Geschenkt
Roman
Gerold Plassek ist Journalist bei einer Gratiszeitung. Bei ihm im Büro sitzt der 14-jährige Manuel, dessen Mutter im Ausland arbeitet. Er beobachtet Gerold beim Nichtstun und ahnt nicht, dass dieser Versager sein Vater ist. Gerold fehlt jeder...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Geschenkt “
Gerold Plassek ist Journalist bei einer Gratiszeitung. Bei ihm im Büro sitzt der 14-jährige Manuel, dessen Mutter im Ausland arbeitet. Er beobachtet Gerold beim Nichtstun und ahnt nicht, dass dieser Versager sein Vater ist. Gerold fehlt jeder Antrieb, die Stammkneipe ist sein Wohnzimmer und der Alkohol sein verlässlichster Freund. Plötzlich kommt Bewegung in sein Leben: Nach dem Erscheinen seines Artikels über eine überfüllte Obdachlosenschlafstätte trifft dort eine anonyme Geldspende ein. Das ist der Beginn einer Serie von Wohltaten, durch die Gerold immer mehr in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rückt. Und langsam beginnt auch Manuel, ihn zu mögen ... - Ein so spannender wie anrührender Roman, der auf einer wahren Begebenheit beruht.
Klappentext zu „Geschenkt “
Gerold Plassek ist Journalist bei einer Gratiszeitung. Bei ihm im Büro sitzt der 14-jährige Manuel, dessen Mutter im Ausland arbeitet. Er beobachtet Gerold beim Nichtstun und ahnt nicht, dass dieser Versager sein Vater ist. Gerold fehlt jeder Antrieb, die Stammkneipe ist sein Wohnzimmer und der Alkohol sein verlässlichster Freund. Plötzlich kommt Bewegung in sein Leben: Nach dem Erscheinen seines Artikels über eine überfüllte Obdachlosenschlafstätte trifft dort eine anonyme Geldspende ein. Das ist der Beginn einer Serie von Wohltaten, durch die Gerold immer mehr in den Blickpunkt der Öffentlichkeit rückt. Und langsam beginnt auch Manuel, ihn zu mögen ... - Ein so spannender wie anrührender Roman, der auf einer wahren Begebenheit beruht.
Lese-Probe zu „Geschenkt “
Geschenkt - Daniel GlattauerKAPITEL EINS
Manuel
... mehr
Meinen Sohn hätte ich mir anders vorgestellt. Ich blickte
manchmal vom Bildschirm auf und tat so, als würde ich nachdenken.
Eigentlich beobachtete ich aber Manuel – nämlich
dabei, wie er sich unbeobachtet fühlte, und er sah gar nicht
souverän dabei aus. Ich hielt es offen gestanden für eine Zumutung,
dass er Manuel hieß, eine Zumutung ihm und mir
gegenüber. Warum hatte man mich nicht gefragt? Ich hätte
Manuel nicht zugelassen, ich hätte Manuel verhindert, Manuel,
den Namen, jedenfalls. Manuel, den Menschen … was
soll ich sagen, das war eben höheres Schicksal. Mein Schicksal
war regelmäßig eine Spur zu hoch für mich. Okay, wenn
es wenigstens jemals oben geblieben wäre. Aber nein, irgendwann
kam jedes meiner höheren Schicksale zu mir herunter
und sagte »Guten Tag«. In diesem Fall in Form meines vierzehnjährigen
Sohnes.
Der zehnte Tag mit Manuel an meiner Seite verlief unspektakulär,
wie beinahe alle Montage in diesem Jahr. Dienstage
eigentlich auch. An Mittwochen nahm ich mir oft frei, und
der Rest der Woche verging irgendwie automatisch. Die Bedeutung
dieses Montags erschloss sich mir erst sehr viel später,
und da habe ich durchaus Hochachtung vor meinem dreiundvierzig
Jahre alten und von Alkohol empfindlich getrübten
Gedächtnis, dass es in der Lage war, im Nachhinein so viele Bilder
und O-Töne zusammenzutragen, die meisten von meinem
Sohn, der bei mir im Büro saß und Schulaufgaben machte
oder zumindest so tat.
»Und, kommst du zurecht?«, fragte ich.
»Warum soll ich nicht zurechtkommen?«
Vielleicht waren alle vierzehnjährigen Vollpubertären mit
Graswuchs über der Oberlippe und einer Stimmlage zwischen
unsachgemäß bedienter Violine und vergammeltem Bass so
abweisend, keine Ahnung, mich nervte es jedenfalls.
»Ich will nicht wissen, warum du nicht zurechtkommen
sollst, ich will wissen, ob du zurechtkommst oder nicht«, erwiderte
ich.
»Wer hat behauptet, dass du wissen willst, warum ich nicht
zurechtkommen soll?«, fragte er.
