Die Zauberer / Fillory Bd.1
Roman
In der geheimen Welt des verbotenen Wissens hat die Macht einen schrecklichen Preis
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Produktinformationen zu „Die Zauberer / Fillory Bd.1 “
In der geheimen Welt des verbotenen Wissens hat die Macht einen schrecklichen Preis
Klappentext zu „Die Zauberer / Fillory Bd.1 “
In der geheimen Welt des verborgenen Wissens hat die Macht einen schrecklich hohen PreisQuentin Coldwater steht kurz vor dem Abschluss der Highschool. Die Schule langweilt ihn - wie ihn eigentlich alles langweilt außer Fillory, das magische Land aus den phantastischen Büchern, die er liebt. Doch plötzlich findet sich Quentin, der gerade noch durch Brooklyn gelaufen ist, selbst in einer magischen Welt wieder, an einer geheimen Zauberschule: Brakebills College. Und auch Fillory gibt es wirklich. Aber es ist keine heile Welt, sondern ein düsterer Ort, von dem eine schreckliche Bedrohung ausgeht. Quentin und seine Freunde begeben sich auf eine gefährliche Reise - und müssen sich einem alles entscheidenden Kampf stellen...
»Fillory verhält sich zu Harry Potter wie ein Glas Whiskey zu einem Becher dünnen Tees. Fest verankert sowohl in der Tradition des Fantasyromans als auch in der der allgemeinen Literatur, spielt er an auf die Welten von Oz und Narnia - auch Harry Potter lässt grüßen. Aber glauben Sie ja nicht, das sei ein Kinderbuch. Grossmans Gefühlswelten sind durch und durch erwachsen, seine Erzählweise düster, gefährlich und voller überraschender Wendungen. Hogwarts war nie so«
George R. R. Martin, Das Lied von Eis und Feuer - A Game of Thrones
Lese-Probe zu „Die Zauberer / Fillory Bd.1 “
Fillory von Lev GrossmanBrooklyn
Quentin übte einen Zaubertrick und keiner bemerkte es.
Gemeinsam schlenderten sie den trostlosen, holprigen Bürgersteig entlang: James, Julia und Quentin. James und Julia gingen Hand in Hand. Daran würde er sich wohl gewöhnen müssen. Quentin trödelte hinter ihnen her, trotzig wie ein kleines Kind. Am liebsten wäre er mit Julia allein gewesen, oder für eine Weile sogar ganz allein, aber man konnte eben nicht alles haben. Darauf schien zu diesem Zeitpunkt jedenfalls alles hinzuweisen.
»Okay!«, rief James über die Schulter hinweg. »Q. Wie lautet unsere Strategie?«
James schien einen sechsten Sinn dafür zu haben, wenn Quentin in Selbstmitleid zu versinken drohte. Quentins Vorstellungsgespräch begann in sieben Minuten. James kam gleich nach ihm an die Reihe.
»Freundlicher, fester Händedruck. Häufiger Blickkontakt. Wenn er sich so richtig wohlfühlt, ziehst du ihm einen Stuhl über den Kopf und ich knacke sein Passwort und schreibe unter seiner E-Mail-Adresse nach Princeton.«
»Verhalte dich einfach ganz normal, Q«, riet Julia.
Ihr welliges dunkles Haar hatte sie im Nacken zu einem Knoten geschlungen. Dass sie immer so nett zu ihm war, machte es irgendwie noch schlimmer.
»Etwas anderes habe ich doch gar nicht vor, oder?«
Während er antwortete, übte Quentin erneut den Zaubertrick. Es war ein ganz einfacher Trick, ein einhändiger Grund- kniff mit einer kleinen Münze. Er übte in seiner Manteltasche, damit keiner es sehen konnte. Er wiederholte ihn noch einmal, jetzt rückwärts.
»Ich wette, ich errate sein Passwort auf Anhieb«, behauptete James. »HappyTiger69.«
»Oder: BadKitty4U.«
... mehr
»Denk dran, der Typ ist schon über fünfzig«, wandte Quentin ein. »Da kann sein Passwort nur password lauten, oder?«
Kaum zu glauben, wie lange das jetzt schon so geht, dachte Quentin. Sie waren erst siebzehn, aber er hatte das Gefühl, James und Julia schon seit einer Ewigkeit zu kennen. Es war Schicksal: Das Schulsystem in Brooklyn siebte die Begabten aus und pferchte sie zusammen. Von den einfach nur Begabten trennte es die absurd Brillanten und schloss diese zu einer Elitegruppe zusammen. Infolgedessen waren sie sich seit der Grundschule immer wieder bei den gleichen Rhetorik- Wettbewerben, regionalen Latein-Examen und exklusiven, speziell konzipierten, ultra-schweren Mathematik-Kursen begegnet. Die strebsamsten aller Streber. Die absoluten Nerds. Jetzt, in der Abschlussklasse, kannte Quentin James und Julia besser als irgendjemanden sonst auf der Welt, einschließlich seiner Eltern, und sie kannten wiederum ihn in- und auswendig. Jeder wusste, was der andere sagen wollte, bevor er es aussprach. Jeder hatte längst vorher gewusst, wer mit wem schlafen würde. Julia - die blasse, sommersprossige, verträumte Julia, die Oboe spielte und sogar mehr über Physik wusste als er - würde niemals mit Quentin schlafen.
Quentin war dünn und lang. Er besaß die Angewohnheit, die Schultern einzuziehen, in dem vergeblichen Versuch, sich gegen eine wie auch immer geartete Himmelskatastrophe zu wappnen, die logischerweise die Hochgewachsenen zuerst treffen würde. Sein schulterlanges Haar gefror in der Kälte zu klumpigen Strähnen. Er hätte nach dem Sport die Geduld aufbringen und es trocknen sollen, vor allem in Anbetracht seines heutigen Aufnahmegesprächs. Die tiefhängenden grauen Wolken verhießen Schnee. Quentin hatte den Eindruck, als inszeniere die Welt speziell für ihn kleine Stillleben der Trübsal: Krähen, die auf Stromleitungen hockten, zertretene Hundescheiße, vom Wind zerstreuter Müll und die Leichen unzähliger nasser Eichenblätter, die auf unzählige Arten von unzähligen Autos und Fußgängern geschändet worden waren.
»Gott, bin ich satt«, stöhnte James. »Ich habe zu viel gegessen. Warum muss ich mich immer so vollstopfen?«
»Weil du ein gieriges Ferkel bist?«, schlug Julia vor. »Weil du es satt hast, deine eigenen Füße zu sehen? Weil dein Bauch bis zum Penis runterhängen soll?«
James verschränkte die Hände hinter dem Kopf, die Finger im welligen, kastanienbraunen Haar, den kamelfarbenen Kaschmirmantel trotz der Novemberkälte weit geöffnet, und rülpste lautstark. Kälte schien ihm nie etwas anhaben zu können. Es war, als spüre er sie nicht. Quentin dagegen fror ständig, als sei er in seinem eigenen, persönlichen Winter gefangen.
James sang, zu einer Melodie irgendwo zwischen dem Weihnachtslied »Good King Wenceslas« und dem Kinderlied »Bingo«:
Es war einmal in alter Zeit
Ein Knab voll Stärke und Mut.
Er schwang ein Schwert und ritt ein Pferd
Und trug den Namen Knut.
»Oh nein!«, quietschte Julia. »Hör auf!«
James hatte das Lied vor Jahren für einen Talentwettbewerb in der Schule geschrieben. Er sang es immer noch gerne und mittlerweile konnten alle es längst im Schlaf. Julia schubste den ungerührt weitersingenden James gegen einen Mülleimer, und als das nicht half, zog sie ihm die Wollmütze ab und schlug ihm damit auf den Kopf.
»Meine Frisur! Meine schöne Bewerbungsfrisur!«
König James, dachte Quentin. Le roi s'amuse.
»Ich will euch ja nicht den Spaß verderben«, bemerkte er, »aber wir haben nur noch zwei Minuten.«
»Oh je, oh je!«, zwitscherte Julia. »Die Herzogin! Wir werden uns verspäten!«
Ich sollte glücklich sein, dachte Quentin. Ich bin jung, ich lebe, ich bin gesund. Meine Eltern sind ziemlich in Ordnung. Mein Vater gibt medizinische Fachliteratur heraus, meine Mutter arbeitet als Werbeillustratorin, auch wenn sie viel lieber Malerin geworden wäre. Ich bin ein etabliertes Mitglied der Mittel-Mittel-Klasse. Nur mein IQ ist höher, als es die meisten Leute überhaupt für möglich halten.
Und doch: Als er so in seinem schwarzen Mantel und seinem grauen Bewerbungsanzug die Fifth Avenue in Brooklyn entlangschlenderte, wusste Quentin, dass er nicht glücklich war. Aber warum nicht? Er hatte doch akribisch alle Ingredienzien des Glücks zusammengetragen. Er hatte die nötigen Rituale vollführt, die Kerzen angezündet, die Opfer gebracht. Doch das Glück weigerte sich zu erscheinen, wie ein ungehorsamer Geist. Ihm fiel nichts mehr ein, was er noch hätte unternehmen können.
Er folgte James und Julia vorbei an Kneipen, Waschsalons, hippen Boutiquen, Handygeschäften mit Neonbeleuchtung und einer Bar, in der alte Leute schon am frühen Nachmittag tranken. Sie passierten eine backsteinbraune Gedenkhalle für Kriegsveteranen mit Plastik-Gartenmöbeln auf dem Bürgersteig vor dem Eingang. Das alles untermauerte nur seine Überzeugung, dass sein wahres Leben, das, welches er eigentlich hätte leben sollen, durch eine kosmische Verwaltungspanne fehlgeleitet worden war. Es war woandershin gelenkt worden, hatte eine andere Person erwischt, und er hatte dafür dieses falsche Instantleben erhalten.
Vielleicht würde sein richtiges Leben in Princeton beginnen. Wieder übte er den Trick mit der Münze in der Manteltasche.
»Spielst du mit deinem Schwanz, Quentin?«, fragte James. Quentin errötete.
»Nein, ich spiele nicht mit meinem Schwanz.«
»Du brauchst dich nicht dafür zu schämen«, beschwichtigte ihn James und klopfte ihm auf die Schulter. »Macht den Kopf frei.«
Der Wind pfiff durch den dünnen Stoff von Quentins Bewerbungsanzug; dennoch knöpfte er seinen Mantel nicht zu. Er ließ sich von der Kälte durchdringen. Es machte ihm nichts aus, er war sowieso längst anderswo.
