Frau Schick räumt auf
Roman. Originalausgabe
Nelly, 48, hat sich ihren Aufenthalt in Spanien anders vorgestellt. Da lässt sie der feurige Javier, in den sie sich im Internet verliebt hat, mitten im Wald alleine sitzen. Mistkerl. Ein Glück gabelt Frau Schick, 83, sie auf. Die ist gerade mit...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Frau Schick räumt auf “
Nelly, 48, hat sich ihren Aufenthalt in Spanien anders vorgestellt. Da lässt sie der feurige Javier, in den sie sich im Internet verliebt hat, mitten im Wald alleine sitzen. Mistkerl. Ein Glück gabelt Frau Schick, 83, sie auf. Die ist gerade mit ihrem Jaguar auf dem Jakobsweg unterwegs. Und sie räumt Nellys Leben auf.
Klappentext zu „Frau Schick räumt auf “
Eigentlich hat Frau Schick gehofft, auf dem Jakobsweg in Ruhe zu sich selbst zu finden. Doch mit Ruhe ist es nicht weit her: Ihr Chauffeur Herberger lässt sie nicht aus den Augen, und die Mitwanderer gehen ihr gehörig auf die Nerven. Der liebeskranken Nelly nimmt sich die rüstige Witwe dennoch gerne an. Energisch sorgt sie im Leben ihres Schützlings für Ordnung. Doch auch in Frau Schicks Leben gäbe es einiges aufzuräumen ...Eine charmante, witzige und erleuchtende Reise
Lese-Probe zu „Frau Schick räumt auf “
Das halbe Herz von Annett Pöpplein ... mehr
Rewind
Ich erinnere mich sehr genau an den Gesichtsausdruck meines Chefs, als ich ihm berichtete, dass ich schwanger sei. Er verdrehte die Augen, und auf seiner Stirn stand in großen Lettern geschrieben: »Du sollst niemals eine verheiratete Frau um die dreißig einstellen!« Die Angelegenheit war mir furchtbar peinlich. Ich wünschte mir noch ein Kind, natürlich. Aber doch nicht jetzt! Wie konnte ich bloß zu einem so frühen Zeitpunkt wieder schwanger werden? Unsere Zwillinge waren erst achtzehn Monate alt, und ich hatte meinen Arbeitsvertrag gerade erst unterschrieben. Ein vielversprechender Marketing-Job, für den unsere Familie zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres umgezogen war. Sogar eine Nanny zur Rundum-Betreuung unserer Töchter hatte ich dafür in Dienst genommen; eine offizielle Hausangestellte mit Papieren und allem Drum und Dran.
Ich versicherte meinem Chef, dass ein weiteres Kind kein Problem sei, dass ich nur die gesetzliche Mindestauszeit in Anspruch nehmen wolle und die Nanny in Zukunft eben auf drei Kinder würde aufpassen müssen. In Belgien, wo mein Mann und ich bis vor Kurzem noch gelebt hatten, war das schließlich gang und gäbe. Dort sicherte man sich rechtzeitig einen Krippenplatz und fuhr quasi mit dem Bürostuhl in den Kreißsaal. Nach drei Monaten erschien man wieder zur Arbeit, als wäre nichts gewesen.
Bis auf einen Muttermund, der sehr bald zugeflickt werden musste, weil die Zwillinge ihn über die Maßen gedehnt hatten und er vor dem Gewicht eines weiteren Babys zu kapitulieren drohte, verlief die Schwangerschaft wie im Bilderbuch. Ich ernährte mich ungesund, arbeitete zu viel und wuchs in alle Richtungen. Ich hatte ein äußerst lebhaftes Baby in meinem Bauch. Es liebte geschäftliche Besprechungen, und oft befürchtete ich, man könnte sein ständiges Glucksen, Treten und Boxen an meiner Bauchdecke ablesen. Es schien zu allem etwas zu sagen zu haben.
So ablehnend ich ihm anfangs gegenüberstand, inzwischen freute ich mich auf mein Kind. Ein Junge. Es schmeichelte mir, wenn Kees - das ist ein holländischer Name; mein Mann ist Niederländer - bei Familienfeierlichkeiten voller Stolz von unserem Sohn sprach. Der erste Stammhalter, nachdem er und seine zwei Brüder bisher ausschließlich Mädchen gezeugt hatten. Unseren Töchtern war das »Brüderchen im Bauch« relativ egal. Sie waren noch keine zwei Jahre alt und wussten nicht recht, was ein »Baby« war, geschweige denn, wo es herkam. Sie waren glücklich mit ihrer Nanny, einer sympathischen älteren Dame, die die beiden von Herzen liebte, rund um die Uhr beschäftigte und daneben sogar noch Zeit für den Haushalt hatte. Eine Perle, enorm kostspielig zwar, aber sie hielt das schlechte Gewissen von mir fern, wenn ich im Morgengrauen das Haus verließ und erst nach Einbruch der Dunkelheit heimkehrte, weil mich unnachsichtige Kunden nach Dienstschluss in langwierige Gespräche verwickelt hatten.
Im Grunde war es erstaunlich, dass ich überhaupt jemals erfolgreich schwanger geworden war. Kurz nachdem ich Kees kennengelernt hatte - ein Arbeitskollege aus Holland mit einem lustigen Akzent und den schönsten blauen Augen, die ich je gesehen hatte -, tröpfelte aus mir eine milchig-weiße Flüssigkeit, die ich zwei Wochen lang gekonnt ignorierte, bevor sie zur Fontäne anschwoll und meine Frauenärztin mich per Eilboten in die Klinik schickte. Unnachsichtige Kunden eigneten sich schon damals gut als Entschuldigung für meinen Perfektionismus, der mich bis tief in die Nacht arbeiten und alles andere zweitrangig werden ließ. In der Klinik schlug man die Hände über dem Kopf zusammen ob meines Leichtsinns, der, so prophezeite man mir, dramatische Konsequenzen für meine Familienplanung haben würde. Es folgten zwei kritische Wochen am Penizillin-Tropf, die Kees zu der Erkenntnis kommen ließen, dass ich die Frau seines Lebens war, die Frau, mit der er eine Familie gründen wollte.
