperliche Erfahrung trifft das Individuum in der Regel unvorbereitet. Dieses „Getroffenwerden" vom Schmerz wird eine ohnmächtige Reaktion der unmöglichen Flucht oder vergeblichen Rückzugsbewegung hervorrufen. Davon zeugt der Ausdruck des Leidens. Da man dem eigenen Schmerz nicht entfliehen kann, wird er nach und nach die Aufmerksamkeit vollständig auszufüllen suchen. Schmerz totalisiert. Und mit zunehmender Stärke der Schmerzen wird der Mensch sich gezwungenermaßen auf ihn konzentrieren müssen: Die Außenwelt verliert an Bedeutung, die innere Dominanz des Schmerzerlebens verstärkt sich. Der Betroffene erlebt sich mehr und mehr als Gefangener seiner schmerzhaften Welt. Entwickelt sich akuter Schmerz zur Schmerzkrankheit, droht aus der Störung eine allmähliche Zerstörung des Individuums zu entstehen. Ein Bruch mit allem, was zuvor als normales menschliches Leben gelten konnte. Man denke an die Folter.
Schmerzerfahrung bleibt immer an den materiellen Körper gebunden. Schmerz steckt im Fleisch. Dass Schmerz eine biologisch sinnvolle Erfahrung ist, wurde von klugen Köpfen tatsächlich angezweifelt: Fluchtreflexe oder vegetative Reaktionen auf Verletzung mögen biologisch sinnvoll sein - nicht aber die chaotische Schmerzreaktion mit Auflösung sensomotorischer Strukturzusammenhänge, Zerfall und Apathie. Und immer wenn der Mensch vom Unerklärlichen und „Sinnlosen" getroffen wird, gibt es Erklärungs- und Sinngebungsversuche: Götter bestrafen die Schuld des Menschen, Schmerz und Gewalt werden zivilisatorisch glorifiziert. Schuldgefühle sind im christlich-jüdischen Kulturkreis omnipräsent. Schmerz ist Strafe.
Eine der wenigen spezifischen Beschreibungen der Schmerzerfahrung, die Allgemeingültigkeit beanspruchen, ist die medizinische Schmerzdeutung. Aber für den Schmerzkranken ist eine solche Festlegung problematisch: Er kann zwar auf Erklärungsangebote der Medizin mit Therapie- und Heilungsversprechen zurückgreifen, dennoch werden die Angebote nicht der subjektiven Schmerzerfahrung gerecht. Der Patient weiß mehr über den einen Schmerz als jeder Arzt. Alternativen zur medizinischen Sichtweise sind aber kaum zugelassen.
„Bin ich es noch,der da unkenntlich brennt?"
Rainer Maria Rilke
Die schmerzhafte Empfindung
Die wissenschaftliche Erkenntnistheorie, Wahrnehmungspsychologie und -physiologie begreifen Schmerz als Empfindung. Schmerzrezeptoren und -reize sind am Schmerzgeschehen beteiligt. Sie verstärken sich proportional zur Intensität des Verletzungsreizes und lassen mit der Abheilung nach. Ein solches Modell erklärt aber weder die Beschwerden der Trigeminusneuralgie noch den chronischen Schmerz bei Fibromyalgie.
Im Jahr 1965 stellten Melzack und Wall die Theorie der „Schmerzschwelle" (Gate-control-Theorie) auf: Im Hinterhorn des Rückenmarks soll es eine Art „Schranke" geben, die Empfindungssignale passieren lässt, filtern oder blockieren kann. Dieses Modell war lange sehr populär, hat sich aber als unzureichend erwiesen. Auch ein Schmerzzentrum im Gehirn, etwa analog zum Sehzentrum, ist bislang nicht gefunden worden. Die aktuelle neurophysiologische Forschung geht davon aus, dass an der Schmerzempfindung das gesamte zentrale Nervensystem beteiligt ist und dass die Lernfähigkeit des Gehirns (Neuroplastizität) ein wesentlicher Mechanismus der Schmerzverarbeitung ist. Die Fähigkeit, jede Art von Lernprozessen zu vollziehen und „im Fleisch zu speichern".
Schmerzempfindungen sind philosophisch-abstrakt oder naturwissenschaftlich schwer zu fassen. Am besten ist Schmerz als prominente Wahrnehmung im Kontinuum der Empfindungen zu verstehen. Er ist eine besondere „Farbe" im Spektrum des Berührungsempfindens, im Extremfall Lust oder Schmerz. Die Empfindungsqualität reicht von kaum merklich bis unerträglich. Schmerz ist eine dem Individuum zugehörige einzigartige Empfindung.