Er war in Fillory.
Fillory und weiter - so hieß eine Reihe von fünf Romanen des Schriftstellers Christopher Plover, die in den 1930er Jahren in England erschienen waren. Sie handelten von den Abenteuern der fünf Chatwin-Kinder in einem Zauberland, das sie entdeckten, während sie Urlaub bei ihren exzentrischen Verwandten auf dem Land machten. Das heißt, eigentlich waren sie gar nicht im Urlaub. Ihr Vater watete bei Passchendaele bis zu dem Hüften in Schlamm und Blut und ihre Mutter war mit einer geheimnisvollen, vermutlich psychisch bedingten Krankheit in ein Sanatorium eingewiesen worden. Deswegen hatte man die Kinder in aller Eile aufs Land geschickt.
Doch all diese traurigen Ereignisse spielten nur ganz am Rande eine Rolle. Im Vordergrund stand, dass die fünf Kinder drei Jahre lang jeden Sommer ihre verschiedenen Internate verließen und in den Norden Englands zu Onkel und Tante zurückkehrten. Und jedes Mal fanden sie ihren geheimen Weg nach Fillory, wo sie Abenteuer erlebten, verzauberte Länder erkundeten und die dort lebenden friedlichen Wesen gegen bedrohliche und mächtige Feinde verteidigten. Der bizarrste und hartnäckigste aller Gegner war eine verschleierte Gestalt, die nur die Wächterin genannt wurde. Sie besaß Macht über die Zeit und drohte, mit ihren Flüchen ausgerechnet an einem besonders trüben, regnerischen Nachmittag Ende September um Punkt fünf Uhr die Zeit stillstehen zu lassen und ganz Fillory für immer in diesem Moment gefangenzuhalten.
Wie fast alle Kinder hatte Quentin die Fillory-Bücher in der Grundschule gelesen. Doch im Gegensatz zu den anderen - darunter James und Julia - hatte er sie nie hinter sich gelassen. Er versetzte sich immer dann nach Fillory, wenn er die wirkliche Welt nicht ertragen konnte. (Die Fillory- Bücher trösteten ihn einerseits darüber hinweg, dass Julia ihn nicht liebte, waren aber andererseits wahrscheinlich einer der Hauptgründe dafür.) Und tatsächlich müffelten sie ein wenig nach alten englischen Kinderzimmern, und so schämte er sich auch insgeheim, wenn er zu dem Kapitel mit dem Kuschelpferd kam, einer riesigen, sanftmütigen pferdartigen Kreatur, die nachts auf Samthufen durch Fillory trabte und deren Rücken so breit war, dass man darauf schlafen konnte.
Fillory verkörperte damit etwas, das verführerisch und zugleich in gewisser Weise gefährlich war und das Quentin einfach nicht aufgeben konnte. Es schien, als handelten die Fillory-Bände - besonders der erste, Die Welt in den Wänden - vom Lesen an sich. Wenn der älteste Chatwin, der melancholische Martin, den Kasten der großen Standuhr öffnete, die am Ende eines dunklen, schmalen, abgelegenen Flures im Haus seines Onkels aufragte und hinüber nach Fillory schlüpfte (Quentin stellte sich jedes Mal vor, wie er ungeschickt das Pendel beiseiteschob wie das Zäpfchen eines riesigen Rachens), war es, als öffne er den Deckel eines Buches. Eines Buches, das erfüllte, was Bücher immer versprachen, aber nie wirklich hielten: ihn zu entführen, wirklich fortzureißen von dort, wo er sich befand, hin zu einem besseren Ort.
Das Land, das Martin in den Wänden des Hauses seines Onkels entdeckte, war eine Welt in magischem Zwielicht, eine kontrastreiche schwarz-weiß-kahle Landschaft wie aus einem Bilderbuch, mit stachligen Stoppelfeldern und Hügeln mit alten Steinmauern. In Fillory ereignete sich jeden Mittag eine Sonnenfinsternis und die Jahreszeiten konnten hundert Jahre andauern. Kahle Bäume ragten in den Himmel und blassgrüne Meere schwappten an schmale weiße Strände aus Muschelsand. In Fillory besaß alles eine tiefere Bedeutung als in der Wirklichkeit. In Fillory empfand man jeweils die Gefühle, die wirklich zu einer Situation passten. Glück war etwas Greifbares, Wahres, Erreichbares, Mögliches. Es kam, wenn man es rief. Oder besser: Es verließ einen erst gar nicht.
Sie hatten das Haus erreicht und hielten inne. Die Gegend hier mit ihren breiten Bürgersteigen und baumbestandenen Vorgärten wirkte gepflegt. Das Backsteingebäude war das einzige freistehende Haus weit und breit in diesem Viertel, das aus Reihenhäusern mit Sandsteinfronten bestand. Aufgrund seiner Rolle in der blutigen Schlacht von Brooklyn hatte es bescheidene Berühmtheit erworben. Ein wenig vorwurfsvoll schien es auf die Autos, Laternen und umliegenden Häuser zu blicken, in Erinnerung an seine glanzvollen niederländischen Zeiten.
Wäre dies ein Fillory-Roman gewesen - dachte Quentin erneut -, hätte das Haus eine Geheimtür zu einer anderen Welt besessen. Der alte Mann, der es bewohnte, wäre freundlich und exzentrisch und würde seltsame Anspielungen fallenlassen. Kaum würde er Quentin den Rücken zukehren, würde dieser über einen geheimnisvollen Schrank oder einen verzauberten Serviertisch oder irgendetwas Ähnliches stolpern, durch das er mit leichter Verwunderung auf die makellosen Hügel einer anderen Welt blicken konnte.
Doch dies war kein Fillory-Roman.
»Na dann«, sagte Julia. »Zeigt's ihnen!«
Sie trug einen blauen Sergemantel mit einem runden Kragen, in dem sie aussah wie ein französisches Schulmädchen.
»Vielleicht bis nachher in der Bibliothek.«
»Viel Glück!«
Sie stießen mit den Fäusten aneinander. Verlegen senkte Julia den Blick. Sie kannte Quentins Gefühle für sie, und er wusste, dass sie sie kannte. Sie brauchten kein Wort darüber zu verlieren. Er wartete, vorgeblich fasziniert von einem parkenden Auto, während sie James zum Abschied küsste. Sie imitierte voll Ironie die Pose eines altmodischen Starlets, indem sie eine Hand auf seine Brust legte und den Unterschenkel hochwarf. Dann gingen er und James über den Steinfliesenweg zum Eingang.
James legte Quentin unterwegs den Arm um die Schultern.
»Ich weiß, was du denkst, Quentin«, sagte er rau. Quentin war der Größere, aber James war breiter und kräftiger gebaut. Er brachte Quentin aus dem Gleichgewicht. »Du glaubst, niemand versteht dich. Aber ich verstehe dich.« Er drückte Quentins Schulter, fast schon väterlich. »Ich bin der Einzige, der dich versteht.«
Quentin schwieg. Man konnte James beneiden, aber hassen konnte man ihn nicht. Er war nicht nur attraktiv und klug, sondern hatte auch ein weiches, gutes Herz. Mehr als jeder andere, der Quentin je begegnet war, erinnerte ihn James an Martin Chatwin. Aber wenn James ein Chatwin war, was bedeutete das für Quentin? Wer war er? Das wahre Problem im Umgang mit James war, dass er immer als Held aus allem hervorging. Wozu degradierte das seine Mitmenschen? Entweder zu Statisten oder zu Bösewichtern.
Quentin drückte auf den Klingelknopf. Ein leises, blechernes Scheppern ertönte irgendwo in den Tiefen des düsteren Hauses. Ein altmodisches, analoges Klingeln. Quentin listete im Geiste noch einmal seine außerschulischen Leistungen auf, die persönlichen Ziele und so weiter. Er war in jeder Hinsicht hundertprozentig auf dieses Aufnahmegespräch vorbereitet, abgesehen von seiner gefrorenen Frisur vielleicht. Doch jetzt, wo er nur noch die reife Frucht all seiner Vorbereitungen ernten musste, hatte er plötzlich jegliches Interesse daran verloren. Es überraschte ihn nicht. Er war an dieses plötzliche Vakuum gewöhnt, das sich einstellte, wenn man sich abgemüht hatte, um etwas zu erreichen, direkt vor dem Ziel stand - und es dann nicht mehr wollte. Diese Leere erfüllte ihn nur allzu oft. Fast hatte es etwas Beruhigendes, mit welcher Vorhersehbarkeit sie eintrat.
Der Hauseingang wurde von einer bedrückend spießigen Vorstadt-Gittertür versperrt. Orangefarbene und violette Zinnien blühten entgegen jeder gärtnerischen Logik in den schwarzen Beeten rechts und links neben der Eingangstreppe. Merkwürdig, dachte Quentin ohne einen Funken Neugier, dass sie sich bis in den November hinein gerettet haben. Er versteckte seine frierenden Hände in den Mantelärmeln und klemmte die Enden unter die Achseln. Bei dieser Kälte hätte man Schnee erwartet. Stattdessen begann es zu regnen.
Fünf Minuten später regnete es noch immer. Wieder klopfte Quentin an und drückte dann leicht gegen die Tür. Sie öffnete sich einen Spalt und ein warmer Luftzug streifte ihn. Der heimelige, fruchtige Geruch eines fremden Hauses.
»Hallo?«, rief Quentin. Er und James warfen sich einen kurzen Blick zu. Quentin stieß die Tür ganz auf.
»Lass ihm lieber noch eine Minute Zeit.«
»Wie kommt überhaupt einer auf die Idee, seine Freizeit für so etwas zu opfern?«, fragte Quentin. »Der ist garantiert pädophil.«
Die Eingangshalle war dunkel und still. Orientteppiche dämpften jedes Geräusch. James, der draußen stehen geblieben war, lehnte sich noch einmal gegen die Klingel. Nichts rührte sich.
»Ich glaube nicht, dass jemand zu Hause ist«, meinte Quentin, obwohl er sich nicht sicher war, ob James ihn überhaupt hören konnte. Gerade weil James ihm nicht folgte, wuchs sein Verlangen, tiefer in das Haus vorzudringen. Wenn der Leiter der Aufnahmegespräche sich tatsächlich als Wächter zum Zauberland Fillory erwiese, so dachte er, wäre es nur zu schade, dass er keine robusteren Schuhe trug.
