Friedrich Engels
Der Mann, der den Marxismus erfand
Wer Marx sagt, muss auch Engels sagen. Der Marxismus ist ohne Engels nicht zu denken. Dennoch stand er meist im Schatten des Freundes. In seiner großen Biographie zeigt ihn Tristram Hunt als eigenständigen Denker, dessen Werk demjenigen von Marx nicht...
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Produktinformationen zu „Friedrich Engels “
Klappentext zu „Friedrich Engels “
Wer Marx sagt, muss auch Engels sagen. Der Marxismus ist ohne Engels nicht zu denken. Dennoch stand er meist im Schatten des Freundes. In seiner großen Biographie zeigt ihn Tristram Hunt als eigenständigen Denker, dessen Werk demjenigen von Marx nicht nachstand, dessen Leben aber weitaus aufregender verlief.Lese-Probe zu „Friedrich Engels “
Friedrich Engels von Tristram HuntEINFÜHRUNG
Am 30. Juni 1869 beendete Friedrich Engels, ein Fabrikbesitzer aus Manchester, nach fast zwanzig Jahren seine Tätigkeit im Familienunternehmen. Vor seinem kleinen Haus im Vorort Chorlton erwarteten ihn seine Geliebte Lizzy Burns und der Hausgast Eleanor Marx, die Tochter seines alten Freundes Karl Marx. Sie sei bei Engels gewesen, als er die »Zwangsarbeit« in seinem Kontor hinter sich ließ, erzählte Eleanor Marx später über seinen letzten Arbeitstag und fuhr fort:
... und da erkannte ich, was das all die Jahre hindurch für ihn bedeutet hatte. Ich werde niemals das triumphierende »zum letzten Mal« vergessen, das er ausrief, als er seine Röhrenstiefel am Morgen anzog, um zum letzten Mal seinen Weg zum Geschäft zu nehmen. Einige Stunden später, als wir am Tore standen, auf ihn wartend, sahen wir ihn über das kleine Feld gegenüber seinem Wohnhause daherkommen. Er schwang seinen Stock in der Luft und sang und lachte mit dem ganzen Gesicht. Dann tafelten wir festlich und tranken Champagner und waren glücklich.
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Friedrich Engels war Textilmagnat und leidenschaftlicher Fuchsjäger, Mitglied der Börse von Manchester, Präsident der dortigen Schiller-Anstalt und ein draufgängerischer, lebensfroher, dem Alkohol zugeneigter Liebhaber der schönen Dinge im Leben: Hummersalat, Château Margaux, Pilsner und kostspielige Frauen. Daneben unterstützte er aber auch seit vierzig Jahren Karl Marx, kümmerte sich um dessen Kinder, besänftigte seine Launen und bildete als Mitautor des Kommunistischen Manifests und Mitbegründer jener Lehre, die Marxismus genannt werden sollte, die eine Hälfte der wohl berühmtesten ideologischen Partnerschaft der Geschichte. Im 20. Jahrhundert sollte ein Drittel der Menschheit - vom China des Vorsitzenden Mao über den Stasistaat DDR und den antiimperialistischen Kampf in Afrika bis zur Sowjetunion selbst - in den Schatten verschiedener Spielarten dieser bestechenden Lehre geraten. Und nicht selten beriefen sich die Führer der sozialistischen Welt mehr auf Engels als auf Marx, wenn es darum ging, ihre Politik zu erklären, ihre Exzesse zu rechtfertigen und ihre Regime abzusichern. So wurde der viktorianische Baumwoll-Lord im Gehrock durch häufig an den Haaren herbeigezogene Interpretationen und durch Zitate, die dies oftmals ebenfalls waren, zu einem der Hauptarchitekten des Weltkommunismus.
Heute kann, wer will, nach Engels fahren. Die Reise beginnt im Moskauer Pawelezki-Bahnhof, einem schäbig-romantischen Bahnhof aus der Zarenzeit, von dem sich um Mitternacht ein rostiger Schlafwagenzug in Bewegung setzt. Sein Ziel ist die Hunderte von Kilometern weiter südlich gelegene Wolgaebene. Nach vierzehnstündiger Fahrt mit unzähligen quietschenden Zwischenstopps, deren Trostlosigkeit nur durch das gluckernde Geräusch des Samowars im Schaffnerabteil gedämpft wird, erreicht man schließlich Saratow mit seinen breiten Alleen und seinem verblichenen Glanz.
