Frank Wedekind
Eine Männertragödie
Frank Wedekind (1864-1918) war nicht nur seinen Zeitgenossen ein Rätsel. Die Literaturwissenschaft tut sich bis heute schwer mit ihm und sieht ihn irgendwo zwischen Verklemmung und sexueller Obsession. Sein Enkel Anatol Regnier ermöglicht nun...
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Produktinformationen zu „Frank Wedekind “
Frank Wedekind (1864-1918) war nicht nur seinen Zeitgenossen ein Rätsel. Die Literaturwissenschaft tut sich bis heute schwer mit ihm und sieht ihn irgendwo zwischen Verklemmung und sexueller Obsession. Sein Enkel Anatol Regnier ermöglicht nun einen neuen Blick auf diesen zutiefst widersprüchlichen Menschen.
Mit zahlreichen s/w-Abbildungen im Text.
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Klappentext zu „Frank Wedekind “
Frank Wedekind (1864-1918) war nicht nur seinen Zeitgenossen ein Rätsel. Die Literaturwissenschaft tut sich bis heute schwer mit ihm und sieht ihn irgendwo zwischen Verklemmung und sexueller Obsession. Sein Enkel Anatol Regnier ermöglicht nun einen neuen Blick auf diesen zutiefst widersprüchlichen Menschen. Mit zahlreichen s/w-Abbildungen im Text.
Ausstattung: mit 34 s/w-Abbildungen im Text
"Eine glänzend und temperamentvoll geschriebene Frank-Wedekind-Biografie." -- Fritz J. Raddatz in Die Welt
"Anatol Regnier - Sohn von Pamela und Charles Regnier - hat jetzt das private Archiv der Wedekinds geöffnet und, gestützt auf zum großen Teil unveröffentlichte Briefe und Kalendereintragungen, Erinnerung sowie den bereits zugänglichen Briefwechsel mit Freunden und Feinden, eine spannende Familienbiographie geschrieben." -- FAZ
"Es ist die Mischung aus familiärer Verwicklung und erzählender Distanz, die die Perspektive Anatol Regniers so interessant macht (...)" -- Julia Encke in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
"Anatol Regnier - Sohn von Pamela und Charles Regnier - hat jetzt das private Archiv der Wedekinds geöffnet und, gestützt auf zum großen Teil unveröffentlichte Briefe und Kalendereintragungen, Erinnerung sowie den bereits zugänglichen Briefwechsel mit Freunden und Feinden, eine spannende Familienbiographie geschrieben." -- FAZ
"Es ist die Mischung aus familiärer Verwicklung und erzählender Distanz, die die Perspektive Anatol Regniers so interessant macht (...)" -- Julia Encke in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Lese-Probe zu „Frank Wedekind “
Eine Männertragödie von Anatol Regnier1
Die Kammerers und Wedekinds
Während Frau und Kinder noch schlafen und bevor der erste Arbeiter den Fabrikhof betritt, steht Jakob Friedrich Kammerer, der großvater Frank Wedekinds, in Schlafrock und Schürze im garten seines Hauses in Zürich-Riesbach und okuliert seine Rosen. Später schaut er nach den Feigenbüschen, traubenspalieren und gemüsebeeten, überprüft geharkte Kieswege und geht zum gewächshaus, wo er Kakteen züchtet, deren Bedürfnisse er so genau kennt, dass ihn sogar studierte Botaniker um Rat fragen. Dabei hat er keine Schule besucht und sich lesen und Schreiben selbst beigebracht. Was er kann und besitzt, verdankt er seinem lernwillen, seinem geschäftssinn und seinem außerordentlichen Fleiß.
Sein Haus liegt auf einer Anhöhe mit Aussicht auf die Uetliberge und den Zürichsee. im obergeschoss wohnt die Familie, das erdgeschoss beherbergt Fabriksäle, Comptoir, laboratorium und Packstube sowie eine Art Küche zur Zubereitung der Zündmasse für die Schwefelhölzer, die Jakob Friedrich Kammerer als erster in der Schweiz industriell herstellt. es dampft und stinkt, und der Arbeiter, der die Masse mischt, singt revolutionäre lieder, wohl wissend, dass sein Dienstherr sie gerne hört. Denn auch Jakob Friedrich Kammerer ist Revolutionär, hat wegen politischer Umtriebe im gefängnis gesessen und das heimatliche Württemberg als politischer Flüchtling verlassen.
geboren ist er, als zweitjüngstes von sieben geschwistern, am
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24. Februar 1796 in ehningen bei Stuttgart, drei Jahre nach dem tod jenes Herzogs Karl eugen, der den jungen Schiller drangsalierte und den Dichter und Musiker Christian Friedrich Daniel Schubart auf dem Hohen Asperg schmachten ließ, und unweit der Stadt tübingen, wo Schiller, Hegel, Schelling und Hölderlin studierten. Jakob Friedrich Kammerer erfährt solche Förderung nicht. Sein Vater, ein Siebmacher, schickt ihn als Hausierer über land. Der Knabe sammelt, was er an bedrucktem Papier findet, entziffert die Buchstaben und deren Sinn. Später lernt er latein und griechisch und studiert Chemie, alles im Selbstunterricht. er übernimmt die väterliche Siebmacherei, pachtet eine gastwirtschaft, gründet eine Hutfabrik und vertreibt Mostpresstücher und wasserdichte Stiefel aus gummielastikum. er nennt sich Königlich Württembergischer Patenthutfabrikant, aber ist längst nicht zufrieden. Wo ist die tat, die ihn reich und berühmt machen kann?
Die umständlichen, schlecht funktionierenden Feuerzeuge aus Stahl, Feuerstein und Zunder geraten in sein Blickfeld - wer hier neues vorlegt, ist eines großen Marktes sicher. im Schuppen seines Hauses experimentiert Kammerer, bis ihm eine Masse aus Phosphor, Schwefel und Sauerstoff spendendem Kaliumchlorat gelingt, die, am ende eines Spans getrocknet, durch Reiben Feuer fängt. ob er, wie oft behauptet wird, tatsächlich das Phosphorzündholz erfunden hat, ist umstritten, dass er entscheidendes zu seiner entwicklung beitrug, steht außer Frage. Man schreibt das Jahr 1832, Jakob Friedrich Kammerer ist sechsunddreißig Jahre alt, zum zweiten Mal verheiratet, mit vier Söhnen aus erster und einem aus zweiter ehe. in Frankreich regiert der «Bürgerkönig» louis Philippe, in Deutschland fordert das Volk Souveränität beim Hambacher Fest. Kammerer, der nachteile niederer geburt bewusst, schließt sich einer Verschwörergruppe an.
im Juli 1833 wird er verhaftet. Der Vorwurf: versuchter Sturz der württembergischen Regierung. Caroline, seine zweite Frau, verbrennt belastendes Schriftmaterial, als die Häscher bereits im Haus sind. Das verunstaltet ihre Hände, aber bewahrt ihren Mann nicht vor der Untersuchungshaft auf dem Hohen Asperg. Dort erleidet Kammerer einen Blutsturz, führt jedoch seine chemischen Studien fort.
Kammerers element ist das Feuer. Kaum entlassen, gründet er in ludwigsburg eine Streichholzfabrik, gegen den Willen seiner nachbarn, die von Gezündel und Explosionen nichts wissen wollen. Kurze Zeit später verbrennt der Dachstuhl seines Hauses. Kammerer kauft ein neues Haus und erweitert seine Fabrik auf vierundzwanzig Arbeiter und sechshundert Zündholzkistchen täglich, die ein nürnberger Versandhaus bis nach Schweden und nordafrika vertreibt. im Februar 1836 wird er wegen intellektueller Beihilfe zum versuchten Hochverrat angeklagt. Zwei Jahre Festungshaft drohen. Kammerer flieht nach Straßburg und zieht, als ihm die Herstellung von Zündhölzern verweigert wird, nach Zürich, wo er außerhalb der Stadt eine Zündholzfabrik bauen darf, die erste ihrer Art in der Schweiz.
Auch diese geht in Flammen auf. Während die Feuerwehr noch löscht und ehe die nachricht von der Katastrophe sich verbreitet, kauft Kammerer von einem Bauern das land für seine jetzige Fabrik. emilie Kammerer, sein drittes Kind aus zweiter ehe und Mutter Frank Wedekinds, geboren am 8. Mai 1840, wird in der Wiege aus dem obergeschoss des brennenden Hauses herabgelassen - ein Umstand, den sie später stets mit Stolz erwähnt. Am ende ihres lebens verfasst sie einen Bericht über ihre ungewöhnliche Jugend.
emilie Kammerer liebt ihren Vater. er ist für sie der vollkommenste Mensch. Was er anfasst, gelingt. er ist pünktlich auf die Minute und nie in eile. Seine Angestellten lieben und verehren ihn. Sonntagabends spielt er für sie zum tanz, auf einem selbst gebauten tafelklavier, unerschütterlich taktfest und mit nie versiegendem Melodienreichtum. Seiner Autorität, glaubt emilie, gehorcht sogar die natur: Auf seinen Zuruf kommen die tauben aus ihrem Schlag, um ihm zu gefallen, kriecht die Schildkröte im Frühjahr pünktlich aus ihrem erdloch, und die von ihm gezüchteten Rosen bringen ihm zu ehren (und zum Staunen der Passanten) immer wieder verschiedenfarbene Blüten auf ein und demselben Stamm hervor. Seine Fabrik ist für emilie ein feuriges Wunderwerk. Sie liebt es, die Angestellten auf ihrem abendlichen Kontrollgang zu begleiten, und sieht mit wohligem Schauer das an tischen und Böden haftende Phosphor bläulich leuchten und flammengleich blitzen. Vor dem einschlafen lauscht sie den Klängen der Äolsharfe, die ihr Vater gebaut hat und die unter dem Dach beim leisesten Wind zu singen beginnt.
Dass Jakob Friedrich Kammerer auch cholerisch sein kann, verschweigt emilie nicht, zumal sie sein hitziges temperament geerbt hat: Als die Katze von netti, der Frau ihres Halbbruders Hermann, ihr sorgsam gehegtes gemüsebeet verwüstet, ergreift sie das tier beim Schwanz und schlägt es mit solcher Wucht gegen den steinernen Brunnenrand, dass es tot zu Boden fällt. erwachsene fragen sich, woher ein fünfjähriges Mädchen solche Körperkraft nimmt.