Eine Treppe führte nach oben. Links befand sich ein unbenutzt wirkendes Esszimmer für Besucher, rechts ein gemütliches Arbeitszimmer mit lederbezogenen Armsesseln und einem geschnitzten, mannshohen Holzschrank, der separat in einer Ecke stand. Interessant. Eine Wand war zur Hälfte mit einer alten Seekarte bedeckt. Sie war größer als er selbst und wurde von einer kunstvoll gezackten Kompassrose geschmückt. Er fuhr mit einer Hand über die Tapete, auf der Suche nach einem Lichtschalter. In einer Ecke stand ein Korbstuhl, aber er setzte sich nicht.
Vor den Fenstern waren alle Jalousien heruntergelassen, doch das konnte die tiefe Dunkelheit nicht erklären. Diese glich eher einer finsteren Nacht, als sei in dem Moment, als er die Schwelle überschritt, die Sonne untergegangen oder eine Sonnenfinsternis eingetreten. Wie in Zeitlupe betrat Quentin das Zimmer. Gleich würde er hinausgehen und sich durch lautes Rufen bemerkbar machen. Nur noch eine Minute. Er musste wenigstens einmal nachsehen. Die Dunkelheit umgab ihn wie eine prickelnde elektrische Wolke.
Der Schrank war riesig, so groß, dass man hineinklettern konnte. Er legte seine Hand auf den kleinen, angelaufenen Messinggriff. Der Schrank war nicht verschlossen. Ihm zitterten die Finger. Le roi s'amuse. Er konnte sich nicht beherrschen. Ihm schwindelte.
Es war ein Barschrank, gut gefüllt mit einem reichhaltigen Sortiment. Quentin griff über die Reihen der leise klirrenden Flaschen hinweg, bis er das trockene, raue Sperrholz der Rückwand fühlte. Nur zur Sicherheit. Es gab nicht nach, besaß nichts Magisches. Er schloss die Tür, und sein Gesicht brannte vor Scham in der Finsternis. Als er sich umschaute, um sicherzugehen, dass wirklich niemand ihn beobachtet hatte, sah er den Toten auf dem Fußboden.
Eine Viertelstunde später war die Eingangshalle voller Menschen in hektischer Betriebsamkeit. Quentin saß in einer Ecke, in dem Korbstuhl, wie ein Sargträger auf der Beerdigung eines ihm unbekannten Verstorbenen. Er presste den Hinterkopf fest gegen die kühle, harte Wand. James stand neben ihm. Er schien nicht zu wissen, was er mit seinen Händen anfangen sollte. Sie vermieden es, sich anzusehen.
Der alte Mann lag rücklings auf dem Boden. Sein imposanter Bauch ragte rundlich empor, sein Kopf war von wirren grauen Wuschelhaaren umkränzt. Drei Rettungssanitäter hockten neben ihm, zwei Männer und eine Frau. Die Frau war umwerfend, fast unpassend hübsch - ein schriller Kontrast zu der grausigen Szenerie, eine glatte Fehlbesetzung. Die Sanitäter erledigten ihre Arbeit, aber nicht so klinisch- routiniert und blitzschnell wie bei einem lebensrettenden Einsatz. Hier standen sie vor einer anderen Aufgabe, der obligatorischen, aber von vornherein vergeblichen Wiederbelebung. Schließlich murmelten sie leise, packten ihre Utensilien zusammen, rissen Klebestreifen ab, verstauten benutzte Nadeln in einem speziellen Behälter.
Mit einer geübten, kräftigen Bewegung zog einer der Männer den Beatmungsschlauch aus der Leiche. Der Mund des alten Mannes stand offen und Quentin konnte seine leblose graue Zunge sehen. Er roch etwas, von dem er sich zunächst nicht eingestehen wollte, dass es der schwache, bittere Geruch von Kot war.
»Schrecklich«, sagte James, nicht zum ersten Mal.
»Ja«, krächzte Quentin. »wirklich schrecklich.« Seine Lippen und Zähne fühlten sich taub an.
Solange er sich nicht bewegte, konnte ihn niemand weiter in diese Sache hineinziehen. Er versuchte, ruhig zu atmen und sich still zu verhalten. Er blickte starr geradeaus und weigerte sich, die Vorgänge im Arbeitszimmer genauer zu beobachten. Er wusste, er bräuchte nur James anzuschauen, und er würde seinen eigenen seelischen Zustand in ihm widergespiegelt sehen. Ein unendlicher Korridor der Angst, der nirgendwohin führte. Wann sie wohl gehen durften? Er schämte sich, weil er uneingeladen in das Haus eingedrungen war, als habe dies in irgendeiner Weise den Tod des Mannes verursacht.
»Ich hätte ihn nicht als pädophil verdächtigen dürfen«, sagte Quentin reumütig. »Das war nicht richtig.«
»Nein, ganz und gar nicht richtig«, bekräftigte James. Sie redeten langsam, als müssten sie das Sprechen neu erlernen.
Die Sanitäterin erhob sich. Quentin beobachtete sie dabei, wie sie sich reckte, die Handballen in den unteren Rücken stützte und ihren Kopf erst zur einen, dann zur anderen Seite drehte. Sie kam auf sie zu und streifte unterwegs die Gummihandschuhe ab.
»Also«, verkündete sie in lockerem Tonfall, »er ist tot!« Ihrem Akzent nach war sie Engländerin.
Quentin räusperte sich. Er hatte einen Kloß im Hals. Die Frau warf die Handschuhe quer durch das Zimmer und traf genau den Mülleimer.
»Was ist denn mit ihm passiert?«, fragte Quentin.
»Er scheint eine Hirnblutung gehabt zu haben. Ein schöner Tod, wenn man schon sterben muss. Und er musste wohl. Vermutlich war er Alkoholiker.«
Sie deutete eine Trinkbewegung an.
Ihre Wangen waren gerötet, weil sie so lange über der Leiche gekauert hatte. Sie konnte höchstens fünfundzwanzig sein und trug eine dunkelblaue, ordentlich gebügelte Hemdbluse, bei der einer der Knöpfe nicht passte: eine Stewardess auf dem Anschlussflug zur Hölle. Quentin wünschte, sie wäre nicht so begehrenswert gewesen. Irgendwie war es so viel leichter, mit unattraktiven Frauen umzugehen - man ersparte sich den Schmerz ihrer eventuellen Unerreichbarkeit. Aber sie war nicht unattraktiv. Sie war blass und dünn und irritierend schön, mit einem breiten, überaus sinnlichen Mund.
»Hm.« Quentin wusste nicht, was er sagen sollte. »Das tut mir leid.«
»Was tut Ihnen leid?«, fragte sie. »Haben Sie ihn umgebracht? «
»Nein, ich bin wegen eines Aufnahmegesprächs hier. Er hat die Vorstellungsrunden für Princeton geleitet.«
»Also, worüber regen Sie sich auf?«
Quentin zögerte. Er musste falsch verstanden haben, worum es in ihrem Gespräch ging. Er stand auf, was er eigentlich längst hätte getan haben sollen, als sie auf ihn zukam. Er überragte sie um einiges. Selbst unter den gegebenen Umständen, dachte er, tritt sie ganz schön forsch auf für eine Sanitäterin. Schließlich ist sie nicht einmal Ärztin. Er wollte schon einen Blick auf ihre Brust werfen, auf der Suche nach einem Namensschild, unterließ es aber, damit sie ihn nicht dabei erwischte, wie er ihren Busen anstarrte.
»Ich trauere auch nicht um ihn persönlich«, erwiderte Quentin nach einiger Überlegung, »aber ich empfinde eine gewisse Achtung vor dem menschlichen Leben im Allgemeinen. Obwohl ich ihn nicht kannte, kann ich daher sagen, dass mir sein Tod leid tut.«
»Und wenn er ein schlechter Mensch war? Beispielsweise ein Pädophiler.«
Sie hatte ihn belauscht.
»Kann sein. Vielleicht war er aber auch nett. Vielleicht sogar ein großer Wohltäter.«
»Kann sein.«
»Sie haben wohl oft mit Verstorbenen zu tun?« Aus dem Augenwinkel heraus erkannte Quentin flüchtig, dass James mit erstauntem Gesichtsausdruck die Konversation verfolgte.
»Na ja, im Grunde sind wir eher dazu da, die Menschen am Leben zu erhalten. Behauptet man jedenfalls.«
»Bestimmt ein schwerer Beruf.«
»Schon, aber die Toten sind die einfacheren Patienten.«
»Ruhiger.«
»Genau.«
Der Ausdruck in ihren Augen passte nicht so recht zu ihren Worten. Sie musterte ihn.
»Quentin?«, mischte sich James ein. »Lass uns jetzt lieber gehen.«
»Warum haben Sie es denn so eilig?«, fragte die Frau. Sie sah Quentin unverwandt in die Augen. Im Gegensatz zu den meisten anderen schien sie sich mehr für ihn als für James zu interessieren. »Warten Sie einen Augenblick, ich glaube, der Mann hat etwas für Sie hinterlassen.«
Sie nahm zwei große braune Umschläge von einem Marmorbeistelltisch. Quentin runzelte die Stirn.
»Ich glaube nicht, dass die für uns sind.«
»Lass uns jetzt lieber gehen«, sagte James.
»Sie wiederholen sich«, bemerkte die Sanitäterin.
James öffnete die Haustür. Die eisige Luft wirkte wie ein heilsamer Schock. Sie fühlte sich so normal an. Das war es, was Quentin brauchte: gewöhnliche Normalität. Und nicht dieses ... was immer es sein mochte.
»Nein, im Ernst«, beharrte die Frau. »Ich glaube, Sie sollten sie an sich nehmen. Es könnte wichtig sein.«
Immer noch sah sie Quentin ins Gesicht. Alle Geräusche um sie herum waren verstummt. Durch die offene Tür pfiff der kalte Wind, und allmählich wurde es auch feucht. Und nur wenige Schritte von ihnen entfernt lag eine Leiche.
»So, jetzt müssen wir aber wirklich gehen«, drängte James. »Vielen Dank. Ich bin sicher, Sie haben alles getan, was in Ihrer Macht stand.«
Die dunklen Haare der hübschen Sanitäterin waren rechts und links zu dicken Zöpfen geflochten. Sie trug einen glänzenden gelben Emailring und eine originelle antike Armbanduhr aus Silber. Ihre Nase und ihr Kinn waren zart und spitz. Sie war ein blasser, dünner, schöner Todesengel, und sie hielt zwei braune Umschläge in der Hand, auf der mit Textmarker in Druckbuchstaben ihre Namen standen. Möglicherweise Kopien, persönliche Empfehlungen. Aus irgendeinem Grund, vielleicht nur, weil er wusste, dass James es nicht tun würde, nahm Quentin den mit seinem Namen an.
