Das Winterwunder von Friday Harbor / Friday Harbor Bd.1
Roman, Deutsche Erstveröffentlichung
Nach dem Tod ihres Mannes wagt Maggie in Friday Harbor einen Neuanfang. Eines Tages betritt die kleine Holly mit ihrem attraktiven Onkel Mark Maggies kleinen Spielzeugladen. Und sie hat nur einen Wunsch: eine Mami.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Das Winterwunder von Friday Harbor / Friday Harbor Bd.1 “
Nach dem Tod ihres Mannes wagt Maggie in Friday Harbor einen Neuanfang. Eines Tages betritt die kleine Holly mit ihrem attraktiven Onkel Mark Maggies kleinen Spielzeugladen. Und sie hat nur einen Wunsch: eine Mami.
Klappentext zu „Das Winterwunder von Friday Harbor / Friday Harbor Bd.1 “
MAGIC MIRRORS In goldenen Lettern prangt der Name über dem Schaufenster. Und dieser Spielzeugladen bedeutet Maggie Collins alles. Nachdem ihr Mann vor zwei Jahren gestorben ist, wagt sie in Friday Harbor einen Neuanfang. Als dann der attraktive Mark mit seiner kleinen Nichte Holly das Geschäft betritt, ist Maggie wie verzaubert. Viel mehr als Spielzeug wünscht sich das kleine Mädchen eine Mami!Und ihr charmanter Onkel Kann es sein, dass das Schicksal Maggie diesen Mann geschickt hat? Aber nein, Mark ist allem Anschein nach vergeben.
Und doch erobert nicht nur das kleine Mädchen Maggies Herz im Sturm. Wenn Mark ihre Gefühle erwidert, wäre das Winterwunder perfekt
Deutsche Erstveröffentlichung
Lese-Probe zu „Das Winterwunder von Friday Harbor / Friday Harbor Bd.1 “
Das Winterwunder von Friday Harbor von Lisa KleypasÜbersetzung: Anita Sprungk
1. KAPITEL
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Bevor seine Schwester starb, führte Mark Nolan das typische ruhelose Leben eines Junggesellen und pflegte ein eher gleichgültiges Verhältnis zu seiner Nichte Holly. Er empfand vage Zuneigung, hatte aber keine echte Beziehung zu ihr. Sie sahen einander nur auf Familienfesten. Zu ihren Geburtstagen sowie zu Weihnachten schenkte er ihr immerhin stets etwas, meistens waren es Gutscheine. Das war das Äußerste, an mehr Kontakt war Mark nie interessiert.
Aber das änderte sich grundlegend, als seine Schwester Victoria an einem regnerischen Abend bei einem Autounfall auf der Interstate 95 in Seattle ums Leben kam. Sie hatte nie ein Testament erwähnt oder über ihre Zukunftspläne für Holly gesprochen. Mark wusste also nicht, was jetzt aus Vicks sechsjähriger Tochter werden sollte. Seine Schwester war nicht verheiratet, und sie hatte niemandem verraten, wer Hollys Vater war, nicht einmal ihren engsten Freunden. Mark war sich nahezu völlig sicher, dass sie auch dem Vater selbst nie von seiner Tochter erzählt hatte.
Als Victoria seinerzeit nach Seattle gezogen war, hatte sie sich einer sehr unkonventionellen Clique angeschlossen, darunter vor allem Musiker und andere Künstler. Daraus ergab sich eine Reihe kurzer Affären, die Victoria zunächst das bunte künstlerische Ambiente boten, nach dem sie sich gesehnt hatte. Schließlich aber musste sie sich eingestehen, dass ein erfülltes Privatleben allein nicht ausreichte. Man brauchte auch ein regelmäßiges Einkommen.
Also bewarb sie sich bei einem Softwareunternehmen und bekam eine Stelle in der Personalabteilung. Die Firma zahlte gut und erwies sich auch bei den Sozialleistungen als großzügig. Leider musste Victoria ungefähr zeitgleich feststellen, dass sie schwanger war.
Als Mark sie nach dem Vater fragte, meinte sie nur: "Es ist besser für alle Beteiligten, wenn er aus dem Spiel bleibt."
"Du brauchst aber jemanden, der dir hilft", protestierte Mark. "Der Typ sollte wenigstens seinen finanziellen Verpflichtungen nachkommen. Ein Kind großzuziehen ist nicht gerade billig."
"Ich komme allein klar.
"Vick ... Ein Leben als alleinerziehende Mutter - das würde ich niemandem wünschen!"
"Sei ehrlich. Du schiebst doch schon Panik, wenn du überhaupt nur an Kinder denkst. Ich verstehe das, sehr gut sogar. Wenn man bedenkt, wie unsere Kindheit ausgesehen hat ... Aber ich will dieses Baby, und ich werde ihm eine gute Mutter sein."
Sie hatte ihr Versprechen gehalten. Victoria hatte sich als sehr verantwortungs-bewusste Mutter erwiesen. Sie war geduldig und lieb zu ihrem einzigen Kind. Sie schenkte Holly Geborgenheit und Schutz, ohne sie zu sehr zu behüten. Woher sie ihre mütterlichen Fähigkeiten nahm, war Mark ein Rätsel. Es konnte sich nur um Instinkte handeln, denn eins stand fest: Von ihren Eltern hatte sie das nicht gelernt.
Mark wusste ohne jeden Zweifel, dass er über keinerlei Vaterinstinkte verfügte. Deshalb warf es ihn völlig aus der Bahn, als er erfuhr, dass er nicht nur seine Schwester verloren, sondern obendrein ein Kind bekommen hatte.
Nie hätte er erwartet, zu Hollys Vormund bestimmt zu werden. Er kannte seine Fähigkeiten recht genau, und er hatte keine Angst, unbekannte Situationen zu meistern. Aber sich um ein Kind kümmern zu müssen ... Das überstieg seine Vorstellungskraft bei Weitem.
Wenn Holly ein Junge gewesen wäre, hätte er sich vielleicht eine klitzekleine Chance eingeräumt. Jungen waren nicht sonderlich schwer zu durchschauen. Das weibliche Geschlecht hingegen war Mark stets ein Rätsel geblieben.
Schon vor langer Zeit hatte er akzeptiert, dass Frauen einfach schwierig waren. Sie sagten Dinge wie: „Wenn du nicht von allein drauf kommst, werde ich es dir auch nicht verraten." Sie bestellten nie selbst ihr Dessert, und wenn sie einen fragten, was sie anziehen sollten, wählten sie am Ende immer etwas ganz anderes als das, was man ihnen vorgeschlagen hatte.