Er fragte es deshalb, weil er wusste, dass ich mich auf so eine
stumpfsinnige Diskussion sicher nicht einlassen würde und
dass unser Dialog damit beendet war. Eines der Probleme in
meiner noch ziemlich neuen Beziehung zu meinem Sohn war
nämlich, dass mich Manuel nicht ausstehen konnte. Das erklärte
auch all die trüben, leeren und über der Gähngrenze gelangweilten
Blicke, mit denen er mich nun schon die zweite
Woche bedachte. Sie spiegelten nur wider, was er sah: mich.
Hätte er gewusst, dass ich sein Vater war, hätte er mich zwar
wahrscheinlich auch nicht gemocht, aber er wäre vielleicht
gnädiger zu mir gewesen.
Nein, er wusste es nicht. Und ich wusste es offen gestanden
auch erst seit wenigen Wochen.
Alice
Im Frühsommer hatte mich Alice angerufen und bedauert,
dass wir überhaupt keinen Kontakt mehr hatten. Ob wir uns
nicht wieder mal treffen wollten, sie hätte jede Menge Neuigkeiten.
Mit Alice hatte ich eigentlich nicht mehr gerechnet.
Mit Tanja, mit Kathi, mit Brigitte, vielleicht mit Corinna, ja
eventuell sogar mit Sonja, aber nicht mit Alice. Ich hätte auch
niemals gedacht, dass es ihr noch in diesem Leben leid tun
könnte, keinen Kontakt mehr zu mir zu haben, nach ihrem damaligen
Abgang, aber so konnte man sich in den Menschen
täuschen, in den Frauen sowieso, da war ich gewissermaßen
ein Naturtalent.
»Ja, sicher, treffen wir uns, gerne. Wo?«, fragte ich.
»Am besten bei mir«, sagte sie.
Am besten bei mir. Diese Worte übten eine ziemliche Faszination
auf mich aus, und wenn Männer es schaffen, hier nicht
in eine ganz bestimmte Richtung zu denken, noch dazu im
Frühsommer, in dem sie überdies gerade ungebunden sind,
dann herzlichen Glückwunsch. Ich schaffte es jedenfalls nicht.
Um die drei Tage bis zu der Verabredung zu überbrücken,
kramte ich die alten Fotos von Alice hervor, von unserem Wochenende
in Hamburg, und ich hoffte, dass sie nicht mehr als
ein halbes Kilo pro Jahr zugenommen hatte. Mit siebeneinhalb
Kilo mehr könnte ich leben.
Wir hatten übrigens nur dieses einzige Hamburg-Wochenende
gemeinsam verbracht, denn ich war damals noch mit
Gudrun verheiratet gewesen, und Gudrun war im ungefähr
siebenten Monat schwanger mit Florentina, was Alice beim
Rückflug aus Hamburg zu meinem Leidwesen spitzgekriegt
hatte, weil ich immer dann, wenn ich Angst habe, sozusagen
ein offenes Buch bin. Und ich habe beträchtliche Flugangst.
Ich kann niemandem verübeln, falls er jetzt denkt, dass ich
ein Riesenarschloch war oder sogar noch bin, aber es ist eben
nicht immer alles so, wie es aussieht, selbst wenn es verdammt
danach aussieht. Doch zurück zum Wiedersehen mit Alice.
Eigentlich genügten mir die paar Sekunden an der Türschwelle,
um zu erkennen, dass ich mich umsonst rasiert hatte.
Ich brauche jetzt also gar nicht groß zu schildern, wie phantastisch
man fünfzehn Jahre später noch immer aussehen konnte
und wie gut es einem zu Gesicht stand, wenn man schnurgerade
seinen Weg gegangen war, weil das im Fall Alice für mich
leider überhaupt keine Rolle mehr spielte, da ich keine Rolle
mehr für sie spielte. Sie hatte Medizin fertig studiert und arbeitete
bei so was wie Ärzte ohne Grenzen, nur insofern dann
doch begrenzt, als die ausschließlich Projekte in Afrika betreuten.
Und Alice war gerade auf dem Sprung nach Somalia, wo
sie ab September ein halbes Jahr lang einen neuen Stützpunkt
aufbauen sollte. Das musste sie ausgerechnet mir, den sie nach
einer Wochenend-Affäre vor fünfzehn Jahren zum Teufel geschickt
hatte, ganz dringend berichten. Ich wusste nur noch
nicht, warum.
»Und, Geri, was machst du so?«, fragte sie.
Das war doppelt beleidigend. Geri hieß, dass ich in ihren
Augen für Gerold noch immer nicht reif genug war. Und was
machst du so klang ganz danach, dass sie mir nicht zutraute, etwas
mehr als nur so zu machen, so ins Blaue, so aus dem Ärmel,
so nebenbei. Vermutlich sah man es mir an.
