Gerron
Roman
Kurt Gerron war einmal ein Star und ist jetzt nur noch ein Häftling unter Tausenden. Als er den Auftrag bekommt, einen Film zu drehen, der das erniedrigende Dasein der Juden als Paradies schildern soll, sieht er sich vor einer Gewissensentscheidung,...
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Buch (Gebunden)
25.60 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Gerron “
Kurt Gerron war einmal ein Star und ist jetzt nur noch ein Häftling unter Tausenden. Als er den Auftrag bekommt, einen Film zu drehen, der das erniedrigende Dasein der Juden als Paradies schildern soll, sieht er sich vor einer Gewissensentscheidung, bei der sein Leben auf dem Spiel steht. In dieser Lage lässt Gerron sein Leben noch einmal Revue passieren.
Klappentext zu „Gerron “
Kurt Gerron war einmal ein Star und ist jetzt nur noch ein Häftling unter Tausenden. Der Nationalsozialismus hat den bekannten Schauspieler von den Berliner Filmateliers ins Ghetto von Theresienstadt getrieben, wo er ein letztes Mal seine Fähigkeiten beweisen soll: Als er den Auftrag bekommt, einen Film zu drehen, der das erniedrigende Dasein der Juden als Paradies schildern soll, sieht er sich vor einer Gewissensentscheidung, bei der sein Leben auf dem Spiel steht. In dieser Lage lässt Gerron sein Leben noch einmal Revue passieren. Charles Lewinsky erzählt die faktenreiche und doch erfundene Biographie des Schauspielers Kurt Gerron, der dem Holocaust zum Opfer fiel - ein literarisch brillanter und berührender Roman.
Mit Lesebändchen
Lese-Probe zu „Gerron “
Gerron von Charles Lewinsky... mehr
Er war nett zu mir, und das macht mir Angst. Er hat mich nicht angeschrien, was normal gewesen wäre, sondern war höflich. Ein Tonfall, als ob er mich siezen würde.
Er hat mich nicht gesiezt, das wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, aber er hat meinen Namen gewusst. «Du, Gerron», hat er zu mir gesagt und nicht «Du, Jud».
Es ist gefährlich, wenn ein Mann wie Rahm deinen Namen kennt.
«Du, Gerron», hat er gesagt, «ich habe einen Auftrag für dich. Du wirst einen Film für mich drehen.»
Einen Film.
Er will etwas Privates, habe ich zuerst gedacht, einen Film über sich selber. Der liebende Vater Karl Rahm mit seinen drei Kindern. Der Herr Obersturmführer als Mensch verkleidet. Etwas in der Art. Was er an seine Familie in Klosterneuburg schicken kann.
Ja, wir wissen, wie viele Kinder er hat. Wir wissen, wo er herkommt. Wir wissen alles über ihn. So wie arme Sünder alles über Gott wissen. Oder über den Teufel.
Die Ufa, das hat mir Otto erzählt, dreht jedes Jahr einen Film zum Lob von Joseph Goebbels. Immer zu seinem Geburtstag. Sie schicken ihm einen ihrer Stars, den Rühmann zum Beispiel, der macht was Niedliches mit den Goebbelsschen Kindern, und damit schleimen sie sich beim Herrn Propagandaminister ein.
So etwas, habe ich mir vorgestellt, will jetzt auch der Rahm. Das wäre kein Problem gewesen. Nicht in meiner Lage.
Aber Rahm denkt größer. Der Herr Obersturmführer hat andere Pläne.
«Hör zu, Gerron», hat er gesagt. «Ich hab mal einen Film von dir gesehen. Ich weiß nicht mehr, wie er hieß, aber er hat mir gefallen. Du kannst was. Das ist das Schöne an Theresienstadt: Hier sind eine Menge Leute, die was können. Ihr spielt ja auch Theater und so. Und jetzt will ich eben einen Film.»
Dann hat er mir erzählt, was für ein Film es werden soll.
Ich bin erschrocken. Man muss es mir angemerkt haben, aber er hat nicht darauf reagiert. Weil er mein Erschrecken erwartet hat. Oder weil es ihm egal war. Ich kann solche Gesichter nicht lesen.