Obwohl Mark also niemals von sich behaupten würde, Frauen zu verstehen, betete er sie an. Er liebte die Überraschungen, die sie ihm bereiteten, ebenso wie ihre undurchschaubaren und faszinierenden Stimmungsschwankungen.
Aber wenn es darum ging, eines dieser seltsamen Wesen aufzuziehen ... Um Himmels willen, nein! Das Risiko war viel zu groß. Niemals könnte er einem Mädchen ein gutes Vorbild sein, geschweige denn eine Tochter auf die Fallstricke der modernen Gesellschaft vorbereiten. Dafür reichten seine Fähigkeiten einfach nicht aus.
Mark und seine Geschwister waren in einer Familie aufgewachsen, in der die Eltern einen Zermürbungskrieg gegeneinander führten und die Kinder dabei für ihre Zwecke manipulierten. Infolgedessen waren die drei Brüder Mark, Sam und Alex heilfroh gewesen, eigene Wege gehen zu können, kaum dass sie erwachsen waren.
Victoria hingegen hatte sich immer die enge Beziehung und den Zusammenhalt gewünscht, die ihre Familie ihr nie hatte bieten können. Beides hatte sie als alleinerziehende Mutter für Holly gefunden und war glücklich damit.
Aber eine unglückliche halbe Drehung am Lenkrad und ein schlüpfriges Stück nasser Asphalt waren ihr zum Verhängnis geworden. Ihr Wagen war außer Kontrolle geraten, und Victorias Leben hatte grausam früh geendet.
Sie hatte in dem Ordner mit ihrem Testament einen verschlossenen Briefumschlag hinterlassen, der an Mark adressiert war. Darin stand:
Niemand außer Dir kommt als Vormund infrage. Holly kennt weder Sam noch Alex. Ich schreibe dies in der Hoffnung, dass Du es nie lesen musst, aber falls doch: Kümmere Dich um meine Tochter, Mark! Steh ihr bei! Sie braucht Dich. Mir ist klar, wie überwältigend Dir diese Verantwortung vorkommen muss, und es tut mir leid. Ich weiß, dass Du Dir das nie gewünscht hast. Aber Du kannst es.
Du wirst mit allem zurechtkommen.
Zermartere Dir nicht den Kopf, wie Du das anstellen sollst. Hab sie einfach lieb! Der Rest ergibt sich von allein.
"Du willst sie wirklich zu dir nehmen?" Sam hatte die Frage am Tag der Beerdigung gestellt, nach einem Empfang in Victorias Haus. Es war ein unheimliches Gefühl, sich in diesem Haus aufzuhalten. Alles war noch so, wie sie es hinterlassen hatte.
Die Bücher im Regal, ein Paar Schuhe achtlos hingeworfen auf dem Boden der Abstellkammer, ein Lippenstift auf der Ablage unter dem Badezimmerspiegel.
"Natürlich nehme ich sie zu mir", antwortete Mark. "Was bleibt mir denn sonst übrig?"
"Was ist mit Alex? Er ist verheiratet. Warum hat Vicky ihre Tochter nicht ihm und Darcy anvertraut?"
Mark warf ihm einen vielsagenden Blick zu. Die Ehe ihres jüngsten Bruders ähnelte einem virenverseuchten Computer. Selbst im abgesicherten Modus liefen darauf Programme, die auf den ersten Blick harmlos wirkten, aber im Hintergrund Übles anrichteten.
"Hättest du den beiden dein Kind anvertraut?", fragte Mark.
Langsam schüttelte Sam den Kopf. "Vermutlich nicht."
"Also sind du und ich alles, was Holly hat."
Sam musterte ihn misstrauisch. "Du gehst hier eine Verpflichtung ein, nicht ich. Es hat schon seinen Grund, warum Vick nicht mich zum Vormund bestimmt hat. Ich kann nicht mit Kindern umgehen."
"Trotzdem bist du Hollys Onkel."
"Ja, ihr Onkel. Meine Verantwortung beschränkt sich darauf, schlechte Witze über Körperfunktionen zu reißen und bei Familienfesten zu viel zu trinken. Ich bin ganz und gar kein väterlicher Typ."
"Das bin ich auch nicht", gab Mark finster zurück. "Aber wir müssen es versuchen. Es sei denn, wir wollen sie in eine Pflegefamilie geben."
Sam runzelte die Stirn und rieb sich mit den Händen übers Gesicht. "Wie steht Shelby zu dieser Sache?"
Bei der Erwähnung seiner Freundin schüttelte Mark den Kopf. Sie war Innenarchitektin, und sie waren einander begegnet, als sie die Inneneinrichtung des Luxushauses eines Freundes in Griffin Bay geplant hatte. "Ich gehe erst seit ein paar Monaten mit ihr. Entweder sie kommt damit zurecht, oder sie lässt mich sitzen. Die Entscheidung überlasse ich ihr. Und ich werde sie nicht darum bitten, mir zu helfen. Ich trage die Verantwortung. Und du auch."
"Vielleicht kann ich manchmal den Babysitter spielen. Aber zähl nicht allzu sehr auf meine Hilfe. Ich habe alle meine Rücklagen in mein Weingut gesteckt."
"Obwohl ich dir geraten hatte, das nicht zu tun, du Genie."
Sam senkte die Lider über den Augen, die so blaugrün wie die seines Bruders waren. "Wenn ich auf deine guten Ratschläge hören würde, müsste ich ja deine Fehler wiederholen, statt meine eigenen zu machen." Er stockte. "Wo bewahrt Vick eigentlich ihren Schnaps auf?"
"In der Speisekammer." Mark ging zu einem Schrank, kramte zwei Gläser heraus und gab Eis hinein.
Sam durchstöberte die Speisekammer. "Schon irgendwie komisch - wir trinken ihren Schnaps, und sie ist ... tot."
"Sie wäre die Erste, die uns dazu auffordern würde."
"Vermutlich hast du recht." Sam kam mit einer Flasche Whiskey zurück an den Tisch. "Hatte sie eine Lebensversicherung?"
Mark schüttelte den Kopf. "Schon, aber sie hat die Prämien nicht bezahlt."
Sam musterte ihn besorgt. "Ich schätze, du wirst das Haus zum Verkauf anbieten?"