Wenig später - wir waren zwischenzeitlich in unser belgisches Büro nach Brüssel versetzt worden -, hielt Kees um meine Hand an. Ganz offiziell, im Restaurant Aux Vieux Paris bei Kerzenschein, Bordeaux und Boeuf Mignon. Ich war überwältigt vor Glück, denn nach dem unerwarteten Tod meiner Eltern, die beide gestorben waren, kurz nachdem ich ausgezogen war, sehnte ich mich nach einem sicheren Hafen. Nach einem Mann, zu dem ich aufblicken konnte, und irgendwann zwei kleinen Kinderhänden in den meinen.
Mit Kees erfüllten sich meine kühnsten Träume. Noch nie war ich jemandem begegnet, der so viel wohlwollende Souveränität ausstrahlte. Kees wusste sich in allen Lebenslagen zu behaupten. Außerdem war er groß, athletisch und hatte Unmengen lustiger Sommersprossen im Gesicht. Und diese stahlblauen Augen. Aufgewachsen war er auf einem Bauernhof, zusammen mit einem geschäftstüchtigen und redseligen Vater, einer überaus zähen, recht unterkühlten Mutter, drei Geschwistern, sechzig Kühen, zweihundert Schafen, drei Schäferhunden und Unmengen von Spinat- und Kartoffelfeldern. Kees spielte Trompete, leitete eine Musikband, hatte sein Studium mit Auszeichnung beendet und wusste genau, wo er in seiner Firma einmal hinwollte: ganz nach oben.
Ich dagegen war komplexbehaftet, wenig selbstsicher und lag im ständigen Clinch mit meinen zu strammen Oberschenkeln. Um das lange Studium an der Universität hatte ich mich herumgedrückt, und ich hatte absolut keinen Plan, was langfristig aus mir werden sollte. Hatte mich immer treiben lassen von dem, was das Leben für mich bereithielt. Es bestand kein Zweifel: Kees und ich waren das perfekte Match. Der Fels in der Brandung und das Fähnchen im Wind.
Ich erwiderte Kees' Gesuch mit einem tränenerstickten »JA!« und dankte ihm wenig später mit einer Eileiterschwangerschaft, die sich im Urlaub bemerkbar machte und sofort operiert werden musste.
Kees und ich ließen uns nicht entmutigen und probierten weiter, obwohl uns der belgische Professeur wenig Mut machte. Die Chancen für eine weitere, intakte Schwangerschaft seien gering, zumindest wenn sie auf natürlichem Weg zustande kommen sollte: »Der eine Eileiter ist komplett hinüber, der andere taugt auch nicht viel. Verklebt und vernarbt. Versuchen Sie Ihr Glück - wenn es bis nächstes Jahr nicht geklappt hat, sehen wir weiter.«
Der Professeur staunte nicht schlecht, als er vier Wochen später »des jumelles!«: Zwillinge! in mir entdeckte.
Noch ehe ich mein Glück richtig begriffen hatte, stand ich in dem klapprigen Lift unseres Brüsseler Mietshauses, die Tüten mit den Wocheneinkäufen in den Händen, und spürte eine undefinierbare Wärme zwischen meinen Beinen. Ich schaute an mir hinunter und sah die Blutlache, die sich unter mir gebildet hatte. Ich war acht Wochen schwanger und würde gleich meine Babys verlieren! Einfach auf den Steinboden würden sie fallen! Helfen Sie mir, Herr Professeur!
Vielleicht bin ich in diesem Moment zum ersten Mal in meinem Leben wirklich aufgewacht.
»Die Babys sind noch da. Die haben sich festgekrallt. Aber die Plazenta löst sich ab.« Der Professeur gab mir Hormone und Beruhigungsmittel. »Ab jetzt müssen Sie liegen bleiben. Sollten Sie wieder das Bluten anfangen, schauen Sie nach, ob festes Material dabei ist.«
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte ich Feuchtigkeit zwischen meinen Beinen. Alles war rot. Rot, rot, jeden Tag rot. Was, wenn ich eines Morgens aufwachen und »festes Material« in meinem Bett finden würde? Wenn ich meine Babys im Schlaf verlieren würde, ohne dass ich davon etwas mitbekäme? Ich hatte Angst. Angst vor dem Einschlafen, Angst vor meinen Träumen, Angst vor dem Anblick beim Aufwachen. Der Professeur verlegte mich in seine Klinik, hängte mich an einen Tropf mit Wehenhemmern und erhöhte die Beruhigungsmitteldosis.