»Ich bin noch immer Journalist, aber nicht mehr bei der
Rundschau, sondern bei einer kleineren … äh … Gratiszeitung,
die wirst du nicht kennen. Ich betreue dort das Ressort Soziales.
«
»Soziales? Das finde ich wunderbar«, sagte sie.
»Ja, wunderbar.«
»Und wo habt ihr eure Redaktion?«, fragte sie.
»In der Neustiftgasse.«
»Und hast du da ein eigenes Büro?«
Ich fand mein Leben ja auch nicht gerade spektakulär, aber
eine etwas spannendere Nachfrage zum Thema Fünfzehn Jahre
Gerold Plassek hatte ich schon verdient, fand ich.
»Ja, ich hab einen kleinen Büroraum.«
Beides war maßlos übertrieben, sowohl Büro als auch
Raum, nur klein war richtig.
»Sehr fein«, sagte sie.
Dann druckste sie ein bisschen herum. Und schließlich erzählte
sie mir von ihrem prächtigen Kind, das sie ganz allein
großgezogen hatte. Es war ein Bub. Ein bereits großer Bub. Er
war vierzehn Jahre alt. Er war ein Musterschüler, ging ins Gymnasium,
hatte dort viele, viele, viele, ja unzählige Freunde, die
dafür sorgten, dass er so fest verwurzelt war, dass er sich praktisch
nicht mehr vom Fleck rühren konnte. An ein halbes Jahr
Somalia war für ihn nicht im Traum zu denken. Er musste in
Wien bleiben. Er konnte bei ihrer Schwester Julia wohnen und
war weitgehend versorgt, bis auf …
»Du hast einen vierzehnjährigen Sohn?«, fragte ich.
»Ja, genau.«
»Ich hab eine fünfzehnjährige Tochter.«
»Ja, ich weiß, ich kann rechnen«, sagte sie beziehungsweise
fauchte sie wie Leslie, die Siamkatze meiner Exfrau, wenn man
ihr zu nahe kam.
Ihr Bub war also weitgehend versorgt, fuhr sie fast schon
übertrieben freundlich fort, bis auf die Nachmittage, die Zeit
zwischen Schule und Julia sozusagen. Ihre Schwester Julia war
nämlich Tanz- oder Fitnesstrainerin oder beides, und nachmittags
gab sie daheim immer ihre Musikgymnastikstunden. Und
da dachte Alice interessanterweise an mich, konkret an mich
und meinen Büroraum.
»Manuel kann dort seine Hausaufgaben machen«, sagte
sie.
Manuel? Nein, das konnte er nicht. Das ging nicht. Das war
unmöglich. Das ließ der Chef nicht zu. Und würde er es zulassen,
dann würde ich nicht zulassen, dass er es zuließ. Ich
und ein vierzehnjähriger Bub namens Manuel, den ich weder
kannte noch kennenlernen wollte, zu zweit in dieser tristen
Kammer, das ging einfach nicht. Schon der Gedanke an einen
Gedanken daran war denkunmöglich.
»Du hast doch sicher hundert Freunde, warum kommst du
da ausgerechnet zu mir?«, fragte ich.
»Ich dachte, du und Manuel, das passt vielleicht.«
»Ich und ein fremder Vierzehnjähriger? Kannst du mir
einen einzigen Grund nennen, warum das passen sollte?
»Einen einzigen?«
»Ja, nur einen einzigen«, wiederholte ich.
»Weil du Manuels Vater bist.«
»Was?«
»Weil du Manuels Vater bist.«
»Sag das noch mal.«
»Weil DU Manuels Vater bist.«
Das war tatsächlich ein Grund. Er löste bei mir eine dieser
tiefen traumatischen Krisen aus, von denen es heißt, dass
man dabei in einen Schockzustand verfällt und die Fakten
aus Selbstschutz von sich wegschiebt, bis sie sich irgendwann
nicht mehr wegschieben lassen und in die für Katastrophen
zuständigen Gehirnzellen einsickern. (Die waren bei mir zum
Glück in ständiger Bereitschaft.) Ich saß einige Stunden bei
Alice, und wir tranken ein Glas Cognac – also es waren ein
Glas und eine halbe Flasche, und Alice mochte keinen Cognac.
Sie saß kerzengerade auf der Sofakante und erklärte mir
ausführlich, warum es besser war, dass sie mir meinen Sohn
vierzehn Jahre lang verschwiegen hatte. Aber man konnte es
auch auf eine kurze Formel bringen: Sie und Manuel hatten
von mir als Vater eben in jeder Hinsicht nichts beziehungsweise
in keiner Hinsicht irgendetwas zu erwarten gehabt. Das
machte mich gleichzeitig wütend und traurig. Wütend deshalb,
weil man sich so etwas nicht unbedingt sagen lassen
musste als frischgebackener Vater. Und traurig deshalb, weil es
wahrscheinlich stimmte.