"Ja. Aber ich glaube nicht, dass es etwas einbringen wird. Der Immobilienmarkt gibt zurzeit nicht viel her." Mark schob seinem Bruder sein Glas hin. "Nicht knausern, bitte."
"Keine Bange." Sam füllte die Gläser fast bis zum Rand. Dann setzten sie sich wieder einander gegenüber, stießen schweigend miteinander an und tranken. Der Whiskey war gut, floss glatt durch Marks Kehle und füllte seinen Bauch mit angenehmer Wärme.
Mark war überrascht, wie gut es ihm tat, mit seinem Bruder zusammenzusitzen und zu reden. Es sah ganz so aus, als stünden die Auseinandersetzungen ihrer Kindheit - die ständigen Streiteren und kleineren Vertrauensbrüche - ihnen nicht mehr im Weg. Jetzt waren sie erwachsen. Sie konnten vielleicht sogar Freunde werden, was ein Ding der Unmöglichkeit gewesen war, solange ihre Eltern noch gelebt hatten.
Alex hingegen konnte man gar nicht nah genug kommen, um zu entscheiden, ob man ihn mochte oder verabscheute. Er und seine Frau Darcy waren zu der Beerdigung erschienen. Auf dem anschließenden Empfang waren sie nur etwa fünfzehn Minuten geblieben und dann gegangen. Sie hatten kaum ein Wort mit jemandem gewechselt.
"Sie sind schon weg?", hatte Mark ungläubig gefragt, als ihm ihre Abwesenheit aufgefallen war.
"Wenn du gewollt hättest, dass sie länger bleiben", meinte Sam, "hättest du die Trauerfeier im Nordstrom in Seattle abhalten sollen."
Zweifellos fragten sich die Leute, wie es möglich war, dass die drei Brüder auf San Juan, einer Insel mit gerade mal achttausend Einwohnern wohnten, und doch so wenig miteinander zu tun hatten.
Alex lebte mit seiner Frau in Roche Harbor auf der Westseite der Insel. Wenn er nicht gerade für sein Immobilienunternehmen arbeitete, führte er Darcy zu gesellschaftlichen Ereignissen nach Seattle aus. Mark seinerseits hatte gut in der kleinen Kaffeerösterei zu tun, die er in Friday Harbor gegründet hatte. Sam, der sich fast ständig in seinem Weingut aufhielt und dort seine Rebstöcke hegte und pflegte, fühlte sich der Natur weit stärker verbunden als den Menschen.
Aber sie hatten eines gemeinsam: ihre Liebe zu San Juan. Sie gehörte zu einem Archipel von beinahe zweihundert Inseln im Staate Washington, von denen einige auch in den Bezirken Whatcom und Skagit lagen. Die Nolans hatten ihre Kindheit im Regenschatten der Olympic Mountains verbracht, in einer Gegend, die gut vom grauen Klima des amerikanischen Nordwestens abgeschirmt war.
Sie waren in der salzigen Meeresluft groß geworden, hatten beinahe ständig den Schlick des feuchten Bodens an den bloßen Füßen gehabt. Sie genossen die milden Morgenstunden, die klaren Tage unter blauem Himmel und die schönsten Sonnenuntergänge der Welt. Nichts war faszinierender als der Anblick der flinken Wasserläufer, die zwischen den Wellen umherhuschten. Oder dem der Weißkopfseeadler, die am Himmel kreisten und sich auf Beute stürzten. Oder dem Tanz der Schwertwale, deren glatte, geschmeidige Körper auf- und wieder abtauchten, deren Rückenflossen die Salish Sea durchschnitten, während sie Jagd auf die wandernden Lachse machten.
Die Brüder hatten jeden Quadratzentimeter der Insel erkundet, hatten auf den vom Wind zerklüfteten Hängen über der Küste, in den düsteren Schatten der Wälder und auf den Wiesen herumgetollt, auf denen Wildblumen mit faszinierenden Namen blühten: Schokoladenlilie, Sternschnuppe, Meeresröte. Kein Gewässer, kein Fleckchen Erde, kein Stück Himmel war auch nur annähernd so vollkommen wie San Juan.
Obwohl sie alle auf verschiedene Colleges gegangen waren und versucht hatten, sich woanders heimisch zu fühlen, hatte die Insel sie immer wieder zurückgelockt. Sogar Alex, der nüchterne, kalte, ehrgeizige Alex, war zurückgekommen.
Hier kannte man noch die Bauern, deren Produkte man aß, und den Typen, der die Seife herstellte, mit der man sich wusch. Man grüßte die Besitzer der Restaurants, die man besuchte, mit Vornamen, und konnte gefahrlos per Anhalter unterwegs sein, weil die freundlichen Inselbewohner gern jeden mitnahmen, der gerade eine Mitfahrgelegenheit brauchte.
Victoria hatte als einziges Familienmitglied etwas gefunden, für das es sich lohnte, San Juan zu verlassen. Sie hatte sich in die Glastürme und Häuserschluchten von Seattle verliebt, in das städtische Kulturleben, die modern und stilvoll ausgestatteten Restaurants, in denen dem Gaumenkitzel gefrönt wurde, und in das alle Sinne beflügelnde Labyrinth des Pike Place Market, des größten Wochenmarktes von Seattle.
Auf Sams Bemerkung, dass die Leute in der Stadt für seinen Geschmack zu viel redeten und grübelten, hatte sie geantwortet, dass Seattle sie klüger mache.
"Ich brauche nicht klüger zu werden", hatte Sam daraufhin gemeint. "Je klüger man ist, desto mehr Gründe hat man, sich elend zu fühlen."
"Das erklärt natürlich, warum wir Nolans immer so wahnsinnig gut drauf sind", hatte Mark daraufhin eingeworfen und ihre Schwester damit zum Lachen gebracht.
Kurz darauf war sie wieder ernst geworden. "Das gilt aber nicht für Alex. Ich glaube nicht, dass er bisher auch nur einen Tag seines Lebens glücklich war."
"Alex will gar nicht glücklich sein", hatte Mark erwidert. "Er ist schon mit weitaus weniger zufrieden."
Mark schob die Erinnerungen beiseite und fragte sich, was Victoria wohl sagen würde, wenn sie wüsste, dass Holly auf San Juan aufwachsen würde.
Ihm wurde erst bewusst, dass er laut gedacht hatte, als Sam ihm antwortete.