Ein halbes Jahr später entbanden er und sein sechsköpfiges Team zwei Mädchen namens Jodie und Pauline; zwei kleine Junkies, denen der süße Saft, den ich täglich und in immer höheren Dosen bekommen hatte, schwer zu schaffen machte. Unmittelbar nach ihrer Geburt wurden sie zum Entgiften auf die Intensivstation verlegt, wo sie krampften, zitterten und manchmal das Atmen vergaßen. Die rosa Babybettchen, die die Krankenschwester so liebevoll in meinem Zimmer platziert hatte, blieben leer, und in den Tagen, die folgten, entdeckte ich einen Wesenszug an mir, der mir bis dato fremd gewesen war: Hysterie. Die Trennung von meinen Babys, welche zwei Stockwerke tiefer mit Überwachungsmonitoren verkabelt in ihren Brutkästen lagen, die hilflosen Stillversuche in einem dunklen Kabuff der Intensivstation, mein dürftiges Französisch, die Verzweiflung darüber, dass immer eines der Babys alleine war, wenn ich mich mit dem anderen beschäftigte, machten mich zum Tier. Dann diese elende Milch-Abpumperei! Abgesehen davon, dass eine Milchpumpe das Unerotischste ist, was man sich antun kann, brachte ich es irgendwie nicht fertig, mit diesem Ding keimfreie Milch zu zapfen.
»Sie müssen sich besser die Hände waschen, Madame! Wir müssen Ihre Milch schon wieder wegschütten!« Alles fühlte sich so entwürdigend an, dass ich darüber fast die Freude über die zwei kleinen Mädchen hätte vergessen können, die allen Widrigkeiten zum Trotz gesund auf die Welt gekommen waren.
Für Kees, der in der Klinik allabendlich treu an meiner Seite gesessen hatte, war mit jedem Schwangerschaftsmonat klarer geworden, dass er seine Töchter nicht in Belgien aufwachsen sehen wollte. Für den gewöhnlichen Niederländer, meinte er, gebe es zwei Dinge, die noch schmachvoller seien als mit einem deutschen Mädchen verheiratet zu sein: gegen die deutsche Elf zu verlieren und in Belgien zu wohnen.
Sehr bald packten wir also unsere Zwillinge in ihre Babyschalen und zogen ins Neckartal, wo eine deutsche Firma großes Interesse an Kees gezeigt hatte. Kees behauptete später gerne, er wäre mir zuliebe nach Deutschland gezogen. Meine These: Ihm war Benelux zu klein geworden.
Wie dem auch sei, genau ein Jahr später karrte ein Möbelwagen unser Hab und Gut vom Neckartal in Richtung Odenwald, um mir den Anfahrtsweg zu meiner neuen Arbeitsstelle zu erleichtern.
Und ein weiteres Jahr später wurde unser Sohn geboren.
In weniger als vier Jahren war aus einem einsamen Herzen mit zwei kaputten Eileitern eine fünfköpfige Familie geworden. Eine kleine Sensation.
Dezember 1997. Gegen Mitternacht spüre ich die ersten Wehen. Unverkennbar. Um zwei Uhr morgens mache ich mich mit meinem Mann auf den Weg ins Geburtshaus. Ich will dieses Kind ohne Hightech zur Welt bringen. Einfach loslassen und mich dem natürlichen Lauf der Dinge hingeben.
Es schneit. Im Geburtshaus wartet die Hebamme, eine junge, hübsche Frau, die ihr Handwerk von ihrer Mutter gelernt hat. Sie hat mich die vergangenen Wochen über betreut, ich vertraue ihr. Alles, was nun passiert, werde ich ihrer Führung überlassen. Ich habe mich gegen eine Rückenmarksbetäubung entschieden. Einmal im Leben will ich die Schmerzen fühlen, die nur eine Frau fühlen kann.
Wir sind das einzige Paar hier. Es sind noch wenige Tage bis Weihnachten. Draußen schneit es noch immer dicke Schneeflocken. Im großen Fachwerkhaus gegenüber hängen Lichterketten an den Fenstern, die die Straße in ein warmes, heimeliges Licht tauchen. Im Geburtshaus duftet es, Kerzen brennen, der Tee ist aufgesetzt. Leise Musik im Hintergrund. Unser Zimmer ist vorbereitet. Es sieht weihnachtlich aus. Die Hebamme hat blaue Bettwäsche mit goldenen Sternen für uns ausgesucht. Liebevoll.
Der Wehenschreiber malt Wehen im Drei-Minuten- Takt, die Herztöne des Kindes sind normal. Die Dinge nehmen ihren Lauf. Nichts ist mehr beeinflussbar.
Die Wehen werden schmerzhafter. Die Hebamme erklärt mir, dass sich manche Frauen in ein Seil hängen und ihre Kinder im Stehen gebären. Ich komme mir dumm vor, in dem Seil zu hängen. Mein Mann ist bei mir, aber ich habe das Gefühl, dass er mir bei dem, was ich jetzt tun muss, nicht helfen kann. Ich bin mir nicht sicher, ob ich will, dass er mich dabei beobachtet.
Es bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken. Die Wehen setzen mit voller Wucht ein. Ich will mich hinlegen. Die Schmerzen sind unerträglich. Es ist, als würde ich mit einem Messer aufgeschlitzt, von unten bis hinauf zur Kehle, einmal, zweimal, dreimal. Noch nie habe ich solche Schmerzen erlebt, nicht einmal annähernd. Nichts lässt sich mehr kontrollieren. Ich muss ein Ventil für diese Schmerzen finden, sonst platzt mir der Kopf. Zum ersten Mal in meinem Leben brülle ich den Schmerz hinaus, mit aller Gewalt. Es ist mir egal, wer zuhört. Alles ist egal.
Eineinhalb Stunden nach unserer Ankunft im Geburtshaus wird unser Sohn geboren. Noch ist er über die Nabelschnur mit mir verbunden. Mein Mann und ich liegen in dem Bett mit der Sternenbettwäsche, das Baby auf meiner Brust. Die Hebamme durchtrennt die Nabelschnur.