«Wir haben schon früher mal einen Versuch in der Richtung gemacht», sagte er, «aber der ist nicht gelungen. Ich war sehr unzufrieden. Die Leute, die das versaut haben, sind nicht mehr hier.»
Es fährt immer ein nächster Zug nach Auschwitz.
«Jetzt bist du dran», sagte Rahm. Immer noch freundlich. Seine Stimme immer noch freundlich. «Wenn wir beide Glück haben, kommt dieses Mal etwas Gutes dabei raus. Nicht wahr, Gerron?»
«Ich muss mir das überlegen», habe ich gesagt. Zu Rahm. Eppstein, der als Judenältester auch geladen war, atmete ein erschrockenes Stöhnen in sich hinein. Ein Jude hat nicht zu widersprechen. Nicht wenn der Lagerkommandant etwas verlangt. Der SS-Mann, der mich hergebracht hatte, machte sich schon zum Prügeln bereit. Ich habe seine Hand nicht gesehen, nur die Bewegung gespürt. Man dreht sich aus der Achtungsstellung nicht weg. Nicht im Büro des Lagerkommandanten. Der Schlag war schon unterwegs, aber Rahm winkte ab.
«Er ist ein Künstler», sagte er. Machte immer noch sein freundliches Onkel-Rahm-Gesicht. «Er braucht Inspiration. Das ist in Ordnung, Gerron», sagte er. «Ich gebe dir drei Tage. Zum Nachdenken. Damit der Film auch ein Erfolg wird. Nicht dass ich noch einmal mit jemandem unzufrieden sein muss. Drei Tage, Gerron.»
Meine Prügel habe ich dann doch noch bekommen. Vor der Tür von Rahms Büro. Der SS-Mann schlug mich ins Gesicht, wie sie es meistens tun. Aber nicht mit voller Kraft. Ich werde noch gebraucht. Wenn man schon wüsste, wie es aufhört, würde man anfangen wollen? Würde man sich nicht die Nabelschnur um den Hals winden, um erwürgt zu sein, noch bevor man an die Luft kommt? Würde man nicht Mittel finden, um gar nicht erst an den Start zu gehen bei einem Rennen, das man schon verloren hat?
Man hat mir von einem Kind erzählt, das, noch vor meiner Zeit, im Zug von Amsterdam nach Westerbork zur Welt kam, und für das Gemmeker die besten Kinderärzte aus der Stadt kommen ließ. Eine Säuglingsschwester, die schon mal einer leibhaftigen Kronprinzessin die Windeln gewechselt hatte. Die Mutter allerdings ging noch am Tag ihrer Ankunft nach Osten. Sie hatte mit der unbotmäßigen Geburt die Zahlen auf den Transportpapieren durcheinandergebracht und durfte zum Ausgleich eine andere Liste vervollständigen.
In Westerbork herrscht ein anderer Wahnsinn als hier in Theresienstadt. Aber auch er hat Methode. Um als voll zählende Menscheneinheit nach Auschwitz geschickt zu werden, muss man ein halbes Jahr alt sein.
Dieses Kind aus dem Zug: Hätte es geboren werden wollen, wenn es gewusst hätte, dass seine wohlbehütete Jugend genau sechs Monate dauern würde? Plus drei Tage für die Zugfahrt?
Natürlich nicht.
Es gibt eine Legende, die mein Großvater Emil Riese mir erzählt hat, jeden Satz mit einer Wolke aus Zigarrenqualm beweihräuchernd. Ich liebte die phantastischen Geschichten meines Großvaters, so wie mein der Rationalität verschriebener Vater sie hasste.
Sie ging so: Wenn ein Mensch erschaffen wird - er erklärte mir nicht, wie das vor sich ging, und ich war noch nicht in dem Alter, wo man danach fragt -, wenn ein Mensch beginnt, Mensch zu sein, dann weiß er schon alles, was es zu wissen gibt, das, was in den klugen Büchern steht, und auch die Dinge, die noch keiner entdeckt hat. Er kennt die Ereignisse der Vergangenheit, und er weiß, was noch alles geschehen wird, draußen in der Welt und drinnen im eigenen Leben. Aber kurz bevor er geboren wird - auch wie das im Einzelnen vor sich ging, blieb mir damals noch ein Rätsel -, kommt ein Engel und tippt ihm mit dem Zeigefinger an die Stirn. Pling.
