Der Regler / Gabriel Tretjak Bd.1
Thriller
Gabriel Tretjak ist der Regler. Im Auftrag seiner Klienten greift er in ihre Biographie ein ohne moralische Grenzen. Dann wird in einem Pferdetransporter die Leiche eines renommierten Hirnforschers gefunden, dem die Augen ausgeschält wurden. Schnell...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Regler / Gabriel Tretjak Bd.1 “
Gabriel Tretjak ist der Regler. Im Auftrag seiner Klienten greift er in ihre Biographie ein ohne moralische Grenzen. Dann wird in einem Pferdetransporter die Leiche eines renommierten Hirnforschers gefunden, dem die Augen ausgeschält wurden. Schnell wird klar, dass die Morde ihr Motiv in Gabriel Tretjaks Vergangenheit haben.
Klappentext zu „Der Regler / Gabriel Tretjak Bd.1 “
Er ist der REGLER. Für die Reichen und Mächtigen regelt er alles - Liebe, Karriere, Geld, Sex. Bis er erkennen muss: Du kannst alles regeln. Nur nicht deine Vergangenheit. Gabriel Tretjak ist der Regler. Im Auftrag seiner Klienten greift er in ihre Biographie ein, legt sich an ihrer Stelle mit dem Schicksal an - ohne moralische Grenzen. Seine Preise sind hoch, seine Methoden bedienen sich wissenschaftlicher Erkenntnisse von der Psychologie bis zur Gehirnforschung. Seine Geschäftsgrundlage ist die Sehnsucht der Menschen, dass am Ende alles gut ausgeht, egal, wie verfahren eine Situation ist. Aber was heißt schon gut - gut für wen?
Dann wird in einem Pferdetransporter die Leiche eines renommierten Hirnforschers gefunden, dem die Augen ausgeschält wurden. Das erste Opfer eines Mörders, dessen Spuren alle in eine Richtung weisen: zum Regler. Während Tretjak noch versucht, durch seine Methoden Herr der Lage zu bleiben, breitet sich in ihm ein Gefühl aus, das er sich sonst nur bei anderen zunutze macht: Angst. Denn schnell wird klar, dass die Morde ihr Motiv in Gabriel Tretjaks Vergangenheit haben. Und die kann nicht einmal der Regler regeln.
»Raffiniert und echt spannend: Spitzenthriller made in Germany.« TV Movie
»Ein unterhaltsames, spannendes Buch, das ich quasi in einem Rutsch durchgelesen habe.« Nele Neuhaus
Lese-Probe zu „Der Regler / Gabriel Tretjak Bd.1 “
Der Regler von Max LandorffProlog
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Er blickte über die glatte, bleigraue Oberfläche des Sees und sah das Schiff auf sich zukommen, genau mit der Spitze voraus. Die unsichtbare Linie, auf der es sich nun schon minutenlang näherte, stand exakt senkrecht zu der Bank, auf der er saß. Es war ein Mittwoch im Oktober, der erste im Oktober, um genau zu sein, und es war Viertel nach sechs Uhr abends. Außer ihm und der Angestellten der Fährlinie erwartete niemand das Schiff, das Alpino hieß und nach genauem Plan jahrein, jahraus auf dem Lago Maggiore kreuzte. Im Sommer waren manchmal so viele Leute an Bord, dass die Alpino aus der Ferne wie ein Flüchtlingsboot aussah, schwer stampfend, tief im Wasser liegend. Um diese Jahreszeit wirkte sie dagegen schnell und elegant, man konnte sehen, dass sie weiß war, weiß mit dunkelblauen Streifen an den Seiten und um Türen und Fenster.
An der Anlegestelle befanden sich zwei runde Schilder, wie große weiße Uhren, mit roten Zeigern auf dem Zifferblatt, die von der Fährangestellten bewegt wurden. Das eine Schild zeigte die Ankunftszeit der nächsten Fähre aus Richtung Cannobio an, das andere die Ankunftszeit des Schiffes aus Richtung Luino: fünf nach sechs. Die Sonne war schon hinter den Bergen verschwunden, der See lag im Schatten. Die Spitze der Alpino war aus dem Dunst aufgetaucht, der sich über die Wasserfläche gelegt hatte. Die Fähre hatte Verspätung.
In den letzten Tagen war das Wetter umgeschlagen. Der warme Herbst hatte sich in einen Vorboten des Winters verwandelt. Oben in den Bergen fiel schon Schnee, unten floss eiskaltes Wasser in den See. Gabriel Tretjak trug einen schwarzen Kaschmirmantel und einen dunkelgrauen Schal. Er stand auf, ging die paar Schritte auf den Landungssteg zu und blieb neben den beiden runden Schildern stehen, die Hände in den Manteltaschen. Er hatte keine Handschuhe an, das Metall des Revolvers in der rechten Tasche fühlte sich inzwischen warm an.
Es ließ sich in seinem Geschäft oft nicht vermeiden, jemandem zu drohen, und er geriet durchaus in gefährliche Situationen. Aber er arbeitete prinzipiell nicht mit Waffen, niemals. Er besaß nicht einmal eine. Doch das hier war etwas anderes. Vor nichts in seinem Leben hatte er jemals so große Angst empfunden wie vor dem, was in wenigen Augenblicken hier an diesem Anlegesteg seinen Anfang nehmen würde.
