Gegen den Strom
Ein Gespräch über Geschichte und Politik
Joschka Fischer, Außenminister a.D., und der Historiker Fritz Stern in lebhaftem und scharfsinnigen Diskurs – über Erfahrungen der Vergangenheit und Herausforderungen der Gegenwart: Der 1. Weltkrieg und Versailles, Finanzkrise und EU,...
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Produktinformationen zu „Gegen den Strom “
Joschka Fischer, Außenminister a.D., und der Historiker Fritz Stern in lebhaftem und scharfsinnigen Diskurs – über Erfahrungen der Vergangenheit und Herausforderungen der Gegenwart: Der 1. Weltkrieg und Versailles, Finanzkrise und EU, Israel, die Deutschen und der Nahostkonflikt, Aufstieg Chinas u.v.m.
Klappentext zu „Gegen den Strom “
Zwei außergewöhnliche Freunde im Gespräch - Joschka Fischer, Außenminister außer Dienst und langjähriger Spitzenpolitiker der Grünen, hat sich im vergangenen Sommer mit Fritz Stern, dem amerikanischen Historiker deutscher Herkunft und Friedenspreisträger, im Wissenschaftskolleg zu Berlin getroffen, um über die Erfahrungen der Vergangenheit und die Herausforderungen der Gegenwart zu reden.Ob es dabei um die Finanzkrise und die Europäische Union am Scheideweg geht, um den Ersten Weltkrieg und den misslungenen Frieden von Versailles, um ein heikles Thema wie Israel, die Rolle der Deutschen im Nahost-Konflikt (und das Grass-Gedicht), um die Zukunft der USA und den Aufstieg Chinas - stets geht es scharfsinnig, lebhaft und konkret zu in diesem Dialog zwischen zwei Männern, die jeder auf seine Weise mehr als einmal im Leben gegen den Strom geschwommen sind.
Zwei außergewöhnliche Freunde im Gespräch - Joschka Fischer, Außenminister außer Dienst und langjähriger Spitzenpolitiker der Grünen, hat sich im vergangenen Sommer mit Fritz Stern, dem amerikanischen Historiker deutscher Herkunft und Friedenspreisträger, im Wissenschaftskolleg zu Berlin getroffen, um über die Erfahrungen der Vergangenheit und die Herausforderungen der Gegenwart zu reden.
Ob es dabei um die Finanzkrise und die Europäische Union am Scheideweg geht, um den Ersten Weltkrieg und den misslungenen Frieden von Versailles, um ein heikles Thema wie Israel, die Rolle der Deutschen im Nahost-Konflikt (und das Grass-Gedicht), um die Zukunft der USA und den Aufstieg Chinas - stets geht es scharfsinnig, lebhaft und konkret zu in diesem Dialog zwischen zwei Männern, die jeder auf seine Weise mehr als einmal im Leben gegen den Strom geschwommen sind.
Ob es dabei um die Finanzkrise und die Europäische Union am Scheideweg geht, um den Ersten Weltkrieg und den misslungenen Frieden von Versailles, um ein heikles Thema wie Israel, die Rolle der Deutschen im Nahost-Konflikt (und das Grass-Gedicht), um die Zukunft der USA und den Aufstieg Chinas - stets geht es scharfsinnig, lebhaft und konkret zu in diesem Dialog zwischen zwei Männern, die jeder auf seine Weise mehr als einmal im Leben gegen den Strom geschwommen sind.
Lese-Probe zu „Gegen den Strom “
Gegen den Strom von Joschka Fischer und Fritz SternEin Gespräch über Geschichte und Politik
Heimat
FISCHER Interessante Türen hier.
STERN Gründerzeit.
FISCHER Ja, diese dunklen holzgetäfelten Räume entsprechen wohl dem Geschmack von damals. Das war die Zeit, wo Damen und Herren nach dem Essen noch getrennt saßen und die Herren bei schweren Burgundern und noch schwereren Zigarren ihre trüben Geschäfte regelten. So genannte Herrenzimmer, gibt es heute wohl kaum noch.
STERN Die trüben Geschäfte gibt's noch.
FISCHER Die ja, aber die Herrenzimmer nicht mehr. Noch in meiner Kindheit erkannte man einen bürgerlichen Haushalt daran, dass es ein Herrenzimmer gab, in das zog sich Vater zum Rauchen zurück.
STERN Das gab es bei Ihnen zu Hause?