Dann vergisst der neue Mensch alles, was er eigentlich schon gewusst hat. Wenn er dann zur Welt kommt, sagte mein Großvater, erinnert er sich gerade noch daran, wie man oben etwas in sich hineinsaugt und unten etwas aus sich herauspresst. Ich lachte, und er füllte die Pause, indem er an seiner Zigarre paffte. Eine effektvolle Erzähltechnik, die einen die Pointen besser plazieren lässt. Ich habe sie später auf der Bühne selber angewendet.
Nur die Juden, fuhr Großpapa fort, sind schlau genug und drehen den Kopf weg, wenn der Engel kommt. Sein Finger trifft dann nicht mehr ihre Stirn, sondern gerade noch die Nasenspitze. Sie vergessen deshalb nicht alles, was sie schon gewusst haben, sondern nur das meiste. Deshalb, sagte mein Großvater, sind wir Juden klüger als andere Leute, und deshalb, sagte er, haben wir krumme Nasen. Eine Erklärung, auf die noch nicht einmal der Stürmer gekommen ist.
Papa war damals nicht dabei. Er hätte die Geschichte vor ihrem Ende unterbrochen und gesagt: «Erzähl dem Jungen nicht solche Sachen! Und überhaupt, immer dieser Zigarrenrauch, das kann für das Kind nicht gesund sein.»
Die altmodische Wohnung an der Händelstraße war immer voller Qualm. «Ich darf das», meinte Großpapa. «Wenn man Witwer ist, darf man alles.»
Wenn mich mein eigener Engel mit seinem Schnipser verfehlt hätte, und ich hätte mein Leben von Anfang an gekannt, mit all seinen miesen Episoden und seinem noch mieseren Finale, wie man ein Theaterstück kennt, nach dem man das Textbuch gelesen hat - ich hätte meine Rolle trotz dem spielen wollen. Weil der Text noch nicht die Inszenierung ist. Mein Wissen hätte ich als ersten Entwurf betrachtet, als etwas, das man während der Proben immer noch diskutieren und abändern kann. Und was die wirklich unangenehmen Passagen anbelangt: Strich bis zur nächsten Szene.
Nein, ich hätte mich nicht im Mutterleib festgekrallt. Mich hätte man nicht mit Gewalt in die Welt zerren müssen. Ich hätte es probieren wollen. Angetrieben von einem unvernünftigen Vertrauen in die eigene Gestaltungskraft.
In den Jahren, als ich berühmt war, habe ich immer mal wieder einen Fragebogen beantworten müssen, für eine Zeitung oder eine Illustrierte. In jedem zweiten kam die Frage vor: Was ist Ihr größter Fehler? Ich habe dann hingeschrieben, was man eben so hinschreibt: Ungeduld oder Ich kann Süßigkeiten nicht widerstehen. Aber eigentlich hätte da stehen müssen: Mein größter Fehler? Ich glaube an die Inszenierbarkeit der Welt.
© Nagel und Kimche im Carl Hanser Verlag, München
Er war nett zu mir, und das macht mir Angst. Er hat mich nicht angeschrien, was normal gewesen wäre, sondern war höflich. Ein Tonfall, als ob er mich siezen würde.
Er hat mich nicht gesiezt, das wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, aber er hat meinen Namen gewusst. «Du, Gerron», hat er zu mir gesagt und nicht «Du, Jud».
Es ist gefährlich, wenn ein Mann wie Rahm deinen Namen kennt.
«Du, Gerron», hat er gesagt, «ich habe einen Auftrag für dich. Du wirst einen Film für mich drehen.»
Einen Film.
Er will etwas Privates, habe ich zuerst gedacht, einen Film über sich selber. Der liebende Vater Karl Rahm mit seinen drei Kindern. Der Herr Obersturmführer als Mensch verkleidet. Etwas in der Art. Was er an seine Familie in Klosterneuburg schicken kann.