»Na schön! Auf Wiedersehen!«, trällerte die Sanitäterin, machte rasch kehrt, ging ins Haus zurück und schloss die Tür. Sie blieben allein auf der Eingangstreppe zurück.
»Okay«, sagte James, atmete durch die Nase ein und anschließend kräftig wieder aus.
Quentin nickte, als stimme er irgendetwas zu, das James gesagt hatte. Langsam kehrten sie über den Plattenweg zum Bürgersteig zurück. Quentin fühlte sich immer noch ein wenig benommen und hatte keine große Lust, mit James zu reden.
»Hör mal«, begann James. »Du hättest den Umschlag vielleicht lieber nicht annehmen sollen.«
»Ich weiß«, antwortete Quentin.
»Du könntest ihn immer noch zurückbringen. Ich meine, stell dir vor, jemand erfährt davon?«
»Wie sollte es jemand herausfinden?«
»Keine Ahnung.«
»Wer weiß, was drinsteckt? Es könnte nützlich sein.«
»Ach so! Dann haben wir also Glück gehabt, dass der Kerl gestorben ist!«, erwiderte James gereizt.
Sie gingen bis zum Ende des Blocks, ohne ein weiteres Wort miteinander zu reden. Jeder war sauer auf den anderen, ohne es zugeben zu wollen. Der nasse Bürgersteig war dunkelgrau, die Regenwolken am Himmel hellgrau. Quentin plagten Gewissensbisse, weil er den Umschlag mitgenommen hatte. Er war wütend auf sich selbst, weil er zugegriffen hatte, und wütend auf James, weil er seinen abgelehnt hatte.
»Wir sehen uns dann später«, sagte James zum Abschied. »Ich muss jetzt zu Julia, sie erwartet mich in der Bibliothek.«
»Stimmt.«
Sie schüttelten sich förmlich die Hände. Es fühlte sich seltsam endgültig an. Langsam schlenderte Quentin die First Street hinunter. Ein Mann war in dem Haus gestorben, das er eben verlassen hatte. Es fühlte sich immer noch an wie ein Traum. Er erkannte - und schämte sich noch mehr -, dass er im Grunde ganz froh war, heute nicht sein Aufnahmegespräch für Princeton über sich ergehen lassen zu müssen.
Es dämmerte. Die Sonne versank bereits hinter der dichten Wolkendecke, die Brooklyn umhüllte. Zum ersten Mal seit einer Stunde dachte er wieder an all das, was er heute noch zu tun hatte: die Physikaufgaben, das Geschichtsreferat, seine E-Mails, den Abwasch, die schmutzige Wäsche. Das Gewicht seiner Pflichten zog ihn hinunter in den dunklen Schacht des Alltags. Er würde seinen Eltern erklären müssen, was geschehen war, und sie würden ihm - auf eine Art und Weise, die er nie richtig erklären und daher auch nie wirklich abwehren konnte - Schuldgefühle einimpfen. Alles würde so sein wie immer. Er dachte an Julia und James, die sich in der Bibliothek trafen. Julia musste an ihrem Referat über Westliche Zivilisation für Mr. Karras arbeiten, einem Sechswochenprojekt, das sie in zwei schlaflosen Tagen abschließen würde, sie konnte das. So brennend er sich auch wünschte, sie wäre seine und nicht James' Freundin, so wenig konnte er sich vorstellen, wie er sie für sich gewinnen könnte. In der plausibelsten seiner vielen Phantasien starb James, plötzlich und schmerzlos, und Julia sank ihm leise schluchzend in die Arme.
Im Gehen löste Quentin die mit rotem Faden umwickelte Klammer, mit der der Umschlag verschlossen war. Er erkannte sofort, dass dieser weder Kopien noch irgendein offizielles Dokument enthielt. Der Umschlag enthielt ein Notizbuch. Es sah alt aus; die Ecken abgestoßen, bis sie rund und glatt waren, der Deckel stockfleckig.
Auf der ersten, mit Füllfederhalter beschriebenen Seite stand:
Der Zauber von Fillory
Fillory und weiter, Buch sechs
Die Jahre hatten die Tinte verblassen lassen. Doch Der Zauber von Fillory hieß keines der Bücher von Christopher Plover, so viel wusste Quentin. Und jeder richtige Bücherwurm wusste sowieso, dass die Fillory-Serie nur fünf Bücher umfasste.
Als er die Seite umblätterte, fiel ein weißer, einmal in der Mitte gefalteter Zettel heraus. Der Wind trug ihn davon. Er blieb für einen Moment an einem schmiedeeisernen Parkzaun hängen, bevor er erneut von einem Windstoß weggeweht wurde.
In diesem Straßenblock gab es einen Gemeinschaftsgarten, einen dreieckigen Zipfel Land, der zu schmal und verwinkelt war, um den Spekulanten zum Opfer zu fallen. Da die Frage nach dem Eigentümer in ein sumpfiges Loch juristischer Mehrdeutigkeit führte, war das Grundstück vor Jahren von einem Kollektiv engagierter Anwohner übernommen worden, die den für Brooklyn typischen unfruchtbaren Sand herausgebaggert und durch dicken, fruchtbaren Lehm aus dem Hinterland New Yorks ersetzt hatten. Eine Weile lang zogen sie Kürbisse, Tomaten und Frühlingszwiebeln und harkten japanische Ziergärten, aber in letzter Zeit hatten sie den Garten vernachlässigt, so dass zähes Stadtunkraut Wurzeln geschlagen hatte. Es breitete sich rasant aus und erstickte seine zarteren, exotischeren Konkurrenten. In diesem verschlungenen Dickicht verschwand die Notiz.
So spät im Jahr waren alle Pflanzen verwelkt oder im Absterben begriffen, sogar das Unkraut, und Quentin watete hindurch, bis zur Hüfte im Gestrüpp. Trockene Stängel verhakten sich an seinen Hosenbeinen und mit seinen Lederschuhen zertrat er knirschend braune Glasscherben. Ihm ging durch den Kopf, dass das Blatt womöglich nur die Telefonnummer der Sanitäterin trug. Der Garten war schmal, aber erstaunlich langgestreckt. Drei, vier imposante Bäume wuchsen dort, und je weiter Quentin vordrang, desto düsterer und undurchdringlicher wurde das Dickicht.
Er erhaschte einen Blick auf den Zettel, der hoch oben an einer von welkem Wein überwucherten Pergola hing. Quentin befürchtete, er würde über den hinteren Teil des Zaunes fliegen, ehe er ihn erwischte. Sein Handy klingelte: sein Vater. Quentin ignorierte den Anruf. Aus den Augenwinkeln heraus meinte er, etwas hinter dem Farndickicht entlanghuschen zu sehen, doch als er sich umblickte, war es verschwunden. Er kämpfte sich durch abgestorbene Gladiolen, Petunien, schulterhohe Sonnenblumen, Rosenbüsche - trockene, starre Stängel und Blüten, im Tod zu dekorativen Tüllornamenten gefroren.
Seinem Gefühl nach musste er sich jetzt in Höhe der Seventh Avenue befinden. Doch er drang immer weiter vor, wobei er Gott weiß was für giftige Pflanzen streifte. Oh nein, bloß kein beschissener Giftefeu, der hätte ihm gerade noch gefehlt. Merkwürdigerweise ragten zwischen all den welken Pflanzen noch hier und da einige frische grüne auf. Weiß der Himmel, wo sie ihre Nahrung herbekamen. Plötzlich lag ein süßlicher Geruch in der Luft.
Er hielt inne. Auf einmal war es ganz still. Kein Autohupen, keine aufgedrehten Radios, keine Sirenen. Sein Handy hatte aufgehört zu klingeln. Es war bitterkalt und seine Finger fühlten sich taub an. Sollte er umkehren oder weitergehen? Er zwängte sich weiter durch eine Hecke hindurch, wobei er wegen der kratzigen Zweige die Augen schloss und das Gesicht verzog. Er stolperte über irgendetwas, einen alten Stein. Plötzlich wurde ihm übel. Er schwitzte.
Als er die Augen wieder öffnete, stand er am Rande einer riesigen, weitläufigen, vollkommen ebenen grünen Rasenfläche, die von Bäumen umgeben war. Der Geruch nach frischem Gras war überwältigend. Die Sonne schien ihm heiß ins Gesicht.
Die Sonne. Sie stand im falschen Winkel. Und wo zum Teufel waren die Wolken? Der Himmel war gleißend blau. Quentins Gleichgewichtssinn war völlig aus dem Lot. Ihm wurde speiübel. Er hielt ein paar Sekunden lang die Luft an. Dann blies er eiskalte Winterluft aus seinen Lungen und atmete stattdessen warme Sommerluft ein. Sie war gesättigt mit Blütenstaub. Er nieste.
Inmitten der weitläufigen Rasenfläche stand ein großes Haus aus honigfarbenem Stein und grauem Schiefer, geschmückt mit Schornsteinen, Giebeln, Türmen, Dächern und Nebendächern. In der Mitte, über dem Haupthaus, ragte würdevoll ein hoher Uhrenturm auf, der sogar Quentin erstaunte, weil er so gar nicht zu dem Gebäude passte, das ansonsten wie ein Privathaus aussah. Die Uhr war im venezianischen Stil gestaltet: ein einziger spitzer Zeiger kreiste auf einem Blatt mit vierundzwanzig Ziffern. Über einem Flügel erhob sich eine mit Grünspan überzogene Kupferkuppel, die wie ein Observatorium aussah. Zwischen Haus und Rasen erstreckte sich ein Garten mit hübsch gestalteten Terrassenbeeten, Büschen, Hecken und Springbrunnen.
Quentin war sich relativ sicher, dass er nur einige Sekunden lang ganz still stehen bleiben musste, damit alles wieder in seinen normalen Zustand zurückkehrte. Er fragte sich, ob er gerade Opfer eines fatalen neurologischen Fehlprozesses wurde. Vorsichtig spähte er über die Schulter zurück. Keine Spur von dem Garten hinter ihm, nur einige große, dicht belaubte Eichen, die Vorhut eines offenbar recht ansehnlichen Waldes. Kalter Schweiß rann ihm unter den Achseln hervor und lief über den Brustkorb. Es war heiß.