Es ist halb sechs Uhr morgens, draußen ist es noch dunkel. Schneeflocken tanzen im Schein der Lichterketten vom Haus gegenüber. Die Hebamme ruft den Kinderarzt. Er wird das Baby untersuchen, bevor wir es mit nach Hause nehmen. Zur Sicherheit.
Alles in Ordnung: 4100 Gramm, doppelt so schwer wie seine beiden Schwestern damals.
Eine einzigartige Nacht.
Als es hell wird, befinden wir uns zu Hause in unserem eigenen Bett. Ich liege neben meinem neugeborenen Sohn und schaue ihn an. Er schläft. Ich denke daran, wie sich noch vor wenigen Monaten alles in mir wehrte gegen das Leben, das in mir heranwuchs. So sehr, dass ich ihm ein Ende setzen wollte.
Wie um alles in der Welt habe ich jemals mit dem Gedanken spielen können, dieses Kind nicht haben zu wollen? Dieses hilflose kleine Wesen, das noch nichts kann - welche Macht hat es über mich? Alles würde ich für es tun, nachdem mein Blick zum ersten Mal auf sein Gesicht gefallen ist.
Jens.
Die Tage nach Jens' Geburt waren wunderbar. Er und ich im großen Bett, fernab von Brutkästen, Monitoren und Milchpumpen. Dazu den Luxus einer Nanny, die sich um den Haushalt kümmerte und mit Jodie und Pauline bunte Weihnachtsplätzchen buk, welche ich voller Begeisterung ans Bett serviert bekam.
Der Weihnachtsfrieden, die Harmonie, das Losgelöst- sein von allen Terminzwängen - endlich hatte ich Zeit, mir gewahr zu werden, wie viel Glück ich eigentlich hatte. Drei gesunde Kinder: Jodie, Pauline und Jens. Der Sohn, der meinen Eltern immer verwehrt geblieben war, obwohl mein Vater ihn sich so sehr gewünscht hatte. Ich verspürte eine unendliche Dankbarkeit. Wie konnte ich ihr Ausdruck verleihen?
Während Kees mit den Zwillingen den Weihnachtsbaum schmückte, schaute ich eine der üblichen Wohltätigkeitssendungen, welche mit ihrem: »Tut Gutes, und zwar JETZT!« an die vorweihnachtliche Spendierfreudigkeit der Zuschauer appellieren. Solche Sendungen rührten mich jedes Mal zu Tränen, obwohl ich noch nie auf die Idee gekommen war, zum Telefonhörer zu greifen. Es ging um Patenschaften für Kinder aus Entwicklungsländern, denen man mit einem vergleichsweise geringen monatlichen Geldbetrag eine Schulbildung finanzieren konnte. Diesmal zögerte ich keine Sekunde. »Es wäre schön, wenn Sie sich für ein Mädchen entscheiden würden. Ihre Situation ist schwieriger als die der Jungen«, legte mir die freundliche Dame am Telefon nahe.
Natürlich, ein Mädchen. Rosa, aus Venezuela. Als Ventil für meine Dankbarkeit.
Jens war ein unkompliziertes Baby. Wenn er an meiner Brust getrunken hatte, schnell und gierig, versank er unmittelbar in tiefen Schlaf und wachte erst zur nächsten Mahlzeit wieder auf. Diese Effizienz kannte ich bereits von meinen Zwillingen. Jodie rechts, Pauline links, fünf Minuten pro Nase, fertig. Man holt sich genau das, was man braucht; die Nachfrage regelt das Angebot, und solange die Mutter genug Milchbildungstee trinkt, kann nichts schiefgehen. Keine Plastikfläschchen, keine Gummisauger, keine Sterilisiergeräte. Außerordentlich praktisch.
Die Hebamme stattete uns täglich einen Besuch ab. »Brrr, hier ist es aber kalt! Machen Sie nie das Fenster zu?« Sie schüttelte sich jedes Mal, wenn sie unser Schlafzimmer betrat. »Ja, sorry. Eine kleine Phobie. Ich denke immer, ich muss ersticken, wenn ich zu lange in einem geschlossenen Raum bin. Frischluftfanatikerin sozusagen. Aber Sauerstoff ist doch gut für die Babys. Die Dänen stellen ihre Babys zum Schlafen immer vor die Haustür!« Die Hebamme riet mir, Jens' kalte Fingerchen und Zehen gut unter meiner warmen Bettdecke zu verstecken, ganz nah an meinem Körper.
Dann wurde Jens plötzlich gelb im Gesicht. Ich wusste, was das zu bedeuten hatte: die Leber. Anpassungsschwierigkeiten, nichts Ungewöhnliches für ein Neugeborenes. Doch ich wehrte mich heftig gegen den Gedanken, mein Nest verlassen und Jens unter die Billi-Lampe irgendeiner Arztpraxis legen zu müssen, womöglich tagelang. Bloß das nicht! Von diesem Kind sollte mich keiner trennen, nicht, wenn ich es verhindern konnte.
»Wir können ihm ja erst mal nur Blut abnehmen.« Die Hebamme spürte wohl, wie ernst es mir war. »Dieses Baby hat wirklich ungewöhnlich kalte Hände«, stellte sie noch fest, während sie versuchte, Jens' bläulicher Fingerkuppe einen Tropfen Blut abzugewinnen. »Halten Sie ihn schön warm unter Ihrer Bettdecke. Und machen Sie ab und zu das Fenster zu.«
In dieser Nacht schlief ich unruhig. Ein paar Mal schon war mir der Gedanke gekommen, dass alles viel zu reibungslos verlaufen war für meine Verhältnisse. Die Schwangerschaft, die Bilderbuchgeburt, die schöne Zeit zu Hause. Wo war der Haken?