"Glaubst du ernsthaft, das hätte sie überrascht? Vick wusste, dass du die Insel nie verlassen würdest. Du hast hier deine Kaffeerösterei, dein Zuhause und deine Freunde. Ich bin sicher, dass sie wusste: Wenn ihr etwas zustoßen sollte, holst du Holly nach Friday Harbor."
Mark nickte. Er empfand eine innere Leere und Niedergeschlagenheit. Was der Verlust der Mutter für das Kind bedeutete, darüber mochte er gar nicht nachdenken.
"Hat sie heute irgendwas gesagt?", fragte Sam. "Ich habe keinen Piep von ihr vernommen."
Seit Holly vom Tod ihrer Mutter erfahren hatte, schwieg sie. Wenn man sie etwas fragte, nickte sie nur oder schüttelte den Kopf. Ihr Gesichtsausdruck wirkte entrückt und verstört. Sie hatte sich tief in sich selbst zurückgezogen, und niemand konnte sie dort erreichen.
In der Nacht, in der Victoria ums Leben gekommen war, war Mark vom Krankenhaus direkt zu ihrem Haus gefahren, in dem sich ein Babysitter um das kleine Mädchen gekümmert hatte. Gleich am nächsten Morgen hatte Mark dem Kind gesagt, was geschehen war. Und seitdem war er praktisch nicht von ihrer Seite gewichen.
"Nichts", antwortete er. "Wenn sie bis morgen nicht anfängt zu reden, gehe ich mit Holly zu ihrem Kinderarzt." Er atmete flach und zittrig aus, bevor er hinzufügte: "Ich weiß nicht mal, wer ihr Kinderarzt ist."
"Am Kühlschrank hängt ein Zettel mit Namen und Telefonnummern", meinte Sam. "Hollys Arzt steht auch darauf. Ich schätze, Vick hatte den Zettel für den Babysitter dort hängen. Damit er im Notfall weiß, an wen er sich zu wenden hat."
zurückgelockt. Sogar Alex, der nüchterne, kalte, ehrgeizige Alex, war zurückgekommen.
Hier kannte man noch die Bauern, deren Produkte man aß, und den Typen, der die Seife herstellte, mit der man sich wusch. Man grüßte die Besitzer der Restaurants, die man besuchte, mit Vornamen, und konnte gefahrlos per Anhalter unterwegs sein, weil die freundlichen Inselbewohner gern jeden mitnahmen, der gerade eine Mitfahrgelegenheit brauchte.
Victoria hatte als einziges Familienmitglied etwas gefunden, für das es sich lohnte, San Juan zu verlassen. Sie hatte sich in die Glastürme und Häuserschluchten von Seattle verliebt, in das städtische Kulturleben, die modern und stilvoll ausgestatteten Restaurants, in denen dem Gaumenkitzel gefrönt wurde, und in das alle Sinne beflügelnde Labyrinth des Pike Place Market, des größten Wochenmarktes von Seattle.
Auf Sams Bemerkung, dass die Leute in der Stadt für seinen Geschmack zu viel redeten und grübelten, hatte sie geantwortet, dass Seattle sie klüger mache.
"Ich brauche nicht klüger zu werden", hatte Sam daraufhin gemeint. "Je klüger man ist, desto mehr Gründe hat man, sich elend zu fühlen."
"Das erklärt natürlich, warum wir Nolans immer so wahnsinnig gut drauf sind", hatte Mark daraufhin eingeworfen und ihre Schwester damit zum Lachen gebracht.
Kurz darauf war sie wieder ernst geworden. "Das gilt aber nicht für Alex. Ich glaube nicht, dass er bisher auch nur einen Tag seines Lebens glücklich war."
"Alex will gar nicht glücklich sein", hatte Mark erwidert. "Er ist schon mit weitaus weniger zufrieden."
Mark schob die Erinnerungen beiseite und fragte sich, was Victoria wohl sagen würde, wenn sie wüsste, dass Holly auf San Juan aufwachsen würde.
Ihm wurde erst bewusst, dass er laut gedacht hatte, als Sam ihm antwortete.
"Glaubst du ernsthaft, das hätte sie überrascht? Vick wusste, dass du die Insel nie verlassen würdest. Du hast hier deine Kaffeerösterei, dein Zuhause und deine Freunde. Ich bin sicher, dass sie wusste: Wenn ihr etwas zustoßen sollte, holst du Holly nach Friday Harbor."
Mark nickte. Er empfand eine innere Leere und Niedergeschlagenheit. Was der Verlust der Mutter für das Kind bedeutete, darüber mochte er gar nicht nachdenken.
"Hat sie heute irgendwas gesagt?", fragte Sam. "Ich habe keinen Piep von ihr vernommen."
Seit Holly vom Tod ihrer Mutter erfahren hatte, schwieg sie. Wenn man sie etwas fragte, nickte sie nur oder schüttelte den Kopf. Ihr Gesichtsausdruck wirkte entrückt und verstört. Sie hatte sich tief in sich selbst zurückgezogen, und niemand konnte sie dort erreichen.
In der Nacht, in der Victoria ums Leben gekommen war, war Mark vom Krankenhaus direkt zu ihrem Haus gefahren, in dem sich ein Babysitter um das kleine Mädchen gekümmert hatte. Gleich am nächsten Morgen hatte Mark dem Kind gesagt, was geschehen war. Und seitdem war er praktisch nicht von ihrer Seite gewichen.
"Nichts", antwortete er. "Wenn sie bis morgen nicht anfängt zu reden, gehe ich mit Holly zu ihrem Kinderarzt." Er atmete flach und zittrig aus, bevor er hinzufügte: "Ich weiß nicht mal, wer ihr Kinderarzt ist."
"Am Kühlschrank hängt ein Zettel mit Namen und Telefonnummern", meinte Sam. "Hollys Arzt steht auch darauf. Ich schätze, Vick hatte den Zettel für den Babysitter dort hängen. Damit er im Notfall weiß, an wen er sich zu wenden hat."
Mark erhob sich, ging hinüber zum Kühlschrank, nahm den Haftnotizzettel ab, der dort hing, und steckte ihn in seine Brieftasche. "Großartig", meinte er sarkastisch. "Jetzt weiß ich wenigstens genauso viel wie der Babysitter."
"Es ist ein Anfang."
Mark setzte sich wieder an den Tisch und nahm einen kräftigen Schluck von seinem Whiskey. "Es gibt da etwas, was ich mit dir bereden muss. Meine Wohnung in Friday Harbor ist zu klein für mich und Holly. Ich habe dort nur ein Schlafzimmer, und es gibt keinen Hof, auf dem die Kleine spielen könnte."