Von diesem prosperierenden Provinzzentrum gelangt man auf einer löchrigen, sechsspurigen Autobahn über die mächtige Wolga in die ungeliebte Schwesterstadt Engels, das nichts von Saratows Eleganz besitzt. Engels ist ein gottvergessener, heruntergekommener Ort, der von Eisenbahnverladestationen und maroden Industrieanlagen geprägt ist. Im Stadtzentrum befindet sich der Engelsplatz, ein öder Paradeplatz, der von Wohnblöcken, einer armseligen Einkaufszeile mit Sportkneipen, Spielotheken und DVD-Geschäften und einem von Ladas, Sputniks und merkwürdigen Fords verstopften Kreisverkehr umgeben ist. Dies ist das postkommunistische Russland des Hyperkapitalismus und kopierter Americana in seiner ganzen bedrückenden Tristesse. Und inmitten dieser Anti-Utopie der freien Marktwirtschaft erhebt sich eine Statue von Friedrich Engels; fünf Meter hoch, auf einem Marmorsockel stehend und mit einem gepflegten Blumenbeet zu seinen Füßen, bietet er einen prachtvollen Anblick in seinem Trenchcoat, ein zusammengerolltes Exemplar des Kommunistischen Manifests in der Hand.
Überall in der früheren UdSSR und im ehemaligen Ostblock hat man die Statuen von Marx (zusammen mit denen von Lenin, Stalin und Berija) abgerissen und ihre enthaupteten und verstümmelten Reste zur ironischen Erbauung von Kulturtouristen auf den Spuren des Kalten Krieges auf Denkmalfriedhöfen versammelt. Engels hat man unerklärlicherweise verschont, so dass er immer noch über die Stadt, die seinen Namen trägt, zu herrschen scheint. In Gesprächen mit Einwohnern der Stadt, die am frühen Abend über den Engelsplatz spazieren, stellt sich indes heraus, dass seine Anwesenheit weder auf Zuneigung noch auf Bewunderung zurückzuführen ist. Man empfindet aber auch keine spezielle Abneigung gegen den Mitbegründer des Kommunismus, sondern lediglich eine müde Apathie und nonchalante Gleichgültigkeit gegenüber der unverwüstlichen Figur, an der man jeden Tag vorbeigeht. Wie die Generäle und längst vergessenen Sozialreformer aus dem 19. Jahrhundert, deren Statuen die Plätze westeuropäischer Hauptstädte zieren, ist Engels zu einem weitgehend unbekannten und kaum noch wahrgenommenen Teil des Stadtbildes geworden.
In Wuppertal, zu dem seine Geburtsstadt Barmen heute gehört, ist das Interesse an ihm kaum größer. Zwar tragen eine Straße und eine Allee seinen Namen, aber nichts deutet darauf hin, dass die Stadt sich besonders bemühte, an ihren berühmtesten Sohn zu erinnern. Der Platz, an dem sein Geburtshaus stand, das 1943 bei einem britischen Luftangriff zerstört wurde, ist ein unwirtlicher Ort. Nur ein schmutziger Gedenkstein, auf dem er schamhaft als »Mitbegründer des wissenschaftlichen Sozialismus« bezeichnet wird, weist auf die Tatsache hin, dass Engels hier das Licht der Welt erblickte. Von Stechpalmen und Efeu umgeben, steht er in einer schattigen Ecke eines verwahrlosten Parks, von dem man auf rostige Baucontainer und eine verschandelte Telefonzelle schaut.
