Frühlingsgeschichten
Der Frühling: die schönste Zeit des Jahres. Und keine versteht es so wie Rosamunde Pilcher, in ihren Geschichten den besonderen Zauber des Frühlings einzufangen. Erzählungen von den Wechselfällen des Lebens, das sich nicht immer den Wünschen fügen will, aber am Ende doch triumphiert.
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Frühlingsgeschichten von Rosamunde Pilcher
LESEPROBE
An einemkalten Frühlingstag kurz vor Ostern trat Jemmy Todd, der Briefträger, in die Küche der Hardings,legte ihnen die Morgenpost auf den Frühstückstisch und teilte ihnen mit, daßihr Nachbar, Mr. Sawcombe, am frühen Morgen an einem Herzinfarkt gestorbenwar.
VierHardings saßen am Tisch. Toby, acht Jahre alt, aß seine Cornflakes. Als er nunvon Mr. Sawcombes Tod hörte, konnte er den Mundvoll Cornflakes, teilsdurchweicht, teils knusprig, nicht herunterbringen, weil er das Kauen vergessenhatte und sich zudem ein Kloß in seiner Kehle bildete.
Nur gut,daß die übrige Familie sich ebenso erschüttert und sprachlos zeigte. SeinVater, der fürs Büro angezogen war und gerade aufstehen und zur Arbeit gehenwollte, stellte seine Kaffeetasse hin, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück undsah Jemmy an.
« Bill Sawcombe ist tot? Wann hast du es erfahren?»
«DerPfarrer hat's mir gleich erzählt, gerade als ich mit meiner Runde anfing. Habihn getroffen, wie er aus der Kirche kam.»
Toby sahseine Mutter an, deren Augen von Tränen glänzten. «Ach herrje.» Er konnte esnicht ertragen, sie weinen zu sehen. Er hatte sie schon einmal weinen sehen,als ihr alter Hund eingeschläfert werden mußte, und da war er tagelang dasGefühl nicht losgeworden, daß seine Welt in Stücke brach. «Die arme Mrs.Sawcombe. Wie schrecklich für sie.»
« Er hattevor ein paar Jahren schon mal einen Herzinfarkt, wie ihr wißt», sagte Jemmy.
«Aber erhat es überstanden. Und es ging ihm so gut; er hatte Freude an seinem Gartenund genoß es, Zeit für sich zu haben, nachdem er all die Jahre auf dem Hofgeschuftet hatte.»
Vicky, neunzehn Jahre alt, fand die Sprache wieder. «Ich halt'snicht aus. Ich glaub, ich halt's einfach nicht aus.»
Vicky warüber die Ostertage nach Hause gekommen. Sie arbeitete in London, wo sie sichmit zwei anderen Mädchen eine Wohnung teilte. In den Ferien zog Vicky sich zumFrühstück nie an, sie kam im Bademantel herunter, aus weißem Frottierstoff mitblauen Streifen. Die Streifen waren von demselben Blau wie Vickys Augen; siehatte lange helle Haare, und manchmal sah sie sehr hübsch aus und manchmalsehr häßlich. Jetzt sah sie häßlich aus. Kummer machte sie häßlich; dann zogensich ihre Mundwinkel nach unten, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, wasdie spitzen Konturen ihres schmalen, knochigen Gesichts noch betonte. Der Vatersagte immer zu Vicky, sie sei viel zu dünn, aber da sie aß wie einScheunendrescher, konnte ihr niemand etwas vorwerfen, höchstens Gefräßigkeit.
«Er war sonett. Er wird uns fehlen.» Die Mutter sah Toby an, der immer noch mit vollemMund dasaß. Sie wußte - alle wußten -, daß Mr. Sawcombe Tobys bester Freundgewesen war. Sie beugte sich über den Tisch und legte ihre Hand auf die seine.«Wir werden ihn alle vermissen, Toby.»
Tobyantwortete nicht. Aber als er Mutters Hand auf seiner spürte, schaffte er es,die Cornflakes vollends herunterzuschlucken. Seine Mutter räumte vollerVerständnis die halbleere Schale fort, die vor ihm auf dem Tisch stand.
«Nur gut»,sagte Jemmy, «daß Tom den Hof übernimmt. So steht Mrs. Sawcombe jetztwenigstens nicht allein da.»
Tom war Mr.Sawcombes Enkel, dreiundzwanzig Jahre alt. Toby und Vicky hatten ihn ihr Lebenlang gekannt. Früher, als sie viel jünger waren, waren Vicky und Tom zusammen aufFeste gegangen, auf Bälle des Reitervereins und im Sommer insGhymkhana-Zeltlager. Aber dann besuchte Tom die Landwirtschaftsschule, undVicky ließ sich zur Sekretärin ausbilden und ging nach London, und jetzt hattensie sich anscheinend nicht mehr viel zu sagen.
Toby fanddas schade. Vicky lernte eine Menge neue Freunde kennen, die sie manchmal mitnach Hause brachte. Aber keinen fand Toby so nett wie Tom Sawcombe. Einmal wareiner, Philip hieß er, gekommen, um mit den Hardings Silvester zu feiern. Erwar sehr groß und blond und fuhr einen Wagen, der wie ein glänzender schwarzerTorpedo aussah, doch irgendwie fügte Philip sich nicht recht in ein geordnetesFamilienleben, und was noch irritierender war, in seiner Gegenwart fügte Vickysich auch nicht. Sie sprach anders, sie lachte anders.
AmSilvesterabend veranstalteten sie eine kleine Party, und Tom war aucheingeladen, aber Vicky behandelte ihn von oben herab, und Tom war offenbar sehrgekränkt. Toby fand ihr Benehmen ekelhaft. Er hatte Tom sehr gern und konnte esnicht ertragen, ihn so bedrückt zu sehen, und als der gräßliche Abend um war,sagte er es seiner Mutter. (...)
© RowohltVerlag GmbH
Übersetzung:Dorothee Asendorf, Margarete Längsfeld und Ingrid Altrichter
- Autor: Rosamunde Pilcher
- 2003, Neuausg., 176 Seiten, Maße: 12,6 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Dorothee Asendorf, Margarete Längsfeld, Ingrid Altrichter
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499233606
- ISBN-13: 9783499233609
- Erscheinungsdatum: 01.03.2003
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