"Willst du die Wohnung verkaufen?"
"Vielleicht vermiete ich sie."
"Und wo willst du dann hin?"
Mark schwieg lange und nachdrücklich, bevor er antwortete: "Du hast jede Menge Platz bei dir."
© MIRA Taschenbuch
Bevor seine Schwester starb, führte Mark Nolan das typische ruhelose Leben eines Junggesellen und pflegte ein eher gleichgültiges Verhältnis zu seiner Nichte Holly. Er empfand vage Zuneigung, hatte aber keine echte Beziehung zu ihr. Sie sahen einander nur auf Familienfesten. Zu ihren Geburtstagen sowie zu Weihnachten schenkte er ihr immerhin stets etwas, meistens waren es Gutscheine. Das war das Äußerste, an mehr Kontakt war Mark nie interessiert.
Aber das änderte sich grundlegend, als seine Schwester Victoria an einem regnerischen Abend bei einem Autounfall auf der Interstate 95 in Seattle ums Leben kam. Sie hatte nie ein Testament erwähnt oder über ihre Zukunftspläne für Holly gesprochen. Mark wusste also nicht, was jetzt aus Vicks sechsjähriger Tochter werden sollte. Seine Schwester war nicht verheiratet, und sie hatte niemandem verraten, wer Hollys Vater war, nicht einmal ihren engsten Freunden. Mark war sich nahezu völlig sicher, dass sie auch dem Vater selbst nie von seiner Tochter erzählt hatte.
Als Victoria seinerzeit nach Seattle gezogen war, hatte sie sich einer sehr unkonventionellen Clique angeschlossen, darunter vor allem Musiker und andere Künstler. Daraus ergab sich eine Reihe kurzer Affären, die Victoria zunächst das bunte künstlerische Ambiente boten, nach dem sie sich gesehnt hatte. Schließlich aber musste sie sich eingestehen, dass ein erfülltes Privatleben allein nicht ausreichte. Man brauchte auch ein regelmäßiges Einkommen.
Also bewarb sie sich bei einem Softwareunternehmen und bekam eine Stelle in der Personalabteilung. Die Firma zahlte gut und erwies sich auch bei den Sozialleistungen als großzügig. Leider musste Victoria ungefähr zeitgleich feststellen, dass sie schwanger war.
Als Mark sie nach dem Vater fragte, meinte sie nur: "Es ist besser für alle Beteiligten, wenn er aus dem Spiel bleibt."
"Du brauchst aber jemanden, der dir hilft", protestierte Mark. "Der Typ sollte wenigstens seinen finanziellen Verpflichtungen nachkommen. Ein Kind großzuziehen ist nicht gerade billig."
"Ich komme allein klar.
"Vick ... Ein Leben als alleinerziehende Mutter - das würde ich niemandem wünschen!"
"Sei ehrlich. Du schiebst doch schon Panik, wenn du überhaupt nur an Kinder denkst. Ich verstehe das, sehr gut sogar. Wenn man bedenkt, wie unsere Kindheit ausgesehen hat ... Aber ich will dieses Baby, und ich werde ihm eine gute Mutter sein."
Sie hatte ihr Versprechen gehalten. Victoria hatte sich als sehr verantwortungs-bewusste Mutter erwiesen. Sie war geduldig und lieb zu ihrem einzigen Kind. Sie schenkte Holly Geborgenheit und Schutz, ohne sie zu sehr zu behüten. Woher sie ihre mütterlichen Fähigkeiten nahm, war Mark ein Rätsel. Es konnte sich nur um Instinkte handeln, denn eins stand fest: Von ihren Eltern hatte sie das nicht gelernt.
Mark wusste ohne jeden Zweifel, dass er über keinerlei Vaterinstinkte verfügte. Deshalb warf es ihn völlig aus der Bahn, als er erfuhr, dass er nicht nur seine Schwester verloren, sondern obendrein ein Kind bekommen hatte.
Nie hätte er erwartet, zu Hollys Vormund bestimmt zu werden. Er kannte seine Fähigkeiten recht genau, und er hatte keine Angst, unbekannte Situationen zu meistern. Aber sich um ein Kind kümmern zu müssen ... Das überstieg seine Vorstellungskraft bei Weitem.
Wenn Holly ein Junge gewesen wäre, hätte er sich vielleicht eine klitzekleine Chance eingeräumt. Jungen waren nicht sonderlich schwer zu durchschauen. Das weibliche Geschlecht hingegen war Mark stets ein Rätsel geblieben.
Schon vor langer Zeit hatte er akzeptiert, dass Frauen einfach schwierig waren. Sie sagten Dinge wie: „Wenn du nicht von allein drauf kommst, werde ich es dir auch nicht verraten." Sie bestellten nie selbst ihr Dessert, und wenn sie einen fragten, was sie anziehen sollten, wählten sie am Ende immer etwas ganz anderes als das, was man ihnen vorgeschlagen hatte.
Obwohl Mark also niemals von sich behaupten würde, Frauen zu verstehen, betete er sie an. Er liebte die Überraschungen, die sie ihm bereiteten, ebenso wie ihre undurchschaubaren und faszinierenden Stimmungsschwankungen.
Aber wenn es darum ging, eines dieser seltsamen Wesen aufzuziehen ... Um Himmels willen, nein! Das Risiko war viel zu groß. Niemals könnte er einem Mädchen ein gutes Vorbild sein, geschweige denn eine Tochter auf die Fallstricke der modernen Gesellschaft vorbereiten. Dafür reichten seine Fähigkeiten einfach nicht aus.
Mark und seine Geschwister waren in einer Familie aufgewachsen, in der die Eltern einen Zermürbungskrieg gegeneinander führten und die Kinder dabei für ihre Zwecke manipulierten. Infolgedessen waren die drei Brüder Mark, Sam und Alex heilfroh gewesen, eigene Wege gehen zu können, kaum dass sie erwachsen waren.
Victoria hingegen hatte sich immer die enge Beziehung und den Zusammenhalt gewünscht, die ihre Familie ihr nie hatte bieten können. Beides hatte sie als alleinerziehende Mutter für Holly gefunden und war glücklich damit.
Aber eine unglückliche halbe Drehung am Lenkrad und ein schlüpfriges Stück nasser Asphalt waren ihr zum Verhängnis geworden. Ihr Wagen war außer Kontrolle geraten, und Victorias Leben hatte grausam früh geendet.