Die Blutwerte waren in Ordnung. Keine Billi-Lampe.
Langsam wurde es Zeit, mein Nest zu verlassen und mich mit Jens ins Familiengeschehen einzuklinken. Für Weihnachten hatten sich meine drei Schwestern angekündigt, die Nanny hatte wohlverdienten Urlaub genommen; der Alltag hatte mich wieder.
Originalausgabe 2012 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München © 2012 Weissbooks GmbH, Frankfurt
Rewind
Ich erinnere mich sehr genau an den Gesichtsausdruck meines Chefs, als ich ihm berichtete, dass ich schwanger sei. Er verdrehte die Augen, und auf seiner Stirn stand in großen Lettern geschrieben: »Du sollst niemals eine verheiratete Frau um die dreißig einstellen!« Die Angelegenheit war mir furchtbar peinlich. Ich wünschte mir noch ein Kind, natürlich. Aber doch nicht jetzt! Wie konnte ich bloß zu einem so frühen Zeitpunkt wieder schwanger werden? Unsere Zwillinge waren erst achtzehn Monate alt, und ich hatte meinen Arbeitsvertrag gerade erst unterschrieben. Ein vielversprechender Marketing-Job, für den unsere Familie zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres umgezogen war. Sogar eine Nanny zur Rundum-Betreuung unserer Töchter hatte ich dafür in Dienst genommen; eine offizielle Hausangestellte mit Papieren und allem Drum und Dran.
Ich versicherte meinem Chef, dass ein weiteres Kind kein Problem sei, dass ich nur die gesetzliche Mindestauszeit in Anspruch nehmen wolle und die Nanny in Zukunft eben auf drei Kinder würde aufpassen müssen. In Belgien, wo mein Mann und ich bis vor Kurzem noch gelebt hatten, war das schließlich gang und gäbe. Dort sicherte man sich rechtzeitig einen Krippenplatz und fuhr quasi mit dem Bürostuhl in den Kreißsaal. Nach drei Monaten erschien man wieder zur Arbeit, als wäre nichts gewesen.
Bis auf einen Muttermund, der sehr bald zugeflickt werden musste, weil die Zwillinge ihn über die Maßen gedehnt hatten und er vor dem Gewicht eines weiteren Babys zu kapitulieren drohte, verlief die Schwangerschaft wie im Bilderbuch. Ich ernährte mich ungesund, arbeitete zu viel und wuchs in alle Richtungen. Ich hatte ein äußerst lebhaftes Baby in meinem Bauch. Es liebte geschäftliche Besprechungen, und oft befürchtete ich, man könnte sein ständiges Glucksen, Treten und Boxen an meiner Bauchdecke ablesen. Es schien zu allem etwas zu sagen zu haben.
So ablehnend ich ihm anfangs gegenüberstand, inzwischen freute ich mich auf mein Kind. Ein Junge. Es schmeichelte mir, wenn Kees - das ist ein holländischer Name; mein Mann ist Niederländer - bei Familienfeierlichkeiten voller Stolz von unserem Sohn sprach. Der erste Stammhalter, nachdem er und seine zwei Brüder bisher ausschließlich Mädchen gezeugt hatten. Unseren Töchtern war das »Brüderchen im Bauch« relativ egal. Sie waren noch keine zwei Jahre alt und wussten nicht recht, was ein »Baby« war, geschweige denn, wo es herkam. Sie waren glücklich mit ihrer Nanny, einer sympathischen älteren Dame, die die beiden von Herzen liebte, rund um die Uhr beschäftigte und daneben sogar noch Zeit für den Haushalt hatte. Eine Perle, enorm kostspielig zwar, aber sie hielt das schlechte Gewissen von mir fern, wenn ich im Morgengrauen das Haus verließ und erst nach Einbruch der Dunkelheit heimkehrte, weil mich unnachsichtige Kunden nach Dienstschluss in langwierige Gespräche verwickelt hatten.
Im Grunde war es erstaunlich, dass ich überhaupt jemals erfolgreich schwanger geworden war. Kurz nachdem ich Kees kennengelernt hatte - ein Arbeitskollege aus Holland mit einem lustigen Akzent und den schönsten blauen Augen, die ich je gesehen hatte -, tröpfelte aus mir eine milchig-weiße Flüssigkeit, die ich zwei Wochen lang gekonnt ignorierte, bevor sie zur Fontäne anschwoll und meine Frauenärztin mich per Eilboten in die Klinik schickte. Unnachsichtige Kunden eigneten sich schon damals gut als Entschuldigung für meinen Perfektionismus, der mich bis tief in die Nacht arbeiten und alles andere zweitrangig werden ließ. In der Klinik schlug man die Hände über dem Kopf zusammen ob meines Leichtsinns, der, so prophezeite man mir, dramatische Konsequenzen für meine Familienplanung haben würde. Es folgten zwei kritische Wochen am Penizillin-Tropf, die Kees zu der Erkenntnis kommen ließen, dass ich die Frau seines Lebens war, die Frau, mit der er eine Familie gründen wollte.
Wenig später - wir waren zwischenzeitlich in unser belgisches Büro nach Brüssel versetzt worden -, hielt Kees um meine Hand an. Ganz offiziell, im Restaurant Aux Vieux Paris bei Kerzenschein, Bordeaux und Boeuf Mignon. Ich war überwältigt vor Glück, denn nach dem unerwarteten Tod meiner Eltern, die beide gestorben waren, kurz nachdem ich ausgezogen war, sehnte ich mich nach einem sicheren Hafen. Nach einem Mann, zu dem ich aufblicken konnte, und irgendwann zwei kleinen Kinderhänden in den meinen.