Quentin ließ seine Tasche auf den Rasen fallen und schlüpfte aus seinem Mantel. Ein Vogel durchbrach müde zwitschernd die Stille. Ein Stück von Quentin entfernt lehnte ein großer, dünner Teenager an einem Baum, rauchte eine Zigarette und beobachtete ihn.
Er schien ungefähr in Quentins Alter zu sein. Er trug ein Hemd mit spitzem Kragen und schmalen, blassrosa Streifen. Er sah Quentin nicht an, sondern zog an seiner Zigarette und blies den Rauch in die Sommerluft. Die Hitze schien ihm nichts auszumachen.
»Hey!«, rief ihm Quentin zu.
Jetzt sah der Junge zu ihm herüber. Er nickte Quentin kurz zu, antwortete aber nicht.
Quentin ging zu ihm hinüber, so lässig er konnte. Er versuchte, sich seine Ratlosigkeit nicht anmerken zu lassen. Sogar ohne seinen Mantel schwitzte er wie ein Bär. Er fühlte sich wie ein viel zu elegant gekleideter Engländer, der einen skeptischen Inseleingeborenen zu beeindrucken versucht. Aber eines musste er unbedingt wissen.
»Ist das ...?« Quentin räusperte sich. »Sind wir hier in Fillory?«, fragte er schließlich und blinzelte in die grelle Sonne.
Der junge Mann sah Quentin sehr ernsthaft an und zog dann noch einmal lange an seiner Zigarette, dann schüttelte er langsam den Kopf und atmete dabei den Rauch aus.
»Nein«, sagte er. »Außerhalb von New York.«
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»Denk dran, der Typ ist schon über fünfzig«, wandte Quentin ein. »Da kann sein Passwort nur password lauten, oder?«
Kaum zu glauben, wie lange das jetzt schon so geht, dachte Quentin. Sie waren erst siebzehn, aber er hatte das Gefühl, James und Julia schon seit einer Ewigkeit zu kennen. Es war Schicksal: Das Schulsystem in Brooklyn siebte die Begabten aus und pferchte sie zusammen. Von den einfach nur Begabten trennte es die absurd Brillanten und schloss diese zu einer Elitegruppe zusammen. Infolgedessen waren sie sich seit der Grundschule immer wieder bei den gleichen Rhetorik- Wettbewerben, regionalen Latein-Examen und exklusiven, speziell konzipierten, ultra-schweren Mathematik-Kursen begegnet. Die strebsamsten aller Streber. Die absoluten Nerds. Jetzt, in der Abschlussklasse, kannte Quentin James und Julia besser als irgendjemanden sonst auf der Welt, einschließlich seiner Eltern, und sie kannten wiederum ihn in- und auswendig. Jeder wusste, was der andere sagen wollte, bevor er es aussprach. Jeder hatte längst vorher gewusst, wer mit wem schlafen würde. Julia - die blasse, sommersprossige, verträumte Julia, die Oboe spielte und sogar mehr über Physik wusste als er - würde niemals mit Quentin schlafen.
Quentin war dünn und lang. Er besaß die Angewohnheit, die Schultern einzuziehen, in dem vergeblichen Versuch, sich gegen eine wie auch immer geartete Himmelskatastrophe zu wappnen, die logischerweise die Hochgewachsenen zuerst treffen würde. Sein schulterlanges Haar gefror in der Kälte zu klumpigen Strähnen. Er hätte nach dem Sport die Geduld aufbringen und es trocknen sollen, vor allem in Anbetracht seines heutigen Aufnahmegesprächs. Die tiefhängenden grauen Wolken verhießen Schnee. Quentin hatte den Eindruck, als inszeniere die Welt speziell für ihn kleine Stillleben der Trübsal: Krähen, die auf Stromleitungen hockten, zertretene Hundescheiße, vom Wind zerstreuter Müll und die Leichen unzähliger nasser Eichenblätter, die auf unzählige Arten von unzähligen Autos und Fußgängern geschändet worden waren.
»Gott, bin ich satt«, stöhnte James. »Ich habe zu viel gegessen. Warum muss ich mich immer so vollstopfen?«
»Weil du ein gieriges Ferkel bist?«, schlug Julia vor. »Weil du es satt hast, deine eigenen Füße zu sehen? Weil dein Bauch bis zum Penis runterhängen soll?«
James verschränkte die Hände hinter dem Kopf, die Finger im welligen, kastanienbraunen Haar, den kamelfarbenen Kaschmirmantel trotz der Novemberkälte weit geöffnet, und rülpste lautstark. Kälte schien ihm nie etwas anhaben zu können. Es war, als spüre er sie nicht. Quentin dagegen fror ständig, als sei er in seinem eigenen, persönlichen Winter gefangen.
James sang, zu einer Melodie irgendwo zwischen dem Weihnachtslied »Good King Wenceslas« und dem Kinderlied »Bingo«:
Es war einmal in alter Zeit
Ein Knab voll Stärke und Mut.
Er schwang ein Schwert und ritt ein Pferd
Und trug den Namen Knut.
»Oh nein!«, quietschte Julia. »Hör auf!«
James hatte das Lied vor Jahren für einen Talentwettbewerb in der Schule geschrieben. Er sang es immer noch gerne und mittlerweile konnten alle es längst im Schlaf. Julia schubste den ungerührt weitersingenden James gegen einen Mülleimer, und als das nicht half, zog sie ihm die Wollmütze ab und schlug ihm damit auf den Kopf.
»Meine Frisur! Meine schöne Bewerbungsfrisur!«
König James, dachte Quentin. Le roi s'amuse.
»Ich will euch ja nicht den Spaß verderben«, bemerkte er, »aber wir haben nur noch zwei Minuten.«
»Oh je, oh je!«, zwitscherte Julia. »Die Herzogin! Wir werden uns verspäten!«
Ich sollte glücklich sein, dachte Quentin. Ich bin jung, ich lebe, ich bin gesund. Meine Eltern sind ziemlich in Ordnung. Mein Vater gibt medizinische Fachliteratur heraus, meine Mutter arbeitet als Werbeillustratorin, auch wenn sie viel lieber Malerin geworden wäre. Ich bin ein etabliertes Mitglied der Mittel-Mittel-Klasse. Nur mein IQ ist höher, als es die meisten Leute überhaupt für möglich halten.
Und doch: Als er so in seinem schwarzen Mantel und seinem grauen Bewerbungsanzug die Fifth Avenue in Brooklyn entlangschlenderte, wusste Quentin, dass er nicht glücklich war. Aber warum nicht? Er hatte doch akribisch alle Ingredienzien des Glücks zusammengetragen. Er hatte die nötigen Rituale vollführt, die Kerzen angezündet, die Opfer gebracht. Doch das Glück weigerte sich zu erscheinen, wie ein ungehorsamer Geist. Ihm fiel nichts mehr ein, was er noch hätte unternehmen können.
Er folgte James und Julia vorbei an Kneipen, Waschsalons, hippen Boutiquen, Handygeschäften mit Neonbeleuchtung und einer Bar, in der alte Leute schon am frühen Nachmittag tranken. Sie passierten eine backsteinbraune Gedenkhalle für Kriegsveteranen mit Plastik-Gartenmöbeln auf dem Bürgersteig vor dem Eingang. Das alles untermauerte nur seine Überzeugung, dass sein wahres Leben, das, welches er eigentlich hätte leben sollen, durch eine kosmische Verwaltungspanne fehlgeleitet worden war. Es war woandershin gelenkt worden, hatte eine andere Person erwischt, und er hatte dafür dieses falsche Instantleben erhalten.
Vielleicht würde sein richtiges Leben in Princeton beginnen. Wieder übte er den Trick mit der Münze in der Manteltasche.
»Spielst du mit deinem Schwanz, Quentin?«, fragte James. Quentin errötete.
»Nein, ich spiele nicht mit meinem Schwanz.«
»Du brauchst dich nicht dafür zu schämen«, beschwichtigte ihn James und klopfte ihm auf die Schulter. »Macht den Kopf frei.«
Der Wind pfiff durch den dünnen Stoff von Quentins Bewerbungsanzug; dennoch knöpfte er seinen Mantel nicht zu. Er ließ sich von der Kälte durchdringen. Es machte ihm nichts aus, er war sowieso längst anderswo.
Er war in Fillory.
Fillory und weiter - so hieß eine Reihe von fünf Romanen des Schriftstellers Christopher Plover, die in den 1930er Jahren in England erschienen waren. Sie handelten von den Abenteuern der fünf Chatwin-Kinder in einem Zauberland, das sie entdeckten, während sie Urlaub bei ihren exzentrischen Verwandten auf dem Land machten. Das heißt, eigentlich waren sie gar nicht im Urlaub. Ihr Vater watete bei Passchendaele bis zu dem Hüften in Schlamm und Blut und ihre Mutter war mit einer geheimnisvollen, vermutlich psychisch bedingten Krankheit in ein Sanatorium eingewiesen worden. Deswegen hatte man die Kinder in aller Eile aufs Land geschickt.
Doch all diese traurigen Ereignisse spielten nur ganz am Rande eine Rolle. Im Vordergrund stand, dass die fünf Kinder drei Jahre lang jeden Sommer ihre verschiedenen Internate verließen und in den Norden Englands zu Onkel und Tante zurückkehrten. Und jedes Mal fanden sie ihren geheimen Weg nach Fillory, wo sie Abenteuer erlebten, verzauberte Länder erkundeten und die dort lebenden friedlichen Wesen gegen bedrohliche und mächtige Feinde verteidigten. Der bizarrste und hartnäckigste aller Gegner war eine verschleierte Gestalt, die nur die Wächterin genannt wurde. Sie besaß Macht über die Zeit und drohte, mit ihren Flüchen ausgerechnet an einem besonders trüben, regnerischen Nachmittag Ende September um Punkt fünf Uhr die Zeit stillstehen zu lassen und ganz Fillory für immer in diesem Moment gefangenzuhalten.
Wie fast alle Kinder hatte Quentin die Fillory-Bücher in der Grundschule gelesen. Doch im Gegensatz zu den anderen - darunter James und Julia - hatte er sie nie hinter sich gelassen. Er versetzte sich immer dann nach Fillory, wenn er die wirkliche Welt nicht ertragen konnte. (Die Fillory- Bücher trösteten ihn einerseits darüber hinweg, dass Julia ihn nicht liebte, waren aber andererseits wahrscheinlich einer der Hauptgründe dafür.) Und tatsächlich müffelten sie ein wenig nach alten englischen Kinderzimmern, und so schämte er sich auch insgeheim, wenn er zu dem Kapitel mit dem Kuschelpferd kam, einer riesigen, sanftmütigen pferdartigen Kreatur, die nachts auf Samthufen durch Fillory trabte und deren Rücken so breit war, dass man darauf schlafen konnte.