Ist das Erlebnis des Schmerzes ein Gefühl oder eine Empfindung? Diese Frage versuchten Psychologen und Psychiater zu ergründen. Ein Gefühl ist nicht nur ein passiver Zustand, sondern bringt den Menschen in Bewegung: Wenn Schmerzen auftreten, wird der Mensch aktiv versuchen, die Ursache zu beseitigen. Er wird nach Wegen suchen, um sie loszuwerden. In diesem Sinne wäre Schmerz mehr als bloße Sinnesempfindung. Er wäre eine „Leistung" des Organismus.
Die Philosophen Bergson und Klages betrachten Empfindung und Gefühl als unterschiedliche Prozesse: Empfindung wird demnach dem körperlich lokalisierbaren Erlebnis von Widerstand, Intensität, Druck und Gegendruck zugeordnet, während Gefühl in der metaphysischen Seele existiert. Die gefühlte Unlust des Schmerzes ist Ausdruck der Ohnmacht des leidenden Menschen und von der Schmerzhaftigkeit selbst zu unterscheiden. Schmerz erzeugt bei Mensch und Tier gedrückte Stimmung (Depression) und Fluchtneigung. Man entgeht aber dem Schmerz nicht. Er brennt, durchbohrt und sticht das Fleisch. Es bleibt nur der Aufschrei.
Auch der Philosoph Kant geht von einem Kontinuum der Schmerzempfindung aus, deren Sinnhaftigkeit mit der Stärke des Gefühls variiert: „Je stärker die Sinne, bei eben demselben Grade des auf sie geschehenen Einflusses, sich affiziert zu fühlen, desto weniger lehren sie. Umgekehrt: Wenn sie viel lehren sollen, müssen sie mäßig affizieren." Je stärker das Gefühl schmerzvollen Leidens ist, desto sinnloser wird es empfunden.
Vokabular Schmerz
Eine Einführung in die medizinische Diagnostik aus dem Jahr 1610 des Arztes Theodor Majus (May) listet folgende Schmerzqualitäten auf: „Juckend, scharf, prickelnd, stechend, klopfend, beißend, fressend, dehnend, streckend, drückend, pressend, stoßend, durchstechend, durchbohrend, schwimmend, mit Spannungsverlust verbunden, durch Schweregefühl gekennzeichnet, hüpfend, laufend, durch große Kälte gekennzeichnet, Erschöpfungsschmerzen."
Der schmerzvolle Ausdruck
Laokoon gilt als Ikone des schmerzvollen Ausdrucks. Er war Priester des Apollon und des Poseidon in Troja, das die Griechen zehn Jahre erfolglos belagerten. Nach Abzug der Griechen blieb ein großes hölzernes Pferd vor Trojas Mauern zurück.
Laokoon warnte vor einer List der Griechen und mahnte die Trojaner vergebens zur Vorsicht. Als Laokoon in Begleitung seiner Söhne am Meeresstrand ein Stieropfer zu Ehren Poseidons darbrachte, kamen zwei Schlangen über das Meer und griffen an: Die Schlangen verketteten die Leiber des Priesters und seiner Söhne, bissen den jüngeren Sohn in die Brust und den sich vor Schmerz aufbäumenden Laokoon in die Hüfte. Sie umschlangen den älteren Sohn und töteten alle drei. Die Laokoon-Gruppe ist eine virtuose Skulptur der rhodischen Künstler Athanadoros, Hagesandros und Polydoros der klassichen Antike. Im Antlitz des Laokoon verbinden sich der seelische Schmerz des Vaters angesichts seiner tödlich bedrohten Kinder und der extreme physische Schmerz des Individuums im Todeskampf.
Schmerz und Qual sind auch Hauptthemen der Selbstporträts der mexikanischen Malerin Frida Kahlo (1907-1954). Als moderne dramatische Selbstdarstellung des schmerzvollen Ausdrucks gilt das Bild „Die gebrochene Säule", entstanden kurz nach einer Rückenoperation. Es erzeugt eine fast unerträgliche Spannung durch die Betrachtung der Bewegungsunfähigkeit dieser in ein orthopädisches Stützkorsett gezwängten Frau, deren nackte Haut mit Nägeln gespickt ist. Der dargestellte Körper ist in der Mitte aufgerissen, zeigt eine mehrfach gebrochene ionische (Wirbel)Säule von fragiler Stabilität.