Die Alpino fuhr einen Bogen und legte seitlich am Steg an. Eine Brücke aus Aluminium wurde ausgelegt, um die Passagiere von Bord zu lassen. Es waren nur drei. Zuerst kam ein großer Mann, der mit der einen Hand einen kleinen Jungen führte und mit der anderen ein gelbes Kinderfahrrad schob. Dann kam sie. Sie war kleiner, als er sie in seiner Vorstellung gespeichert hatte, irgendwie zarter. Der braune Wollmantel, in den sie sich gehüllt hatte, wirkte eine Idee zu groß, und die Mütze machte ihr Gesicht schmal.
Als sie ihn erreicht hatte, stellte sie ihre Reisetasche auf die Holzbohlen, sah ihn an und sagte fast etwas verlegen: »Hast du lange gewartet?«
Er nickte. »Zwanzig Jahre.«
Sie warf ihm einen merkwürdigen Blick zu. Er nahm ihre Tasche vom Boden und schlug den Weg in den Ort ein. Sie ging neben ihm her.
»Es gibt nur das eine Hotel hier in deinem Ort«, sagte sie und deutete auf ein cremefarbenes Gebäude vor ihnen. »Wie ist es?«
»Nicht dein Standard«, antwortete er, »aber in Ordnung.«
Als die Alpino wieder ablegte, um den See zurück in Richtung Cannobio zu überqueren, hatten sie den Eingang des Hotels erreicht. Torre Imperial stand in goldenen Buchstaben an der Glastür. Darunter waren drei Sterne gemalt.
Teil 1
Die Täuschung
Erster Tag - 11. Mai
Galle, Sri Lanka, 19.30 Uhr
Gabriel Tretjak saß in einem englischen Clubsessel und beobachtete den Kellner, der ihm einen Gin Tonic brachte. Der Kellner war mit schwarzer Hose, schwarzem Jackett und korrekt geknöpftem weißen Hemd bekleidet. Er war alt, und irgendetwas an diesem Mann, wahrscheinlich die leicht gestauchte, nach oben verschobene Nase und die ausgeprägten Falten um den Mund, erinnerte Tretjak an ein Panzernashorn, das er ein paarmal im Tierpark Hellabrunn gesehen hatte. Der Direktor des Zoos war von einem Pfleger erpresst worden und hatte Tretjak beauftragt, die unangenehme Geschichte zu beenden. Es ging um illegale Medikamente für exotische Tiere. Am Haus des Panzernashorns, wo der Pfleger gerade Dienst tat, hatte Tretjak das erste Mal auf ihn gewartet. Er liebte Rituale, deshalb trafen sie sich auch danach immer wieder an diesem Ort. Bis die Angelegenheit geregelt war. So hatte Tretjak einiges über Panzernashörner gelernt. Sie reagierten empfindlich auf kleinste Veränderungen in ihrer Umgebung, wurden sofort misstrauisch und unberechenbar. Das hatten sie gemeinsam mit fast allen Tieren: Veränderungen bedeuteten Gefahr. Gabriel Tretjak wusste, dass es bei Menschen nicht anders war. Auch bei ihnen weckten Veränderungen die Wachsamkeit, er hatte sich das oft zunutze gemacht. Aber im Unterschied zu Panzernashörnern mussten es für Menschen größere Veränderungen sein. Wenn es sich nur um Kleinigkeiten handelte, um geringe Abweichungen vom Gewohnten, die den Fluss der Dinge nicht wirklich durcheinanderbrachten, blieben die Menschen schläfrig, gutmütig, fast einfältig. Sie interpretierten diese Kleinigkeiten falsch und begriffen ihre tatsächliche Bedeutung erst später. Manchmal lagen zwischen der falschen Wahrnehmung und dem Begreifen nur ein paar Minuten, manchmal Jahrzehnte.
Der Kellner fragte ihn, ob er auch etwas zu essen wünsche. Tretjak verneinte. Er hatte bereits eine Reservierung für 21 Uhr im Restaurant, das ums Eck des Foyers lag und dessen Tische schon weiß eingedeckt waren.
Tretjak war sich ziemlich sicher, dass der Mann, auf den er in der Hotelhalle wartete, eine kleine Veränderung am heutigen Tag falsch einschätzte. Die Tatsache nämlich, dass ihn seine Ehefrau noch nicht angerufen hatte. Nach allem, was Tretjak inzwischen über ihn wusste, war dem Mann vielleicht nicht einmal aufgefallen, dass das übliche Telefonat nicht stattgefunden hatte - obwohl es eine feste Gewohnheit war, wenn er auf Geschäftsreisen war. Nun ja, es ,würde nicht mehr lang dauern, dann würde er die Bedeutung dieser Änderung erkennen.
Tretjak sah auf die Uhr, es war Viertel vor acht. Plötzlich befiel ihn wieder das Gefühl, das ihn in letzter Zeit öfters heimgesucht hatte. Eine Art von Müdigkeit, ein Gefühl des Überdrusses. Früher hatte er genau diese Momente genossen, diese Momente vor der Zuspitzung, diese Annäherung an einen dramatischen Wendepunkt im Leben eines anderen Menschen, der davon noch nichts ahnte. Aber seit ein paar Wochen ertappte er sich bei dem Wunsch, diesen Moment vorübergehen zu lassen - ohne einzugreifen.
Tretjak saß mit seinem Gin Tonic im Foyer des Hotels New Oriental in Galle, der Hafenstadt im Südwesten von Sri Lanka. Er hatte einen elfstündigen Flug hinter sich - Lufthansa LH 2016, München-Colombo - und eine vierstündige Autofahrt. Der kleine, schweigsame Fahrer hatte seinen Peugeot geschmeidig wie ein Motorboot über riesige Schlaglöcher und zwischen Eselsfuhrwerken, Tuk-tuk-Schwärmen und nicht verkehrssicheren Lkws hindurchgesteuert. In ein paar Stunden würde ihn der Fahrer denselben Weg wieder zurückfahren, zurück zum Flughafen Colombo, zu Flug LH 2017, der im Morgengrauen nach München abhob. Tretjak war nur für diesen einen Abend gekommen - um einen Menschen aus seiner Schläfrigkeit zu reißen.