Mit Kees erfüllten sich meine kühnsten Träume. Noch nie war ich jemandem begegnet, der so viel wohlwollende Souveränität ausstrahlte. Kees wusste sich in allen Lebenslagen zu behaupten. Außerdem war er groß, athletisch und hatte Unmengen lustiger Sommersprossen im Gesicht. Und diese stahlblauen Augen. Aufgewachsen war er auf einem Bauernhof, zusammen mit einem geschäftstüchtigen und redseligen Vater, einer überaus zähen, recht unterkühlten Mutter, drei Geschwistern, sechzig Kühen, zweihundert Schafen, drei Schäferhunden und Unmengen von Spinat- und Kartoffelfeldern. Kees spielte Trompete, leitete eine Musikband, hatte sein Studium mit Auszeichnung beendet und wusste genau, wo er in seiner Firma einmal hinwollte: ganz nach oben.
Ich dagegen war komplexbehaftet, wenig selbstsicher und lag im ständigen Clinch mit meinen zu strammen Oberschenkeln. Um das lange Studium an der Universität hatte ich mich herumgedrückt, und ich hatte absolut keinen Plan, was langfristig aus mir werden sollte. Hatte mich immer treiben lassen von dem, was das Leben für mich bereithielt. Es bestand kein Zweifel: Kees und ich waren das perfekte Match. Der Fels in der Brandung und das Fähnchen im Wind.
Ich erwiderte Kees' Gesuch mit einem tränenerstickten »JA!« und dankte ihm wenig später mit einer Eileiterschwangerschaft, die sich im Urlaub bemerkbar machte und sofort operiert werden musste.
Kees und ich ließen uns nicht entmutigen und probierten weiter, obwohl uns der belgische Professeur wenig Mut machte. Die Chancen für eine weitere, intakte Schwangerschaft seien gering, zumindest wenn sie auf natürlichem Weg zustande kommen sollte: »Der eine Eileiter ist komplett hinüber, der andere taugt auch nicht viel. Verklebt und vernarbt. Versuchen Sie Ihr Glück - wenn es bis nächstes Jahr nicht geklappt hat, sehen wir weiter.«
Der Professeur staunte nicht schlecht, als er vier Wochen später »des jumelles!«: Zwillinge! in mir entdeckte.
Noch ehe ich mein Glück richtig begriffen hatte, stand ich in dem klapprigen Lift unseres Brüsseler Mietshauses, die Tüten mit den Wocheneinkäufen in den Händen, und spürte eine undefinierbare Wärme zwischen meinen Beinen. Ich schaute an mir hinunter und sah die Blutlache, die sich unter mir gebildet hatte. Ich war acht Wochen schwanger und würde gleich meine Babys verlieren! Einfach auf den Steinboden würden sie fallen! Helfen Sie mir, Herr Professeur!
Vielleicht bin ich in diesem Moment zum ersten Mal in meinem Leben wirklich aufgewacht.
»Die Babys sind noch da. Die haben sich festgekrallt. Aber die Plazenta löst sich ab.« Der Professeur gab mir Hormone und Beruhigungsmittel. »Ab jetzt müssen Sie liegen bleiben. Sollten Sie wieder das Bluten anfangen, schauen Sie nach, ob festes Material dabei ist.«
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte ich Feuchtigkeit zwischen meinen Beinen. Alles war rot. Rot, rot, jeden Tag rot. Was, wenn ich eines Morgens aufwachen und »festes Material« in meinem Bett finden würde? Wenn ich meine Babys im Schlaf verlieren würde, ohne dass ich davon etwas mitbekäme? Ich hatte Angst. Angst vor dem Einschlafen, Angst vor meinen Träumen, Angst vor dem Anblick beim Aufwachen. Der Professeur verlegte mich in seine Klinik, hängte mich an einen Tropf mit Wehenhemmern und erhöhte die Beruhigungsmitteldosis.
Ein halbes Jahr später entbanden er und sein sechsköpfiges Team zwei Mädchen namens Jodie und Pauline; zwei kleine Junkies, denen der süße Saft, den ich täglich und in immer höheren Dosen bekommen hatte, schwer zu schaffen machte. Unmittelbar nach ihrer Geburt wurden sie zum Entgiften auf die Intensivstation verlegt, wo sie krampften, zitterten und manchmal das Atmen vergaßen. Die rosa Babybettchen, die die Krankenschwester so liebevoll in meinem Zimmer platziert hatte, blieben leer, und in den Tagen, die folgten, entdeckte ich einen Wesenszug an mir, der mir bis dato fremd gewesen war: Hysterie. Die Trennung von meinen Babys, welche zwei Stockwerke tiefer mit Überwachungsmonitoren verkabelt in ihren Brutkästen lagen, die hilflosen Stillversuche in einem dunklen Kabuff der Intensivstation, mein dürftiges Französisch, die Verzweiflung darüber, dass immer eines der Babys alleine war, wenn ich mich mit dem anderen beschäftigte, machten mich zum Tier. Dann diese elende Milch-Abpumperei! Abgesehen davon, dass eine Milchpumpe das Unerotischste ist, was man sich antun kann, brachte ich es irgendwie nicht fertig, mit diesem Ding keimfreie Milch zu zapfen.
»Sie müssen sich besser die Hände waschen, Madame! Wir müssen Ihre Milch schon wieder wegschütten!« Alles fühlte sich so entwürdigend an, dass ich darüber fast die Freude über die zwei kleinen Mädchen hätte vergessen können, die allen Widrigkeiten zum Trotz gesund auf die Welt gekommen waren.