Kurz darauf stirbt ihre Mutter, neununddreißig Jahre alt. emilie sieht sie aufgebahrt, gelb im gesicht, die Haare abgeschnitten, eine mit gewürznelken besteckte Pomeranze in den brandnarbigen Händen, und beobachtet aus der Bodenluke, wie Fabrikarbeiter den Sarg hinaustragen und trauergäste dem Vater die Hand drücken.
ein paar Monate nach dem tod der Mutter hört emilie beim nachhausekommen lärm im treppenhaus. ihr Vater steht ihrem Halbbruder Wilhelm gegenüber, beide mit hochrotem Kopf. Der grund: Wilhelm will Hanne heiraten, ein hübsches Schwabenmädchen, das während der Krankheit von emilies Mutter den Haushalt besorgen half, aber hat soeben erfahren, dass sein Vater sie für sich beansprucht, selbst heiraten will und ihre Zustimmung bereits erhalten hat. Wilhelm droht, Hanne zu erstechen und seinen Vater umzubringen. Seine Brüder bändigen ihn. er reist noch in der nacht ab und ergibt sich dem Alkohol. Jakob Friedrich Kammerer aber heiratet Hanne. er ist stolz auf sie und zeigt sie überall herum. es ist der Höhepunkt seines lebens.
Jeden Sonntag gibt es Ausflüge, und alle dürfen mitkommen. Man fährt auf der limmat nach Baden oder mit dem Dampfschiff auf dem Zürichsee. Wirte öffnen tore und Keller, wenn Kammerer an der Spitze fröhlicher Menschen ihr lokal betritt, und sagen nichts, wenn die Kinder seines gefolges Schaukeln und Spielgeräte besetzen. neidvolle Blicke streifen die toiletten seiner Damen, aber die Stimmung ist gut. Überall, wo Vater hinkam, brachte er seine schwäbische Gemüthlichkeit und Fröhlichkeit Jakob Friedrich Kammerer, Zündholzfabrikant und großvater Frank Wedekinds mit, erinnert sich emilie, deshalb wurde er auch von Alt und Jung so geliebt und gefeiert.
in Deutschland scheitert die «Märzrevolution». Aufständische fliehen in die Schweiz, unter ihnen der Dichter georg Herwegh, und finden Unterschlupf in Kammerers Haus. Kammerer bewirtet sie an langen tafeln, versorgt sie mit Kleidung und Schuhwerk, verschafft ihnen Arbeit. Sie ehren ihn mit einem Fackelzug und rufen: «Kammerer lebe hoch!» Seine Frau gebiert einen Sohn, den er als überzeugter Republikaner liberatus germanus Konstantinus nennt.
Aber seine geschäfte gehen schlecht. Die Zündholzidee hat viele nachahmer; in ludwigsburg hat ein Verwandter ein Konkurrenzunternehmen eröffnet. Kammerer wird mürrisch. eifersüchtig überwacht er seine Frau, bezichtigt sie der Untreue und wird wütend, wenn sie sich verteidigt. er spricht undeutlich, vernachlässigt Kleidung und Hygiene, gibt wunderliche Aufträge. Seine Schrift wird nahezu unleserlich, seine Arbeiter können ihm nichts mehr recht machen. emilie sieht traurige und verängstigte Gesichter, Weihnachten geht man nach der Bescherung wortlos auseinander.
im Frühjahr 1853, emilie ist zwölf Jahre alt, wird Jakob Friedrich Kammerer wahnsinnig. eine schwere eisenstange in den Händen, droht er, seine Frau im Bett zu erschlagen. Man schafft ihn nach Württemberg in eine irrenanstalt, wo ihn Ärzte als nicht behandelbar ablehnen. ein ludwigsburger Arzt lässt ihn bei sich wohnen. Seine Söhne führen die Fabrik weiter. Jakob Friedrich Kammerer hat, könnte man sagen, das Feuer zu bändigen versucht und ist an der eigenen leidenschaft verbrannt. Die theorie, die in seiner jungen Frau das Urbild von Wedekinds lulu sieht, ist immerhin bedenkenswert.
Der name Wedekind, früher Widukind, ist seit dem achten Jahrhundert bekannt und bedeutet im Althochdeutschen Waldkind. ein gewisser Johann Wedekind, geboren 1278, war geheimschreiber bei Herzog otto dem Strengen von Braunschweig, der ihm in Horst bei Hannover ein gut schenkte, das bis heute Familiensitz ist. Die Wedekinds sind Soldaten, gelegentlich Mönche, meist aber Beamte: Zahlmeister, Rentmeister, Amtmänner, Kontributionseinnehmer, Pagenhofmeister oder Kondukteure herzoglicher Vorwerke. Auch Juristen und Mediziner sind dabei, Künstler keine. ein Scipio Wedekind fällt 1431 in einem Scharmützel gegen die türken, ein Johann Heinrich Wedekind geht 1740 nach ostindien, sonst aber bleiben die Wedekinds, wo sie herkamen: im flachen land zwischen Braunschweig, Hannover und Hamburg, in Wolfenbüttel, Hildesheim, Hoya, Süllfeld, elsdorf oder Visselhövede. Die Wedekinds sind Protestanten, Mischehen oder sonstige glaubensverwirrungen sind so gut wie unbekannt. Das Familienwappen zeigt einen Stern auf blauem grund und einen zunehmenden Halbmond. Der Familienwahlspruch «nil differre» (nichts aufschieben) stammt von Anton Christian Wedekind, einem lüneburger oberamtmann, der um 1790 eine gute tat ungebührlich lang hinauszögerte und sein Versäumnis mit einer «Stiftung für deutsche geschichte» und einem legat von hundertfünfzig goldmark an den «Wedekind-Familien-Fond» sühnte.
Sein neffe Friedrich Wilhelm Wedekind, der Vater Frank Wedekinds, am 21. Februar 1816 in Herste bei göttingen geboren, schlägt ein wenig aus der Art. er geht gern ins theater, schreibt gedichte und sympathisiert mit politischen Strömungen, denen seine Verwandten wenig gutes nachsagen. Als Medizinstudent der göttinger Universität erhält er vierzehn tage Karzer wegen «Beleidigung des Hannoverschen Militärs». ein Feuerkopf ist Friedrich Wilhelm Wedekind deswegen nicht. ein Bildnis des Dreißigjährigen zeigt weiche gesichtszüge, einen sinnlichen Mund und gutmütige, leicht verträumt blickende Augen. Seine beruflichen Wünsche sind weitreichend, aber utopisch, sein Werdegang ist sprunghaft: nach seiner Promotion zum Doctor der Medizin, Chirurgie und Geburtshilfe will er eine orthopädische Heilanstalt auf Spiekeroog gründen und erbittet die Schenkung eines teils der insel. nach der kaum überraschenden Ablehnung durch die Behörden lässt er sich als praktischer Arzt in Aurich nieder. Das befriedigt ihn so wenig, dass er nach Konstantinopel reist, dort angeblich türkischer Bergwerksarzt wird und auf expeditionen bis zum euphrat und tigris vordringt. Zeugnisse seines dortigen Wirkens gibt es nicht, wohl aber ein lebenslanges interesse an orientalischen Waffen, Münzen und anderen vermeintlichen Kostbarkeiten, die er, obschon als Historiker und Kunstkenner ohne Ausbildung, mit Begeisterung sammelt. in Finanzdingen ist er tüchtig: nach seiner Rückkehr aus dem orient leistet er sich eine ausgedehnte Ruhepause in Paris, von selbstverdientem geld, wie es scheint, denn ein nennenswertes Familienvermögen ist nicht bekannt.
Die Revolution von 1848 findet ihn auf der Seite des Volks. er debattiert mit lust und geschick und wird im ostfriesischen esens als ersatzmann ins Hannoversche Ständehaus gewählt. Auch das genügt ihm nicht. Während die Frankfurter nationalversammlung um eine neugestaltung Deutschlands ringt, wandert Friedrich Wilhelm Wedekind nach Amerika aus, genauer gesagt nach Kalifornien, das gerade einen goldrausch erlebt und wo Risiken und Chancen am höchsten sind.
in San Francisco eröffnet er eine Praxis als Arzt und gynäko loge, dem Vernehmen nach in einer mit Blech verstärkten Holzhütte, aber kommt rasch voran. in der goldgräberstadt steigen die grundstückspreise rasant, und wer sich aufs Spekulieren versteht, kann viel geld verdienen. Dr. Wedekind besitzt bald ein prächtiges Haus, arbeitet nur noch gelegentlich und wird Präsident des Deutschen Clubs. Zum hundertsten geburtstag Friedrich Schillers gibt er ein gartenfest mit angeblich dreitausend teilnehmern und trägt eine vielstrophige, selbstgedichtete ode vor - endlich hat Dr. Wedekind eine Stellung erklommen, die seinen Vorstellungen entspricht, wenn auch nur unter den exildeutschen von San Francisco. Seine Sympathie gilt jetzt den Besitzenden: er beteiligt sich an einer Bürgerwehr, die gegen marodierende Banden und anderes gelichter vorgeht. im land der Freiheit ist das eine bürgerliche tugend.
in der liebe fehlt ihm das glück. Frauen sind Mangelware in San Francisco, aber dass ein wohlhabender, kultivierter europäer keine finden sollte, mutet seltsam an. Wie dem auch sei: Dr. Wedekind, die vierzig überschritten, findet keine und gilt in seinen Kreisen schon fast als Hagestolz.
emilie Kammerer führt im vaterlosen Haus ein Schattendasein. Die Schule hat sie mit vierzehn Jahren verlassen, jetzt lernt sie nähen und Kochen, um irgendwann, wie man hofft, geheiratet zu werden. ihre sechs Jahre ältere Schwester Sofie hingegen hat den Heiratsantrag eines Juristen ausgeschlagen und in Mailand gesang studiert, war an der oper in Zagreb engagiert und ist jetzt, man staune, Primadonna an der kaiserlichen Hofoper in Wien. ihr Vorschlag, emilie zu sich zu nehmen, kommt der Familie wie gerufen. Auch emilie ist begierig, die Welt kennenzulernen.
ein Bruder bringt sie hin. Der glanz der Kaiserstadt blendet emilie. Sofie hat eine Vierzimmerwohnung mit Diener und Köchin. Zu Proben und Aufführungen holt sie ein Hoflakai in der equipage ab. es gibt ungeahnte Köstlichkeiten zu essen, Sofie kauft ihr Hüte, Mantillen und Handschuhe - an der Hofoper sind garderobe und Aussehen mindestens ebenso wichtig wie Stimme und Schauspielkunst, und ein hässliches entlein als Schwester würde Sofies Ruf schaden.
irgendwann erkennt Sofie: Die Sängerinnen sind Freiwild für die Höflinge. Fast jede von ihnen hat einen «Protektor» und braucht ihn auch, nicht zuletzt, um die Kosten für die garderobe zu decken. Je höher seine Stellung, desto größer ihr eigenes Ansehen. Als der lakai eines erzherzogs Sofie einen Blumenkorb überbringt, mit der Bitte seines Herrn, sie besuchen zu dürfen, weiß sie, was die Stunde geschlagen hat. ihre Köchin gratuliert ihr zu ihrer Akquisition, Sofie selbst, nach erziehung und naturell unabhängige Schweizerin, ist schockiert und will Wien verlassen.