Es war heiß in der Hotelhalle. Die alten hölzernen Ventilatoren an der Decke kreisten müde vor sich hin. Einer quietschte, er hing direkt über dem schwarzen Piano im linken Bereich der Halle, wo sich auch die Bar befand. Eine Gruppe von drei Engländern hielt sich dort auf, jeder hatte einen Cocktail vor sich, gelegentlich stieß einer von ihnen eine merkwürdige Salve von kurzen Zischlauten aus, wenn ihn etwas belustigte.
Jetzt trat ein bulliger Mann in Khakihosen und einem grünen Ralph-Lauren-Poloshirt durch die breite, offenstehende Eingangstür. Er schwitzte, sein Gesicht war gerötet, er trug eine Pilotensonnenbrille. Zielstrebig schritt er auf die Rezeption zu und sagte mit einer tiefen lauten Stimme und leichtem deutschen Akzent: »Room number seven, please.«
Tretjak hatte sich erhoben und trat seitlich hinter den Mann, in zwei Metern Abstand. »Glückwunsch, Herr Schwarz«, sagte er. »Die Sieben ist das beste Zimmer hier.«
Der Mann drehte sich um, schob seine Sonnenbrille in die Stirn, musterte Tretjak aus fragenden blauen Augen.
»Genießen Sie Ihren kleinen Urlaub, Herr Schwarz?«, fragte Tretjak.
Dem Mann war jetzt deutlich anzusehen, wie er sein Gedächtnis durchforstete. Kannte er diesen Fremden von irgendwoher? »Ja, das tue ich«, antwortete er schließlich, »darf ich fragen -«
»Wir müssen reden, Herr Schwarz«, unterbrach Tretjak. »Ich habe im Restaurant einen Tisch bestellt. 21 Uhr.«
»Ich wüsste nicht ...« Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich kenne Sie nicht, und ich wüsste nicht, worüber wir uns unterhalten sollten.«
»Oh, Verzeihung, mein Name ist Tretjak. Wir werden uns über Ihr Leben unterhalten, Herr Schwarz. Ich bin gekommen, um es zu ändern. Mit Ihrer Hilfe natürlich.«
Der Mann, der Schwarz hieß und über den Gabriel Tretjak mehr wusste als jeder andere in dessen Leben, wurde ungehalten. »Hören Sie, Sie müssen mich verwechseln. Ich denke nicht daran, mein Leben zu ändern. Und wenn, würde ich mich kaum mit Ihnen darüber unterhalten.« Ein amüsiertes Glitzern zeigte sich in seinen Augen, ein Zeichen, dass er wieder Sicherheit gewann. Ein Verrückter eben, den er da vor sich hatte, nichts weiter. »Wissen Sie, dieses Land bietet viele Attraktionen. Ich bin keine davon. Guten Abend.«
Nach diesen Worten wandte er sich um zur Rezeption, nahm den Messingschlüssel mit der Nummer 7 von der Theke und war schon auf halbem Weg zur Treppe linkerhand, als Tretjak sagte: »Wenn Sie die Sache mit Union Carry nicht hinkriegen, werden Sie Ihren Vorstandsjob verlieren. Das sagt jedenfalls Ihr Aufsichtsrat.«
Schwarz blieb stehen, drehte sich um, blickte Tretjak an.
»Um 21 Uhr, Herr Schwarz«, sagte Tretjak. »Machen Sie sich keine Sorgen. Wir werden alles regeln.« Er wandte sich zum Rezeptionisten hinter der Theke: »Room number five, please.« Tretjak nahm den Schlüssel entgegen, lächelte Schwarz zu, der immer noch verblüfft dastand, und ging an ihm vorbei zur Treppe.
Das war gut gelaufen, dachte er. Schwarz war irritiert genug. In seinem Zimmer würde ihm jetzt auffallen, dass seine Frau sich nicht gemeldet hatte, und er würde sie anrufen. Besser gesagt: Er würde versuchen, sie anzurufen. Dieser Versuch würde seine Irritation noch steigern. Denn unter der Handynummer seiner Frau würde er die Ansage hören: »Die von Ihnen gewählte Rufnummer ist nicht vergeben.« Und auf der Festnetznummer würde niemand abheben.
Tretjak ging auf sein Zimmer, stellte seine Aktentasche ab, rückte einen Stuhl ans Fenster, setzte sich und schloss die Augen. Die Fenster in diesem Hotel hatten keine Scheiben, sondern nur Läden mit Holzlamellen. Man hörte die Geräusche von draußen, das Zirpen der Insekten, das Rufen der Kinder. Das New Oriental in Galle war ein gewisser Geheimtipp, ein altes Hotel im englischen Kolonialstil. Das große dunkelbraune Holzbett war bestimmt zweihundert Jahre alt. Es stand unter einem hohen Himmel aus gespannten Netzgardinen, die bis zum Boden reichten und die Moskitos abhielten. Tretjak würde dieses Bett nicht benötigen. Er stand auf, ging ins Badezimmer und nahm eine lange, kühle Dusche.