Für Kees, der in der Klinik allabendlich treu an meiner Seite gesessen hatte, war mit jedem Schwangerschaftsmonat klarer geworden, dass er seine Töchter nicht in Belgien aufwachsen sehen wollte. Für den gewöhnlichen Niederländer, meinte er, gebe es zwei Dinge, die noch schmachvoller seien als mit einem deutschen Mädchen verheiratet zu sein: gegen die deutsche Elf zu verlieren und in Belgien zu wohnen.
Sehr bald packten wir also unsere Zwillinge in ihre Babyschalen und zogen ins Neckartal, wo eine deutsche Firma großes Interesse an Kees gezeigt hatte. Kees behauptete später gerne, er wäre mir zuliebe nach Deutschland gezogen. Meine These: Ihm war Benelux zu klein geworden.
Wie dem auch sei, genau ein Jahr später karrte ein Möbelwagen unser Hab und Gut vom Neckartal in Richtung Odenwald, um mir den Anfahrtsweg zu meiner neuen Arbeitsstelle zu erleichtern.
Und ein weiteres Jahr später wurde unser Sohn geboren.
In weniger als vier Jahren war aus einem einsamen Herzen mit zwei kaputten Eileitern eine fünfköpfige Familie geworden. Eine kleine Sensation.
Dezember 1997. Gegen Mitternacht spüre ich die ersten Wehen. Unverkennbar. Um zwei Uhr morgens mache ich mich mit meinem Mann auf den Weg ins Geburtshaus. Ich will dieses Kind ohne Hightech zur Welt bringen. Einfach loslassen und mich dem natürlichen Lauf der Dinge hingeben.
Es schneit. Im Geburtshaus wartet die Hebamme, eine junge, hübsche Frau, die ihr Handwerk von ihrer Mutter gelernt hat. Sie hat mich die vergangenen Wochen über betreut, ich vertraue ihr. Alles, was nun passiert, werde ich ihrer Führung überlassen. Ich habe mich gegen eine Rückenmarksbetäubung entschieden. Einmal im Leben will ich die Schmerzen fühlen, die nur eine Frau fühlen kann.
Wir sind das einzige Paar hier. Es sind noch wenige Tage bis Weihnachten. Draußen schneit es noch immer dicke Schneeflocken. Im großen Fachwerkhaus gegenüber hängen Lichterketten an den Fenstern, die die Straße in ein warmes, heimeliges Licht tauchen. Im Geburtshaus duftet es, Kerzen brennen, der Tee ist aufgesetzt. Leise Musik im Hintergrund. Unser Zimmer ist vorbereitet. Es sieht weihnachtlich aus. Die Hebamme hat blaue Bettwäsche mit goldenen Sternen für uns ausgesucht. Liebevoll.
Der Wehenschreiber malt Wehen im Drei-Minuten- Takt, die Herztöne des Kindes sind normal. Die Dinge nehmen ihren Lauf. Nichts ist mehr beeinflussbar.
Die Wehen werden schmerzhafter. Die Hebamme erklärt mir, dass sich manche Frauen in ein Seil hängen und ihre Kinder im Stehen gebären. Ich komme mir dumm vor, in dem Seil zu hängen. Mein Mann ist bei mir, aber ich habe das Gefühl, dass er mir bei dem, was ich jetzt tun muss, nicht helfen kann. Ich bin mir nicht sicher, ob ich will, dass er mich dabei beobachtet.
Es bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken. Die Wehen setzen mit voller Wucht ein. Ich will mich hinlegen. Die Schmerzen sind unerträglich. Es ist, als würde ich mit einem Messer aufgeschlitzt, von unten bis hinauf zur Kehle, einmal, zweimal, dreimal. Noch nie habe ich solche Schmerzen erlebt, nicht einmal annähernd. Nichts lässt sich mehr kontrollieren. Ich muss ein Ventil für diese Schmerzen finden, sonst platzt mir der Kopf. Zum ersten Mal in meinem Leben brülle ich den Schmerz hinaus, mit aller Gewalt. Es ist mir egal, wer zuhört. Alles ist egal.
Eineinhalb Stunden nach unserer Ankunft im Geburtshaus wird unser Sohn geboren. Noch ist er über die Nabelschnur mit mir verbunden. Mein Mann und ich liegen in dem Bett mit der Sternenbettwäsche, das Baby auf meiner Brust. Die Hebamme durchtrennt die Nabelschnur.
Es ist halb sechs Uhr morgens, draußen ist es noch dunkel. Schneeflocken tanzen im Schein der Lichterketten vom Haus gegenüber. Die Hebamme ruft den Kinderarzt. Er wird das Baby untersuchen, bevor wir es mit nach Hause nehmen. Zur Sicherheit.
Alles in Ordnung: 4100 Gramm, doppelt so schwer wie seine beiden Schwestern damals.
Eine einzigartige Nacht.
Als es hell wird, befinden wir uns zu Hause in unserem eigenen Bett. Ich liege neben meinem neugeborenen Sohn und schaue ihn an. Er schläft. Ich denke daran, wie sich noch vor wenigen Monaten alles in mir wehrte gegen das Leben, das in mir heranwuchs. So sehr, dass ich ihm ein Ende setzen wollte.
Wie um alles in der Welt habe ich jemals mit dem Gedanken spielen können, dieses Kind nicht haben zu wollen? Dieses hilflose kleine Wesen, das noch nichts kann - welche Macht hat es über mich? Alles würde ich für es tun, nachdem mein Blick zum ersten Mal auf sein Gesicht gefallen ist.
Jens.