Ja, wir wissen, wie viele Kinder er hat. Wir wissen, wo er herkommt. Wir wissen alles über ihn. So wie arme Sünder alles über Gott wissen. Oder über den Teufel.
Die Ufa, das hat mir Otto erzählt, dreht jedes Jahr einen Film zum Lob von Joseph Goebbels. Immer zu seinem Geburtstag. Sie schicken ihm einen ihrer Stars, den Rühmann zum Beispiel, der macht was Niedliches mit den Goebbelsschen Kindern, und damit schleimen sie sich beim Herrn Propagandaminister ein.
So etwas, habe ich mir vorgestellt, will jetzt auch der Rahm. Das wäre kein Problem gewesen. Nicht in meiner Lage.
Aber Rahm denkt größer. Der Herr Obersturmführer hat andere Pläne.
«Hör zu, Gerron», hat er gesagt. «Ich hab mal einen Film von dir gesehen. Ich weiß nicht mehr, wie er hieß, aber er hat mir gefallen. Du kannst was. Das ist das Schöne an Theresienstadt: Hier sind eine Menge Leute, die was können. Ihr spielt ja auch Theater und so. Und jetzt will ich eben einen Film.»
Dann hat er mir erzählt, was für ein Film es werden soll.
Ich bin erschrocken. Man muss es mir angemerkt haben, aber er hat nicht darauf reagiert. Weil er mein Erschrecken erwartet hat. Oder weil es ihm egal war. Ich kann solche Gesichter nicht lesen.
«Wir haben schon früher mal einen Versuch in der Richtung gemacht», sagte er, «aber der ist nicht gelungen. Ich war sehr unzufrieden. Die Leute, die das versaut haben, sind nicht mehr hier.»
Es fährt immer ein nächster Zug nach Auschwitz.
«Jetzt bist du dran», sagte Rahm. Immer noch freundlich. Seine Stimme immer noch freundlich. «Wenn wir beide Glück haben, kommt dieses Mal etwas Gutes dabei raus. Nicht wahr, Gerron?»
«Ich muss mir das überlegen», habe ich gesagt. Zu Rahm. Eppstein, der als Judenältester auch geladen war, atmete ein erschrockenes Stöhnen in sich hinein. Ein Jude hat nicht zu widersprechen. Nicht wenn der Lagerkommandant etwas verlangt. Der SS-Mann, der mich hergebracht hatte, machte sich schon zum Prügeln bereit. Ich habe seine Hand nicht gesehen, nur die Bewegung gespürt. Man dreht sich aus der Achtungsstellung nicht weg. Nicht im Büro des Lagerkommandanten. Der Schlag war schon unterwegs, aber Rahm winkte ab.
«Er ist ein Künstler», sagte er. Machte immer noch sein freundliches Onkel-Rahm-Gesicht. «Er braucht Inspiration. Das ist in Ordnung, Gerron», sagte er. «Ich gebe dir drei Tage. Zum Nachdenken. Damit der Film auch ein Erfolg wird. Nicht dass ich noch einmal mit jemandem unzufrieden sein muss. Drei Tage, Gerron.»
Meine Prügel habe ich dann doch noch bekommen. Vor der Tür von Rahms Büro. Der SS-Mann schlug mich ins Gesicht, wie sie es meistens tun. Aber nicht mit voller Kraft. Ich werde noch gebraucht. Wenn man schon wüsste, wie es aufhört, würde man anfangen wollen? Würde man sich nicht die Nabelschnur um den Hals winden, um erwürgt zu sein, noch bevor man an die Luft kommt? Würde man nicht Mittel finden, um gar nicht erst an den Start zu gehen bei einem Rennen, das man schon verloren hat?
Man hat mir von einem Kind erzählt, das, noch vor meiner Zeit, im Zug von Amsterdam nach Westerbork zur Welt kam, und für das Gemmeker die besten Kinderärzte aus der Stadt kommen ließ. Eine Säuglingsschwester, die schon mal einer leibhaftigen Kronprinzessin die Windeln gewechselt hatte. Die Mutter allerdings ging noch am Tag ihrer Ankunft nach Osten. Sie hatte mit der unbotmäßigen Geburt die Zahlen auf den Transportpapieren durcheinandergebracht und durfte zum Ausgleich eine andere Liste vervollständigen.