Diesmal erwarteten sie aber etwas von mir, und da schaffte
ich es einfach nicht, nein zu sagen. Es ging aber ohnehin nur
um zwei, drei Stunden pro Tag, und das über lächerliche zwanzig
Wochen. Und ich war ja auch irgendwie neugierig auf meinen
Sohn.
»Weiß er, dass ich sein Vater bin?«, fragte ich.
»Noch nicht.«
»Mir wäre es nämlich lieber …«
»Ja, das dachte ich mir«, sagte sie.
Sie hatte ihren Sohn bereits auf einen »guten Freund aus
alten Zeiten« vorbereitet.
»Sehr gut«, sagte ich.
Ein erstaunliches Geschenk
Es war also der zehnte Arbeitstag mit Manuel im Blickwinkel,
und meine Neugierde auf einen eigenen Sohn war bereits sattsam
gestillt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass wir beide es
hier noch Tage, Wochen oder gar Monate miteinander aushalten
würden, und wenn ich mir sein Gesicht ansah, konnte ich
mir erst recht nicht vorstellen, dass er es sich vorstellen konnte.
Das Schlimmste war, dass er einfach nicht bereit war, in menschenwürdiger
Weise mit mir zu kommunizieren, egal welches
Thema ich wählte.
»Beatles oder Stones?«, fragte ich zum Beispiel. Das war
doch die Frage für einen Vierzehnjährigen! Ein einziges Wort
hätte mir genügt, ich hätte sofort das Popgeschichte-Album eines
halben Jahrhunderts für ihn aufgeblättert.
»Wie meinst du Beatles oder Stones?«, erwiderte er.
»Welche Musik gefällt dir besser, die von den Beatles oder
die von den Rolling Stones?« Schon für diese Langversion, die
klang, als würde man einem Alzheimer-Kranken einen Witz
erklären, verachtete ich mich selbst.
»Muss ich darauf antworten?«, demütigte er mich weiter.
»Nein, du musst nicht antworten, aber es hätte mich einfach
interessiert«, erwiderte ich.
»Also gut, mir gefällt beides nicht besonders.«
»Was für eine Musik gefällt dir denn besonders?«, setzte ich
nach.
»Das kommt darauf an.« Ein Hoffnungsschimmer.
»Worauf kommt es an?«, fragte ich.
»Es kommt darauf an, welche Musik gerade gespielt wird.«
»Ja, darauf kommt es im Grunde immer an«, erwiderte ich.
Damit war das Thema beendet. Und ich schwor mir, nie mehr
das Wort an Manuel zu richten. Und wenn er mich weiter ächtete,
würde ich ihn luftdicht verpacken und per Luftpost zu
seiner Mama nach Somalia schicken.
Nun aber geschah etwas Außergewöhnliches, das diesen
Tag für mich so nachhaltig besonders machen sollte: Norbert
Kunz, mein Chef, rief mich in sein Büro. Es ging um einen Artikel
in der Donnerstagausgabe von Tag für Tag, der von mir
stammte. An dieser Stelle muss ich ein bisschen ausholen, um
meine Daseinsberechtigung und meine Aufgabengebiete bei
der vom Großhandelskonzern Plus herausgegebenen Gratis-
Tageszeitung Tag für Tag zu erläutern.
Nach meinem Absprung von der Rundschau – okay, es war
eher ein Absturz als ein Absprung – holte mich Norbert Kunz
zu Tag für Tag. Er hatte meine journalistische Arbeit immer
sehr geschätzt, außerdem waren sein Vater und der Papa meiner
Exfrau Gudrun enge Freunde, die noch dazu gemeinsam
Golf spielten. Man sagt ja immer, Blut sei dicker als Wasser,
aber so dick wie Golf ist nicht einmal Blut.
Am liebsten hätte ich in der Kultur-Abteilung gearbeitet,
aber erstens gab es keine, weil Tag für Tag ein weitgehend kulturloses
Blatt für ein weitgehend kulturloses Publikum war,
und zweitens konnte ich es mir ohnehin nicht aussuchen. Ich
war für die bunten Meldungen zum Tag zuständig und betreute
die Leserbriefspalte. Wenn Sie sich fragen, was es bei Leserbriefen
zu betreuen gab, dann sollten Sie einmal sehen, wozu Leser
von Tag für Tag fähig waren. Mein drittes Aufgabengebiet war
schließlich Soziales. Das nannte ich immer, wenn mich wer
fragte, was ich so tat und worüber ich schrieb. Es klang freilich
sozialer und vor allem aufwendiger, als es war. Denn abgesehen
von einem Seebeben mit zehntausend Toten – darunter
aber bitte mindestens fünf Österreicher – war Tag für Tag kein
Elend elendig genug, um etwa einer Werbeeinschaltung für
Gartenlaubenheizgeräte den Platz wegzunehmen. Das Problem
beim Sozialen war, dass niemand dafür inserierte und
dass es also kein Geld abwarf. Denn vom Leid der Armen und
Schwachen konnte sich keiner etwas abschneiden, nicht einmal
die Halsabschneider vom Großhandelskonzern Plus.