Sie hatte in dem Ordner mit ihrem Testament einen verschlossenen Briefumschlag hinterlassen, der an Mark adressiert war. Darin stand:
Niemand außer Dir kommt als Vormund infrage. Holly kennt weder Sam noch Alex. Ich schreibe dies in der Hoffnung, dass Du es nie lesen musst, aber falls doch: Kümmere Dich um meine Tochter, Mark! Steh ihr bei! Sie braucht Dich. Mir ist klar, wie überwältigend Dir diese Verantwortung vorkommen muss, und es tut mir leid. Ich weiß, dass Du Dir das nie gewünscht hast. Aber Du kannst es.
Du wirst mit allem zurechtkommen.
Zermartere Dir nicht den Kopf, wie Du das anstellen sollst. Hab sie einfach lieb! Der Rest ergibt sich von allein.
"Du willst sie wirklich zu dir nehmen?" Sam hatte die Frage am Tag der Beerdigung gestellt, nach einem Empfang in Victorias Haus. Es war ein unheimliches Gefühl, sich in diesem Haus aufzuhalten. Alles war noch so, wie sie es hinterlassen hatte.
Die Bücher im Regal, ein Paar Schuhe achtlos hingeworfen auf dem Boden der Abstellkammer, ein Lippenstift auf der Ablage unter dem Badezimmerspiegel.
"Natürlich nehme ich sie zu mir", antwortete Mark. "Was bleibt mir denn sonst übrig?"
"Was ist mit Alex? Er ist verheiratet. Warum hat Vicky ihre Tochter nicht ihm und Darcy anvertraut?"
Mark warf ihm einen vielsagenden Blick zu. Die Ehe ihres jüngsten Bruders ähnelte einem virenverseuchten Computer. Selbst im abgesicherten Modus liefen darauf Programme, die auf den ersten Blick harmlos wirkten, aber im Hintergrund Übles anrichteten.
"Hättest du den beiden dein Kind anvertraut?", fragte Mark.
Langsam schüttelte Sam den Kopf. "Vermutlich nicht."
"Also sind du und ich alles, was Holly hat."
Sam musterte ihn misstrauisch. "Du gehst hier eine Verpflichtung ein, nicht ich. Es hat schon seinen Grund, warum Vick nicht mich zum Vormund bestimmt hat. Ich kann nicht mit Kindern umgehen."
"Trotzdem bist du Hollys Onkel."
"Ja, ihr Onkel. Meine Verantwortung beschränkt sich darauf, schlechte Witze über Körperfunktionen zu reißen und bei Familienfesten zu viel zu trinken. Ich bin ganz und gar kein väterlicher Typ."
"Das bin ich auch nicht", gab Mark finster zurück. "Aber wir müssen es versuchen. Es sei denn, wir wollen sie in eine Pflegefamilie geben."
Sam runzelte die Stirn und rieb sich mit den Händen übers Gesicht. "Wie steht Shelby zu dieser Sache?"
Bei der Erwähnung seiner Freundin schüttelte Mark den Kopf. Sie war Innenarchitektin, und sie waren einander begegnet, als sie die Inneneinrichtung des Luxushauses eines Freundes in Griffin Bay geplant hatte. "Ich gehe erst seit ein paar Monaten mit ihr. Entweder sie kommt damit zurecht, oder sie lässt mich sitzen. Die Entscheidung überlasse ich ihr. Und ich werde sie nicht darum bitten, mir zu helfen. Ich trage die Verantwortung. Und du auch."
"Vielleicht kann ich manchmal den Babysitter spielen. Aber zähl nicht allzu sehr auf meine Hilfe. Ich habe alle meine Rücklagen in mein Weingut gesteckt."
"Obwohl ich dir geraten hatte, das nicht zu tun, du Genie."
Sam senkte die Lider über den Augen, die so blaugrün wie die seines Bruders waren. "Wenn ich auf deine guten Ratschläge hören würde, müsste ich ja deine Fehler wiederholen, statt meine eigenen zu machen." Er stockte. "Wo bewahrt Vick eigentlich ihren Schnaps auf?"
"In der Speisekammer." Mark ging zu einem Schrank, kramte zwei Gläser heraus und gab Eis hinein.
Sam durchstöberte die Speisekammer. "Schon irgendwie komisch - wir trinken ihren Schnaps, und sie ist ... tot."
"Sie wäre die Erste, die uns dazu auffordern würde."
"Vermutlich hast du recht." Sam kam mit einer Flasche Whiskey zurück an den Tisch. "Hatte sie eine Lebensversicherung?"
Mark schüttelte den Kopf. "Schon, aber sie hat die Prämien nicht bezahlt."
Sam musterte ihn besorgt. "Ich schätze, du wirst das Haus zum Verkauf anbieten?"
"Ja. Aber ich glaube nicht, dass es etwas einbringen wird. Der Immobilienmarkt gibt zurzeit nicht viel her." Mark schob seinem Bruder sein Glas hin. "Nicht knausern, bitte."
"Keine Bange." Sam füllte die Gläser fast bis zum Rand. Dann setzten sie sich wieder einander gegenüber, stießen schweigend miteinander an und tranken. Der Whiskey war gut, floss glatt durch Marks Kehle und füllte seinen Bauch mit angenehmer Wärme.
Mark war überrascht, wie gut es ihm tat, mit seinem Bruder zusammenzusitzen und zu reden. Es sah ganz so aus, als stünden die Auseinandersetzungen ihrer Kindheit - die ständigen Streiteren und kleineren Vertrauensbrüche - ihnen nicht mehr im Weg. Jetzt waren sie erwachsen. Sie konnten vielleicht sogar Freunde werden, was ein Ding der Unmöglichkeit gewesen war, solange ihre Eltern noch gelebt hatten.
Alex hingegen konnte man gar nicht nah genug kommen, um zu entscheiden, ob man ihn mochte oder verabscheute. Er und seine Frau Darcy waren zu der Beerdigung erschienen. Auf dem anschließenden Empfang waren sie nur etwa fünfzehn Minuten geblieben und dann gegangen. Sie hatten kaum ein Wort mit jemandem gewechselt.
"Sie sind schon weg?", hatte Mark ungläubig gefragt, als ihm ihre Abwesenheit aufgefallen war.