In Westerbork herrscht ein anderer Wahnsinn als hier in Theresienstadt. Aber auch er hat Methode. Um als voll zählende Menscheneinheit nach Auschwitz geschickt zu werden, muss man ein halbes Jahr alt sein.
Dieses Kind aus dem Zug: Hätte es geboren werden wollen, wenn es gewusst hätte, dass seine wohlbehütete Jugend genau sechs Monate dauern würde? Plus drei Tage für die Zugfahrt?
Natürlich nicht.
Es gibt eine Legende, die mein Großvater Emil Riese mir erzählt hat, jeden Satz mit einer Wolke aus Zigarrenqualm beweihräuchernd. Ich liebte die phantastischen Geschichten meines Großvaters, so wie mein der Rationalität verschriebener Vater sie hasste.
Sie ging so: Wenn ein Mensch erschaffen wird - er erklärte mir nicht, wie das vor sich ging, und ich war noch nicht in dem Alter, wo man danach fragt -, wenn ein Mensch beginnt, Mensch zu sein, dann weiß er schon alles, was es zu wissen gibt, das, was in den klugen Büchern steht, und auch die Dinge, die noch keiner entdeckt hat. Er kennt die Ereignisse der Vergangenheit, und er weiß, was noch alles geschehen wird, draußen in der Welt und drinnen im eigenen Leben. Aber kurz bevor er geboren wird - auch wie das im Einzelnen vor sich ging, blieb mir damals noch ein Rätsel -, kommt ein Engel und tippt ihm mit dem Zeigefinger an die Stirn. Pling.
Dann vergisst der neue Mensch alles, was er eigentlich schon gewusst hat. Wenn er dann zur Welt kommt, sagte mein Großvater, erinnert er sich gerade noch daran, wie man oben etwas in sich hineinsaugt und unten etwas aus sich herauspresst. Ich lachte, und er füllte die Pause, indem er an seiner Zigarre paffte. Eine effektvolle Erzähltechnik, die einen die Pointen besser plazieren lässt. Ich habe sie später auf der Bühne selber angewendet.
Nur die Juden, fuhr Großpapa fort, sind schlau genug und drehen den Kopf weg, wenn der Engel kommt. Sein Finger trifft dann nicht mehr ihre Stirn, sondern gerade noch die Nasenspitze. Sie vergessen deshalb nicht alles, was sie schon gewusst haben, sondern nur das meiste. Deshalb, sagte mein Großvater, sind wir Juden klüger als andere Leute, und deshalb, sagte er, haben wir krumme Nasen. Eine Erklärung, auf die noch nicht einmal der Stürmer gekommen ist.
Papa war damals nicht dabei. Er hätte die Geschichte vor ihrem Ende unterbrochen und gesagt: «Erzähl dem Jungen nicht solche Sachen! Und überhaupt, immer dieser Zigarrenrauch, das kann für das Kind nicht gesund sein.»
Die altmodische Wohnung an der Händelstraße war immer voller Qualm. «Ich darf das», meinte Großpapa. «Wenn man Witwer ist, darf man alles.»
Wenn mich mein eigener Engel mit seinem Schnipser verfehlt hätte, und ich hätte mein Leben von Anfang an gekannt, mit all seinen miesen Episoden und seinem noch mieseren Finale, wie man ein Theaterstück kennt, nach dem man das Textbuch gelesen hat - ich hätte meine Rolle trotz dem spielen wollen. Weil der Text noch nicht die Inszenierung ist. Mein Wissen hätte ich als ersten Entwurf betrachtet, als etwas, das man während der Proben immer noch diskutieren und abändern kann. Und was die wirklich unangenehmen Passagen anbelangt: Strich bis zur nächsten Szene.
Nein, ich hätte mich nicht im Mutterleib festgekrallt. Mich hätte man nicht mit Gewalt in die Welt zerren müssen. Ich hätte es probieren wollen. Angetrieben von einem unvernünftigen Vertrauen in die eigene Gestaltungskraft.