Beim Blick in den Spiegel beschloss er, wieder mehr Sport zu machen. Jetzt, da der Sommer kam, konnte er in München von seiner Wohnung aus morgens wieder direkt zur Isar laufen, am Fluss entlang, dann über die Montgelasbrücke in den Englischen Garten und am Haus der Kunst vorbei zurück. Tretjak legte wert darauf, seine Figur zu halten. Er war jetzt 44 Jahre alt und trug seit über 25 Jahren unverändert Anzuggröße 50. Seine schwarzen Haare zeigten noch keine Anzeichen von Grau, und das würde vermutlich auch so bleiben. Die Haare hatte er von seiner Mutter geerbt, und in ihrer ganzen Familie gab es buchstäblich keine einzige graue Strähne. Tretjaks Haare waren dick, und er trug sie relativ lang. Jetzt waren sie nass, und er kämmte sie nach hinten aus der Stirn.
Er nahm aus seiner Aktentasche ein Paar neue Unterhosen und zog sich wieder an. Eine dunkelblaue Hose aus Synthetic-Material, ein langärmliges beiges T-Shirt. Barfuß schlüpfte er in seine dunkelbraunen Slipper. Im Zimmer hatte sich inzwischen der Duft der aufgeschnittenen Papayafrüchte ausgebreitet. Sie waren auf einer flachen Schale drapiert, die auf dem Tisch stand. Tretjak setzte sich wieder auf den Stuhl am Fenster und überlegte, wie er das Treffen unten im Speisesaal eröffnen sollte. Er durfte das Tempo nicht verlieren, das er an der Rezeption vorgelegt hatte, er musste die Spannung hochhalten. Tretjak beschloss, etwas zu spät nach unten zu gehen und als Entschuldigung anzuführen: »Ich habe bis eben noch mit Ihrer Frau telefoniert, Herr Schwarz, und, nun ja, Sie kennen sie ja ...«
Vom ersten Gespräch hing viel vom Gelingen der Mission ab, das wusste Tretjak aus Erfahrung. Aber in diesem Fall schien ihm die Angelegenheit nicht besonders schwierig zu sein. Es handelte sich eher um einen Routineauftrag. Tretjak hatte ihn schon ablehnen wollen, er hatte keine Lust, sich zu langweilen. Aber dann hatte seine Auftraggeberin, Melanie Schwarz, einen Satz gesagt, der ihn zum Schmunzeln gebracht hatte. Diesem Satz verdankte er nun die Tatsache, dass er in wenigen Minuten in den Genuss des »großen Currys« kommen würde, der Spezialität des Restaurants im New Oriental. Er hatte vorbestellt, damit keine Zeit durch das Studium der Karte und die Auswahl der Speisen verlorenging. Das Gericht, so hatte man ihm erklärt, bestand aus zahlreichen Schälchen feinster Gemüse-, Fleisch- und Fischspeisen und unterschiedlichster Soßen, alle sehr scharf und geeignet, Schweißperlen auf die Stirn zu treiben.
Melanie Schwarz fühlte sich in einem Leben gefangen, aus dem sie entkommen wollte, aber nicht konnte. Ein Geflecht aus Schuldgefühlen, Verantwortung und Mutlosigkeit hielt sie zurück, dazu die Angst, in einem neuen, eigenen Leben zu versagen. Als junge Frau war sie ein Schlagersternchen gewesen, hatte es mit zwei Liedern in die Hitparaden geschafft: Du bist jetzt allein und Die Wahrheit tut weh. Aber ihre Karriere war kurz gewesen, es war bald still geworden um sie. Einmal war sie noch in den Schlagzeilen aufgetaucht mit einem angeblichen Selbstmordversuch, schließlich war sie völlig aus der Öffentlichkeit verschwunden. Dann lernte sie Peter Schwarz kennen, der eine sichere Burg um sie herum errichtete aus einer Familie und einem hohen Lebensstandard. Inzwischen hatten die beiden eine erwachsene Tochter, die in London eine Tanzausbildung machte. Sie bewohnten eine herrliche Dachgeschosswohnung in Berlin am Gendarmenmarkt und ein kleines restauriertes Gut außerhalb Potsdams mit einem Pferdestall. Melanie war schon als Kind gern geritten. Peter Schwarz hatte ihr einen Traum verwirklicht. Aber inzwischen hatte sie einen neuen Traum. Am Ende ihres Gespräches hatte sie auf das Stück Papier gestarrt, auf dem Tretjak den Plan skizziert hatte, und dabei gesagt: »Ich habe kein eigenes Geld. Ich kann Sie nicht bezahlen.« Tretjak, der schon drauf und dran gewesen war, den Auftrag abzulehnen, war hellhörig geworden. Er hatte sie angesehen und dabei beobachtet, wie sie all ihren Mut zusammennahm, um diesen einen Satz zu sagen: »Am Ende müssen Sie meinen Mann auch noch dazu kriegen, Ihre Arbeit zu bezahlen.«
Am schärfsten waren die Linsen gewesen. Selbst Tretjak, der von klein auf gewohnt war, scharf zu essen, hatte bei diesem Gericht Tränen in die Augen bekommen. Schwarz hatte es nach einem Test mit einer winzigen Menge auf der Gabelspitze nicht mehr angerührt.
Der Kellner mit dem Nashorngesicht war jetzt dabei, die vielen Schälchen abzuräumen. Zurück auf dem Tisch blieb eine gläserne Karaffe Mineralwasser, eine fast volle Flasche Haute Medoc und ein paar Gläser.
»Wünschen die Herren noch ein Dessert?«
Tretjak blickte Schwarz fragend an.
Schwarz schüttelte den Kopf. »Kaffee. Espresso. Doppelt.«
Tretjak nickte dem Kellner zu und bedeutete ihm, dass er sich diesem Wunsch anschloss. Dann griff er nach der Aktentasche, die neben seinem Stuhl auf dem Fußboden ab gestellt war, nahm sie auf den Schoß, öffnete sie und entnahm ihr ein einziges weißes Blatt Papier und einen dunkelblauen Kugelschreiber der Marke Parker, legte beides vor sich auf den Tisch und stellte die Tasche wieder auf den Boden.