Im heutigen Russland und Deutschland, von Spanien, England und Amerika ganz zu schweigen, ist Engels in die grauen Gefilde der Geschichte zurückgesunken. War sein Name einst in aller Munde - als Mitkämpfer von Marx, Autor von Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (der Bibel des Weltkommunismus), Theoretiker des dialektischen Materialismus, von revolutionären Aufständischen und linken Stadträten mit Vorliebe bemühter Namensgeber von Straßen und Plätzen sowie bärtiges ikonisches Gesicht auf Geldscheinen, Lehrbüchern und (neben Marx, Lenin und Stalin) riesigen Fahnen und sozialistisch-realistischen Plakaten bei Paraden am ersten Mai -, wird er heute im Osten wie im Westen kaum noch erwähnt. 1970 konnten die Autoren einer in der DDR erschienenen offiziellen Biographie noch schreiben, man finde »kaum einen Winkel mehr auf unserer Erde, in dem Engels‘ Name und die Bedeutung seines Werkes nicht bekannt« seien.2 Heute ist er so nichtssagend, dass man sich nicht einmal die Mühe macht, seine Statue umzustürzen.
Für seinen Mitstreiter Karl Marx gilt dies nicht. Zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Berliner Mauer und Francis Fukuyamas voreiliger Verkündigung des »Endes der Geschichte« erlebt sein Ansehen eine bemerkenswerte Renaissance. In den letzten Jahren ist er in den Augen vieler vom Monstrum, das für die Killing Fields in Kambodscha und die Arbeitslager in Sibirien verantwortlich ist, zum scharfsinnigsten Analytiker des modernen Kapitalismus mutiert. »Marx' Aktie steigt auf 150-Jahres-Hoch«, bemerkte die New York Times anlässlich des hundertfünfzigsten Jahrestages der Veröffentlichung des Kommunistischen Manifests - eines Texts, der klarer als jeder andere »die unaufhaltsame, Reichtum schaffende Macht des Kapitalismus erkannte, voraussagte, dass er die Welt erobern würde, und davor warnte, dass diese unvermeidliche Globalisierung der nationalen Wirtschaften und Kulturen entzweiende, schmerzliche Folgen haben würde«.3 Während westliche Regierungen, Unternehmen und Banken an der Wende zum 21. Jahrhundert die bittere Ernte des marktwirtschaftlichen Fundamentalismus einfuhren - finanzielle Zusammenbrüche in Mexiko und Asien, die rasante Industrialisierung Chinas und Indiens, die Dezimierung der Mittelschicht in Russland und Argentinien, Massenmigration und eine weltweite »Krise des Kapitalismus« in den Jahren 2007 bis 2009 -, hallte die an Kassandra gemahnende Stimme von Marx erneut über die Jahrzehnte hinweg wider. Die neoliberale Ordnung, die man nach 1989 - Fukuyamas Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit - auf den historischen Ruinen des Kommunismus errichten wollte, schien zu zerbrechen. Und in den Kulissen wartete Karl Marx. »Er ist zurück«, verkündete die Times im Herbst 2008, als die Börsenkurse purzelten, Banken reihenweise verstaatlicht wurden und der französische Präsident Nicolas Sarkozy beim Durchblättern des Kapitals (das in Deutschland zum Bestseller avancierte) fotografiert wurde. Sogar Papst Benedikt XVI. fühlte sich genötigt, Marx‘ »große analytische Fähigkeiten« zu rühmen.4 Der britische Ökonom Meghnad Desai hat das Phänomen 2002 im Titel einer Studie, die Teil einer wahren Flut von Literatur über Marx ist, als dessen »Rache« bezeichnet und von der »Wiederauferstehung des Kapitalismus und dem Tod des Staatssozialismus« gesprochen. Denn jetzt galt es als universelle Wahrheit, dass Marx als Erster das unerbittliche, ruhelose, zwanghaft ikonoklastische Wesen des Kapitalismus beschrieben habe. »Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen«, heißt es im Kommunistischen Manifest, »hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ›bare Zahlung‹. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt.« Marx enthüllte, dass der Kapitalismus Sprachen, kulturelle Traditionen und sogar Nationen zerstörte. »Mit einem Wort, [die Bourgeoisie als dessen Träger] schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde«, schrieb er, lange bevor »Globalisierung« gleichbedeutend mit »Amerikanisierung « wurde.5 Der französische Politiker und ehemalige Bankier Jacques Attali entdeckt in Marx den ersten großen Theoretiker der Globalisierung. Nach seiner Ansicht war er ein »erstaunlich moderner Denker, denn er hat keine Theorie darüber geschrieben, wie ein organisiertes sozialistisches Land sein sollte, sondern dargelegt, wie der Kapitalismus in Zukunft sein wird ... er war überzeugt, dass der Kapitalismus erst enden würde, wenn er zur globalen Kraft geworden wäre ... wenn Nationen verschwinden würden und die Technologie in der Lage wäre, das Leben eines Landes grundlegend zu verändern. «6 Selbst der Economist, der allwöchentlich das neoliberale Dogma verbreitet, gestand Marx unter der Überschrift »Marx nach dem Kommunismus« das Verdienst zu, »die überwältigende produktive Kraft des Kapitalismus vorhergesehen« zu haben. »Er erkannte «, heißt es in dem Artikel weiter, »dass der Kapitalismus die Innovation in zuvor unvorstellbarem Ausmaß vorantreiben würde. Er hatte recht, dass riesige Unternehmen die Industrien der Welt dominieren würden.«7 Zur gleichen Zeit trug Attalis Buch ebenso wie Francis Weens populäre Biographie, die Marx als Journalist und Schlitzohr zeigt, dazu bei, dass dieser als am Hungertuch nagender Autor und liebevoller Vater, der schändlicherweise von den Autoritäten verfolgt wurde, in ein vorteilhaftes Licht getaucht wurde. Seit den 1960er Jahren und Louis Althussers »Entdeckung« des »epistemologischen Bruchs« zwischen dem jungen und dem reifen Marx - zwischen den um Entfremdung und Moral kreisenden Ökonomisch- philosophischen Manuskripten und dem späteren materialistischen Ansatz - wusste man bereits um Marx‘ frühen philosophischen Humanismus. Jetzt kam das biographische Pendant in Form einer gereiften, engagierten und verblüffend zeitgenössischen Persönlichkeit hinzu.
Aber wie passt Friedrich Engels in dieses neue, wohlwollende Bild? Er wurde, mangels einer ähnlichen Häufung von Biographien (die letzte wirklich populäre Darstellung seines Leben in englischer Sprache war die Übersetzung von Gustav Mayers bahnbrechendem Werk von 1920/34) und vielleicht auch aufgrund bewussten Vergessens in der Phase nach 1989, aus dem öffentlichen Gedächtnis gestrichen.8 Oder, was noch schlimmer war, man machte ihn, zumindest in gewissen ideologischen Kreisen, für die furchtbaren Exzesse des Marxismus-Leninismus des 20. Jahrhunderts verantwortlich. Denn während Marx' Aktie stieg, fiel diejenige von Engels. Es wurde Mode, Marx und Engels voneinander zu trennen und den einen als ethisch und humanistisch zu ehren, während man den anderen als Mann des Apparats und wissenschaftsgläubig abtat und ihm vorwarf, die Staatsverbrechen der kommunistischen Regime in Russland, China und Südostasien legitimiert zu haben. Schon Mitte der 1970er Jahre bemerkte E. P. Thompson die Neigung, »den späten Engels zum Prügelknaben zu machen und ihm jede beliebige Sünde der nachfolgenden Marxismen anzuhängen«. Er konnte »die Plädoyers nicht akzeptieren, die Marx und Lenin immer für unschuldig erklären und Engels allein auf die Anklagebank setzen «.9 Ganz ähnlich stellt Richard N. Hunt fest, dass es in jüngster Zeit in manchen Kreisen üblich geworden sei, Engels »als Mülleimer des klassischen Marxismus zu behandeln, als bequemes Behältnis, in das jeder unansehnliche Abfall des Systems entsorgt werden kann«, und daher könne er »auch die Schuld für alles tragen, was anschließend schiefgelaufen ist«.10 So wird der verbissene Engels des Anti-Dühring mit dem attraktiven Marx der Pariser Notizbücher verglichen und ihm entgegengesetzt. Der marxistische Gelehrte Norman Levine etwa ist überzeugt, dass der »Engelismus [sic!] ... in direkter Linie zum dialektischen Materialismus der Stalinära « führte. »Indem er versicherte, dass es in der Geschichte einen festen Entwicklungsweg gebe«, fährt Levine fort, »und dass eine vorbestimmte historische Entwicklung in den Sozialismus münde, ließ der Engelismus Sowjetrussland als Erfüllung der Geschichte erscheinen, da es den Sozialismus bereits erreicht hatte ... Was die Welt während der Stalinära als Marxismus verstand, war in Wirklichkeit Engelismus.«
Copyright © Ullstein Taschenbuch 2012, Berlin.