In den Jahren, als ich berühmt war, habe ich immer mal wieder einen Fragebogen beantworten müssen, für eine Zeitung oder eine Illustrierte. In jedem zweiten kam die Frage vor: Was ist Ihr größter Fehler? Ich habe dann hingeschrieben, was man eben so hinschreibt: Ungeduld oder Ich kann Süßigkeiten nicht widerstehen. Aber eigentlich hätte da stehen müssen: Mein größter Fehler? Ich glaube an die Inszenierbarkeit der Welt.
© Nagel und Kimche im Carl Hanser Verlag, München
... weniger
Autoren-Porträt von Charles Lewinsky
Charles Lewinsky wurde 1946 in Zürich geboren. Er arbeitete als Dramaturg, Regisseur und Redaktor. Er schreibt Hörspiele, Romane und Theaterstücke und verfasste über 1000 TV-Shows und Drehbücher, etwa für den Film "Ein ganz gewöhnlicher Jude", (Hauptdarsteller Ben Becker, ARD 2005). Für den Roman "Johannistag" wurde er mit dem Schillerpreis der Zürcher Kantonalbank ausgezeichnet. Sein Roman "Melnitz" wurde in zehn Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, u.a. in China als Bester deutscher Roman 2006, in Frankreich als Bester ausländischer Roman 2008. Lewinskys Roman "Gerron" wurde 2011 für den Schweizer Buchpreis nominiert, sein jüngster Roman "Kastelau" stand auf der Nominierungsliste für den Deutschen Buchpreis 2014.
Bibliographische Angaben
- Autor: Charles Lewinsky
- 2011, 539 Seiten, Maße: 22 x 15,7 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Nagel & Kimche
- ISBN-10: 3312004780
- ISBN-13: 9783312004782
- Erscheinungsdatum: 26.08.2011
Rezension zu „Gerron “
"Zweimal erlaubt sich Lewinsky einen Trick, der zweimal gelingt: bei Magda Schneider wie bei Heinz Rühmann wird eine Geschichte erzählt, die man gern glaubt, bevor die zweite folgt, die stimmt.Je weiter die Handlung voranschreitet, desto deutlicher gewinnt der Roman an Intensität. Vor allem, als sich Gerron entschlossen hat, den Film zu machen, ohne seine Selbstzweifel aufzugeben. Gerron kann die Augen seiner Statisten, alles Ghettobewohner, nicht glücklicher machen, als sie sind." Hans-Peter Kunisch, Süddeutsche Zeitung, 07.11.11 "Lewinsky gelingt es einmal mehr, einem die historischen Ereignisse so nahezubringen, dass man meint, wirklich verstehen zu können." Johanna Lier, Wochenzeitung WOZ, 22.09.11 "Ein wahres literarisches Wunder. Lewinskys Erzählung ist von seltenem sprachlichem Glanz, von lebendigstem Reichtum und von verblüffender erzähltechnischer Virtuosität. Lewinsky hat sich und seinen Melnitz mit dem Gerron übertroffen." Andreas Isenschmid, NZZ am Sonntag, 21.08.11 "Ergreifend und gut recherchiert - und da, wo es nichts zu recherchieren gab, glaubhaft erfunden." Felicitas von Twickel, ZDF Aspekte, 13.08.11 "Eine Liebesgeschichte. Ohne Frage. Von Charles Lewinsky meisterhaft erzählt, als sei er Kurt Gerron persönlich, jener Komiker der Banalität, der kurz vor dem Abgrund steht, dann aber über sich hinauswächst." Ilja Richter, Die Welt, 27.08.11 "Ein fesselnder Roman. Voll kessem Witz und lässiger Schnoddrigkeit, voll Berliner Schnauze und melancholischer Klugheit." Alexander Sury, Tages Anzeiger, 12.09.11 "Dieser fantastische Roman ist ein Erlebnis." Buddy Elias, DRS 1, 26.08.11 "Ein ganz direkter Ton, der einen sofort in Bann zieht." Hans-Ulrich Probst, DRS 2, 04.09.11 ""Gerron" ist ein Geschichtenschatz." Astrid Reinberger, NDR Fernsehen, Kulturjournal, 14.11.11. "Lewinsky hat die wenigen nicht verloren gegangenen Fakten über viele Jahre zusammengesucht und dann eine kluge, weil radikale poetische Lösung gewählt: Er erfindet Kurt Gerron, indem er die