Deshalb wurden Sozialthemen in Dreizeiler verpackt und irgendwo
zwischen den bunten Meldungen zum Tag versteckt.
Umso mehr war ich überrascht, als mich Norbert Kunz nun
extra zu sich bestellte, um mich auf so eine Kurznotiz anzusprechen.
In der Donnerstagausgabe hatte ich, weil mir noch
eine bunte Meldung zum Tag gefehlt hatte, eine überfüllte Obdachlosen-
Schlafstätte in Wien-Floridsdorf erwähnt, der die
Subventionen gekürzt worden waren und deren ehrenamtliche
Betreiber die Hälfte der Obdachlosen nun wieder auf die
Straße würden setzen müssen. Norbert Kunz hatte diese Meldung
mit Leuchtstift orange angestrichen und tippte mit dem
Finger darauf, was nichts Gutes bedeutete. Ich erwartete, dass
er mich wieder einmal darauf aufmerksam machen wollte,
dass so etwas bei uns nicht ging, dass wir ein wirtschaftlich
geführtes Unternehmen waren und die Finger von den Randgruppen
lassen sollten, für die es eigene Zeitungen gab, von
der Caritas, vom Roten Kreuz, von der Heilsarmee, von der
Gruft, weiß der Teufel von wem. Aber es kam anders.
»Macht Ihnen Ihre Arbeit eigentlich noch manchmal Spaß,
Herr Plassek?«, fragte er. Kunz war zwar nicht gerade der Herzensmensch,
dem das Wohlbefinden seiner Mitarbeiter ein
Anliegen war oder auch nur einen Gedanken wert, aber ein
Zyniker war er auch nicht, dazu fehlte ihm der Humor.
»Ehrlich gestanden arbeite ich hier nicht, um Spaß zu haben
«, erwiderte ich.
»Ich auch nicht.«
»Das beruhigt mich«, sagte ich.
»Aber es gibt Momente, da weiß man plötzlich wieder,
war um man es tut«, sagte er.
»Ach ja, gibt es die?«, fragte ich.
»Ja, die gibt es. So einen Moment habe ich gerade erlebt.«
»Fein, das freut mich für Sie. Wenn ich einmal so einen Moment
erlebe, melde ich mich bei Ihnen. Kann aber sein, dass
Sie da schon im Ruhestand sind. Dann melde ich mich bei
Ihrem Nachfolger«, sagte ich. Wenn einer von uns beiden ein
Zyniker war, dann nämlich ich.
Kunz rang sich ein gequältes Lächeln ab und erzählte mir,
dass ihn soeben der Leiter der Obdachlosen-Schlafstätte in
Floridsdorf angerufen hatte, und zwar völlig aufgelöst und so
außer sich vor Freude, dass er kaum sprechen hatte können,
weil nämlich etwas Wunderbares geschehen sei.
»Er hat mit der Post ein dickes Kuvert bekommen. Von einem
anonymen Absender. Und in dem Umschlag war Geld.
Bargeld. Sehr viel Bargeld. Raten Sie mal, wie viel, Herr Plassek.
«
»Keine Ahnung.« Ich war da kein Experte. Mir hatte noch
nie jemand Geld geschickt, weder anonym noch nicht anonym.
»Zehntausend Euro.«
»Wow.« Da musste ich schlucken. Das waren fünf Monatsgehälter
bei Tag für Tag, zumindest für mich.
»Damit können die einen zweiten Raum mit Betten ausstatten
und müssen über den Winter keinen einzigen Obdachlosen
hinauswerfen«, sagte Kunz.
»Das ist schön, das ist wirklich schön«, erwiderte ich. Und
ich meinte es ernst. Mich konnten positive Nachrichten sehr
anrühren. Vermutlich deshalb, weil es so selten echte positive
Nachrichten gab. Was uns üblicherweise als positive Nachricht
verkauft wurde und was wir Journalisten munter weiterverkauften,
war Werbung, mithilfe derer sich irgendjemand auf
Kosten anderer bereicherte, sonst nichts.
»Aber warum hat er da gerade Sie angerufen?«, fragte ich.
Jetzt wirkte mein Herr Chefredakteur ganz schön euphorisch,
so sah man ihn selten.
»Im Kuvert des anonymen Spenders befand sich ein kleiner
Zeitungsausschnitt. Nichts sonst, nur das Geld und dieser beigelegte
kleine Zeitungsausschnitt. Und jetzt raten Sie mal, welcher
Zeitungsausschnitt das wohl war.«
Schon wieder raten, ich war schlecht im Raten. Doch Norbert
Kunz gab mir Hilfestellung und tippte auf den knallorange
hervorgehobenen Artikel, auf meine bunte Meldung
vom Donnerstag.