Familie und Freunde beschwören sie, ihr glück nicht von sich zu stoßen. ein Hofkapellmeister warnt: ein solcher Schritt bedeute das unweigerliche ende ihrer Karriere. Aber Sofie lässt sich nicht umstimmen und reist, emilie im Schlepptau, über triest und Venedig nach nizza, wo man sie engagiert und erste Rollen singen lässt. emilie hat nichts zu tun, schaut aufs Meer und isst Schokolade. Emilie ist gefräßig und faul, notiert Sofie und beschließt, die Schwester so bald wie möglich in die Schweiz zurückzubringen.
ein junger Mann heftet sich an Sofies Fersen: théodore Amiegazan de la Perrière, französischer offizierssohn, angeblich aus altem Adel. obwohl sie erklärt, ihn nicht zu lieben, lässt er sich nicht abschütteln, und als sie mit emilie in Mailand die Postkutsche in Richtung gotthardt besteigt, sitzt er auf dem freien Platz, den er heimlich reservieren ließ. emilie ist wütend, Sofie von so viel Beharrlichkeit gerührt.
in Zürich überschüttet Amie-gazan Sofie mit geschenken und droht, sich im Fall einer Ablehnung umzubringen; dem gerücht, Millionär zu sein, tritt er nicht entgegen. Sofies Familie redet ihr auf das bestimmteste zu, Fremde gratulieren zu ihrer fabelhaften Partie. Sofie heiratet Amie-gazan und reist mit ihm nach Peru, wo er ein Fotoatelier zu eröffnen und französische luxusartikel zu verkaufen gedenkt. eine tochter wird geboren und erhält den namen leonie.
emilie vermisst ihre Schwester. Das gemeinsame Zimmer, das sie nun allein bewohnt, wird ihr zu einer Art Schrein, den außer ihr niemand betreten darf. Um Sofie nah zu sein, nimmt sie ihrerseits gesangsunterricht und entdeckt, dass auch sie eine gute Stimme hat. Bei Auftritten des Singvereins erhält sie kleine Soli, die sie immer besser meistert.
im Frühjahr 1857 kommt ein Brief Sofies, in dem sie emilie zu sich einlädt; fünftausend Franc Reisegeld seien unterwegs. emilie ist hocherfreut, auch die Familie stimmt zu - das Risiko, ein siebzehnjähriges Mädchen allein über den ozean zu lassen, wird verdrängt oder gar nicht erst bedacht. Als das Reisegeld nicht eintrifft, beschließt man, es vorzustrecken, und bucht eine Passage. Auf dem Weg nach le Havre besucht emilie ihren Vater in ludwigsburg. er erkennt sie nicht und stirbt ein paar Monate später, einundsechzig Jahre alt. Seine Heimatstadt ehningen wird ihm ein Bronzedenkmal setzen und eine Schule nach ihm benennen.
An Bord des Dreimasters «Alma» ist emilie die einzige Frau - wer dies nach ihrer Ankunft erfährt, schlägt die Hände über dem Kopf zusammen und bittet, nicht darüber zu reden: So viel sträflicher leichtsinn werfe ein schlechtes licht auf ihre Familie. emilie selbst ist nicht beunruhigt. Sie hält ihre Kajüte sauber und erledigt jeden tag ein Pensum näharbeit. Der Kapitän und die Mitreisenden sind freundlich, mit den Matrosen zu sprechen ist den Passagieren nicht erlaubt.
Am Kap Hoorn wird es kalt. emilie hat nur Sommersachen dabei, denn in der Schweiz war man der Meinung, dass es, je südlicher man käme, immer wärmer würde. taue frieren ein, das Deck vereist. ein Zusammenstoß der «Alma» mit einem Dampfschiff im Schneegestöber wird knapp vermieden. Passagiere schlafen im Salon in der nähe des ofens. Dort hat emilie einen Albtraum: ihr ist, als erdrücke sie ein schweres gewicht, und als sie mit einem Schrei erwacht, entfernt sich ein Schatten in die Dunkelheit. Seitdem schläft sie auch beim ärgsten Sturm in ihrer Kabine. Dann bessert sich das Wetter. Vogelzüge grüßen,
die «Alma» gleitet dahin und erreicht nach hundertundein tagen ununterbrochener Seereise im oktober 1857 Valparaiso.
Am Kai wartet niemand. irgendwann erscheint Amie-gazan, weißhaarig und dünn. Sofie liegt krank in einem Hotelzimmer, eine schwarze Amme hält die kleine leonie. Amie-gazan hat den Zoll für die von ihm importierten Waren nicht bezahlen können, musste sein Fotoatelier schließen und hat das geld, das Sofie mit opernaufführungen für einen belgischen impresario verdiente, immer wieder verspielt. Die fünftausend Franc Reisegeld wurden nie abgeschickt.
emilie nimmt die Herausforderung an. Sie veranstaltet einen großputz, quartiert die Amme aus, pflegt und kleidet die nichte. Mit Sofie plant sie gemeinsame Konzerte und stellt ein Repertoire zusammen. Die Schwestern üben Duette aus «norma», «lucrezia » und der «Regimentstochter», schneidern Kostüme, malen Plakate, engagieren Musiker und einen Kapellmeister, der vom Pianino aus dirigiert. Die tapferen jungen Frauen lösen eine Welle von Sympathie aus, die eintrittskarten sind schnell verkauft. So- fies Stimme ist so schön wie früher, auch emilie macht ihre Sache gut. es regnet Blumen und Kränze. Aber Amie-gazan, der das geld verwaltet, verspielt es in hoffnungsloser leidenschaft. Die Polizei nimmt ihn fest.
Die Schwestern planen eine Konzertreise entlang der Pazifikküste nach norden. ein Pianist, der auch Saxofon spielt, schließt sich ihnen an; die kleine leonie nehmen sie mit. Von la Serena geht es über tacna, Copiapo und Caldera nach iquique und Arequipa. eine ansehnliche Summe von Zwanzigdollar- münzen ist gespart, aber irgendwann taucht Amie-gazan wieder auf, und gleich am ersten Abend fehlt Sofies Bühnenschmuck. Die Schwestern wollen nach Kalifornien, aber das Schiff, das sie nach guatemala bringen soll, läuft auf eine Sandbank und muss umkehren. in Panama, dem berüchtigten Seuchennest, stecken sie vierzehn tage lang fest. ihr geld ist aufgebraucht.
Bei einem Konzert in der französischen Botschaft von Panama wird Sofie auf der Bühne ohnmächtig. ein Arzt konstatiert Herzschwäche und verordnet Ruhe. endlich kommt der Postdampfer.
Da lag der Coloss! Schwarz angestrichen wie ein Riesensarg. Sein düsterer Anblick machte uns traurig und muthlos. Ich durfte meine Schwester nicht ansehen. Entsetzlich schmal war ihr liebliches Gesicht geworden. Sie starrte nach dem unheimlichen Schiff mit einem Ausdruck der Angst, als ob sie ahnte, welches Los ihr dort bevorstand.
Schiffsgeruch und Ausdünstung der Passagiere erzeugen bei Sofie Übelkeit. emilie bemerkt einen gelblichen Schimmer auf ihrer Haut. Amie-gazan beschwört sie, es niemandem zu sagen; ein Schiffsarzt, der Sofie untersuchen soll, öffnet die Kajütentür nur einen Spaltbreit und hält sich ein tuch vor den Mund. eine Wärterin sagt zu emilie: «ihre Schwester hat das gelbe Fieber, und Sie werden es auch bekommen.» Sofie Kammerer stirbt in der nacht vor Heiligabend 1858, vierundzwanzig Jahre alt. Die Schiffsmotoren halten, ein Schuss ertönt, die leiche gleitet ins Wasser. Man sperrt emilie in ihre Kabine und schiebt essen durch eine luke. Bei der Ankunft in San Francisco lässt man sie erst heraus, als alle Passagiere von Bord sind.