Fillory verkörperte damit etwas, das verführerisch und zugleich in gewisser Weise gefährlich war und das Quentin einfach nicht aufgeben konnte. Es schien, als handelten die Fillory-Bände - besonders der erste, Die Welt in den Wänden - vom Lesen an sich. Wenn der älteste Chatwin, der melancholische Martin, den Kasten der großen Standuhr öffnete, die am Ende eines dunklen, schmalen, abgelegenen Flures im Haus seines Onkels aufragte und hinüber nach Fillory schlüpfte (Quentin stellte sich jedes Mal vor, wie er ungeschickt das Pendel beiseiteschob wie das Zäpfchen eines riesigen Rachens), war es, als öffne er den Deckel eines Buches. Eines Buches, das erfüllte, was Bücher immer versprachen, aber nie wirklich hielten: ihn zu entführen, wirklich fortzureißen von dort, wo er sich befand, hin zu einem besseren Ort.
Das Land, das Martin in den Wänden des Hauses seines Onkels entdeckte, war eine Welt in magischem Zwielicht, eine kontrastreiche schwarz-weiß-kahle Landschaft wie aus einem Bilderbuch, mit stachligen Stoppelfeldern und Hügeln mit alten Steinmauern. In Fillory ereignete sich jeden Mittag eine Sonnenfinsternis und die Jahreszeiten konnten hundert Jahre andauern. Kahle Bäume ragten in den Himmel und blassgrüne Meere schwappten an schmale weiße Strände aus Muschelsand. In Fillory besaß alles eine tiefere Bedeutung als in der Wirklichkeit. In Fillory empfand man jeweils die Gefühle, die wirklich zu einer Situation passten. Glück war etwas Greifbares, Wahres, Erreichbares, Mögliches. Es kam, wenn man es rief. Oder besser: Es verließ einen erst gar nicht.
Sie hatten das Haus erreicht und hielten inne. Die Gegend hier mit ihren breiten Bürgersteigen und baumbestandenen Vorgärten wirkte gepflegt. Das Backsteingebäude war das einzige freistehende Haus weit und breit in diesem Viertel, das aus Reihenhäusern mit Sandsteinfronten bestand. Aufgrund seiner Rolle in der blutigen Schlacht von Brooklyn hatte es bescheidene Berühmtheit erworben. Ein wenig vorwurfsvoll schien es auf die Autos, Laternen und umliegenden Häuser zu blicken, in Erinnerung an seine glanzvollen niederländischen Zeiten.
Wäre dies ein Fillory-Roman gewesen - dachte Quentin erneut -, hätte das Haus eine Geheimtür zu einer anderen Welt besessen. Der alte Mann, der es bewohnte, wäre freundlich und exzentrisch und würde seltsame Anspielungen fallenlassen. Kaum würde er Quentin den Rücken zukehren, würde dieser über einen geheimnisvollen Schrank oder einen verzauberten Serviertisch oder irgendetwas Ähnliches stolpern, durch das er mit leichter Verwunderung auf die makellosen Hügel einer anderen Welt blicken konnte.
Doch dies war kein Fillory-Roman.
»Na dann«, sagte Julia. »Zeigt's ihnen!«
Sie trug einen blauen Sergemantel mit einem runden Kragen, in dem sie aussah wie ein französisches Schulmädchen.
»Vielleicht bis nachher in der Bibliothek.«
»Viel Glück!«
Sie stießen mit den Fäusten aneinander. Verlegen senkte Julia den Blick. Sie kannte Quentins Gefühle für sie, und er wusste, dass sie sie kannte. Sie brauchten kein Wort darüber zu verlieren. Er wartete, vorgeblich fasziniert von einem parkenden Auto, während sie James zum Abschied küsste. Sie imitierte voll Ironie die Pose eines altmodischen Starlets, indem sie eine Hand auf seine Brust legte und den Unterschenkel hochwarf. Dann gingen er und James über den Steinfliesenweg zum Eingang.
James legte Quentin unterwegs den Arm um die Schultern.
»Ich weiß, was du denkst, Quentin«, sagte er rau. Quentin war der Größere, aber James war breiter und kräftiger gebaut. Er brachte Quentin aus dem Gleichgewicht. »Du glaubst, niemand versteht dich. Aber ich verstehe dich.« Er drückte Quentins Schulter, fast schon väterlich. »Ich bin der Einzige, der dich versteht.«
Quentin schwieg. Man konnte James beneiden, aber hassen konnte man ihn nicht. Er war nicht nur attraktiv und klug, sondern hatte auch ein weiches, gutes Herz. Mehr als jeder andere, der Quentin je begegnet war, erinnerte ihn James an Martin Chatwin. Aber wenn James ein Chatwin war, was bedeutete das für Quentin? Wer war er? Das wahre Problem im Umgang mit James war, dass er immer als Held aus allem hervorging. Wozu degradierte das seine Mitmenschen? Entweder zu Statisten oder zu Bösewichtern.
Quentin drückte auf den Klingelknopf. Ein leises, blechernes Scheppern ertönte irgendwo in den Tiefen des düsteren Hauses. Ein altmodisches, analoges Klingeln. Quentin listete im Geiste noch einmal seine außerschulischen Leistungen auf, die persönlichen Ziele und so weiter. Er war in jeder Hinsicht hundertprozentig auf dieses Aufnahmegespräch vorbereitet, abgesehen von seiner gefrorenen Frisur vielleicht. Doch jetzt, wo er nur noch die reife Frucht all seiner Vorbereitungen ernten musste, hatte er plötzlich jegliches Interesse daran verloren. Es überraschte ihn nicht. Er war an dieses plötzliche Vakuum gewöhnt, das sich einstellte, wenn man sich abgemüht hatte, um etwas zu erreichen, direkt vor dem Ziel stand - und es dann nicht mehr wollte. Diese Leere erfüllte ihn nur allzu oft. Fast hatte es etwas Beruhigendes, mit welcher Vorhersehbarkeit sie eintrat.
Der Hauseingang wurde von einer bedrückend spießigen Vorstadt-Gittertür versperrt. Orangefarbene und violette Zinnien blühten entgegen jeder gärtnerischen Logik in den schwarzen Beeten rechts und links neben der Eingangstreppe. Merkwürdig, dachte Quentin ohne einen Funken Neugier, dass sie sich bis in den November hinein gerettet haben. Er versteckte seine frierenden Hände in den Mantelärmeln und klemmte die Enden unter die Achseln. Bei dieser Kälte hätte man Schnee erwartet. Stattdessen begann es zu regnen.
Fünf Minuten später regnete es noch immer. Wieder klopfte Quentin an und drückte dann leicht gegen die Tür. Sie öffnete sich einen Spalt und ein warmer Luftzug streifte ihn. Der heimelige, fruchtige Geruch eines fremden Hauses.
»Hallo?«, rief Quentin. Er und James warfen sich einen kurzen Blick zu. Quentin stieß die Tür ganz auf.
»Lass ihm lieber noch eine Minute Zeit.«
»Wie kommt überhaupt einer auf die Idee, seine Freizeit für so etwas zu opfern?«, fragte Quentin. »Der ist garantiert pädophil.«
Die Eingangshalle war dunkel und still. Orientteppiche dämpften jedes Geräusch. James, der draußen stehen geblieben war, lehnte sich noch einmal gegen die Klingel. Nichts rührte sich.
»Ich glaube nicht, dass jemand zu Hause ist«, meinte Quentin, obwohl er sich nicht sicher war, ob James ihn überhaupt hören konnte. Gerade weil James ihm nicht folgte, wuchs sein Verlangen, tiefer in das Haus vorzudringen. Wenn der Leiter der Aufnahmegespräche sich tatsächlich als Wächter zum Zauberland Fillory erwiese, so dachte er, wäre es nur zu schade, dass er keine robusteren Schuhe trug.
Eine Treppe führte nach oben. Links befand sich ein unbenutzt wirkendes Esszimmer für Besucher, rechts ein gemütliches Arbeitszimmer mit lederbezogenen Armsesseln und einem geschnitzten, mannshohen Holzschrank, der separat in einer Ecke stand. Interessant. Eine Wand war zur Hälfte mit einer alten Seekarte bedeckt. Sie war größer als er selbst und wurde von einer kunstvoll gezackten Kompassrose geschmückt. Er fuhr mit einer Hand über die Tapete, auf der Suche nach einem Lichtschalter. In einer Ecke stand ein Korbstuhl, aber er setzte sich nicht.
Vor den Fenstern waren alle Jalousien heruntergelassen, doch das konnte die tiefe Dunkelheit nicht erklären. Diese glich eher einer finsteren Nacht, als sei in dem Moment, als er die Schwelle überschritt, die Sonne untergegangen oder eine Sonnenfinsternis eingetreten. Wie in Zeitlupe betrat Quentin das Zimmer. Gleich würde er hinausgehen und sich durch lautes Rufen bemerkbar machen. Nur noch eine Minute. Er musste wenigstens einmal nachsehen. Die Dunkelheit umgab ihn wie eine prickelnde elektrische Wolke.
Der Schrank war riesig, so groß, dass man hineinklettern konnte. Er legte seine Hand auf den kleinen, angelaufenen Messinggriff. Der Schrank war nicht verschlossen. Ihm zitterten die Finger. Le roi s'amuse. Er konnte sich nicht beherrschen. Ihm schwindelte.
Es war ein Barschrank, gut gefüllt mit einem reichhaltigen Sortiment. Quentin griff über die Reihen der leise klirrenden Flaschen hinweg, bis er das trockene, raue Sperrholz der Rückwand fühlte. Nur zur Sicherheit. Es gab nicht nach, besaß nichts Magisches. Er schloss die Tür, und sein Gesicht brannte vor Scham in der Finsternis. Als er sich umschaute, um sicherzugehen, dass wirklich niemand ihn beobachtet hatte, sah er den Toten auf dem Fußboden.