Die Tage nach Jens' Geburt waren wunderbar. Er und ich im großen Bett, fernab von Brutkästen, Monitoren und Milchpumpen. Dazu den Luxus einer Nanny, die sich um den Haushalt kümmerte und mit Jodie und Pauline bunte Weihnachtsplätzchen buk, welche ich voller Begeisterung ans Bett serviert bekam.
Der Weihnachtsfrieden, die Harmonie, das Losgelöst- sein von allen Terminzwängen - endlich hatte ich Zeit, mir gewahr zu werden, wie viel Glück ich eigentlich hatte. Drei gesunde Kinder: Jodie, Pauline und Jens. Der Sohn, der meinen Eltern immer verwehrt geblieben war, obwohl mein Vater ihn sich so sehr gewünscht hatte. Ich verspürte eine unendliche Dankbarkeit. Wie konnte ich ihr Ausdruck verleihen?
Während Kees mit den Zwillingen den Weihnachtsbaum schmückte, schaute ich eine der üblichen Wohltätigkeitssendungen, welche mit ihrem: »Tut Gutes, und zwar JETZT!« an die vorweihnachtliche Spendierfreudigkeit der Zuschauer appellieren. Solche Sendungen rührten mich jedes Mal zu Tränen, obwohl ich noch nie auf die Idee gekommen war, zum Telefonhörer zu greifen. Es ging um Patenschaften für Kinder aus Entwicklungsländern, denen man mit einem vergleichsweise geringen monatlichen Geldbetrag eine Schulbildung finanzieren konnte. Diesmal zögerte ich keine Sekunde. »Es wäre schön, wenn Sie sich für ein Mädchen entscheiden würden. Ihre Situation ist schwieriger als die der Jungen«, legte mir die freundliche Dame am Telefon nahe.
Natürlich, ein Mädchen. Rosa, aus Venezuela. Als Ventil für meine Dankbarkeit.
Jens war ein unkompliziertes Baby. Wenn er an meiner Brust getrunken hatte, schnell und gierig, versank er unmittelbar in tiefen Schlaf und wachte erst zur nächsten Mahlzeit wieder auf. Diese Effizienz kannte ich bereits von meinen Zwillingen. Jodie rechts, Pauline links, fünf Minuten pro Nase, fertig. Man holt sich genau das, was man braucht; die Nachfrage regelt das Angebot, und solange die Mutter genug Milchbildungstee trinkt, kann nichts schiefgehen. Keine Plastikfläschchen, keine Gummisauger, keine Sterilisiergeräte. Außerordentlich praktisch.
Die Hebamme stattete uns täglich einen Besuch ab. »Brrr, hier ist es aber kalt! Machen Sie nie das Fenster zu?« Sie schüttelte sich jedes Mal, wenn sie unser Schlafzimmer betrat. »Ja, sorry. Eine kleine Phobie. Ich denke immer, ich muss ersticken, wenn ich zu lange in einem geschlossenen Raum bin. Frischluftfanatikerin sozusagen. Aber Sauerstoff ist doch gut für die Babys. Die Dänen stellen ihre Babys zum Schlafen immer vor die Haustür!« Die Hebamme riet mir, Jens' kalte Fingerchen und Zehen gut unter meiner warmen Bettdecke zu verstecken, ganz nah an meinem Körper.
Dann wurde Jens plötzlich gelb im Gesicht. Ich wusste, was das zu bedeuten hatte: die Leber. Anpassungsschwierigkeiten, nichts Ungewöhnliches für ein Neugeborenes. Doch ich wehrte mich heftig gegen den Gedanken, mein Nest verlassen und Jens unter die Billi-Lampe irgendeiner Arztpraxis legen zu müssen, womöglich tagelang. Bloß das nicht! Von diesem Kind sollte mich keiner trennen, nicht, wenn ich es verhindern konnte.
»Wir können ihm ja erst mal nur Blut abnehmen.« Die Hebamme spürte wohl, wie ernst es mir war. »Dieses Baby hat wirklich ungewöhnlich kalte Hände«, stellte sie noch fest, während sie versuchte, Jens' bläulicher Fingerkuppe einen Tropfen Blut abzugewinnen. »Halten Sie ihn schön warm unter Ihrer Bettdecke. Und machen Sie ab und zu das Fenster zu.«
In dieser Nacht schlief ich unruhig. Ein paar Mal schon war mir der Gedanke gekommen, dass alles viel zu reibungslos verlaufen war für meine Verhältnisse. Die Schwangerschaft, die Bilderbuchgeburt, die schöne Zeit zu Hause. Wo war der Haken?
Die Blutwerte waren in Ordnung. Keine Billi-Lampe.
Langsam wurde es Zeit, mein Nest zu verlassen und mich mit Jens ins Familiengeschehen einzuklinken. Für Weihnachten hatten sich meine drei Schwestern angekündigt, die Nanny hatte wohlverdienten Urlaub genommen; der Alltag hatte mich wieder.
Originalausgabe 2012 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München © 2012 Weissbooks GmbH, Frankfurt
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Autoren-Porträt von Ellen Jacobi
Ellen Jacobi, 1960 am Niederrhein geboren, entdeckte als Tochter einer Bibliothekarin und Märchenbuchsammlerin früh ihre Liebe zu Büchern und zum Geschichtenerzählen. Nach einem Literatur- und Anglistikstudium arbeitete sie als Reiseleiterin und Lehrerin in England. In Deutschland war sie als Redakteurin für Tageszeitungen und Magazine tätig. Heute lebt sie mit ihrer Tochter in Köln.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ellen Jacobi
- Altersempfehlung: 16 - 99 Jahre
- 2012, 2. Aufl., 560 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404166760
- ISBN-13: 9783404166763
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