Der geist des freien Amerika tut emilie gut. Sie mietet ein Zimmer in einem der schnell gebauten Holzhäuser für sich, Amiegazan und die kleine leonie, unterteilt es durch Vorhänge in ein Wohnquartier und sucht Arbeit. ein deutscher Männerchor engagiert sie und zahlt ihr auf einen Schlag einhundertachtzig Dollar, eine Kirche bietet ihr eine Stellung als Altistin an. Amiegazan will seine tochter zu Verwandten nach Frankreich schaffen, Bekannte sollen sie hinbringen. emilie deckt die Kosten der Überfahrt durch ein Benefizkonzert und bricht die Beziehung zu ihrem Schwager ab. Sie singt in San Franciscos Deutschem theater und in englischen und italienischen ensembles, reist für gastspiele nach Sacramento, Marysville und San José und macht auch als Schauspielerin eine gute Figur. Und seitdem ich den Beifall - im Gegensatz zu früher, wo ich neben meiner Schwester nicht in Betracht kam - auf mich beziehen durfte, fand ich hohe Befriedigung in meinem Beruf.
ein Jahr nach ihrer Ankunft verliebt sich emilie in einen deutschen Sänger. Die Hochzeit ist beschlossen, aber der Bräutigam macht einen Rückzieher. emilie leidet erheblich, und als ein gewisser Herr Schwegerle, ein ältlicher ehemaliger opernsänger, jetzt Schankwirt und Hilfsdirigent am Deutschen theater, um ihre Hand bittet, gibt sie ihm das Jawort, gegen den Rat zahlreicher Freunde, die ihr eine bessere Partie zutrauen. emilie beschreibt ihren Mann als ruhig, ein wenig undurchsichtig und nicht sonderlich sauber; in der von ihm geführten gastwirtschaft isst sie nur mit Widerwillen. Aber er hilft ihr bei der einstudierung von Rollen und ist, bei seltener Anwesenheit zu Hause, gut zu haben. An Wochenenden unternehmen sie gemeinsame Ausflüge.
indessen hat ein anderer Mann ein Auge auf sie geworfen: Dr. Friedrich Wilhelm Wedekind, Präsident des Deutschen Clubs und geachtetes Mitglied in San Franciscos emigrantengemeinde. emilie hat ihn wegen rheumatischer Schmerzen konsultiert, seitdem bestimmt sie sein Denken und Wollen. Aber anstatt offen um sie zu werben, entwirft er eine heimliche und komplizierte Annäherungsstrategie.
er wird Stammgast bei dem Mittagstisch der Pension, in der emilie mit Schwegerle wohnt, und sitzt ihr bei abendlichem Kartenspiel nach Möglichkeit gegenüber. Unter dem Vorwand, ein Kostümbuch leihen zu wollen, besucht er sie auf ihrem Zimmer und bleibt, wie aus Versehen, fast eine Stunde. Bei einem neujahrsessen hat er ein französisches liederbuch für sie dabei, aber traut sich nicht, es ihr zu überreichen. ein mit ihrem namen graviertes lorgnon trägt er tagelang mit sich herum. Den Fortgang seiner Bemühungen notiert er in einem speziell hierfür angelegten «Journal intime», auf Französisch, der Sprache der liebe und der Diskretion. emilie erscheint dort nur als «e», Schwegerle als «er».
Dr. Wedekind umschleicht emilie wie ein Jäger das Wild. Sein eindruck ist nicht immer positiv: emilie kann auch ungebärdig sein. Bei einem Maskenball fuchtelt sie den Damen mit ihrem Federwisch um den Kopf, so dass diese um ihre Frisuren bangen. Wie würde sie, sollte es je dazu kommen, als seine ehefrau wirken? Würde sie ihn gebührend achten und respektieren?
Schwierig wird es, als emilie in tuckers Hall singen will, einem «Melodeon» oder tingeltangel, in dem Mädchen verschiedener nationalitäten auftreten. emilie findet nichts dabei, aber San Franciscos deutsche Kolonie ist entrüstet. Dr. Wedekind befürchtet, ihretwegen gesellschaftlich kompromittiert zu werden. Als man im Deutschen Club negativ über sie spricht, stellt er sich schlafend, um nicht Stellung beziehen zu müssen. Mehrmals steht er vor dem eingang von tuckers Hall, aber wagt nicht einzutreten. er redet emilie ins gewissen, als väterlicher Freund und Ratgeber, aber sie will nicht hören, und Dr. Wedekind konstatiert bei ihr une certaine froideur de coeur, eine gewisse Herzenskälte. Um seine leidenschaft für sie abzutöten, unternimmt er entbehrungsreiche Ritte ins landesinnere von Kalifornien und ist fast schon dabei, sie zu vergessen, als eine unerwartete Wendung eintritt.
Bei emilie erscheint ein gerichtsvollzieher mit einem Pfändungsbeschluss und lässt ihr frisch abbezahltes Klavier kurzerhand hinaustragen. emilie erfährt, dass ihr Mann vor der ehe Schulden solchen Ausmaßes angehäuft hat, dass Klavier, Hausrat, das beiderseitige ersparte und ein mehrfacher Jahresverdienst von tuckers Hall nötig wären, sie zu begleichen. Eine namenlose Angst überfiel mich. Scham und Ekel vor mir selber. Ärmer als eine Bettlerin, sollte mir nichts mehr gehören, nicht einmal die Früchte meiner Arbeit! Nein, nein und tausendmal nein!! Dagegen bäumte sich mein ganzes Wesen auf. Es gab nur Eines: die Scheidung. Um die gerichtskosten zu bestreiten, verkauft sie Sofies seidene Kleider. im Varieté will sie als alleinstehende Frau nicht singen, ein Klavier zum einüben von opernpartien hat sie nicht mehr. Sie bezieht ein möbliertes Zimmer und näht in Hausarbeit für einen Schneider.
Jetzt endlich gesteht ihr Dr. Wedekind seine liebe. Die nachricht ihrer trennung von Schwegerle sei ihm wie ein Wunder vorgekommen, und sein einziger Wunsch sei es, sie als Frau heimzuführen. Dann setzt er ihr, mit einer gewissen trockenen Geschäftsmäßigkeit, seine Verhältnisse auseinander. er bittet sie, sein Angebot zu überdenken, denn eines müsse klar sein: eine tätigkeit im theater sei für seine ehefrau ausgeschlossen. Sollte emilie der Bühne nicht entsagen können, sei er bereit, ihr eine gesangsausbildung in Deutschland zu finanzieren. Tiefbewegt und andächtig hatte ich zugehört. Die Nachwirkungen all des durchkämpften Elends und die Vorstellung, die Frau dieses bedeutenden und vornehmen Mannes zu werden, von ihm treu und aufrichtig geliebt, an seiner Seite für immer den Härten des Lebens entzogen zu sein, überwältigte mich so gewaltig, dass ich, keines Wortes mächtig und weinend, ihm meine Hand reichte, die er erfasste und an sich zog, um mich mit seinen Küssen fast zu ersticken.
Dr. Wedekind notiert: Alea iacta est. Die Würfel sind gefallen. Wir sind einig. Wir werden uns niemals trennen, wir werden immer beisammen bleiben und ganz Eines für das Andere leben. Mein Glück läßt mich beinahe zittern.
emilie Kammerer und Dr. Friedrich Wilhelm Wedekind heiraten am 26. März 1862 in oakland - die Anfeindungen der deutschen Kolonie San Franciscos wegen seiner Verbindung zu einer Sängerin zweifelhaften Rufs waren so heftig, dass er auf die andere Seite des Sacramento River gezogen ist. Die Braut ist einundzwanzig, der Bräutigam sechsundvierzig Jahre alt. Beide sind entschlossen, Amerika zu verlassen. Dr. Wedekind wählt Hannover als künftigen Wohnort, wo seine Mutter lebt und er sein medizinisches Staatsexamen gemacht hat. Am 29. Januar 1863 kommt in oakland der Sohn Armin Francis zur Welt.
Bei der Rückreise nach europa ist emilie hochschwanger. Wenige Wochen nach der Ankunft wird am 24. Juli 1864 in der großen Aegidienstraße 13 in Hannover Benjamin Franklin Wedekind geboren, der spätere Dichter. es ist Sonntag, der Vater entbindet persönlich. Der Wetterbericht meldet: Früh sternhell, darnach sonnig und warm. Nachmittags Cirrostratus und Cumulus, langsam und mit Dunst umgeben, ohne Regen, Luft still. Abends allgemeine Nebelausbreitung.
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Kein preußischer Untertan
1866-1872
Dr. Wedekind ist unzufrieden. er hat Rentier Henckell, seinem Vermieter, das Haus Weißekreuzstraße 6 abgekauft, in das er kurz nach Franklins geburt mit seiner Familie gezogen ist, jetzt will die Stadtverwaltung ihn zwingen, das hannoversche Bürgerrecht zu erwerben - wer in der Stadt Haus oder grund besitze, sei dazu verpflichtet und müsse den Bürgereid leisten.
genau das will Dr. Wedekind nicht. Denn mit dem eid auf Hannover würde er auch Preußen die treue schwören, das Hannover im «Deutschen Krieg» besiegt und vom Königreich zur preußischen Provinz herabgestuft hat. Als preußischer Untertan müssten seine Söhne ins preußische Militär - die einführung der allgemeinen Wehrpflicht war eine der ersten Amtshandlungen des neuen Regimes; die Behörden führen listen, die Minderjährige und sogar Säuglinge erfassen. Außerdem befürchtet Dr. Wedekind, dass ein Bekenntnis zu Preußen sein Bürgerrecht in den Vereinigten Staaten tangieren könne, wo sein geld angelegt ist und wohin zurückzukehren er sich offenhält.
Dr. Wedekind macht eingaben, erklärt seine lage, wirbt um Verständnis - er verzehre in der Stadt lediglich sein nicht unbedeutendes Einkommen, was letzterer doch nur zum Vorteil gereiche. Aber die Stadtväter bleiben hart, und zwei Jahre nach dem erwerb seines Hauses muss Dr. Wedekind es wieder verkaufen, an jenen Rentier Henckell, der jetzt erneut sein Vermieter ist, für dieselben siebentausend Reichstaler, die er damals bezahlt hat, aber um notar- und gerichtskosten ärmer, ein Barverlust von nahezu tausend Talern.
Überhaupt hat sich Dr. Wedekind das leben in Deutschland anders vorgestellt. Den Arztberuf hat er aufgegeben, die Position, die er in San Franciscos emigrantengemeinde innehatte, gilt hier wenig oder nichts. Wie soll er den Rest seines lebens zubringen? im Hotel Römischer Kaiser hält er eine antipreußische Rede und verteilt die auf eigene Kosten erstellte Druckfassung an die Zuhörer. Die Resonanz ist gering.