"Wenn du gewollt hättest, dass sie länger bleiben", meinte Sam, "hättest du die Trauerfeier im Nordstrom in Seattle abhalten sollen."
Zweifellos fragten sich die Leute, wie es möglich war, dass die drei Brüder auf San Juan, einer Insel mit gerade mal achttausend Einwohnern wohnten, und doch so wenig miteinander zu tun hatten.
Alex lebte mit seiner Frau in Roche Harbor auf der Westseite der Insel. Wenn er nicht gerade für sein Immobilienunternehmen arbeitete, führte er Darcy zu gesellschaftlichen Ereignissen nach Seattle aus. Mark seinerseits hatte gut in der kleinen Kaffeerösterei zu tun, die er in Friday Harbor gegründet hatte. Sam, der sich fast ständig in seinem Weingut aufhielt und dort seine Rebstöcke hegte und pflegte, fühlte sich der Natur weit stärker verbunden als den Menschen.
Aber sie hatten eines gemeinsam: ihre Liebe zu San Juan. Sie gehörte zu einem Archipel von beinahe zweihundert Inseln im Staate Washington, von denen einige auch in den Bezirken Whatcom und Skagit lagen. Die Nolans hatten ihre Kindheit im Regenschatten der Olympic Mountains verbracht, in einer Gegend, die gut vom grauen Klima des amerikanischen Nordwestens abgeschirmt war.
Sie waren in der salzigen Meeresluft groß geworden, hatten beinahe ständig den Schlick des feuchten Bodens an den bloßen Füßen gehabt. Sie genossen die milden Morgenstunden, die klaren Tage unter blauem Himmel und die schönsten Sonnenuntergänge der Welt. Nichts war faszinierender als der Anblick der flinken Wasserläufer, die zwischen den Wellen umherhuschten. Oder dem der Weißkopfseeadler, die am Himmel kreisten und sich auf Beute stürzten. Oder dem Tanz der Schwertwale, deren glatte, geschmeidige Körper auf- und wieder abtauchten, deren Rückenflossen die Salish Sea durchschnitten, während sie Jagd auf die wandernden Lachse machten.
Die Brüder hatten jeden Quadratzentimeter der Insel erkundet, hatten auf den vom Wind zerklüfteten Hängen über der Küste, in den düsteren Schatten der Wälder und auf den Wiesen herumgetollt, auf denen Wildblumen mit faszinierenden Namen blühten: Schokoladenlilie, Sternschnuppe, Meeresröte. Kein Gewässer, kein Fleckchen Erde, kein Stück Himmel war auch nur annähernd so vollkommen wie San Juan.
Obwohl sie alle auf verschiedene Colleges gegangen waren und versucht hatten, sich woanders heimisch zu fühlen, hatte die Insel sie immer wieder zurückgelockt. Sogar Alex, der nüchterne, kalte, ehrgeizige Alex, war zurückgekommen.
Hier kannte man noch die Bauern, deren Produkte man aß, und den Typen, der die Seife herstellte, mit der man sich wusch. Man grüßte die Besitzer der Restaurants, die man besuchte, mit Vornamen, und konnte gefahrlos per Anhalter unterwegs sein, weil die freundlichen Inselbewohner gern jeden mitnahmen, der gerade eine Mitfahrgelegenheit brauchte.
Victoria hatte als einziges Familienmitglied etwas gefunden, für das es sich lohnte, San Juan zu verlassen. Sie hatte sich in die Glastürme und Häuserschluchten von Seattle verliebt, in das städtische Kulturleben, die modern und stilvoll ausgestatteten Restaurants, in denen dem Gaumenkitzel gefrönt wurde, und in das alle Sinne beflügelnde Labyrinth des Pike Place Market, des größten Wochenmarktes von Seattle.
Auf Sams Bemerkung, dass die Leute in der Stadt für seinen Geschmack zu viel redeten und grübelten, hatte sie geantwortet, dass Seattle sie klüger mache.
"Ich brauche nicht klüger zu werden", hatte Sam daraufhin gemeint. "Je klüger man ist, desto mehr Gründe hat man, sich elend zu fühlen."
"Das erklärt natürlich, warum wir Nolans immer so wahnsinnig gut drauf sind", hatte Mark daraufhin eingeworfen und ihre Schwester damit zum Lachen gebracht.
Kurz darauf war sie wieder ernst geworden. "Das gilt aber nicht für Alex. Ich glaube nicht, dass er bisher auch nur einen Tag seines Lebens glücklich war."
"Alex will gar nicht glücklich sein", hatte Mark erwidert. "Er ist schon mit weitaus weniger zufrieden."
Mark schob die Erinnerungen beiseite und fragte sich, was Victoria wohl sagen würde, wenn sie wüsste, dass Holly auf San Juan aufwachsen würde.
Ihm wurde erst bewusst, dass er laut gedacht hatte, als Sam ihm antwortete.
"Glaubst du ernsthaft, das hätte sie überrascht? Vick wusste, dass du die Insel nie verlassen würdest. Du hast hier deine Kaffeerösterei, dein Zuhause und deine Freunde. Ich bin sicher, dass sie wusste: Wenn ihr etwas zustoßen sollte, holst du Holly nach Friday Harbor."
Mark nickte. Er empfand eine innere Leere und Niedergeschlagenheit. Was der Verlust der Mutter für das Kind bedeutete, darüber mochte er gar nicht nachdenken.
"Hat sie heute irgendwas gesagt?", fragte Sam. "Ich habe keinen Piep von ihr vernommen."
Seit Holly vom Tod ihrer Mutter erfahren hatte, schwieg sie. Wenn man sie etwas fragte, nickte sie nur oder schüttelte den Kopf. Ihr Gesichtsausdruck wirkte entrückt und verstört. Sie hatte sich tief in sich selbst zurückgezogen, und niemand konnte sie dort erreichen.
In der Nacht, in der Victoria ums Leben gekommen war, war Mark vom Krankenhaus direkt zu ihrem Haus gefahren, in dem sich ein Babysitter um das kleine Mädchen gekümmert hatte. Gleich am nächsten Morgen hatte Mark dem Kind gesagt, was geschehen war. Und seitdem war er praktisch nicht von ihrer Seite gewichen.
"Nichts", antwortete er. "Wenn sie bis morgen nicht anfängt zu reden, gehe ich mit Holly zu ihrem Kinderarzt." Er atmete flach und zittrig aus, bevor er hinzufügte: "Ich weiß nicht mal, wer ihr Kinderarzt ist."