Friedrich Engels war Textilmagnat und leidenschaftlicher Fuchsjäger, Mitglied der Börse von Manchester, Präsident der dortigen Schiller-Anstalt und ein draufgängerischer, lebensfroher, dem Alkohol zugeneigter Liebhaber der schönen Dinge im Leben: Hummersalat, Château Margaux, Pilsner und kostspielige Frauen. Daneben unterstützte er aber auch seit vierzig Jahren Karl Marx, kümmerte sich um dessen Kinder, besänftigte seine Launen und bildete als Mitautor des Kommunistischen Manifests und Mitbegründer jener Lehre, die Marxismus genannt werden sollte, die eine Hälfte der wohl berühmtesten ideologischen Partnerschaft der Geschichte. Im 20. Jahrhundert sollte ein Drittel der Menschheit - vom China des Vorsitzenden Mao über den Stasistaat DDR und den antiimperialistischen Kampf in Afrika bis zur Sowjetunion selbst - in den Schatten verschiedener Spielarten dieser bestechenden Lehre geraten. Und nicht selten beriefen sich die Führer der sozialistischen Welt mehr auf Engels als auf Marx, wenn es darum ging, ihre Politik zu erklären, ihre Exzesse zu rechtfertigen und ihre Regime abzusichern. So wurde der viktorianische Baumwoll-Lord im Gehrock durch häufig an den Haaren herbeigezogene Interpretationen und durch Zitate, die dies oftmals ebenfalls waren, zu einem der Hauptarchitekten des Weltkommunismus.
Heute kann, wer will, nach Engels fahren. Die Reise beginnt im Moskauer Pawelezki-Bahnhof, einem schäbig-romantischen Bahnhof aus der Zarenzeit, von dem sich um Mitternacht ein rostiger Schlafwagenzug in Bewegung setzt. Sein Ziel ist die Hunderte von Kilometern weiter südlich gelegene Wolgaebene. Nach vierzehnstündiger Fahrt mit unzähligen quietschenden Zwischenstopps, deren Trostlosigkeit nur durch das gluckernde Geräusch des Samowars im Schaffnerabteil gedämpft wird, erreicht man schließlich Saratow mit seinen breiten Alleen und seinem verblichenen Glanz.
Von diesem prosperierenden Provinzzentrum gelangt man auf einer löchrigen, sechsspurigen Autobahn über die mächtige Wolga in die ungeliebte Schwesterstadt Engels, das nichts von Saratows Eleganz besitzt. Engels ist ein gottvergessener, heruntergekommener Ort, der von Eisenbahnverladestationen und maroden Industrieanlagen geprägt ist. Im Stadtzentrum befindet sich der Engelsplatz, ein öder Paradeplatz, der von Wohnblöcken, einer armseligen Einkaufszeile mit Sportkneipen, Spielotheken und DVD-Geschäften und einem von Ladas, Sputniks und merkwürdigen Fords verstopften Kreisverkehr umgeben ist. Dies ist das postkommunistische Russland des Hyperkapitalismus und kopierter Americana in seiner ganzen bedrückenden Tristesse. Und inmitten dieser Anti-Utopie der freien Marktwirtschaft erhebt sich eine Statue von Friedrich Engels; fünf Meter hoch, auf einem Marmorsockel stehend und mit einem gepflegten Blumenbeet zu seinen Füßen, bietet er einen prachtvollen Anblick in seinem Trenchcoat, ein zusammengerolltes Exemplar des Kommunistischen Manifests in der Hand.