1871 besiegt Deutschland den «erbfeind» Frankreich und macht den Preußenkönig Wilhelm i. zum deutschen Kaiser. Hannover, kürzlich noch Preußens gegner, ist im Siegestaumel: ehrenpforten sind errichtet, triumphbogen aufgebaut, Palmen- reihen säumen die Straßen. in «lebenden Bildern» werden kriegsentscheidende Szenen nachgestellt. Abends gibt es «illuminationen »: Bürger stellen lichter in die Fenster ihrer Häuser, und wer nicht mitmacht, riskiert spitze Bemerkungen oder öffentliche Rüge. Für Kinder ist in Hannover fast alles verboten: das Lärmen und Schreien, das Werfen mit Bällen, Schnee, Steinen und Knüppeln, das Schießen mit Armbrüsten, Blasrohren oder dergleichen Instrumenten, das Glitschen, Schlittschuhlaufen und Steigenlassen der Drachen.
Dr. Wedekinds Söhne Armin und Franklin gehen zur Schule. in Paletots und genagelten Stiefeln stapfen sie zum Unterricht ins Auhagen'sche institut beim Aegidientorplatz, eine Privatschule, die ihr Vater aus Misstrauen gegen alles Preußische für sie gewählt hat. An den Bahngleisen können sie Züge der linie Hannover - Braunschweig beobachten, am gefängnis in der langenstraße zeigt sich gelegentlich ein insasse hinter vergitterten Fenstern. in der nähe der Weißekreuzstraße gibt es ein Aquarium, und bei schönem Wetter geht die Mutter mit ihnen in den Zoo auf der eilenriede.
Wie verkraftet emilie Wedekind das leben in Deutschlands norden? Wie steht es um ihre ehe? Vom tag der Hochzeit an fehlt jeder nachweis. Kein Brief, kein tagebuch, kein persönliches Dokument ist erhalten, fast so, als hätten die Partner ein soeben geöffnetes Buch gleich wieder geschlossen und für immer versiegelt.
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24. Februar 1796 in ehningen bei Stuttgart, drei Jahre nach dem tod jenes Herzogs Karl eugen, der den jungen Schiller drangsalierte und den Dichter und Musiker Christian Friedrich Daniel Schubart auf dem Hohen Asperg schmachten ließ, und unweit der Stadt tübingen, wo Schiller, Hegel, Schelling und Hölderlin studierten. Jakob Friedrich Kammerer erfährt solche Förderung nicht. Sein Vater, ein Siebmacher, schickt ihn als Hausierer über land. Der Knabe sammelt, was er an bedrucktem Papier findet, entziffert die Buchstaben und deren Sinn. Später lernt er latein und griechisch und studiert Chemie, alles im Selbstunterricht. er übernimmt die väterliche Siebmacherei, pachtet eine gastwirtschaft, gründet eine Hutfabrik und vertreibt Mostpresstücher und wasserdichte Stiefel aus gummielastikum. er nennt sich Königlich Württembergischer Patenthutfabrikant, aber ist längst nicht zufrieden. Wo ist die tat, die ihn reich und berühmt machen kann?
Die umständlichen, schlecht funktionierenden Feuerzeuge aus Stahl, Feuerstein und Zunder geraten in sein Blickfeld - wer hier neues vorlegt, ist eines großen Marktes sicher. im Schuppen seines Hauses experimentiert Kammerer, bis ihm eine Masse aus Phosphor, Schwefel und Sauerstoff spendendem Kaliumchlorat gelingt, die, am ende eines Spans getrocknet, durch Reiben Feuer fängt. ob er, wie oft behauptet wird, tatsächlich das Phosphorzündholz erfunden hat, ist umstritten, dass er entscheidendes zu seiner entwicklung beitrug, steht außer Frage. Man schreibt das Jahr 1832, Jakob Friedrich Kammerer ist sechsunddreißig Jahre alt, zum zweiten Mal verheiratet, mit vier Söhnen aus erster und einem aus zweiter ehe. in Frankreich regiert der «Bürgerkönig» louis Philippe, in Deutschland fordert das Volk Souveränität beim Hambacher Fest. Kammerer, der nachteile niederer geburt bewusst, schließt sich einer Verschwörergruppe an.
im Juli 1833 wird er verhaftet. Der Vorwurf: versuchter Sturz der württembergischen Regierung. Caroline, seine zweite Frau, verbrennt belastendes Schriftmaterial, als die Häscher bereits im Haus sind. Das verunstaltet ihre Hände, aber bewahrt ihren Mann nicht vor der Untersuchungshaft auf dem Hohen Asperg. Dort erleidet Kammerer einen Blutsturz, führt jedoch seine chemischen Studien fort.
Kammerers element ist das Feuer. Kaum entlassen, gründet er in ludwigsburg eine Streichholzfabrik, gegen den Willen seiner nachbarn, die von Gezündel und Explosionen nichts wissen wollen. Kurze Zeit später verbrennt der Dachstuhl seines Hauses. Kammerer kauft ein neues Haus und erweitert seine Fabrik auf vierundzwanzig Arbeiter und sechshundert Zündholzkistchen täglich, die ein nürnberger Versandhaus bis nach Schweden und nordafrika vertreibt. im Februar 1836 wird er wegen intellektueller Beihilfe zum versuchten Hochverrat angeklagt. Zwei Jahre Festungshaft drohen. Kammerer flieht nach Straßburg und zieht, als ihm die Herstellung von Zündhölzern verweigert wird, nach Zürich, wo er außerhalb der Stadt eine Zündholzfabrik bauen darf, die erste ihrer Art in der Schweiz.
Auch diese geht in Flammen auf. Während die Feuerwehr noch löscht und ehe die nachricht von der Katastrophe sich verbreitet, kauft Kammerer von einem Bauern das land für seine jetzige Fabrik. emilie Kammerer, sein drittes Kind aus zweiter ehe und Mutter Frank Wedekinds, geboren am 8. Mai 1840, wird in der Wiege aus dem obergeschoss des brennenden Hauses herabgelassen - ein Umstand, den sie später stets mit Stolz erwähnt. Am ende ihres lebens verfasst sie einen Bericht über ihre ungewöhnliche Jugend.
emilie Kammerer liebt ihren Vater. er ist für sie der vollkommenste Mensch. Was er anfasst, gelingt. er ist pünktlich auf die Minute und nie in eile. Seine Angestellten lieben und verehren ihn. Sonntagabends spielt er für sie zum tanz, auf einem selbst gebauten tafelklavier, unerschütterlich taktfest und mit nie versiegendem Melodienreichtum. Seiner Autorität, glaubt emilie, gehorcht sogar die natur: Auf seinen Zuruf kommen die tauben aus ihrem Schlag, um ihm zu gefallen, kriecht die Schildkröte im Frühjahr pünktlich aus ihrem erdloch, und die von ihm gezüchteten Rosen bringen ihm zu ehren (und zum Staunen der Passanten) immer wieder verschiedenfarbene Blüten auf ein und demselben Stamm hervor. Seine Fabrik ist für emilie ein feuriges Wunderwerk. Sie liebt es, die Angestellten auf ihrem abendlichen Kontrollgang zu begleiten, und sieht mit wohligem Schauer das an tischen und Böden haftende Phosphor bläulich leuchten und flammengleich blitzen. Vor dem einschlafen lauscht sie den Klängen der Äolsharfe, die ihr Vater gebaut hat und die unter dem Dach beim leisesten Wind zu singen beginnt.
Dass Jakob Friedrich Kammerer auch cholerisch sein kann, verschweigt emilie nicht, zumal sie sein hitziges temperament geerbt hat: Als die Katze von netti, der Frau ihres Halbbruders Hermann, ihr sorgsam gehegtes gemüsebeet verwüstet, ergreift sie das tier beim Schwanz und schlägt es mit solcher Wucht gegen den steinernen Brunnenrand, dass es tot zu Boden fällt. erwachsene fragen sich, woher ein fünfjähriges Mädchen solche Körperkraft nimmt.
Kurz darauf stirbt ihre Mutter, neununddreißig Jahre alt. emilie sieht sie aufgebahrt, gelb im gesicht, die Haare abgeschnitten, eine mit gewürznelken besteckte Pomeranze in den brandnarbigen Händen, und beobachtet aus der Bodenluke, wie Fabrikarbeiter den Sarg hinaustragen und trauergäste dem Vater die Hand drücken.
ein paar Monate nach dem tod der Mutter hört emilie beim nachhausekommen lärm im treppenhaus. ihr Vater steht ihrem Halbbruder Wilhelm gegenüber, beide mit hochrotem Kopf. Der grund: Wilhelm will Hanne heiraten, ein hübsches Schwabenmädchen, das während der Krankheit von emilies Mutter den Haushalt besorgen half, aber hat soeben erfahren, dass sein Vater sie für sich beansprucht, selbst heiraten will und ihre Zustimmung bereits erhalten hat. Wilhelm droht, Hanne zu erstechen und seinen Vater umzubringen. Seine Brüder bändigen ihn. er reist noch in der nacht ab und ergibt sich dem Alkohol. Jakob Friedrich Kammerer aber heiratet Hanne. er ist stolz auf sie und zeigt sie überall herum. es ist der Höhepunkt seines lebens.
Jeden Sonntag gibt es Ausflüge, und alle dürfen mitkommen. Man fährt auf der limmat nach Baden oder mit dem Dampfschiff auf dem Zürichsee. Wirte öffnen tore und Keller, wenn Kammerer an der Spitze fröhlicher Menschen ihr lokal betritt, und sagen nichts, wenn die Kinder seines gefolges Schaukeln und Spielgeräte besetzen. neidvolle Blicke streifen die toiletten seiner Damen, aber die Stimmung ist gut. Überall, wo Vater hinkam, brachte er seine schwäbische Gemüthlichkeit und Fröhlichkeit Jakob Friedrich Kammerer, Zündholzfabrikant und großvater Frank Wedekinds mit, erinnert sich emilie, deshalb wurde er auch von Alt und Jung so geliebt und gefeiert.
in Deutschland scheitert die «Märzrevolution». Aufständische fliehen in die Schweiz, unter ihnen der Dichter georg Herwegh, und finden Unterschlupf in Kammerers Haus. Kammerer bewirtet sie an langen tafeln, versorgt sie mit Kleidung und Schuhwerk, verschafft ihnen Arbeit. Sie ehren ihn mit einem Fackelzug und rufen: «Kammerer lebe hoch!» Seine Frau gebiert einen Sohn, den er als überzeugter Republikaner liberatus germanus Konstantinus nennt.