Eine Viertelstunde später war die Eingangshalle voller Menschen in hektischer Betriebsamkeit. Quentin saß in einer Ecke, in dem Korbstuhl, wie ein Sargträger auf der Beerdigung eines ihm unbekannten Verstorbenen. Er presste den Hinterkopf fest gegen die kühle, harte Wand. James stand neben ihm. Er schien nicht zu wissen, was er mit seinen Händen anfangen sollte. Sie vermieden es, sich anzusehen.
Der alte Mann lag rücklings auf dem Boden. Sein imposanter Bauch ragte rundlich empor, sein Kopf war von wirren grauen Wuschelhaaren umkränzt. Drei Rettungssanitäter hockten neben ihm, zwei Männer und eine Frau. Die Frau war umwerfend, fast unpassend hübsch - ein schriller Kontrast zu der grausigen Szenerie, eine glatte Fehlbesetzung. Die Sanitäter erledigten ihre Arbeit, aber nicht so klinisch- routiniert und blitzschnell wie bei einem lebensrettenden Einsatz. Hier standen sie vor einer anderen Aufgabe, der obligatorischen, aber von vornherein vergeblichen Wiederbelebung. Schließlich murmelten sie leise, packten ihre Utensilien zusammen, rissen Klebestreifen ab, verstauten benutzte Nadeln in einem speziellen Behälter.
Mit einer geübten, kräftigen Bewegung zog einer der Männer den Beatmungsschlauch aus der Leiche. Der Mund des alten Mannes stand offen und Quentin konnte seine leblose graue Zunge sehen. Er roch etwas, von dem er sich zunächst nicht eingestehen wollte, dass es der schwache, bittere Geruch von Kot war.
»Schrecklich«, sagte James, nicht zum ersten Mal.
»Ja«, krächzte Quentin. »wirklich schrecklich.« Seine Lippen und Zähne fühlten sich taub an.
Solange er sich nicht bewegte, konnte ihn niemand weiter in diese Sache hineinziehen. Er versuchte, ruhig zu atmen und sich still zu verhalten. Er blickte starr geradeaus und weigerte sich, die Vorgänge im Arbeitszimmer genauer zu beobachten. Er wusste, er bräuchte nur James anzuschauen, und er würde seinen eigenen seelischen Zustand in ihm widergespiegelt sehen. Ein unendlicher Korridor der Angst, der nirgendwohin führte. Wann sie wohl gehen durften? Er schämte sich, weil er uneingeladen in das Haus eingedrungen war, als habe dies in irgendeiner Weise den Tod des Mannes verursacht.
»Ich hätte ihn nicht als pädophil verdächtigen dürfen«, sagte Quentin reumütig. »Das war nicht richtig.«
»Nein, ganz und gar nicht richtig«, bekräftigte James. Sie redeten langsam, als müssten sie das Sprechen neu erlernen.
Die Sanitäterin erhob sich. Quentin beobachtete sie dabei, wie sie sich reckte, die Handballen in den unteren Rücken stützte und ihren Kopf erst zur einen, dann zur anderen Seite drehte. Sie kam auf sie zu und streifte unterwegs die Gummihandschuhe ab.
»Also«, verkündete sie in lockerem Tonfall, »er ist tot!« Ihrem Akzent nach war sie Engländerin.
Quentin räusperte sich. Er hatte einen Kloß im Hals. Die Frau warf die Handschuhe quer durch das Zimmer und traf genau den Mülleimer.
»Was ist denn mit ihm passiert?«, fragte Quentin.
»Er scheint eine Hirnblutung gehabt zu haben. Ein schöner Tod, wenn man schon sterben muss. Und er musste wohl. Vermutlich war er Alkoholiker.«
Sie deutete eine Trinkbewegung an.
Ihre Wangen waren gerötet, weil sie so lange über der Leiche gekauert hatte. Sie konnte höchstens fünfundzwanzig sein und trug eine dunkelblaue, ordentlich gebügelte Hemdbluse, bei der einer der Knöpfe nicht passte: eine Stewardess auf dem Anschlussflug zur Hölle. Quentin wünschte, sie wäre nicht so begehrenswert gewesen. Irgendwie war es so viel leichter, mit unattraktiven Frauen umzugehen - man ersparte sich den Schmerz ihrer eventuellen Unerreichbarkeit. Aber sie war nicht unattraktiv. Sie war blass und dünn und irritierend schön, mit einem breiten, überaus sinnlichen Mund.
»Hm.« Quentin wusste nicht, was er sagen sollte. »Das tut mir leid.«
»Was tut Ihnen leid?«, fragte sie. »Haben Sie ihn umgebracht? «
»Nein, ich bin wegen eines Aufnahmegesprächs hier. Er hat die Vorstellungsrunden für Princeton geleitet.«
»Also, worüber regen Sie sich auf?«
Quentin zögerte. Er musste falsch verstanden haben, worum es in ihrem Gespräch ging. Er stand auf, was er eigentlich längst hätte getan haben sollen, als sie auf ihn zukam. Er überragte sie um einiges. Selbst unter den gegebenen Umständen, dachte er, tritt sie ganz schön forsch auf für eine Sanitäterin. Schließlich ist sie nicht einmal Ärztin. Er wollte schon einen Blick auf ihre Brust werfen, auf der Suche nach einem Namensschild, unterließ es aber, damit sie ihn nicht dabei erwischte, wie er ihren Busen anstarrte.
»Ich trauere auch nicht um ihn persönlich«, erwiderte Quentin nach einiger Überlegung, »aber ich empfinde eine gewisse Achtung vor dem menschlichen Leben im Allgemeinen. Obwohl ich ihn nicht kannte, kann ich daher sagen, dass mir sein Tod leid tut.«
»Und wenn er ein schlechter Mensch war? Beispielsweise ein Pädophiler.«
Sie hatte ihn belauscht.
»Kann sein. Vielleicht war er aber auch nett. Vielleicht sogar ein großer Wohltäter.«
»Kann sein.«
»Sie haben wohl oft mit Verstorbenen zu tun?« Aus dem Augenwinkel heraus erkannte Quentin flüchtig, dass James mit erstauntem Gesichtsausdruck die Konversation verfolgte.
»Na ja, im Grunde sind wir eher dazu da, die Menschen am Leben zu erhalten. Behauptet man jedenfalls.«
»Bestimmt ein schwerer Beruf.«
»Schon, aber die Toten sind die einfacheren Patienten.«
»Ruhiger.«
»Genau.«
Der Ausdruck in ihren Augen passte nicht so recht zu ihren Worten. Sie musterte ihn.
»Quentin?«, mischte sich James ein. »Lass uns jetzt lieber gehen.«
»Warum haben Sie es denn so eilig?«, fragte die Frau. Sie sah Quentin unverwandt in die Augen. Im Gegensatz zu den meisten anderen schien sie sich mehr für ihn als für James zu interessieren. »Warten Sie einen Augenblick, ich glaube, der Mann hat etwas für Sie hinterlassen.«
Sie nahm zwei große braune Umschläge von einem Marmorbeistelltisch. Quentin runzelte die Stirn.
»Ich glaube nicht, dass die für uns sind.«
»Lass uns jetzt lieber gehen«, sagte James.
»Sie wiederholen sich«, bemerkte die Sanitäterin.
James öffnete die Haustür. Die eisige Luft wirkte wie ein heilsamer Schock. Sie fühlte sich so normal an. Das war es, was Quentin brauchte: gewöhnliche Normalität. Und nicht dieses ... was immer es sein mochte.
»Nein, im Ernst«, beharrte die Frau. »Ich glaube, Sie sollten sie an sich nehmen. Es könnte wichtig sein.«
Immer noch sah sie Quentin ins Gesicht. Alle Geräusche um sie herum waren verstummt. Durch die offene Tür pfiff der kalte Wind, und allmählich wurde es auch feucht. Und nur wenige Schritte von ihnen entfernt lag eine Leiche.
»So, jetzt müssen wir aber wirklich gehen«, drängte James. »Vielen Dank. Ich bin sicher, Sie haben alles getan, was in Ihrer Macht stand.«
Die dunklen Haare der hübschen Sanitäterin waren rechts und links zu dicken Zöpfen geflochten. Sie trug einen glänzenden gelben Emailring und eine originelle antike Armbanduhr aus Silber. Ihre Nase und ihr Kinn waren zart und spitz. Sie war ein blasser, dünner, schöner Todesengel, und sie hielt zwei braune Umschläge in der Hand, auf der mit Textmarker in Druckbuchstaben ihre Namen standen. Möglicherweise Kopien, persönliche Empfehlungen. Aus irgendeinem Grund, vielleicht nur, weil er wusste, dass James es nicht tun würde, nahm Quentin den mit seinem Namen an.
»Na schön! Auf Wiedersehen!«, trällerte die Sanitäterin, machte rasch kehrt, ging ins Haus zurück und schloss die Tür. Sie blieben allein auf der Eingangstreppe zurück.
»Okay«, sagte James, atmete durch die Nase ein und anschließend kräftig wieder aus.
Quentin nickte, als stimme er irgendetwas zu, das James gesagt hatte. Langsam kehrten sie über den Plattenweg zum Bürgersteig zurück. Quentin fühlte sich immer noch ein wenig benommen und hatte keine große Lust, mit James zu reden.
»Hör mal«, begann James. »Du hättest den Umschlag vielleicht lieber nicht annehmen sollen.«
»Ich weiß«, antwortete Quentin.
»Du könntest ihn immer noch zurückbringen. Ich meine, stell dir vor, jemand erfährt davon?«
»Wie sollte es jemand herausfinden?«
»Keine Ahnung.«
»Wer weiß, was drinsteckt? Es könnte nützlich sein.«
»Ach so! Dann haben wir also Glück gehabt, dass der Kerl gestorben ist!«, erwiderte James gereizt.
Sie gingen bis zum Ende des Blocks, ohne ein weiteres Wort miteinander zu reden. Jeder war sauer auf den anderen, ohne es zugeben zu wollen. Der nasse Bürgersteig war dunkelgrau, die Regenwolken am Himmel hellgrau. Quentin plagten Gewissensbisse, weil er den Umschlag mitgenommen hatte. Er war wütend auf sich selbst, weil er zugegriffen hatte, und wütend auf James, weil er seinen abgelehnt hatte.
»Wir sehen uns dann später«, sagte James zum Abschied. »Ich muss jetzt zu Julia, sie erwartet mich in der Bibliothek.«
»Stimmt.«
Sie schüttelten sich förmlich die Hände. Es fühlte sich seltsam endgültig an. Langsam schlenderte Quentin die First Street hinunter. Ein Mann war in dem Haus gestorben, das er eben verlassen hatte. Es fühlte sich immer noch an wie ein Traum. Er erkannte - und schämte sich noch mehr -, dass er im Grunde ganz froh war, heute nicht sein Aufnahmegespräch für Princeton über sich ergehen lassen zu müssen.