FISCHER Nein, wir waren arm, bei uns gab's so was nicht. Ich bin auf der Bettcouch im Wohnzimmer aufgewachsen; meine zwei Schwestern teilten sich das dritte Zimmer in einer Dreizimmerwohnung ohne Bad.
STERN Aber Ihr Vater war doch Metzger, wenn ich das richtig weiß.
FISCHER Was heißt aber? Er hat Tiere getötet und auseinander genommen. Und sehr gute Wurst gemacht.
STERN Der Beruf des Metzgers spricht für einen gewissen bürgerlichen Wohlstand.
... mehr
FISCHER Ging alles im Krieg dahin. Bei Kriegsende musste mein Vater für die russische Armee schlachten, die brauchten ja was zu essen. Also wurde erst mal das Vieh im Raum Budapest requiriert, und dann hieß es: «Wer kann schlachten?» Natürlich wurden die Schlachtungen überwacht, aber es fiel immer etwas ab, so die Erzählung. Metzger hungern nicht, so viel kann ich Ihnen zuverlässig mitteilen. Wir hatten auch später Fleisch satt, die ganze Woche über, während es bei anderen lediglich am Sonntag zwei Schnitzel gab.
STERN Eins für den Vater und das andere für die Familie.
FISCHER Richtig, das war die Regel, aber bei uns gab's für jeden so viele Schnitzel, wie er wollte. Wir haben nie gehungert. Allerdings habe ich immer die Bäckerkinder beneidet, wegen der Süßigkeiten. Also: Essen gab's immer, Geld nie.
STERN Wann ist Ihr Vater aus Ungarn weggegangen?
FISCHER Die Familie ist 1946, nach ca. zweihundert Jahren, ausgewiesen worden. Meine Mutter erzählte mir einmal, dass man die Mitläufer und Täter der Nazis von den Unbelasteten unter den Ungarndeutschen am Datum unterscheiden könne. Diejenigen, die sich schuldig gemacht hätten, wären mit der Wehrmacht Ende 1944 geflohen. Aber wie gesagt, alles Erzählung. Anläßlich des 50. Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkriegs hat «Die Zeit» damals eine längere Artikelserie über diese letzten Monate gebracht, unter anderem einen langen Artikel über die Schlacht um Budapest, da konnte ich die Erzählungen meiner Mutter mit der objektiven Geschichtsschreibung vergleichen, und ich muss sagen, die Oral History meiner Mutter war ziemlich präzise. Meine Mutter hat mir erzählt, dass einer der Todesmärsche Richtung Mauthausen im Winter 1944/45 durchs Dorf kam. Ganz furchtbare Dinge seien da geschehen, Frauen hätten versucht, den Häftlingen Essen zuzustecken, seien aber von der SS weggetrieben worden. Ich war acht oder neun Jahre alt, als meine Mutter mir das erzählte, und so was merkt sich ein Kinderkopf.
STERN Wann waren Sie das erste Mal da?
FISCHER 1987. Und ich muss Ihnen sagen, man sollte das nicht machen. Wenn man als Kind in einem virtuellen Land «gelebt» hat, in einem Land der Träume, sollte man später nicht hin fahren, das ist immer ein Absturz. Ich fand den Friedhof, wo all die Namen standen, die ich in Baden-Württemberg ...
STERN ... vermisst habe.
FISCHER Nicht vermisst. Ich habe lediglich festgestellt, dass es diese Namen in Baden-Württemberg nicht gab. Und dann tauchten dort auch ca. 160 Lebende auf - das war allerdings bei meinem zweiten Besuch, als ich bereits Minister war -, die alle behaupteten, mit mir verwandt zu sein. Vermutlich waren sie das auch, es handelte sich ja um große Bauernfamilien, die untereinander heirateten und viele Kinder in die Welt setzten, als eine Art Sozialversicherung und gleichzeitig als Arbeitskräfte. Ich bin mit meiner Tante, der Frau des ältesten Bruders meines Vaters, die Hauptstraße runter gelaufen, da steht das Haus der Großeltern. Onkel und Tante hatten das Haus geerbt, sind aber enteignet worden, und zwar gleich doppelt, als Deutsche und als Kulaken, dabei waren sie nur Bauern und Metzger gewesen.
STERN Von den Ungarn?
FISCHER Von den Kommunisten.
STERN Ja, das meinte ich, von ungarischen Kommunisten.