Aber seine geschäfte gehen schlecht. Die Zündholzidee hat viele nachahmer; in ludwigsburg hat ein Verwandter ein Konkurrenzunternehmen eröffnet. Kammerer wird mürrisch. eifersüchtig überwacht er seine Frau, bezichtigt sie der Untreue und wird wütend, wenn sie sich verteidigt. er spricht undeutlich, vernachlässigt Kleidung und Hygiene, gibt wunderliche Aufträge. Seine Schrift wird nahezu unleserlich, seine Arbeiter können ihm nichts mehr recht machen. emilie sieht traurige und verängstigte Gesichter, Weihnachten geht man nach der Bescherung wortlos auseinander.
im Frühjahr 1853, emilie ist zwölf Jahre alt, wird Jakob Friedrich Kammerer wahnsinnig. eine schwere eisenstange in den Händen, droht er, seine Frau im Bett zu erschlagen. Man schafft ihn nach Württemberg in eine irrenanstalt, wo ihn Ärzte als nicht behandelbar ablehnen. ein ludwigsburger Arzt lässt ihn bei sich wohnen. Seine Söhne führen die Fabrik weiter. Jakob Friedrich Kammerer hat, könnte man sagen, das Feuer zu bändigen versucht und ist an der eigenen leidenschaft verbrannt. Die theorie, die in seiner jungen Frau das Urbild von Wedekinds lulu sieht, ist immerhin bedenkenswert.
Der name Wedekind, früher Widukind, ist seit dem achten Jahrhundert bekannt und bedeutet im Althochdeutschen Waldkind. ein gewisser Johann Wedekind, geboren 1278, war geheimschreiber bei Herzog otto dem Strengen von Braunschweig, der ihm in Horst bei Hannover ein gut schenkte, das bis heute Familiensitz ist. Die Wedekinds sind Soldaten, gelegentlich Mönche, meist aber Beamte: Zahlmeister, Rentmeister, Amtmänner, Kontributionseinnehmer, Pagenhofmeister oder Kondukteure herzoglicher Vorwerke. Auch Juristen und Mediziner sind dabei, Künstler keine. ein Scipio Wedekind fällt 1431 in einem Scharmützel gegen die türken, ein Johann Heinrich Wedekind geht 1740 nach ostindien, sonst aber bleiben die Wedekinds, wo sie herkamen: im flachen land zwischen Braunschweig, Hannover und Hamburg, in Wolfenbüttel, Hildesheim, Hoya, Süllfeld, elsdorf oder Visselhövede. Die Wedekinds sind Protestanten, Mischehen oder sonstige glaubensverwirrungen sind so gut wie unbekannt. Das Familienwappen zeigt einen Stern auf blauem grund und einen zunehmenden Halbmond. Der Familienwahlspruch «nil differre» (nichts aufschieben) stammt von Anton Christian Wedekind, einem lüneburger oberamtmann, der um 1790 eine gute tat ungebührlich lang hinauszögerte und sein Versäumnis mit einer «Stiftung für deutsche geschichte» und einem legat von hundertfünfzig goldmark an den «Wedekind-Familien-Fond» sühnte.
Sein neffe Friedrich Wilhelm Wedekind, der Vater Frank Wedekinds, am 21. Februar 1816 in Herste bei göttingen geboren, schlägt ein wenig aus der Art. er geht gern ins theater, schreibt gedichte und sympathisiert mit politischen Strömungen, denen seine Verwandten wenig gutes nachsagen. Als Medizinstudent der göttinger Universität erhält er vierzehn tage Karzer wegen «Beleidigung des Hannoverschen Militärs». ein Feuerkopf ist Friedrich Wilhelm Wedekind deswegen nicht. ein Bildnis des Dreißigjährigen zeigt weiche gesichtszüge, einen sinnlichen Mund und gutmütige, leicht verträumt blickende Augen. Seine beruflichen Wünsche sind weitreichend, aber utopisch, sein Werdegang ist sprunghaft: nach seiner Promotion zum Doctor der Medizin, Chirurgie und Geburtshilfe will er eine orthopädische Heilanstalt auf Spiekeroog gründen und erbittet die Schenkung eines teils der insel. nach der kaum überraschenden Ablehnung durch die Behörden lässt er sich als praktischer Arzt in Aurich nieder. Das befriedigt ihn so wenig, dass er nach Konstantinopel reist, dort angeblich türkischer Bergwerksarzt wird und auf expeditionen bis zum euphrat und tigris vordringt. Zeugnisse seines dortigen Wirkens gibt es nicht, wohl aber ein lebenslanges interesse an orientalischen Waffen, Münzen und anderen vermeintlichen Kostbarkeiten, die er, obschon als Historiker und Kunstkenner ohne Ausbildung, mit Begeisterung sammelt. in Finanzdingen ist er tüchtig: nach seiner Rückkehr aus dem orient leistet er sich eine ausgedehnte Ruhepause in Paris, von selbstverdientem geld, wie es scheint, denn ein nennenswertes Familienvermögen ist nicht bekannt.
Die Revolution von 1848 findet ihn auf der Seite des Volks. er debattiert mit lust und geschick und wird im ostfriesischen esens als ersatzmann ins Hannoversche Ständehaus gewählt. Auch das genügt ihm nicht. Während die Frankfurter nationalversammlung um eine neugestaltung Deutschlands ringt, wandert Friedrich Wilhelm Wedekind nach Amerika aus, genauer gesagt nach Kalifornien, das gerade einen goldrausch erlebt und wo Risiken und Chancen am höchsten sind.
in San Francisco eröffnet er eine Praxis als Arzt und gynäko loge, dem Vernehmen nach in einer mit Blech verstärkten Holzhütte, aber kommt rasch voran. in der goldgräberstadt steigen die grundstückspreise rasant, und wer sich aufs Spekulieren versteht, kann viel geld verdienen. Dr. Wedekind besitzt bald ein prächtiges Haus, arbeitet nur noch gelegentlich und wird Präsident des Deutschen Clubs. Zum hundertsten geburtstag Friedrich Schillers gibt er ein gartenfest mit angeblich dreitausend teilnehmern und trägt eine vielstrophige, selbstgedichtete ode vor - endlich hat Dr. Wedekind eine Stellung erklommen, die seinen Vorstellungen entspricht, wenn auch nur unter den exildeutschen von San Francisco. Seine Sympathie gilt jetzt den Besitzenden: er beteiligt sich an einer Bürgerwehr, die gegen marodierende Banden und anderes gelichter vorgeht. im land der Freiheit ist das eine bürgerliche tugend.
in der liebe fehlt ihm das glück. Frauen sind Mangelware in San Francisco, aber dass ein wohlhabender, kultivierter europäer keine finden sollte, mutet seltsam an. Wie dem auch sei: Dr. Wedekind, die vierzig überschritten, findet keine und gilt in seinen Kreisen schon fast als Hagestolz.
emilie Kammerer führt im vaterlosen Haus ein Schattendasein. Die Schule hat sie mit vierzehn Jahren verlassen, jetzt lernt sie nähen und Kochen, um irgendwann, wie man hofft, geheiratet zu werden. ihre sechs Jahre ältere Schwester Sofie hingegen hat den Heiratsantrag eines Juristen ausgeschlagen und in Mailand gesang studiert, war an der oper in Zagreb engagiert und ist jetzt, man staune, Primadonna an der kaiserlichen Hofoper in Wien. ihr Vorschlag, emilie zu sich zu nehmen, kommt der Familie wie gerufen. Auch emilie ist begierig, die Welt kennenzulernen.
ein Bruder bringt sie hin. Der glanz der Kaiserstadt blendet emilie. Sofie hat eine Vierzimmerwohnung mit Diener und Köchin. Zu Proben und Aufführungen holt sie ein Hoflakai in der equipage ab. es gibt ungeahnte Köstlichkeiten zu essen, Sofie kauft ihr Hüte, Mantillen und Handschuhe - an der Hofoper sind garderobe und Aussehen mindestens ebenso wichtig wie Stimme und Schauspielkunst, und ein hässliches entlein als Schwester würde Sofies Ruf schaden.
irgendwann erkennt Sofie: Die Sängerinnen sind Freiwild für die Höflinge. Fast jede von ihnen hat einen «Protektor» und braucht ihn auch, nicht zuletzt, um die Kosten für die garderobe zu decken. Je höher seine Stellung, desto größer ihr eigenes Ansehen. Als der lakai eines erzherzogs Sofie einen Blumenkorb überbringt, mit der Bitte seines Herrn, sie besuchen zu dürfen, weiß sie, was die Stunde geschlagen hat. ihre Köchin gratuliert ihr zu ihrer Akquisition, Sofie selbst, nach erziehung und naturell unabhängige Schweizerin, ist schockiert und will Wien verlassen.
Familie und Freunde beschwören sie, ihr glück nicht von sich zu stoßen. ein Hofkapellmeister warnt: ein solcher Schritt bedeute das unweigerliche ende ihrer Karriere. Aber Sofie lässt sich nicht umstimmen und reist, emilie im Schlepptau, über triest und Venedig nach nizza, wo man sie engagiert und erste Rollen singen lässt. emilie hat nichts zu tun, schaut aufs Meer und isst Schokolade. Emilie ist gefräßig und faul, notiert Sofie und beschließt, die Schwester so bald wie möglich in die Schweiz zurückzubringen.
ein junger Mann heftet sich an Sofies Fersen: théodore Amiegazan de la Perrière, französischer offizierssohn, angeblich aus altem Adel. obwohl sie erklärt, ihn nicht zu lieben, lässt er sich nicht abschütteln, und als sie mit emilie in Mailand die Postkutsche in Richtung gotthardt besteigt, sitzt er auf dem freien Platz, den er heimlich reservieren ließ. emilie ist wütend, Sofie von so viel Beharrlichkeit gerührt.
in Zürich überschüttet Amie-gazan Sofie mit geschenken und droht, sich im Fall einer Ablehnung umzubringen; dem gerücht, Millionär zu sein, tritt er nicht entgegen. Sofies Familie redet ihr auf das bestimmteste zu, Fremde gratulieren zu ihrer fabelhaften Partie. Sofie heiratet Amie-gazan und reist mit ihm nach Peru, wo er ein Fotoatelier zu eröffnen und französische luxusartikel zu verkaufen gedenkt. eine tochter wird geboren und erhält den namen leonie.
emilie vermisst ihre Schwester. Das gemeinsame Zimmer, das sie nun allein bewohnt, wird ihr zu einer Art Schrein, den außer ihr niemand betreten darf. Um Sofie nah zu sein, nimmt sie ihrerseits gesangsunterricht und entdeckt, dass auch sie eine gute Stimme hat. Bei Auftritten des Singvereins erhält sie kleine Soli, die sie immer besser meistert.
im Frühjahr 1857 kommt ein Brief Sofies, in dem sie emilie zu sich einlädt; fünftausend Franc Reisegeld seien unterwegs. emilie ist hocherfreut, auch die Familie stimmt zu - das Risiko, ein siebzehnjähriges Mädchen allein über den ozean zu lassen, wird verdrängt oder gar nicht erst bedacht. Als das Reisegeld nicht eintrifft, beschließt man, es vorzustrecken, und bucht eine Passage. Auf dem Weg nach le Havre besucht emilie ihren Vater in ludwigsburg. er erkennt sie nicht und stirbt ein paar Monate später, einundsechzig Jahre alt. Seine Heimatstadt ehningen wird ihm ein Bronzedenkmal setzen und eine Schule nach ihm benennen.