»Sie möchte also ein neues Leben anfangen«, sagte Schwarz, mehr zu sich selbst als zu Tretjak. »Das kann sie mir aber nicht selbst sagen ... Dafür braucht sie einen wie Sie. Wie ist sie auf Sie gekommen?« Er blickte Tretjak in die Augen. »Schlafen Sie mit ihr?«
Tretjak machte sich nicht die Mühe zu antworten und schwieg. Er ließ Schwarz Zeit. Manche Menschen verstummten, wenn sie eine schlechte Nachricht erhielten. Andere mussten die Dinge aussprechen und immer wieder wiederholen, um sie zu begreifen. Zu diesen gehörte Schwarz. Er war getroffen, das war ihm anzusehen. Seine Hände zitterten, als er sich Wasser einschenkte. Der Bulle wankte.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Er blickte über die glatte, bleigraue Oberfläche des Sees und sah das Schiff auf sich zukommen, genau mit der Spitze voraus. Die unsichtbare Linie, auf der es sich nun schon minutenlang näherte, stand exakt senkrecht zu der Bank, auf der er saß. Es war ein Mittwoch im Oktober, der erste im Oktober, um genau zu sein, und es war Viertel nach sechs Uhr abends. Außer ihm und der Angestellten der Fährlinie erwartete niemand das Schiff, das Alpino hieß und nach genauem Plan jahrein, jahraus auf dem Lago Maggiore kreuzte. Im Sommer waren manchmal so viele Leute an Bord, dass die Alpino aus der Ferne wie ein Flüchtlingsboot aussah, schwer stampfend, tief im Wasser liegend. Um diese Jahreszeit wirkte sie dagegen schnell und elegant, man konnte sehen, dass sie weiß war, weiß mit dunkelblauen Streifen an den Seiten und um Türen und Fenster.
An der Anlegestelle befanden sich zwei runde Schilder, wie große weiße Uhren, mit roten Zeigern auf dem Zifferblatt, die von der Fährangestellten bewegt wurden. Das eine Schild zeigte die Ankunftszeit der nächsten Fähre aus Richtung Cannobio an, das andere die Ankunftszeit des Schiffes aus Richtung Luino: fünf nach sechs. Die Sonne war schon hinter den Bergen verschwunden, der See lag im Schatten. Die Spitze der Alpino war aus dem Dunst aufgetaucht, der sich über die Wasserfläche gelegt hatte. Die Fähre hatte Verspätung.
In den letzten Tagen war das Wetter umgeschlagen. Der warme Herbst hatte sich in einen Vorboten des Winters verwandelt. Oben in den Bergen fiel schon Schnee, unten floss eiskaltes Wasser in den See. Gabriel Tretjak trug einen schwarzen Kaschmirmantel und einen dunkelgrauen Schal. Er stand auf, ging die paar Schritte auf den Landungssteg zu und blieb neben den beiden runden Schildern stehen, die Hände in den Manteltaschen. Er hatte keine Handschuhe an, das Metall des Revolvers in der rechten Tasche fühlte sich inzwischen warm an.
Es ließ sich in seinem Geschäft oft nicht vermeiden, jemandem zu drohen, und er geriet durchaus in gefährliche Situationen. Aber er arbeitete prinzipiell nicht mit Waffen, niemals. Er besaß nicht einmal eine. Doch das hier war etwas anderes. Vor nichts in seinem Leben hatte er jemals so große Angst empfunden wie vor dem, was in wenigen Augenblicken hier an diesem Anlegesteg seinen Anfang nehmen würde.
Die Alpino fuhr einen Bogen und legte seitlich am Steg an. Eine Brücke aus Aluminium wurde ausgelegt, um die Passagiere von Bord zu lassen. Es waren nur drei. Zuerst kam ein großer Mann, der mit der einen Hand einen kleinen Jungen führte und mit der anderen ein gelbes Kinderfahrrad schob. Dann kam sie. Sie war kleiner, als er sie in seiner Vorstellung gespeichert hatte, irgendwie zarter. Der braune Wollmantel, in den sie sich gehüllt hatte, wirkte eine Idee zu groß, und die Mütze machte ihr Gesicht schmal.
Als sie ihn erreicht hatte, stellte sie ihre Reisetasche auf die Holzbohlen, sah ihn an und sagte fast etwas verlegen: »Hast du lange gewartet?«
Er nickte. »Zwanzig Jahre.«
Sie warf ihm einen merkwürdigen Blick zu. Er nahm ihre Tasche vom Boden und schlug den Weg in den Ort ein. Sie ging neben ihm her.
»Es gibt nur das eine Hotel hier in deinem Ort«, sagte sie und deutete auf ein cremefarbenes Gebäude vor ihnen. »Wie ist es?«
»Nicht dein Standard«, antwortete er, »aber in Ordnung.«
Als die Alpino wieder ablegte, um den See zurück in Richtung Cannobio zu überqueren, hatten sie den Eingang des Hotels erreicht. Torre Imperial stand in goldenen Buchstaben an der Glastür. Darunter waren drei Sterne gemalt.