»Ja richtig, Herr Plassek. Unsere kleine Zeitungsnotiz hat
offensichtlich einen Menschen dazu veranlasst, spontan zehntausend
Euro an Obdachlose zu spenden. Ist das nicht irre?«
»Ja, das ist irre«, sagte ich. Obwohl es genau genommen
nicht unsere kleine Zeitungsnotiz, sondern meine kleine Zeitungsnotiz
war, aber egal. Hätte ich geahnt, dass diese Meldung
irgendeinem Menschen auf dieser Welt zehntausend
Euro wert sein könnte, hätte ich sie jedenfalls etwas liebevoller
formuliert.
»An der Geschichte bleiben wir jetzt natürlich groß dran«,
sagte Kunz.
»Wie meinen Sie das, groß dranbleiben?«
Er sah mich an wie einen Idioten, dem man die Grund
regeln des Boulevardjournalismus erklären musste. »Aufmacherstory,
Seite eins. Titel: Tag für Tag rettet Obdachlosenprojekt.
Untertitel: Großzügige Spende unserer Leser schafft neue
Quartiere für die Ärmsten der Armen. Oder so ähnlich. Dazu das
Faksimile unserer Meldung. Und vier, fünf, sechs Seiten Fotoreportage
über das Obdachlosenheim. Interview mit dem
überglücklichen Heimleiter. Gespräche mit Obdachlosen. Wie
stürzt man ab? Wie ist es, auf der Straße zu leben? Milieustudie.
Eine Grafik der von uns finanzierten neuen Schlafstätten …«
»Die sind nicht von uns finanziert«, erlaubte ich mir, Napoleon
mitten in seiner Vision der siegreichen Schlacht zu widersprechen.
»Indirekt schon, Herr Plassek, indirekt schon.«
»Und wann, dachten Sie, soll ich mit dem Interview und
mit der Reportage …?«
»Nicht Sie, Herr Plassek, das übernimmt Frau Kollegin
Rambuschek. Sie ist bereits über alles informiert und wird sich
vor Ort …«
»Wieso Sophie Rambuschek von der Wirtschaft? Soziales ist
doch an sich meine Arbeit, oder hab ich da was falsch verstanden?
« Jetzt war ich selbst für meine Verhältnisse relativ irritiert.
»Schon, schon, Herr Plassek, aber wir brauchen Sie hier im
Haus«, sagte er.
Ach ja, richtig, es gab ja auch noch die Leserbriefe und die
bunten Meldungen zum Tag. Ich lächelte, und er wusste, wie ich
es meinte. Zum Glück war mir das alles hier nicht so wichtig.
Die Rambuschek, die war jung und hungrig, die hatte noch
eine Karriere vor sich. Ich war nie hungrig gewesen, immer
nur durstig. Und ich hatte niemals eine Karriere, aber die hatte
ich wenigstens hinter mir.
© Deuticke
Meinen Sohn hätte ich mir anders vorgestellt. Ich blickte
manchmal vom Bildschirm auf und tat so, als würde ich nachdenken.
Eigentlich beobachtete ich aber Manuel – nämlich
dabei, wie er sich unbeobachtet fühlte, und er sah gar nicht
souverän dabei aus. Ich hielt es offen gestanden für eine Zumutung,
dass er Manuel hieß, eine Zumutung ihm und mir
gegenüber. Warum hatte man mich nicht gefragt? Ich hätte
Manuel nicht zugelassen, ich hätte Manuel verhindert, Manuel,
den Namen, jedenfalls. Manuel, den Menschen … was
soll ich sagen, das war eben höheres Schicksal. Mein Schicksal
war regelmäßig eine Spur zu hoch für mich. Okay, wenn
es wenigstens jemals oben geblieben wäre. Aber nein, irgendwann
kam jedes meiner höheren Schicksale zu mir herunter
und sagte »Guten Tag«. In diesem Fall in Form meines vierzehnjährigen
Sohnes.
Der zehnte Tag mit Manuel an meiner Seite verlief unspektakulär,
wie beinahe alle Montage in diesem Jahr. Dienstage
eigentlich auch. An Mittwochen nahm ich mir oft frei, und
der Rest der Woche verging irgendwie automatisch. Die Bedeutung
dieses Montags erschloss sich mir erst sehr viel später,
und da habe ich durchaus Hochachtung vor meinem dreiundvierzig
Jahre alten und von Alkohol empfindlich getrübten
Gedächtnis, dass es in der Lage war, im Nachhinein so viele Bilder
und O-Töne zusammenzutragen, die meisten von meinem
Sohn, der bei mir im Büro saß und Schulaufgaben machte
oder zumindest so tat.
»Und, kommst du zurecht?«, fragte ich.