Die dargestellte Person befindet sich inmitten der Einsamkeit einer bedrückend wirkenden trostlosen Landschaft des Leidens. Obwohl Tränen über ihre Wangen rinnen, präsentiert sich Frida Kahlo in majestätischer Würde, aufrecht, unbeugsam, klaglos. Sie verzieht keine Augenbraue. Als ob sie uns sagen wollte: Ich werde niemals aufgeben, ich werde kämpfen!
Der schmerzvolle Ausdruck hat zwei Aspekte: vegetative Veränderung im Rahmen einer „Notfallreaktion" (erhöhte Pulsfrequenz, Adrenalinausschüttung, erhöhte Muskelspannung, Erregung) und Appellcharakter (Bewegungen, Aufschrei). Zudem gibt es kulturelle Unterschiede: Die in der indianischen Kultur verwurzelte Künstlerin Frida Kahlo verzieht keine Miene, nur die Tränen kann sie nicht aufhalten. Der Laokoon der antiken Hochkultur zeigt die schmerztypischen Kontraktionen der Gesichtsmuskulatur. Dem chronisch Schmerzkranken der Moderne fehlt häufig jeder körperliche oder verbale Ausdruck für die Schmerzen, die ihn peinigen. Das stumme Leiden der Betroffenen wird kaum von der Außenwelt registriert. Die flehende Bitte um Hilfe, die Bestätigung und Anerkennung des Leidens fallen meist aus.
Der schmerzkranke Mensch
Chronische Schmerzen wirken zerstörerisch auf den ganzen Menschen. Der eigene Bewegungsspielraum wird eingeschränkt. Die Welt schrumpft. Die Wahrnehmung der Realität verändert sich, stimmt nicht mehr mit der Wahrnehmung Außenstehender überein. Eine unüberwindliche Mauer trennt den Schmerzkranken vom Rest der Welt. Chronischer Schmerz verringert auf diffuse Weise die Aktivität des Betroffenen. Raum und Zeit verengen sich. Soziale Beziehungen und Kommunikation schwinden.
Ein Schmerzkranker kann nicht ununterbrochen den schmerzvollen Ausdruck zeigen, der ihm das Mitgefühl seiner Umgebung verschaffen würde. Gerade deshalb zweifelt man an der fühlbaren Existenz seiner Schmerzen. Man wird die Bitte um Schonung ignorieren und versucht sein, ihn als Simulanten hinzustellen. Der schmerzkranke Mensch hat keine Wahl. Er kann seinem Zustand nicht ausweichen, er kann das Unerträgliche nur fatalistisch akzeptieren.
Für den FMS-Patienten ist der Schmerz endlos. Er schwankt in der Intensität, wandert im Körper, kann schubweise kommen und gehen. Er kann so unerträglich werden, dass normale Lebensaktivität zur qualvollen Unmöglichkeit wird. Der Albtraum des FMS-Patienten ist zudem die Gewissheit, dass er zwar hier und da seine Beschwerden günstig beeinflussen kann - aber der Schmerz kann immer wieder alle Bemühungen und Erfolge zunichtemachen.
Schmerzkranke müssen ständig mit erneut einsetzenden heftigen Schmerzen rechnen. Es bleibt nur die Hoffnung auf schrittweise Linderung. Das chronische Schmerzsyndrom gehört zu den größten ungelösten Rätseln der Medizin.
Ein schmerzkranker Mensch, der zum Gefangenen seiner Schmerzerfahrung geworden ist, wird sich mit der Zeit über sein Schmerzsyndrom definieren. Mediziner haben dann häufig das Etikett „Schmerzpersönlichkeit" zur Hand. Fehlt eine Diagnose oder wird das vorliegende Problem gar geleugnet, wird der Betroffene noch stärker in die soziale Isolation getrieben. Widersprüchliche Aussagen der Ärzte verunsichern die Selbstwahrnehmung. Das Leiden nimmt zu. Und vielleicht beginnt der Betroffene, seiner eigenen realen Schmerzempfindung zu misstrauen und den inneren Rückzug anzutreten. Die Außenwelt teilt seinen Schmerz nicht. So wird die unerklärliche Schmerzkrankheit zum namenlosen Übel, zur Illusion oder böswilligen Täuschung degradiert.
© Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Bibliographische Angaben
- Autor: DR. MED. EBERHARD WORMER
- 160 Seiten, teilweise Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 16 x 21,5 cm, Hochwertige Broschur
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828943292
- ISBN-13: 9783828943292
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