An Bord des Dreimasters «Alma» ist emilie die einzige Frau - wer dies nach ihrer Ankunft erfährt, schlägt die Hände über dem Kopf zusammen und bittet, nicht darüber zu reden: So viel sträflicher leichtsinn werfe ein schlechtes licht auf ihre Familie. emilie selbst ist nicht beunruhigt. Sie hält ihre Kajüte sauber und erledigt jeden tag ein Pensum näharbeit. Der Kapitän und die Mitreisenden sind freundlich, mit den Matrosen zu sprechen ist den Passagieren nicht erlaubt.
Am Kap Hoorn wird es kalt. emilie hat nur Sommersachen dabei, denn in der Schweiz war man der Meinung, dass es, je südlicher man käme, immer wärmer würde. taue frieren ein, das Deck vereist. ein Zusammenstoß der «Alma» mit einem Dampfschiff im Schneegestöber wird knapp vermieden. Passagiere schlafen im Salon in der nähe des ofens. Dort hat emilie einen Albtraum: ihr ist, als erdrücke sie ein schweres gewicht, und als sie mit einem Schrei erwacht, entfernt sich ein Schatten in die Dunkelheit. Seitdem schläft sie auch beim ärgsten Sturm in ihrer Kabine. Dann bessert sich das Wetter. Vogelzüge grüßen,
die «Alma» gleitet dahin und erreicht nach hundertundein tagen ununterbrochener Seereise im oktober 1857 Valparaiso.
Am Kai wartet niemand. irgendwann erscheint Amie-gazan, weißhaarig und dünn. Sofie liegt krank in einem Hotelzimmer, eine schwarze Amme hält die kleine leonie. Amie-gazan hat den Zoll für die von ihm importierten Waren nicht bezahlen können, musste sein Fotoatelier schließen und hat das geld, das Sofie mit opernaufführungen für einen belgischen impresario verdiente, immer wieder verspielt. Die fünftausend Franc Reisegeld wurden nie abgeschickt.
emilie nimmt die Herausforderung an. Sie veranstaltet einen großputz, quartiert die Amme aus, pflegt und kleidet die nichte. Mit Sofie plant sie gemeinsame Konzerte und stellt ein Repertoire zusammen. Die Schwestern üben Duette aus «norma», «lucrezia » und der «Regimentstochter», schneidern Kostüme, malen Plakate, engagieren Musiker und einen Kapellmeister, der vom Pianino aus dirigiert. Die tapferen jungen Frauen lösen eine Welle von Sympathie aus, die eintrittskarten sind schnell verkauft. So- fies Stimme ist so schön wie früher, auch emilie macht ihre Sache gut. es regnet Blumen und Kränze. Aber Amie-gazan, der das geld verwaltet, verspielt es in hoffnungsloser leidenschaft. Die Polizei nimmt ihn fest.
Die Schwestern planen eine Konzertreise entlang der Pazifikküste nach norden. ein Pianist, der auch Saxofon spielt, schließt sich ihnen an; die kleine leonie nehmen sie mit. Von la Serena geht es über tacna, Copiapo und Caldera nach iquique und Arequipa. eine ansehnliche Summe von Zwanzigdollar- münzen ist gespart, aber irgendwann taucht Amie-gazan wieder auf, und gleich am ersten Abend fehlt Sofies Bühnenschmuck. Die Schwestern wollen nach Kalifornien, aber das Schiff, das sie nach guatemala bringen soll, läuft auf eine Sandbank und muss umkehren. in Panama, dem berüchtigten Seuchennest, stecken sie vierzehn tage lang fest. ihr geld ist aufgebraucht.
Bei einem Konzert in der französischen Botschaft von Panama wird Sofie auf der Bühne ohnmächtig. ein Arzt konstatiert Herzschwäche und verordnet Ruhe. endlich kommt der Postdampfer.
Da lag der Coloss! Schwarz angestrichen wie ein Riesensarg. Sein düsterer Anblick machte uns traurig und muthlos. Ich durfte meine Schwester nicht ansehen. Entsetzlich schmal war ihr liebliches Gesicht geworden. Sie starrte nach dem unheimlichen Schiff mit einem Ausdruck der Angst, als ob sie ahnte, welches Los ihr dort bevorstand.
Schiffsgeruch und Ausdünstung der Passagiere erzeugen bei Sofie Übelkeit. emilie bemerkt einen gelblichen Schimmer auf ihrer Haut. Amie-gazan beschwört sie, es niemandem zu sagen; ein Schiffsarzt, der Sofie untersuchen soll, öffnet die Kajütentür nur einen Spaltbreit und hält sich ein tuch vor den Mund. eine Wärterin sagt zu emilie: «ihre Schwester hat das gelbe Fieber, und Sie werden es auch bekommen.» Sofie Kammerer stirbt in der nacht vor Heiligabend 1858, vierundzwanzig Jahre alt. Die Schiffsmotoren halten, ein Schuss ertönt, die leiche gleitet ins Wasser. Man sperrt emilie in ihre Kabine und schiebt essen durch eine luke. Bei der Ankunft in San Francisco lässt man sie erst heraus, als alle Passagiere von Bord sind.
Der geist des freien Amerika tut emilie gut. Sie mietet ein Zimmer in einem der schnell gebauten Holzhäuser für sich, Amiegazan und die kleine leonie, unterteilt es durch Vorhänge in ein Wohnquartier und sucht Arbeit. ein deutscher Männerchor engagiert sie und zahlt ihr auf einen Schlag einhundertachtzig Dollar, eine Kirche bietet ihr eine Stellung als Altistin an. Amiegazan will seine tochter zu Verwandten nach Frankreich schaffen, Bekannte sollen sie hinbringen. emilie deckt die Kosten der Überfahrt durch ein Benefizkonzert und bricht die Beziehung zu ihrem Schwager ab. Sie singt in San Franciscos Deutschem theater und in englischen und italienischen ensembles, reist für gastspiele nach Sacramento, Marysville und San José und macht auch als Schauspielerin eine gute Figur. Und seitdem ich den Beifall - im Gegensatz zu früher, wo ich neben meiner Schwester nicht in Betracht kam - auf mich beziehen durfte, fand ich hohe Befriedigung in meinem Beruf.
ein Jahr nach ihrer Ankunft verliebt sich emilie in einen deutschen Sänger. Die Hochzeit ist beschlossen, aber der Bräutigam macht einen Rückzieher. emilie leidet erheblich, und als ein gewisser Herr Schwegerle, ein ältlicher ehemaliger opernsänger, jetzt Schankwirt und Hilfsdirigent am Deutschen theater, um ihre Hand bittet, gibt sie ihm das Jawort, gegen den Rat zahlreicher Freunde, die ihr eine bessere Partie zutrauen. emilie beschreibt ihren Mann als ruhig, ein wenig undurchsichtig und nicht sonderlich sauber; in der von ihm geführten gastwirtschaft isst sie nur mit Widerwillen. Aber er hilft ihr bei der einstudierung von Rollen und ist, bei seltener Anwesenheit zu Hause, gut zu haben. An Wochenenden unternehmen sie gemeinsame Ausflüge.
indessen hat ein anderer Mann ein Auge auf sie geworfen: Dr. Friedrich Wilhelm Wedekind, Präsident des Deutschen Clubs und geachtetes Mitglied in San Franciscos emigrantengemeinde. emilie hat ihn wegen rheumatischer Schmerzen konsultiert, seitdem bestimmt sie sein Denken und Wollen. Aber anstatt offen um sie zu werben, entwirft er eine heimliche und komplizierte Annäherungsstrategie.
er wird Stammgast bei dem Mittagstisch der Pension, in der emilie mit Schwegerle wohnt, und sitzt ihr bei abendlichem Kartenspiel nach Möglichkeit gegenüber. Unter dem Vorwand, ein Kostümbuch leihen zu wollen, besucht er sie auf ihrem Zimmer und bleibt, wie aus Versehen, fast eine Stunde. Bei einem neujahrsessen hat er ein französisches liederbuch für sie dabei, aber traut sich nicht, es ihr zu überreichen. ein mit ihrem namen graviertes lorgnon trägt er tagelang mit sich herum. Den Fortgang seiner Bemühungen notiert er in einem speziell hierfür angelegten «Journal intime», auf Französisch, der Sprache der liebe und der Diskretion. emilie erscheint dort nur als «e», Schwegerle als «er».
Dr. Wedekind umschleicht emilie wie ein Jäger das Wild. Sein eindruck ist nicht immer positiv: emilie kann auch ungebärdig sein. Bei einem Maskenball fuchtelt sie den Damen mit ihrem Federwisch um den Kopf, so dass diese um ihre Frisuren bangen. Wie würde sie, sollte es je dazu kommen, als seine ehefrau wirken? Würde sie ihn gebührend achten und respektieren?