"Am Kühlschrank hängt ein Zettel mit Namen und Telefonnummern", meinte Sam. "Hollys Arzt steht auch darauf. Ich schätze, Vick hatte den Zettel für den Babysitter dort hängen. Damit er im Notfall weiß, an wen er sich zu wenden hat."
zurückgelockt. Sogar Alex, der nüchterne, kalte, ehrgeizige Alex, war zurückgekommen.
Hier kannte man noch die Bauern, deren Produkte man aß, und den Typen, der die Seife herstellte, mit der man sich wusch. Man grüßte die Besitzer der Restaurants, die man besuchte, mit Vornamen, und konnte gefahrlos per Anhalter unterwegs sein, weil die freundlichen Inselbewohner gern jeden mitnahmen, der gerade eine Mitfahrgelegenheit brauchte.
Victoria hatte als einziges Familienmitglied etwas gefunden, für das es sich lohnte, San Juan zu verlassen. Sie hatte sich in die Glastürme und Häuserschluchten von Seattle verliebt, in das städtische Kulturleben, die modern und stilvoll ausgestatteten Restaurants, in denen dem Gaumenkitzel gefrönt wurde, und in das alle Sinne beflügelnde Labyrinth des Pike Place Market, des größten Wochenmarktes von Seattle.
Auf Sams Bemerkung, dass die Leute in der Stadt für seinen Geschmack zu viel redeten und grübelten, hatte sie geantwortet, dass Seattle sie klüger mache.
"Ich brauche nicht klüger zu werden", hatte Sam daraufhin gemeint. "Je klüger man ist, desto mehr Gründe hat man, sich elend zu fühlen."
"Das erklärt natürlich, warum wir Nolans immer so wahnsinnig gut drauf sind", hatte Mark daraufhin eingeworfen und ihre Schwester damit zum Lachen gebracht.
Kurz darauf war sie wieder ernst geworden. "Das gilt aber nicht für Alex. Ich glaube nicht, dass er bisher auch nur einen Tag seines Lebens glücklich war."
"Alex will gar nicht glücklich sein", hatte Mark erwidert. "Er ist schon mit weitaus weniger zufrieden."
Mark schob die Erinnerungen beiseite und fragte sich, was Victoria wohl sagen würde, wenn sie wüsste, dass Holly auf San Juan aufwachsen würde.
Ihm wurde erst bewusst, dass er laut gedacht hatte, als Sam ihm antwortete.
"Glaubst du ernsthaft, das hätte sie überrascht? Vick wusste, dass du die Insel nie verlassen würdest. Du hast hier deine Kaffeerösterei, dein Zuhause und deine Freunde. Ich bin sicher, dass sie wusste: Wenn ihr etwas zustoßen sollte, holst du Holly nach Friday Harbor."
Mark nickte. Er empfand eine innere Leere und Niedergeschlagenheit. Was der Verlust der Mutter für das Kind bedeutete, darüber mochte er gar nicht nachdenken.
"Hat sie heute irgendwas gesagt?", fragte Sam. "Ich habe keinen Piep von ihr vernommen."
Seit Holly vom Tod ihrer Mutter erfahren hatte, schwieg sie. Wenn man sie etwas fragte, nickte sie nur oder schüttelte den Kopf. Ihr Gesichtsausdruck wirkte entrückt und verstört. Sie hatte sich tief in sich selbst zurückgezogen, und niemand konnte sie dort erreichen.
In der Nacht, in der Victoria ums Leben gekommen war, war Mark vom Krankenhaus direkt zu ihrem Haus gefahren, in dem sich ein Babysitter um das kleine Mädchen gekümmert hatte. Gleich am nächsten Morgen hatte Mark dem Kind gesagt, was geschehen war. Und seitdem war er praktisch nicht von ihrer Seite gewichen.
"Nichts", antwortete er. "Wenn sie bis morgen nicht anfängt zu reden, gehe ich mit Holly zu ihrem Kinderarzt." Er atmete flach und zittrig aus, bevor er hinzufügte: "Ich weiß nicht mal, wer ihr Kinderarzt ist."
"Am Kühlschrank hängt ein Zettel mit Namen und Telefonnummern", meinte Sam. "Hollys Arzt steht auch darauf. Ich schätze, Vick hatte den Zettel für den Babysitter dort hängen. Damit er im Notfall weiß, an wen er sich zu wenden hat."
Mark erhob sich, ging hinüber zum Kühlschrank, nahm den Haftnotizzettel ab, der dort hing, und steckte ihn in seine Brieftasche. "Großartig", meinte er sarkastisch. "Jetzt weiß ich wenigstens genauso viel wie der Babysitter."
"Es ist ein Anfang."
Mark setzte sich wieder an den Tisch und nahm einen kräftigen Schluck von seinem Whiskey. "Es gibt da etwas, was ich mit dir bereden muss. Meine Wohnung in Friday Harbor ist zu klein für mich und Holly. Ich habe dort nur ein Schlafzimmer, und es gibt keinen Hof, auf dem die Kleine spielen könnte."
"Willst du die Wohnung verkaufen?"
"Vielleicht vermiete ich sie."
"Und wo willst du dann hin?"
Mark schwieg lange und nachdrücklich, bevor er antwortete: "Du hast jede Menge Platz bei dir."
© MIRA Taschenbuch
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Autoren-Porträt von Lisa Kleypas
Mit einundzwanzig Jahren schrieb Lisa Kleypas, damals gerade zur "Miss Massachusetts" gekürt, ihren ersten Roman. Seitdem hat sie eine beispiellose Karriere hingelegt. Ihre historischen wie zeitgenössischen Romane wurden in vierzehn Sprachen übersetzt und finden sich regelmäßig auf der Bestsellerliste der New York Times.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lisa Kleypas
- 208 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: MIRA Taschenbuch
- ISBN-10: 3862784835
- ISBN-13: 9783862784837
- Erscheinungsdatum: 01.12.2012
Rezension zu „Das Winterwunder von Friday Harbor / Friday Harbor Bd.1 “
Gefährlich sexy - ein Muss für Romantic-Thriller-Fans!"RT Bookclub"Süß, romantisch und keine Spur kitschig - ein zauberhaftes Weihnachtsgeschenk."Publishers Weekly"Herzerfrischend von der ersten bis zur letzten Seite."Library Journal
Kommentar zu "Das Winterwunder von Friday Harbor / Friday Harbor Bd.1"
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