Teil 1
Die Täuschung
Erster Tag - 11. Mai
Galle, Sri Lanka, 19.30 Uhr
Gabriel Tretjak saß in einem englischen Clubsessel und beobachtete den Kellner, der ihm einen Gin Tonic brachte. Der Kellner war mit schwarzer Hose, schwarzem Jackett und korrekt geknöpftem weißen Hemd bekleidet. Er war alt, und irgendetwas an diesem Mann, wahrscheinlich die leicht gestauchte, nach oben verschobene Nase und die ausgeprägten Falten um den Mund, erinnerte Tretjak an ein Panzernashorn, das er ein paarmal im Tierpark Hellabrunn gesehen hatte. Der Direktor des Zoos war von einem Pfleger erpresst worden und hatte Tretjak beauftragt, die unangenehme Geschichte zu beenden. Es ging um illegale Medikamente für exotische Tiere. Am Haus des Panzernashorns, wo der Pfleger gerade Dienst tat, hatte Tretjak das erste Mal auf ihn gewartet. Er liebte Rituale, deshalb trafen sie sich auch danach immer wieder an diesem Ort. Bis die Angelegenheit geregelt war. So hatte Tretjak einiges über Panzernashörner gelernt. Sie reagierten empfindlich auf kleinste Veränderungen in ihrer Umgebung, wurden sofort misstrauisch und unberechenbar. Das hatten sie gemeinsam mit fast allen Tieren: Veränderungen bedeuteten Gefahr. Gabriel Tretjak wusste, dass es bei Menschen nicht anders war. Auch bei ihnen weckten Veränderungen die Wachsamkeit, er hatte sich das oft zunutze gemacht. Aber im Unterschied zu Panzernashörnern mussten es für Menschen größere Veränderungen sein. Wenn es sich nur um Kleinigkeiten handelte, um geringe Abweichungen vom Gewohnten, die den Fluss der Dinge nicht wirklich durcheinanderbrachten, blieben die Menschen schläfrig, gutmütig, fast einfältig. Sie interpretierten diese Kleinigkeiten falsch und begriffen ihre tatsächliche Bedeutung erst später. Manchmal lagen zwischen der falschen Wahrnehmung und dem Begreifen nur ein paar Minuten, manchmal Jahrzehnte.
Der Kellner fragte ihn, ob er auch etwas zu essen wünsche. Tretjak verneinte. Er hatte bereits eine Reservierung für 21 Uhr im Restaurant, das ums Eck des Foyers lag und dessen Tische schon weiß eingedeckt waren.
Tretjak war sich ziemlich sicher, dass der Mann, auf den er in der Hotelhalle wartete, eine kleine Veränderung am heutigen Tag falsch einschätzte. Die Tatsache nämlich, dass ihn seine Ehefrau noch nicht angerufen hatte. Nach allem, was Tretjak inzwischen über ihn wusste, war dem Mann vielleicht nicht einmal aufgefallen, dass das übliche Telefonat nicht stattgefunden hatte - obwohl es eine feste Gewohnheit war, wenn er auf Geschäftsreisen war. Nun ja, es ,würde nicht mehr lang dauern, dann würde er die Bedeutung dieser Änderung erkennen.
Tretjak sah auf die Uhr, es war Viertel vor acht. Plötzlich befiel ihn wieder das Gefühl, das ihn in letzter Zeit öfters heimgesucht hatte. Eine Art von Müdigkeit, ein Gefühl des Überdrusses. Früher hatte er genau diese Momente genossen, diese Momente vor der Zuspitzung, diese Annäherung an einen dramatischen Wendepunkt im Leben eines anderen Menschen, der davon noch nichts ahnte. Aber seit ein paar Wochen ertappte er sich bei dem Wunsch, diesen Moment vorübergehen zu lassen - ohne einzugreifen.
Tretjak saß mit seinem Gin Tonic im Foyer des Hotels New Oriental in Galle, der Hafenstadt im Südwesten von Sri Lanka. Er hatte einen elfstündigen Flug hinter sich - Lufthansa LH 2016, München-Colombo - und eine vierstündige Autofahrt. Der kleine, schweigsame Fahrer hatte seinen Peugeot geschmeidig wie ein Motorboot über riesige Schlaglöcher und zwischen Eselsfuhrwerken, Tuk-tuk-Schwärmen und nicht verkehrssicheren Lkws hindurchgesteuert. In ein paar Stunden würde ihn der Fahrer denselben Weg wieder zurückfahren, zurück zum Flughafen Colombo, zu Flug LH 2017, der im Morgengrauen nach München abhob. Tretjak war nur für diesen einen Abend gekommen - um einen Menschen aus seiner Schläfrigkeit zu reißen.
Es war heiß in der Hotelhalle. Die alten hölzernen Ventilatoren an der Decke kreisten müde vor sich hin. Einer quietschte, er hing direkt über dem schwarzen Piano im linken Bereich der Halle, wo sich auch die Bar befand. Eine Gruppe von drei Engländern hielt sich dort auf, jeder hatte einen Cocktail vor sich, gelegentlich stieß einer von ihnen eine merkwürdige Salve von kurzen Zischlauten aus, wenn ihn etwas belustigte.
Jetzt trat ein bulliger Mann in Khakihosen und einem grünen Ralph-Lauren-Poloshirt durch die breite, offenstehende Eingangstür. Er schwitzte, sein Gesicht war gerötet, er trug eine Pilotensonnenbrille. Zielstrebig schritt er auf die Rezeption zu und sagte mit einer tiefen lauten Stimme und leichtem deutschen Akzent: »Room number seven, please.«
Tretjak hatte sich erhoben und trat seitlich hinter den Mann, in zwei Metern Abstand. »Glückwunsch, Herr Schwarz«, sagte er. »Die Sieben ist das beste Zimmer hier.«
Der Mann drehte sich um, schob seine Sonnenbrille in die Stirn, musterte Tretjak aus fragenden blauen Augen.