Schwierig wird es, als emilie in tuckers Hall singen will, einem «Melodeon» oder tingeltangel, in dem Mädchen verschiedener nationalitäten auftreten. emilie findet nichts dabei, aber San Franciscos deutsche Kolonie ist entrüstet. Dr. Wedekind befürchtet, ihretwegen gesellschaftlich kompromittiert zu werden. Als man im Deutschen Club negativ über sie spricht, stellt er sich schlafend, um nicht Stellung beziehen zu müssen. Mehrmals steht er vor dem eingang von tuckers Hall, aber wagt nicht einzutreten. er redet emilie ins gewissen, als väterlicher Freund und Ratgeber, aber sie will nicht hören, und Dr. Wedekind konstatiert bei ihr une certaine froideur de coeur, eine gewisse Herzenskälte. Um seine leidenschaft für sie abzutöten, unternimmt er entbehrungsreiche Ritte ins landesinnere von Kalifornien und ist fast schon dabei, sie zu vergessen, als eine unerwartete Wendung eintritt.
Bei emilie erscheint ein gerichtsvollzieher mit einem Pfändungsbeschluss und lässt ihr frisch abbezahltes Klavier kurzerhand hinaustragen. emilie erfährt, dass ihr Mann vor der ehe Schulden solchen Ausmaßes angehäuft hat, dass Klavier, Hausrat, das beiderseitige ersparte und ein mehrfacher Jahresverdienst von tuckers Hall nötig wären, sie zu begleichen. Eine namenlose Angst überfiel mich. Scham und Ekel vor mir selber. Ärmer als eine Bettlerin, sollte mir nichts mehr gehören, nicht einmal die Früchte meiner Arbeit! Nein, nein und tausendmal nein!! Dagegen bäumte sich mein ganzes Wesen auf. Es gab nur Eines: die Scheidung. Um die gerichtskosten zu bestreiten, verkauft sie Sofies seidene Kleider. im Varieté will sie als alleinstehende Frau nicht singen, ein Klavier zum einüben von opernpartien hat sie nicht mehr. Sie bezieht ein möbliertes Zimmer und näht in Hausarbeit für einen Schneider.
Jetzt endlich gesteht ihr Dr. Wedekind seine liebe. Die nachricht ihrer trennung von Schwegerle sei ihm wie ein Wunder vorgekommen, und sein einziger Wunsch sei es, sie als Frau heimzuführen. Dann setzt er ihr, mit einer gewissen trockenen Geschäftsmäßigkeit, seine Verhältnisse auseinander. er bittet sie, sein Angebot zu überdenken, denn eines müsse klar sein: eine tätigkeit im theater sei für seine ehefrau ausgeschlossen. Sollte emilie der Bühne nicht entsagen können, sei er bereit, ihr eine gesangsausbildung in Deutschland zu finanzieren. Tiefbewegt und andächtig hatte ich zugehört. Die Nachwirkungen all des durchkämpften Elends und die Vorstellung, die Frau dieses bedeutenden und vornehmen Mannes zu werden, von ihm treu und aufrichtig geliebt, an seiner Seite für immer den Härten des Lebens entzogen zu sein, überwältigte mich so gewaltig, dass ich, keines Wortes mächtig und weinend, ihm meine Hand reichte, die er erfasste und an sich zog, um mich mit seinen Küssen fast zu ersticken.
Dr. Wedekind notiert: Alea iacta est. Die Würfel sind gefallen. Wir sind einig. Wir werden uns niemals trennen, wir werden immer beisammen bleiben und ganz Eines für das Andere leben. Mein Glück läßt mich beinahe zittern.
emilie Kammerer und Dr. Friedrich Wilhelm Wedekind heiraten am 26. März 1862 in oakland - die Anfeindungen der deutschen Kolonie San Franciscos wegen seiner Verbindung zu einer Sängerin zweifelhaften Rufs waren so heftig, dass er auf die andere Seite des Sacramento River gezogen ist. Die Braut ist einundzwanzig, der Bräutigam sechsundvierzig Jahre alt. Beide sind entschlossen, Amerika zu verlassen. Dr. Wedekind wählt Hannover als künftigen Wohnort, wo seine Mutter lebt und er sein medizinisches Staatsexamen gemacht hat. Am 29. Januar 1863 kommt in oakland der Sohn Armin Francis zur Welt.
Bei der Rückreise nach europa ist emilie hochschwanger. Wenige Wochen nach der Ankunft wird am 24. Juli 1864 in der großen Aegidienstraße 13 in Hannover Benjamin Franklin Wedekind geboren, der spätere Dichter. es ist Sonntag, der Vater entbindet persönlich. Der Wetterbericht meldet: Früh sternhell, darnach sonnig und warm. Nachmittags Cirrostratus und Cumulus, langsam und mit Dunst umgeben, ohne Regen, Luft still. Abends allgemeine Nebelausbreitung.
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Kein preußischer Untertan
1866-1872
Dr. Wedekind ist unzufrieden. er hat Rentier Henckell, seinem Vermieter, das Haus Weißekreuzstraße 6 abgekauft, in das er kurz nach Franklins geburt mit seiner Familie gezogen ist, jetzt will die Stadtverwaltung ihn zwingen, das hannoversche Bürgerrecht zu erwerben - wer in der Stadt Haus oder grund besitze, sei dazu verpflichtet und müsse den Bürgereid leisten.
genau das will Dr. Wedekind nicht. Denn mit dem eid auf Hannover würde er auch Preußen die treue schwören, das Hannover im «Deutschen Krieg» besiegt und vom Königreich zur preußischen Provinz herabgestuft hat. Als preußischer Untertan müssten seine Söhne ins preußische Militär - die einführung der allgemeinen Wehrpflicht war eine der ersten Amtshandlungen des neuen Regimes; die Behörden führen listen, die Minderjährige und sogar Säuglinge erfassen. Außerdem befürchtet Dr. Wedekind, dass ein Bekenntnis zu Preußen sein Bürgerrecht in den Vereinigten Staaten tangieren könne, wo sein geld angelegt ist und wohin zurückzukehren er sich offenhält.
Dr. Wedekind macht eingaben, erklärt seine lage, wirbt um Verständnis - er verzehre in der Stadt lediglich sein nicht unbedeutendes Einkommen, was letzterer doch nur zum Vorteil gereiche. Aber die Stadtväter bleiben hart, und zwei Jahre nach dem erwerb seines Hauses muss Dr. Wedekind es wieder verkaufen, an jenen Rentier Henckell, der jetzt erneut sein Vermieter ist, für dieselben siebentausend Reichstaler, die er damals bezahlt hat, aber um notar- und gerichtskosten ärmer, ein Barverlust von nahezu tausend Talern.
Überhaupt hat sich Dr. Wedekind das leben in Deutschland anders vorgestellt. Den Arztberuf hat er aufgegeben, die Position, die er in San Franciscos emigrantengemeinde innehatte, gilt hier wenig oder nichts. Wie soll er den Rest seines lebens zubringen? im Hotel Römischer Kaiser hält er eine antipreußische Rede und verteilt die auf eigene Kosten erstellte Druckfassung an die Zuhörer. Die Resonanz ist gering.
1871 besiegt Deutschland den «erbfeind» Frankreich und macht den Preußenkönig Wilhelm i. zum deutschen Kaiser. Hannover, kürzlich noch Preußens gegner, ist im Siegestaumel: ehrenpforten sind errichtet, triumphbogen aufgebaut, Palmen- reihen säumen die Straßen. in «lebenden Bildern» werden kriegsentscheidende Szenen nachgestellt. Abends gibt es «illuminationen »: Bürger stellen lichter in die Fenster ihrer Häuser, und wer nicht mitmacht, riskiert spitze Bemerkungen oder öffentliche Rüge. Für Kinder ist in Hannover fast alles verboten: das Lärmen und Schreien, das Werfen mit Bällen, Schnee, Steinen und Knüppeln, das Schießen mit Armbrüsten, Blasrohren oder dergleichen Instrumenten, das Glitschen, Schlittschuhlaufen und Steigenlassen der Drachen.
Dr. Wedekinds Söhne Armin und Franklin gehen zur Schule. in Paletots und genagelten Stiefeln stapfen sie zum Unterricht ins Auhagen'sche institut beim Aegidientorplatz, eine Privatschule, die ihr Vater aus Misstrauen gegen alles Preußische für sie gewählt hat. An den Bahngleisen können sie Züge der linie Hannover - Braunschweig beobachten, am gefängnis in der langenstraße zeigt sich gelegentlich ein insasse hinter vergitterten Fenstern. in der nähe der Weißekreuzstraße gibt es ein Aquarium, und bei schönem Wetter geht die Mutter mit ihnen in den Zoo auf der eilenriede.
Wie verkraftet emilie Wedekind das leben in Deutschlands norden? Wie steht es um ihre ehe? Vom tag der Hochzeit an fehlt jeder nachweis. Kein Brief, kein tagebuch, kein persönliches Dokument ist erhalten, fast so, als hätten die Partner ein soeben geöffnetes Buch gleich wieder geschlossen und für immer versiegelt.
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Autoren-Porträt von Anatol Regnier
Anatol Regnier, Sohn von Pamela Wedekind und Charles Regnier, begann seine Laufbahn als klassischer Gitarrist. Mit seiner Familienbiografie »Du auf deinem höchsten Dach« über seine Großmutter Tilly Wedekind und ihre beiden Töchter Pamela und Kadidja begeisterte er ein großes Publikum. Sein Buch »Jeder schreibt für sich allein« wurde von Dominik Graf fürs Kino verfilmt. Anatol Regnier lebt und arbeitet in München und in Ambach am Starnberger See.
Bibliographische Angaben
- Autor: Anatol Regnier
- 2010, 464 Seiten, 34 Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 11,8 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442740940
- ISBN-13: 9783442740949
- Erscheinungsdatum: 03.08.2010
Rezension zu „Frank Wedekind “
"Vollkommen überzeugend portraitiert. (...) Reich an Biografischem und niemals voyeuristisch."
Pressezitat
"Eine glänzend und temperamentvoll geschriebene Frank-Wedekind-Biografie". Fritz J. Raddatz in Die Welt
Kommentar zu "Frank Wedekind"
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