... mehr
ganze Geschichte in seinen Kopf verlagert... Gerron dreht den Film im August/September 1944. Warum? Das war die Frage, die Lewinsky umgetrieben hat. Sein Roman ist seine Antwort, und das Erschütterndste an ihr ist gerade die unsentimentale Leichtfüßigkeit, mit der er sie aufgeschrieben hat." Pieke Biermann, Deutschlandradio, 04.11.11 "Ein wunderbares, berührendes, kluges Buch." Katja Weise, Norddeutscher Rundfunk, 04.11.11
... weniger
Pressezitat
"Zweimal erlaubt sich Lewinsky einen Trick, der zweimal gelingt: bei Magda Schneider wie bei Heinz Rühmann wird eine Geschichte erzählt, die man gern glaubt, bevor die zweite folgt, die stimmt.Je weiter die Handlung voranschreitet, desto deutlicher gewinnt der Roman an Intensität. Vor allem, als sich Gerron entschlossen hat, den Film zu machen, ohne seine Selbstzweifel aufzugeben. Gerron kann die Augen seiner Statisten, alles Ghettobewohner, nicht glücklicher machen, als sie sind." Hans-Peter Kunisch, Süddeutsche Zeitung, 07.11.11 "Lewinsky gelingt es einmal mehr, einem die historischen Ereignisse so nahezubringen, dass man meint, wirklich verstehen zu können." Johanna Lier, Wochenzeitung WOZ, 22.09.11 "Ein wahres literarisches Wunder. Lewinskys Erzählung ist von seltenem sprachlichem Glanz, von lebendigstem Reichtum und von verblüffender erzähltechnischer Virtuosität. Lewinsky hat sich und seinen Melnitz mit dem Gerron übertroffen." Andreas Isenschmid, NZZ am Sonntag, 21.08.11 "Ergreifend und gut recherchiert - und da, wo es nichts zu recherchieren gab, glaubhaft erfunden." Felicitas von Twickel, ZDF Aspekte, 13.08.11 "Eine Liebesgeschichte. Ohne Frage. Von Charles Lewinsky meisterhaft erzählt, als sei er Kurt Gerron persönlich, jener Komiker der Banalität, der kurz vor dem Abgrund steht, dann aber über sich hinauswächst." Ilja Richter, Die Welt, 27.08.11 "Ein fesselnder Roman. Voll kessem Witz und lässiger Schnoddrigkeit, voll Berliner Schnauze und melancholischer Klugheit." Alexander Sury, Tages Anzeiger, 12.09.11 "Dieser fantastische Roman ist ein Erlebnis." Buddy Elias, DRS 1, 26.08.11 "Ein ganz direkter Ton, der einen sofort in Bann zieht." Hans-Ulrich Probst, DRS 2, 04.09.11 ""Gerron" ist ein Geschichtenschatz." Astrid Reinberger, NDR Fernsehen, Kulturjournal, 14.11.11. "Lewinsky hat die wenigen nicht verloren gegangenen Fakten über viele Jahre zusammengesucht und dann eine kluge, weil radikale poetische Lösung gewählt: Er erfindet Kurt Gerron, indem er die
... mehr
ganze Geschichte in seinen Kopf verlagert... Gerron dreht den Film im August/September 1944. Warum? Das war die Frage, die Lewinsky umgetrieben hat. Sein Roman ist seine Antwort, und das Erschütterndste an ihr ist gerade die unsentimentale Leichtfüßigkeit, mit der er sie aufgeschrieben hat." Pieke Biermann, Deutschlandradio, 04.11.11 "Ein wunderbares, berührendes, kluges Buch." Katja Weise, Norddeutscher Rundfunk, 04.11.11
... weniger
Kommentar zu "Gerron"
5 von 5 Sternen
5 Sterne 1Schreiben Sie einen Kommentar zu "Gerron".
Kommentar verfassen