Überall in der früheren UdSSR und im ehemaligen Ostblock hat man die Statuen von Marx (zusammen mit denen von Lenin, Stalin und Berija) abgerissen und ihre enthaupteten und verstümmelten Reste zur ironischen Erbauung von Kulturtouristen auf den Spuren des Kalten Krieges auf Denkmalfriedhöfen versammelt. Engels hat man unerklärlicherweise verschont, so dass er immer noch über die Stadt, die seinen Namen trägt, zu herrschen scheint. In Gesprächen mit Einwohnern der Stadt, die am frühen Abend über den Engelsplatz spazieren, stellt sich indes heraus, dass seine Anwesenheit weder auf Zuneigung noch auf Bewunderung zurückzuführen ist. Man empfindet aber auch keine spezielle Abneigung gegen den Mitbegründer des Kommunismus, sondern lediglich eine müde Apathie und nonchalante Gleichgültigkeit gegenüber der unverwüstlichen Figur, an der man jeden Tag vorbeigeht. Wie die Generäle und längst vergessenen Sozialreformer aus dem 19. Jahrhundert, deren Statuen die Plätze westeuropäischer Hauptstädte zieren, ist Engels zu einem weitgehend unbekannten und kaum noch wahrgenommenen Teil des Stadtbildes geworden.
In Wuppertal, zu dem seine Geburtsstadt Barmen heute gehört, ist das Interesse an ihm kaum größer. Zwar tragen eine Straße und eine Allee seinen Namen, aber nichts deutet darauf hin, dass die Stadt sich besonders bemühte, an ihren berühmtesten Sohn zu erinnern. Der Platz, an dem sein Geburtshaus stand, das 1943 bei einem britischen Luftangriff zerstört wurde, ist ein unwirtlicher Ort. Nur ein schmutziger Gedenkstein, auf dem er schamhaft als »Mitbegründer des wissenschaftlichen Sozialismus« bezeichnet wird, weist auf die Tatsache hin, dass Engels hier das Licht der Welt erblickte. Von Stechpalmen und Efeu umgeben, steht er in einer schattigen Ecke eines verwahrlosten Parks, von dem man auf rostige Baucontainer und eine verschandelte Telefonzelle schaut.
Im heutigen Russland und Deutschland, von Spanien, England und Amerika ganz zu schweigen, ist Engels in die grauen Gefilde der Geschichte zurückgesunken. War sein Name einst in aller Munde - als Mitkämpfer von Marx, Autor von Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (der Bibel des Weltkommunismus), Theoretiker des dialektischen Materialismus, von revolutionären Aufständischen und linken Stadträten mit Vorliebe bemühter Namensgeber von Straßen und Plätzen sowie bärtiges ikonisches Gesicht auf Geldscheinen, Lehrbüchern und (neben Marx, Lenin und Stalin) riesigen Fahnen und sozialistisch-realistischen Plakaten bei Paraden am ersten Mai -, wird er heute im Osten wie im Westen kaum noch erwähnt. 1970 konnten die Autoren einer in der DDR erschienenen offiziellen Biographie noch schreiben, man finde »kaum einen Winkel mehr auf unserer Erde, in dem Engels‘ Name und die Bedeutung seines Werkes nicht bekannt« seien.2 Heute ist er so nichtssagend, dass man sich nicht einmal die Mühe macht, seine Statue umzustürzen.