»Genießen Sie Ihren kleinen Urlaub, Herr Schwarz?«, fragte Tretjak.
Dem Mann war jetzt deutlich anzusehen, wie er sein Gedächtnis durchforstete. Kannte er diesen Fremden von irgendwoher? »Ja, das tue ich«, antwortete er schließlich, »darf ich fragen -«
»Wir müssen reden, Herr Schwarz«, unterbrach Tretjak. »Ich habe im Restaurant einen Tisch bestellt. 21 Uhr.«
»Ich wüsste nicht ...« Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich kenne Sie nicht, und ich wüsste nicht, worüber wir uns unterhalten sollten.«
»Oh, Verzeihung, mein Name ist Tretjak. Wir werden uns über Ihr Leben unterhalten, Herr Schwarz. Ich bin gekommen, um es zu ändern. Mit Ihrer Hilfe natürlich.«
Der Mann, der Schwarz hieß und über den Gabriel Tretjak mehr wusste als jeder andere in dessen Leben, wurde ungehalten. »Hören Sie, Sie müssen mich verwechseln. Ich denke nicht daran, mein Leben zu ändern. Und wenn, würde ich mich kaum mit Ihnen darüber unterhalten.« Ein amüsiertes Glitzern zeigte sich in seinen Augen, ein Zeichen, dass er wieder Sicherheit gewann. Ein Verrückter eben, den er da vor sich hatte, nichts weiter. »Wissen Sie, dieses Land bietet viele Attraktionen. Ich bin keine davon. Guten Abend.«
Nach diesen Worten wandte er sich um zur Rezeption, nahm den Messingschlüssel mit der Nummer 7 von der Theke und war schon auf halbem Weg zur Treppe linkerhand, als Tretjak sagte: »Wenn Sie die Sache mit Union Carry nicht hinkriegen, werden Sie Ihren Vorstandsjob verlieren. Das sagt jedenfalls Ihr Aufsichtsrat.«
Schwarz blieb stehen, drehte sich um, blickte Tretjak an.
»Um 21 Uhr, Herr Schwarz«, sagte Tretjak. »Machen Sie sich keine Sorgen. Wir werden alles regeln.« Er wandte sich zum Rezeptionisten hinter der Theke: »Room number five, please.« Tretjak nahm den Schlüssel entgegen, lächelte Schwarz zu, der immer noch verblüfft dastand, und ging an ihm vorbei zur Treppe.
Das war gut gelaufen, dachte er. Schwarz war irritiert genug. In seinem Zimmer würde ihm jetzt auffallen, dass seine Frau sich nicht gemeldet hatte, und er würde sie anrufen. Besser gesagt: Er würde versuchen, sie anzurufen. Dieser Versuch würde seine Irritation noch steigern. Denn unter der Handynummer seiner Frau würde er die Ansage hören: »Die von Ihnen gewählte Rufnummer ist nicht vergeben.« Und auf der Festnetznummer würde niemand abheben.
Tretjak ging auf sein Zimmer, stellte seine Aktentasche ab, rückte einen Stuhl ans Fenster, setzte sich und schloss die Augen. Die Fenster in diesem Hotel hatten keine Scheiben, sondern nur Läden mit Holzlamellen. Man hörte die Geräusche von draußen, das Zirpen der Insekten, das Rufen der Kinder. Das New Oriental in Galle war ein gewisser Geheimtipp, ein altes Hotel im englischen Kolonialstil. Das große dunkelbraune Holzbett war bestimmt zweihundert Jahre alt. Es stand unter einem hohen Himmel aus gespannten Netzgardinen, die bis zum Boden reichten und die Moskitos abhielten. Tretjak würde dieses Bett nicht benötigen. Er stand auf, ging ins Badezimmer und nahm eine lange, kühle Dusche.
Beim Blick in den Spiegel beschloss er, wieder mehr Sport zu machen. Jetzt, da der Sommer kam, konnte er in München von seiner Wohnung aus morgens wieder direkt zur Isar laufen, am Fluss entlang, dann über die Montgelasbrücke in den Englischen Garten und am Haus der Kunst vorbei zurück. Tretjak legte wert darauf, seine Figur zu halten. Er war jetzt 44 Jahre alt und trug seit über 25 Jahren unverändert Anzuggröße 50. Seine schwarzen Haare zeigten noch keine Anzeichen von Grau, und das würde vermutlich auch so bleiben. Die Haare hatte er von seiner Mutter geerbt, und in ihrer ganzen Familie gab es buchstäblich keine einzige graue Strähne. Tretjaks Haare waren dick, und er trug sie relativ lang. Jetzt waren sie nass, und er kämmte sie nach hinten aus der Stirn.