FISCHER Bei diesem Besuch in Budakezi wurde mir zum ersten Mal klar, was Enteignung für die betroffenen Menschen bedeutet hatte! Die Wunde war auch Jahrzehnte danach nicht wirklich geschlossen. Und da dachte ich mir, meine Eltern haben 1946 wirklich die richtige Entscheidung getroffen und sind gegangen. Ich habe nie mit ihnen darüber geredet, warum sie gegangen sind. Sie hätten wohl auch bleiben können, aber ich glaube, die russische Besatzung hat wesentlich zu ihrem Entschluss beigetragen. An dem Ort zu leben, wo einem alles genommen wurde, das ist nicht schön.
STERN So ist es.
FISCHER Wann waren Sie das erste Mal nach der Emigration wieder in Wroclaw?
STERN 1979. Ich habe einen Vortrag in Posen gehalten und mir dort einen Wagen gemietet, um nach Breslau zu fahren. Dabei habe ich festgestellt, dass die Ausflüge meiner Eltern immer Richtung Südwesten gingen, ins Riesengebirge, auch auf die tschechische Seite, aber nie nach Norden, nach Polen, und deshalb war die Fahrt nach Breslau für mich sozusagen eine Neueinfahrt in die Stadt.
FISCHER Auf die polnische Seite ist man damals nicht gefahren?
STERN Nein, meine Eltern jedenfalls nicht. Sie fuhren lieber in die Sudeten.
FISCHER Es soll ja auch sehr schön dort sein.
STERN Ist es auch. Das Erste, was ich bei meiner Einfahrt in Breslau erkannt habe, war das Polizeigebäude, wo ich mit elf oder zwölf Jahren früh am Morgen meinen Vater abgegeben habe, weil er die Papiere zur Auswanderung vorbereiten musste. Allein dieses Riesenpolizeigebäude zu sehen, von dem ich schon die Grausamkeiten gehört hatte, und da reinzugehen war für ein Kind schon ein gewaltiger Schrecken - und ausgerechnet dieses Gebäude war das Erste, an dem ich vorbei kam.
Allmählich habe ich dann auch anderes wiedererkannt, mein Gymnasium, die Villa meiner Großmutter. Da kam eine junge Dame raus, und ich wollte ihr klar machen, dass in diesem Haus früher meine Großmutter gelebt hatte, ob ich es mir ganz kurz einmal ansehen könnte; es gab Sprachschwierigkeiten zwischen ihr und mir, und sie war nicht besonders freundlich. Dann kam ihr Mann runter, der Französisch sprach und gleich sagte: «Kommen Sie doch rein!» An den Wänden im Wohnzimmer hingen nur Bilder und Zeichnungen aus Auschwitz. Als ich nach dem Grund fragte, öffnete der Mann sein Hemd, auf der Brust die eintätowierte Haftnummer: «Ja, ich war in Auschwitz.» Er war dort als polnischer Offizier gefangen gewesen. Da kam es über mich, und da sagte ich: «Ich bin froh, dass Sie hier sind, das freut mich.» Meine Frau hat dann ein Foto gemacht, wie wir uns die Hand schütteln. Ich fand es irgendwie gerecht, dass jemand, der in Auschwitz gewesen war - ein Schicksal, dem ich entkommen bin -, jetzt im Haus meiner Großmutter lebte.
FISCHER Wenn die Deutschen über Vertreibung reden, muss man immer wieder daran erinnern: Der Überfall auf die Tschechoslowakei und Polen ist der Beginn gewesen, das darf man nicht vergessen.
STERN Nein! Aber wir sollten auch nicht vergessen, dass es angefangen hat mit Deutschen, die andere Deutsche vertrieben haben, und zwar nicht nur die berühmten wie Thomas Mann, Bertolt Brecht und Marlene Dietrich oder politische Gegner wie Ernst Reuter und Willy Brandt, sondern auch die vielen Juden und sogenannte Nicht-Arier, die sich immer als Deutsche gefühlt haben, und wir reden hier über Hunderttausende. Diese Vertreibung war die erste, das wurde gern vergessen, wenn das Wort Vertreibung fi el.
FISCHER Richtig. Das ist der Beginn. Diese Tragödie ist der Beginn!
© Verlag C.H.Beck oHG, München
FISCHER Ging alles im Krieg dahin. Bei Kriegsende musste mein Vater für die russische Armee schlachten, die brauchten ja was zu essen. Also wurde erst mal das Vieh im Raum Budapest requiriert, und dann hieß es: «Wer kann schlachten?» Natürlich wurden die Schlachtungen überwacht, aber es fiel immer etwas ab, so die Erzählung. Metzger hungern nicht, so viel kann ich Ihnen zuverlässig mitteilen. Wir hatten auch später Fleisch satt, die ganze Woche über, während es bei anderen lediglich am Sonntag zwei Schnitzel gab.