Für seinen Mitstreiter Karl Marx gilt dies nicht. Zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Berliner Mauer und Francis Fukuyamas voreiliger Verkündigung des »Endes der Geschichte« erlebt sein Ansehen eine bemerkenswerte Renaissance. In den letzten Jahren ist er in den Augen vieler vom Monstrum, das für die Killing Fields in Kambodscha und die Arbeitslager in Sibirien verantwortlich ist, zum scharfsinnigsten Analytiker des modernen Kapitalismus mutiert. »Marx' Aktie steigt auf 150-Jahres-Hoch«, bemerkte die New York Times anlässlich des hundertfünfzigsten Jahrestages der Veröffentlichung des Kommunistischen Manifests - eines Texts, der klarer als jeder andere »die unaufhaltsame, Reichtum schaffende Macht des Kapitalismus erkannte, voraussagte, dass er die Welt erobern würde, und davor warnte, dass diese unvermeidliche Globalisierung der nationalen Wirtschaften und Kulturen entzweiende, schmerzliche Folgen haben würde«.3 Während westliche Regierungen, Unternehmen und Banken an der Wende zum 21. Jahrhundert die bittere Ernte des marktwirtschaftlichen Fundamentalismus einfuhren - finanzielle Zusammenbrüche in Mexiko und Asien, die rasante Industrialisierung Chinas und Indiens, die Dezimierung der Mittelschicht in Russland und Argentinien, Massenmigration und eine weltweite »Krise des Kapitalismus« in den Jahren 2007 bis 2009 -, hallte die an Kassandra gemahnende Stimme von Marx erneut über die Jahrzehnte hinweg wider. Die neoliberale Ordnung, die man nach 1989 - Fukuyamas Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit - auf den historischen Ruinen des Kommunismus errichten wollte, schien zu zerbrechen. Und in den Kulissen wartete Karl Marx. »Er ist zurück«, verkündete die Times im Herbst 2008, als die Börsenkurse purzelten, Banken reihenweise verstaatlicht wurden und der französische Präsident Nicolas Sarkozy beim Durchblättern des Kapitals (das in Deutschland zum Bestseller avancierte) fotografiert wurde. Sogar Papst Benedikt XVI. fühlte sich genötigt, Marx‘ »große analytische Fähigkeiten« zu rühmen.4 Der britische Ökonom Meghnad Desai hat das Phänomen 2002 im Titel einer Studie, die Teil einer wahren Flut von Literatur über Marx ist, als dessen »Rache« bezeichnet und von der »Wiederauferstehung des Kapitalismus und dem Tod des Staatssozialismus« gesprochen. Denn jetzt galt es als universelle Wahrheit, dass Marx als Erster das unerbittliche, ruhelose, zwanghaft ikonoklastische Wesen des Kapitalismus beschrieben habe. »Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen«, heißt es im Kommunistischen Manifest, »hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ›bare Zahlung‹. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt.« Marx enthüllte, dass der Kapitalismus Sprachen, kulturelle Traditionen und sogar Nationen zerstörte. »Mit einem Wort, [die Bourgeoisie als dessen Träger] schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde«, schrieb er, lange bevor »Globalisierung« gleichbedeutend mit »Amerikanisierung « wurde.5 Der französische Politiker und ehemalige Bankier Jacques Attali entdeckt in Marx den ersten großen Theoretiker der Globalisierung. Nach seiner Ansicht war er ein »erstaunlich moderner Denker, denn er hat keine Theorie darüber geschrieben, wie ein organisiertes sozialistisches Land sein sollte, sondern dargelegt, wie der Kapitalismus in Zukunft sein wird ... er war überzeugt, dass der Kapitalismus erst enden würde, wenn er zur globalen Kraft geworden wäre ... wenn Nationen verschwinden würden und die Technologie in der Lage wäre, das Leben eines Landes grundlegend zu verändern. «6 Selbst der Economist, der allwöchentlich das neoliberale Dogma verbreitet, gestand Marx unter der Überschrift »Marx nach dem Kommunismus« das Verdienst zu, »die überwältigende produktive Kraft des Kapitalismus vorhergesehen« zu haben. »Er erkannte «, heißt es in dem Artikel weiter, »dass der Kapitalismus die Innovation in zuvor unvorstellbarem Ausmaß vorantreiben würde. Er hatte recht, dass riesige Unternehmen die Industrien der Welt dominieren würden.«7 Zur gleichen Zeit trug Attalis Buch ebenso wie Francis Weens populäre Biographie, die Marx als Journalist und Schlitzohr zeigt, dazu bei, dass dieser als am Hungertuch nagender Autor und liebevoller Vater, der schändlicherweise von den Autoritäten verfolgt wurde, in ein vorteilhaftes Licht getaucht wurde. Seit den 1960er Jahren und Louis Althussers »Entdeckung« des »epistemologischen Bruchs« zwischen dem jungen und dem reifen Marx - zwischen den um Entfremdung und Moral kreisenden Ökonomisch- philosophischen Manuskripten und dem späteren materialistischen Ansatz - wusste man bereits um Marx‘ frühen philosophischen Humanismus. Jetzt kam das biographische Pendant in Form einer gereiften, engagierten und verblüffend zeitgenössischen Persönlichkeit hinzu.