»Warum soll ich nicht zurechtkommen?«
Vielleicht waren alle vierzehnjährigen Vollpubertären mit
Graswuchs über der Oberlippe und einer Stimmlage zwischen
unsachgemäß bedienter Violine und vergammeltem Bass so
abweisend, keine Ahnung, mich nervte es jedenfalls.
»Ich will nicht wissen, warum du nicht zurechtkommen
sollst, ich will wissen, ob du zurechtkommst oder nicht«, erwiderte
ich.
»Wer hat behauptet, dass du wissen willst, warum ich nicht
zurechtkommen soll?«, fragte er.
Er fragte es deshalb, weil er wusste, dass ich mich auf so eine
stumpfsinnige Diskussion sicher nicht einlassen würde und
dass unser Dialog damit beendet war. Eines der Probleme in
meiner noch ziemlich neuen Beziehung zu meinem Sohn war
nämlich, dass mich Manuel nicht ausstehen konnte. Das erklärte
auch all die trüben, leeren und über der Gähngrenze gelangweilten
Blicke, mit denen er mich nun schon die zweite
Woche bedachte. Sie spiegelten nur wider, was er sah: mich.
Hätte er gewusst, dass ich sein Vater war, hätte er mich zwar
wahrscheinlich auch nicht gemocht, aber er wäre vielleicht
gnädiger zu mir gewesen.
Nein, er wusste es nicht. Und ich wusste es offen gestanden
auch erst seit wenigen Wochen.
Alice
Im Frühsommer hatte mich Alice angerufen und bedauert,
dass wir überhaupt keinen Kontakt mehr hatten. Ob wir uns
nicht wieder mal treffen wollten, sie hätte jede Menge Neuigkeiten.
Mit Alice hatte ich eigentlich nicht mehr gerechnet.
Mit Tanja, mit Kathi, mit Brigitte, vielleicht mit Corinna, ja
eventuell sogar mit Sonja, aber nicht mit Alice. Ich hätte auch
niemals gedacht, dass es ihr noch in diesem Leben leid tun
könnte, keinen Kontakt mehr zu mir zu haben, nach ihrem damaligen
Abgang, aber so konnte man sich in den Menschen
täuschen, in den Frauen sowieso, da war ich gewissermaßen
ein Naturtalent.
»Ja, sicher, treffen wir uns, gerne. Wo?«, fragte ich.
»Am besten bei mir«, sagte sie.
Am besten bei mir. Diese Worte übten eine ziemliche Faszination
auf mich aus, und wenn Männer es schaffen, hier nicht
in eine ganz bestimmte Richtung zu denken, noch dazu im
Frühsommer, in dem sie überdies gerade ungebunden sind,
dann herzlichen Glückwunsch. Ich schaffte es jedenfalls nicht.
Um die drei Tage bis zu der Verabredung zu überbrücken,
kramte ich die alten Fotos von Alice hervor, von unserem Wochenende
in Hamburg, und ich hoffte, dass sie nicht mehr als
ein halbes Kilo pro Jahr zugenommen hatte. Mit siebeneinhalb
Kilo mehr könnte ich leben.
Wir hatten übrigens nur dieses einzige Hamburg-Wochenende
gemeinsam verbracht, denn ich war damals noch mit
Gudrun verheiratet gewesen, und Gudrun war im ungefähr
siebenten Monat schwanger mit Florentina, was Alice beim
Rückflug aus Hamburg zu meinem Leidwesen spitzgekriegt
hatte, weil ich immer dann, wenn ich Angst habe, sozusagen
ein offenes Buch bin. Und ich habe beträchtliche Flugangst.
Ich kann niemandem verübeln, falls er jetzt denkt, dass ich
ein Riesenarschloch war oder sogar noch bin, aber es ist eben
nicht immer alles so, wie es aussieht, selbst wenn es verdammt
danach aussieht. Doch zurück zum Wiedersehen mit Alice.
Eigentlich genügten mir die paar Sekunden an der Türschwelle,
um zu erkennen, dass ich mich umsonst rasiert hatte.
Ich brauche jetzt also gar nicht groß zu schildern, wie phantastisch
man fünfzehn Jahre später noch immer aussehen konnte
und wie gut es einem zu Gesicht stand, wenn man schnurgerade
seinen Weg gegangen war, weil das im Fall Alice für mich
leider überhaupt keine Rolle mehr spielte, da ich keine Rolle
mehr für sie spielte. Sie hatte Medizin fertig studiert und arbeitete
bei so was wie Ärzte ohne Grenzen, nur insofern dann
doch begrenzt, als die ausschließlich Projekte in Afrika betreuten.