Er nahm aus seiner Aktentasche ein Paar neue Unterhosen und zog sich wieder an. Eine dunkelblaue Hose aus Synthetic-Material, ein langärmliges beiges T-Shirt. Barfuß schlüpfte er in seine dunkelbraunen Slipper. Im Zimmer hatte sich inzwischen der Duft der aufgeschnittenen Papayafrüchte ausgebreitet. Sie waren auf einer flachen Schale drapiert, die auf dem Tisch stand. Tretjak setzte sich wieder auf den Stuhl am Fenster und überlegte, wie er das Treffen unten im Speisesaal eröffnen sollte. Er durfte das Tempo nicht verlieren, das er an der Rezeption vorgelegt hatte, er musste die Spannung hochhalten. Tretjak beschloss, etwas zu spät nach unten zu gehen und als Entschuldigung anzuführen: »Ich habe bis eben noch mit Ihrer Frau telefoniert, Herr Schwarz, und, nun ja, Sie kennen sie ja ...«
Vom ersten Gespräch hing viel vom Gelingen der Mission ab, das wusste Tretjak aus Erfahrung. Aber in diesem Fall schien ihm die Angelegenheit nicht besonders schwierig zu sein. Es handelte sich eher um einen Routineauftrag. Tretjak hatte ihn schon ablehnen wollen, er hatte keine Lust, sich zu langweilen. Aber dann hatte seine Auftraggeberin, Melanie Schwarz, einen Satz gesagt, der ihn zum Schmunzeln gebracht hatte. Diesem Satz verdankte er nun die Tatsache, dass er in wenigen Minuten in den Genuss des »großen Currys« kommen würde, der Spezialität des Restaurants im New Oriental. Er hatte vorbestellt, damit keine Zeit durch das Studium der Karte und die Auswahl der Speisen verlorenging. Das Gericht, so hatte man ihm erklärt, bestand aus zahlreichen Schälchen feinster Gemüse-, Fleisch- und Fischspeisen und unterschiedlichster Soßen, alle sehr scharf und geeignet, Schweißperlen auf die Stirn zu treiben.
Melanie Schwarz fühlte sich in einem Leben gefangen, aus dem sie entkommen wollte, aber nicht konnte. Ein Geflecht aus Schuldgefühlen, Verantwortung und Mutlosigkeit hielt sie zurück, dazu die Angst, in einem neuen, eigenen Leben zu versagen. Als junge Frau war sie ein Schlagersternchen gewesen, hatte es mit zwei Liedern in die Hitparaden geschafft: Du bist jetzt allein und Die Wahrheit tut weh. Aber ihre Karriere war kurz gewesen, es war bald still geworden um sie. Einmal war sie noch in den Schlagzeilen aufgetaucht mit einem angeblichen Selbstmordversuch, schließlich war sie völlig aus der Öffentlichkeit verschwunden. Dann lernte sie Peter Schwarz kennen, der eine sichere Burg um sie herum errichtete aus einer Familie und einem hohen Lebensstandard. Inzwischen hatten die beiden eine erwachsene Tochter, die in London eine Tanzausbildung machte. Sie bewohnten eine herrliche Dachgeschosswohnung in Berlin am Gendarmenmarkt und ein kleines restauriertes Gut außerhalb Potsdams mit einem Pferdestall. Melanie war schon als Kind gern geritten. Peter Schwarz hatte ihr einen Traum verwirklicht. Aber inzwischen hatte sie einen neuen Traum. Am Ende ihres Gespräches hatte sie auf das Stück Papier gestarrt, auf dem Tretjak den Plan skizziert hatte, und dabei gesagt: »Ich habe kein eigenes Geld. Ich kann Sie nicht bezahlen.« Tretjak, der schon drauf und dran gewesen war, den Auftrag abzulehnen, war hellhörig geworden. Er hatte sie angesehen und dabei beobachtet, wie sie all ihren Mut zusammennahm, um diesen einen Satz zu sagen: »Am Ende müssen Sie meinen Mann auch noch dazu kriegen, Ihre Arbeit zu bezahlen.«
Am schärfsten waren die Linsen gewesen. Selbst Tretjak, der von klein auf gewohnt war, scharf zu essen, hatte bei diesem Gericht Tränen in die Augen bekommen. Schwarz hatte es nach einem Test mit einer winzigen Menge auf der Gabelspitze nicht mehr angerührt.
Der Kellner mit dem Nashorngesicht war jetzt dabei, die vielen Schälchen abzuräumen. Zurück auf dem Tisch blieb eine gläserne Karaffe Mineralwasser, eine fast volle Flasche Haute Medoc und ein paar Gläser.
»Wünschen die Herren noch ein Dessert?«
Tretjak blickte Schwarz fragend an.
Schwarz schüttelte den Kopf. »Kaffee. Espresso. Doppelt.«
Tretjak nickte dem Kellner zu und bedeutete ihm, dass er sich diesem Wunsch anschloss. Dann griff er nach der Aktentasche, die neben seinem Stuhl auf dem Fußboden ab gestellt war, nahm sie auf den Schoß, öffnete sie und entnahm ihr ein einziges weißes Blatt Papier und einen dunkelblauen Kugelschreiber der Marke Parker, legte beides vor sich auf den Tisch und stellte die Tasche wieder auf den Boden.
»Sie möchte also ein neues Leben anfangen«, sagte Schwarz, mehr zu sich selbst als zu Tretjak. »Das kann sie mir aber nicht selbst sagen ... Dafür braucht sie einen wie Sie. Wie ist sie auf Sie gekommen?« Er blickte Tretjak in die Augen. »Schlafen Sie mit ihr?«
Tretjak machte sich nicht die Mühe zu antworten und schwieg. Er ließ Schwarz Zeit. Manche Menschen verstummten, wenn sie eine schlechte Nachricht erhielten. Andere mussten die Dinge aussprechen und immer wieder wiederholen, um sie zu begreifen. Zu diesen gehörte Schwarz. Er war getroffen, das war ihm anzusehen. Seine Hände zitterten, als er sich Wasser einschenkte. Der Bulle wankte.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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Autoren-Porträt von Max Landorff
Max Landorff ist ein Pseudonym. Seine REGLER-Thriller sind Bestseller und in mehrere Sprachen übersetzt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Max Landorff
- 2012, 2. Aufl., 368 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596186455
- ISBN-13: 9783596186457
- Erscheinungsdatum: 21.08.2012
Pressezitat
Dieser Thriller ist originell und raffiniert. Ein echter Lesegenuss. Oberösterreichische Nachrichten 20110903
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