Aber wie passt Friedrich Engels in dieses neue, wohlwollende Bild? Er wurde, mangels einer ähnlichen Häufung von Biographien (die letzte wirklich populäre Darstellung seines Leben in englischer Sprache war die Übersetzung von Gustav Mayers bahnbrechendem Werk von 1920/34) und vielleicht auch aufgrund bewussten Vergessens in der Phase nach 1989, aus dem öffentlichen Gedächtnis gestrichen.8 Oder, was noch schlimmer war, man machte ihn, zumindest in gewissen ideologischen Kreisen, für die furchtbaren Exzesse des Marxismus-Leninismus des 20. Jahrhunderts verantwortlich. Denn während Marx' Aktie stieg, fiel diejenige von Engels. Es wurde Mode, Marx und Engels voneinander zu trennen und den einen als ethisch und humanistisch zu ehren, während man den anderen als Mann des Apparats und wissenschaftsgläubig abtat und ihm vorwarf, die Staatsverbrechen der kommunistischen Regime in Russland, China und Südostasien legitimiert zu haben. Schon Mitte der 1970er Jahre bemerkte E. P. Thompson die Neigung, »den späten Engels zum Prügelknaben zu machen und ihm jede beliebige Sünde der nachfolgenden Marxismen anzuhängen«. Er konnte »die Plädoyers nicht akzeptieren, die Marx und Lenin immer für unschuldig erklären und Engels allein auf die Anklagebank setzen «.9 Ganz ähnlich stellt Richard N. Hunt fest, dass es in jüngster Zeit in manchen Kreisen üblich geworden sei, Engels »als Mülleimer des klassischen Marxismus zu behandeln, als bequemes Behältnis, in das jeder unansehnliche Abfall des Systems entsorgt werden kann«, und daher könne er »auch die Schuld für alles tragen, was anschließend schiefgelaufen ist«.10 So wird der verbissene Engels des Anti-Dühring mit dem attraktiven Marx der Pariser Notizbücher verglichen und ihm entgegengesetzt. Der marxistische Gelehrte Norman Levine etwa ist überzeugt, dass der »Engelismus [sic!] ... in direkter Linie zum dialektischen Materialismus der Stalinära « führte. »Indem er versicherte, dass es in der Geschichte einen festen Entwicklungsweg gebe«, fährt Levine fort, »und dass eine vorbestimmte historische Entwicklung in den Sozialismus münde, ließ der Engelismus Sowjetrussland als Erfüllung der Geschichte erscheinen, da es den Sozialismus bereits erreicht hatte ... Was die Welt während der Stalinära als Marxismus verstand, war in Wirklichkeit Engelismus.«
Copyright © Ullstein Taschenbuch 2012, Berlin.
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Autoren-Porträt von Tristram Hunt
Tristram Hunt, geboren 1974, ist der Shooting Star der britischen Historikerzunft. Er lehrt Neuere Geschichte an der Universität London, ist TV-Moderator (BBC und Channel 4), Zeitungskolumnist (Times, Guardian, Observer) und Buchautor.
Bibliographische Angaben
- Autor: Tristram Hunt
- 2013, 4. Aufl., 592 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: K.-D. Schmidt
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548611702
- ISBN-13: 9783548611709
- Erscheinungsdatum: 11.07.2013
Rezension zu „Friedrich Engels “
"In Tristram Hunts materialreicher Biographie passt zwischen Friedrich Engels und seinen philosophischen Meister kein Blatt." Oliver Kühn Frankfurter Allgemeine Zeitung 20121017
Pressezitat
"In Tristram Hunts materialreicher Biographie passt zwischen Friedrich Engels und seinen philosophischen Meister kein Blatt." Oliver Kühn Frankfurter Allgemeine Zeitung 20121017
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