STERN Eins für den Vater und das andere für die Familie.
FISCHER Richtig, das war die Regel, aber bei uns gab's für jeden so viele Schnitzel, wie er wollte. Wir haben nie gehungert. Allerdings habe ich immer die Bäckerkinder beneidet, wegen der Süßigkeiten. Also: Essen gab's immer, Geld nie.
STERN Wann ist Ihr Vater aus Ungarn weggegangen?
FISCHER Die Familie ist 1946, nach ca. zweihundert Jahren, ausgewiesen worden. Meine Mutter erzählte mir einmal, dass man die Mitläufer und Täter der Nazis von den Unbelasteten unter den Ungarndeutschen am Datum unterscheiden könne. Diejenigen, die sich schuldig gemacht hätten, wären mit der Wehrmacht Ende 1944 geflohen. Aber wie gesagt, alles Erzählung. Anläßlich des 50. Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkriegs hat «Die Zeit» damals eine längere Artikelserie über diese letzten Monate gebracht, unter anderem einen langen Artikel über die Schlacht um Budapest, da konnte ich die Erzählungen meiner Mutter mit der objektiven Geschichtsschreibung vergleichen, und ich muss sagen, die Oral History meiner Mutter war ziemlich präzise. Meine Mutter hat mir erzählt, dass einer der Todesmärsche Richtung Mauthausen im Winter 1944/45 durchs Dorf kam. Ganz furchtbare Dinge seien da geschehen, Frauen hätten versucht, den Häftlingen Essen zuzustecken, seien aber von der SS weggetrieben worden. Ich war acht oder neun Jahre alt, als meine Mutter mir das erzählte, und so was merkt sich ein Kinderkopf.
STERN Wann waren Sie das erste Mal da?
FISCHER 1987. Und ich muss Ihnen sagen, man sollte das nicht machen. Wenn man als Kind in einem virtuellen Land «gelebt» hat, in einem Land der Träume, sollte man später nicht hin fahren, das ist immer ein Absturz. Ich fand den Friedhof, wo all die Namen standen, die ich in Baden-Württemberg ...
STERN ... vermisst habe.
FISCHER Nicht vermisst. Ich habe lediglich festgestellt, dass es diese Namen in Baden-Württemberg nicht gab. Und dann tauchten dort auch ca. 160 Lebende auf - das war allerdings bei meinem zweiten Besuch, als ich bereits Minister war -, die alle behaupteten, mit mir verwandt zu sein. Vermutlich waren sie das auch, es handelte sich ja um große Bauernfamilien, die untereinander heirateten und viele Kinder in die Welt setzten, als eine Art Sozialversicherung und gleichzeitig als Arbeitskräfte. Ich bin mit meiner Tante, der Frau des ältesten Bruders meines Vaters, die Hauptstraße runter gelaufen, da steht das Haus der Großeltern. Onkel und Tante hatten das Haus geerbt, sind aber enteignet worden, und zwar gleich doppelt, als Deutsche und als Kulaken, dabei waren sie nur Bauern und Metzger gewesen.
STERN Von den Ungarn?
FISCHER Von den Kommunisten.
STERN Ja, das meinte ich, von ungarischen Kommunisten.
FISCHER Bei diesem Besuch in Budakezi wurde mir zum ersten Mal klar, was Enteignung für die betroffenen Menschen bedeutet hatte! Die Wunde war auch Jahrzehnte danach nicht wirklich geschlossen. Und da dachte ich mir, meine Eltern haben 1946 wirklich die richtige Entscheidung getroffen und sind gegangen. Ich habe nie mit ihnen darüber geredet, warum sie gegangen sind. Sie hätten wohl auch bleiben können, aber ich glaube, die russische Besatzung hat wesentlich zu ihrem Entschluss beigetragen. An dem Ort zu leben, wo einem alles genommen wurde, das ist nicht schön.
STERN So ist es.
FISCHER Wann waren Sie das erste Mal nach der Emigration wieder in Wroclaw?
STERN 1979. Ich habe einen Vortrag in Posen gehalten und mir dort einen Wagen gemietet, um nach Breslau zu fahren. Dabei habe ich festgestellt, dass die Ausflüge meiner Eltern immer Richtung Südwesten gingen, ins Riesengebirge, auch auf die tschechische Seite, aber nie nach Norden, nach Polen, und deshalb war die Fahrt nach Breslau für mich sozusagen eine Neueinfahrt in die Stadt.