Es dämmerte. Die Sonne versank bereits hinter der dichten Wolkendecke, die Brooklyn umhüllte. Zum ersten Mal seit einer Stunde dachte er wieder an all das, was er heute noch zu tun hatte: die Physikaufgaben, das Geschichtsreferat, seine E-Mails, den Abwasch, die schmutzige Wäsche. Das Gewicht seiner Pflichten zog ihn hinunter in den dunklen Schacht des Alltags. Er würde seinen Eltern erklären müssen, was geschehen war, und sie würden ihm - auf eine Art und Weise, die er nie richtig erklären und daher auch nie wirklich abwehren konnte - Schuldgefühle einimpfen. Alles würde so sein wie immer. Er dachte an Julia und James, die sich in der Bibliothek trafen. Julia musste an ihrem Referat über Westliche Zivilisation für Mr. Karras arbeiten, einem Sechswochenprojekt, das sie in zwei schlaflosen Tagen abschließen würde, sie konnte das. So brennend er sich auch wünschte, sie wäre seine und nicht James' Freundin, so wenig konnte er sich vorstellen, wie er sie für sich gewinnen könnte. In der plausibelsten seiner vielen Phantasien starb James, plötzlich und schmerzlos, und Julia sank ihm leise schluchzend in die Arme.
Im Gehen löste Quentin die mit rotem Faden umwickelte Klammer, mit der der Umschlag verschlossen war. Er erkannte sofort, dass dieser weder Kopien noch irgendein offizielles Dokument enthielt. Der Umschlag enthielt ein Notizbuch. Es sah alt aus; die Ecken abgestoßen, bis sie rund und glatt waren, der Deckel stockfleckig.
Auf der ersten, mit Füllfederhalter beschriebenen Seite stand:
Der Zauber von Fillory
Fillory und weiter, Buch sechs
Die Jahre hatten die Tinte verblassen lassen. Doch Der Zauber von Fillory hieß keines der Bücher von Christopher Plover, so viel wusste Quentin. Und jeder richtige Bücherwurm wusste sowieso, dass die Fillory-Serie nur fünf Bücher umfasste.
Als er die Seite umblätterte, fiel ein weißer, einmal in der Mitte gefalteter Zettel heraus. Der Wind trug ihn davon. Er blieb für einen Moment an einem schmiedeeisernen Parkzaun hängen, bevor er erneut von einem Windstoß weggeweht wurde.
In diesem Straßenblock gab es einen Gemeinschaftsgarten, einen dreieckigen Zipfel Land, der zu schmal und verwinkelt war, um den Spekulanten zum Opfer zu fallen. Da die Frage nach dem Eigentümer in ein sumpfiges Loch juristischer Mehrdeutigkeit führte, war das Grundstück vor Jahren von einem Kollektiv engagierter Anwohner übernommen worden, die den für Brooklyn typischen unfruchtbaren Sand herausgebaggert und durch dicken, fruchtbaren Lehm aus dem Hinterland New Yorks ersetzt hatten. Eine Weile lang zogen sie Kürbisse, Tomaten und Frühlingszwiebeln und harkten japanische Ziergärten, aber in letzter Zeit hatten sie den Garten vernachlässigt, so dass zähes Stadtunkraut Wurzeln geschlagen hatte. Es breitete sich rasant aus und erstickte seine zarteren, exotischeren Konkurrenten. In diesem verschlungenen Dickicht verschwand die Notiz.
So spät im Jahr waren alle Pflanzen verwelkt oder im Absterben begriffen, sogar das Unkraut, und Quentin watete hindurch, bis zur Hüfte im Gestrüpp. Trockene Stängel verhakten sich an seinen Hosenbeinen und mit seinen Lederschuhen zertrat er knirschend braune Glasscherben. Ihm ging durch den Kopf, dass das Blatt womöglich nur die Telefonnummer der Sanitäterin trug. Der Garten war schmal, aber erstaunlich langgestreckt. Drei, vier imposante Bäume wuchsen dort, und je weiter Quentin vordrang, desto düsterer und undurchdringlicher wurde das Dickicht.
Er erhaschte einen Blick auf den Zettel, der hoch oben an einer von welkem Wein überwucherten Pergola hing. Quentin befürchtete, er würde über den hinteren Teil des Zaunes fliegen, ehe er ihn erwischte. Sein Handy klingelte: sein Vater. Quentin ignorierte den Anruf. Aus den Augenwinkeln heraus meinte er, etwas hinter dem Farndickicht entlanghuschen zu sehen, doch als er sich umblickte, war es verschwunden. Er kämpfte sich durch abgestorbene Gladiolen, Petunien, schulterhohe Sonnenblumen, Rosenbüsche - trockene, starre Stängel und Blüten, im Tod zu dekorativen Tüllornamenten gefroren.
Seinem Gefühl nach musste er sich jetzt in Höhe der Seventh Avenue befinden. Doch er drang immer weiter vor, wobei er Gott weiß was für giftige Pflanzen streifte. Oh nein, bloß kein beschissener Giftefeu, der hätte ihm gerade noch gefehlt. Merkwürdigerweise ragten zwischen all den welken Pflanzen noch hier und da einige frische grüne auf. Weiß der Himmel, wo sie ihre Nahrung herbekamen. Plötzlich lag ein süßlicher Geruch in der Luft.
Er hielt inne. Auf einmal war es ganz still. Kein Autohupen, keine aufgedrehten Radios, keine Sirenen. Sein Handy hatte aufgehört zu klingeln. Es war bitterkalt und seine Finger fühlten sich taub an. Sollte er umkehren oder weitergehen? Er zwängte sich weiter durch eine Hecke hindurch, wobei er wegen der kratzigen Zweige die Augen schloss und das Gesicht verzog. Er stolperte über irgendetwas, einen alten Stein. Plötzlich wurde ihm übel. Er schwitzte.
Als er die Augen wieder öffnete, stand er am Rande einer riesigen, weitläufigen, vollkommen ebenen grünen Rasenfläche, die von Bäumen umgeben war. Der Geruch nach frischem Gras war überwältigend. Die Sonne schien ihm heiß ins Gesicht.
Die Sonne. Sie stand im falschen Winkel. Und wo zum Teufel waren die Wolken? Der Himmel war gleißend blau. Quentins Gleichgewichtssinn war völlig aus dem Lot. Ihm wurde speiübel. Er hielt ein paar Sekunden lang die Luft an. Dann blies er eiskalte Winterluft aus seinen Lungen und atmete stattdessen warme Sommerluft ein. Sie war gesättigt mit Blütenstaub. Er nieste.
Inmitten der weitläufigen Rasenfläche stand ein großes Haus aus honigfarbenem Stein und grauem Schiefer, geschmückt mit Schornsteinen, Giebeln, Türmen, Dächern und Nebendächern. In der Mitte, über dem Haupthaus, ragte würdevoll ein hoher Uhrenturm auf, der sogar Quentin erstaunte, weil er so gar nicht zu dem Gebäude passte, das ansonsten wie ein Privathaus aussah. Die Uhr war im venezianischen Stil gestaltet: ein einziger spitzer Zeiger kreiste auf einem Blatt mit vierundzwanzig Ziffern. Über einem Flügel erhob sich eine mit Grünspan überzogene Kupferkuppel, die wie ein Observatorium aussah. Zwischen Haus und Rasen erstreckte sich ein Garten mit hübsch gestalteten Terrassenbeeten, Büschen, Hecken und Springbrunnen.
Quentin war sich relativ sicher, dass er nur einige Sekunden lang ganz still stehen bleiben musste, damit alles wieder in seinen normalen Zustand zurückkehrte. Er fragte sich, ob er gerade Opfer eines fatalen neurologischen Fehlprozesses wurde. Vorsichtig spähte er über die Schulter zurück. Keine Spur von dem Garten hinter ihm, nur einige große, dicht belaubte Eichen, die Vorhut eines offenbar recht ansehnlichen Waldes. Kalter Schweiß rann ihm unter den Achseln hervor und lief über den Brustkorb. Es war heiß.
Quentin ließ seine Tasche auf den Rasen fallen und schlüpfte aus seinem Mantel. Ein Vogel durchbrach müde zwitschernd die Stille. Ein Stück von Quentin entfernt lehnte ein großer, dünner Teenager an einem Baum, rauchte eine Zigarette und beobachtete ihn.
Er schien ungefähr in Quentins Alter zu sein. Er trug ein Hemd mit spitzem Kragen und schmalen, blassrosa Streifen. Er sah Quentin nicht an, sondern zog an seiner Zigarette und blies den Rauch in die Sommerluft. Die Hitze schien ihm nichts auszumachen.
»Hey!«, rief ihm Quentin zu.
Jetzt sah der Junge zu ihm herüber. Er nickte Quentin kurz zu, antwortete aber nicht.
Quentin ging zu ihm hinüber, so lässig er konnte. Er versuchte, sich seine Ratlosigkeit nicht anmerken zu lassen. Sogar ohne seinen Mantel schwitzte er wie ein Bär. Er fühlte sich wie ein viel zu elegant gekleideter Engländer, der einen skeptischen Inseleingeborenen zu beeindrucken versucht. Aber eines musste er unbedingt wissen.
»Ist das ...?« Quentin räusperte sich. »Sind wir hier in Fillory?«, fragte er schließlich und blinzelte in die grelle Sonne.
Der junge Mann sah Quentin sehr ernsthaft an und zog dann noch einmal lange an seiner Zigarette, dann schüttelte er langsam den Kopf und atmete dabei den Rauch aus.
»Nein«, sagte er. »Außerhalb von New York.«
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Autoren-Porträt von Lev Grossman
Lev Grossman wurde 1969 in Boston geboren. Er studierte Literatur an der Universität von Yale. Seit 2002 schreibt er für TIME Magazine. Lev Grossman lebt heute in Brooklyn. Seine Romane 'Die Macht des Codex' und 'FILLORY - Die Zauberer' wurden weltweit zu großenBestsellern. 2011 wurde Lev Grossman mit dem »John W. Campbell Award for Best New Writer« ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lev Grossman
- 2013, 2. Aufl., 624 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Stefanie Schäfer
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596187257
- ISBN-13: 9783596187256
- Erscheinungsdatum: 21.11.2013
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