FISCHER Auf die polnische Seite ist man damals nicht gefahren?
STERN Nein, meine Eltern jedenfalls nicht. Sie fuhren lieber in die Sudeten.
FISCHER Es soll ja auch sehr schön dort sein.
STERN Ist es auch. Das Erste, was ich bei meiner Einfahrt in Breslau erkannt habe, war das Polizeigebäude, wo ich mit elf oder zwölf Jahren früh am Morgen meinen Vater abgegeben habe, weil er die Papiere zur Auswanderung vorbereiten musste. Allein dieses Riesenpolizeigebäude zu sehen, von dem ich schon die Grausamkeiten gehört hatte, und da reinzugehen war für ein Kind schon ein gewaltiger Schrecken - und ausgerechnet dieses Gebäude war das Erste, an dem ich vorbei kam.
Allmählich habe ich dann auch anderes wiedererkannt, mein Gymnasium, die Villa meiner Großmutter. Da kam eine junge Dame raus, und ich wollte ihr klar machen, dass in diesem Haus früher meine Großmutter gelebt hatte, ob ich es mir ganz kurz einmal ansehen könnte; es gab Sprachschwierigkeiten zwischen ihr und mir, und sie war nicht besonders freundlich. Dann kam ihr Mann runter, der Französisch sprach und gleich sagte: «Kommen Sie doch rein!» An den Wänden im Wohnzimmer hingen nur Bilder und Zeichnungen aus Auschwitz. Als ich nach dem Grund fragte, öffnete der Mann sein Hemd, auf der Brust die eintätowierte Haftnummer: «Ja, ich war in Auschwitz.» Er war dort als polnischer Offizier gefangen gewesen. Da kam es über mich, und da sagte ich: «Ich bin froh, dass Sie hier sind, das freut mich.» Meine Frau hat dann ein Foto gemacht, wie wir uns die Hand schütteln. Ich fand es irgendwie gerecht, dass jemand, der in Auschwitz gewesen war - ein Schicksal, dem ich entkommen bin -, jetzt im Haus meiner Großmutter lebte.
FISCHER Wenn die Deutschen über Vertreibung reden, muss man immer wieder daran erinnern: Der Überfall auf die Tschechoslowakei und Polen ist der Beginn gewesen, das darf man nicht vergessen.
STERN Nein! Aber wir sollten auch nicht vergessen, dass es angefangen hat mit Deutschen, die andere Deutsche vertrieben haben, und zwar nicht nur die berühmten wie Thomas Mann, Bertolt Brecht und Marlene Dietrich oder politische Gegner wie Ernst Reuter und Willy Brandt, sondern auch die vielen Juden und sogenannte Nicht-Arier, die sich immer als Deutsche gefühlt haben, und wir reden hier über Hunderttausende. Diese Vertreibung war die erste, das wurde gern vergessen, wenn das Wort Vertreibung fi el.
FISCHER Richtig. Das ist der Beginn. Diese Tragödie ist der Beginn!
© Verlag C.H.Beck oHG, München
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Inhaltsverzeichnis zu „Gegen den Strom “
I Heimat II Zwei Weltkriege
III Europa braucht Führung
IV Von 68 zu Rot-Grün
V The Beat Generation
VI Israel
VII Die Zukunft des Westens
VIII Zwei letzte Fragen
Postskriptum
Nachwort
Autoren-Porträt von Joschka Fischer, Fritz Stern
Fritz Stern, geboren 1926 in Breslau, ist em. Professor für Geschichte an der Columbia University. Obwohl seine Familie jüdisch war, wurde Fritz Stern, um seine Zukunftschancen zu erhöhen, getauft. Die Geschichte und das Schicksal des deutschen Judentums wurden für Stern zum Lebensthema. 1938 flüchtete er mit seinen Eltern in die Vereinigten Staaten und studierte deutsche Geschichte an der Columbia Universität, wo er Professor für Geschichte wurde. Er gilt als einer der besten Deutschlandkenner in den USA. 1999 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Er lebt in Princeton und Washington. Joschka Fischer, geboren 1948, war von 1998 bis 2005 deutscher Außenminister und Vizekanzler. Er gehört zu den Gründern der Partei "Die Grünen" und zu den wichtigsten deutschen Politikern seiner Generation.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
- 2013, 224 Seiten, Maße: 14,6 x 22,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Beck
- ISBN-10: 3406645534
- ISBN-13: 9783406645532
- Erscheinungsdatum: 14.02.2013
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