Und Alice war gerade auf dem Sprung nach Somalia, wo
sie ab September ein halbes Jahr lang einen neuen Stützpunkt
aufbauen sollte. Das musste sie ausgerechnet mir, den sie nach
einer Wochenend-Affäre vor fünfzehn Jahren zum Teufel geschickt
hatte, ganz dringend berichten. Ich wusste nur noch
nicht, warum.
»Und, Geri, was machst du so?«, fragte sie.
Das war doppelt beleidigend. Geri hieß, dass ich in ihren
Augen für Gerold noch immer nicht reif genug war. Und was
machst du so klang ganz danach, dass sie mir nicht zutraute, etwas
mehr als nur so zu machen, so ins Blaue, so aus dem Ärmel,
so nebenbei. Vermutlich sah man es mir an.
»Ich bin noch immer Journalist, aber nicht mehr bei der
Rundschau, sondern bei einer kleineren … äh … Gratiszeitung,
die wirst du nicht kennen. Ich betreue dort das Ressort Soziales.
«
»Soziales? Das finde ich wunderbar«, sagte sie.
»Ja, wunderbar.«
»Und wo habt ihr eure Redaktion?«, fragte sie.
»In der Neustiftgasse.«
»Und hast du da ein eigenes Büro?«
Ich fand mein Leben ja auch nicht gerade spektakulär, aber
eine etwas spannendere Nachfrage zum Thema Fünfzehn Jahre
Gerold Plassek hatte ich schon verdient, fand ich.
»Ja, ich hab einen kleinen Büroraum.«
Beides war maßlos übertrieben, sowohl Büro als auch
Raum, nur klein war richtig.
»Sehr fein«, sagte sie.
Dann druckste sie ein bisschen herum. Und schließlich erzählte
sie mir von ihrem prächtigen Kind, das sie ganz allein
großgezogen hatte. Es war ein Bub. Ein bereits großer Bub. Er
war vierzehn Jahre alt. Er war ein Musterschüler, ging ins Gymnasium,
hatte dort viele, viele, viele, ja unzählige Freunde, die
dafür sorgten, dass er so fest verwurzelt war, dass er sich praktisch
nicht mehr vom Fleck rühren konnte. An ein halbes Jahr
Somalia war für ihn nicht im Traum zu denken. Er musste in
Wien bleiben. Er konnte bei ihrer Schwester Julia wohnen und
war weitgehend versorgt, bis auf …
»Du hast einen vierzehnjährigen Sohn?«, fragte ich.
»Ja, genau.«
»Ich hab eine fünfzehnjährige Tochter.«
»Ja, ich weiß, ich kann rechnen«, sagte sie beziehungsweise
fauchte sie wie Leslie, die Siamkatze meiner Exfrau, wenn man
ihr zu nahe kam.
Ihr Bub war also weitgehend versorgt, fuhr sie fast schon
übertrieben freundlich fort, bis auf die Nachmittage, die Zeit
zwischen Schule und Julia sozusagen. Ihre Schwester Julia war
nämlich Tanz- oder Fitnesstrainerin oder beides, und nachmittags
gab sie daheim immer ihre Musikgymnastikstunden. Und
da dachte Alice interessanterweise an mich, konkret an mich
und meinen Büroraum.
»Manuel kann dort seine Hausaufgaben machen«, sagte
sie.
Manuel? Nein, das konnte er nicht. Das ging nicht. Das war
unmöglich. Das ließ der Chef nicht zu. Und würde er es zulassen,
dann würde ich nicht zulassen, dass er es zuließ. Ich
und ein vierzehnjähriger Bub namens Manuel, den ich weder
kannte noch kennenlernen wollte, zu zweit in dieser tristen
Kammer, das ging einfach nicht. Schon der Gedanke an einen
Gedanken daran war denkunmöglich.
»Du hast doch sicher hundert Freunde, warum kommst du
da ausgerechnet zu mir?«, fragte ich.
»Ich dachte, du und Manuel, das passt vielleicht.«
»Ich und ein fremder Vierzehnjähriger? Kannst du mir
einen einzigen Grund nennen, warum das passen sollte?
»Einen einzigen?«
»Ja, nur einen einzigen«, wiederholte ich.
»Weil du Manuels Vater bist.«
»Was?«
»Weil du Manuels Vater bist.«
»Sag das noch mal.«
»Weil DU Manuels Vater bist.«
Das war tatsächlich ein Grund. Er löste bei mir eine dieser
tiefen traumatischen Krisen aus, von denen es heißt, dass
man dabei in einen Schockzustand verfällt und die Fakten
aus Selbstschutz von sich wegschiebt, bis sie sich irgendwann
nicht mehr wegschieben lassen und in die für Katastrophen
zuständigen Gehirnzellen einsickern. (Die waren bei mir zum
Glück in ständiger Bereitschaft.) Ich saß einige Stunden bei
Alice, und wir tranken ein Glas Cognac – also es waren ein
Glas und eine halbe Flasche, und Alice mochte keinen Cognac.
Sie saß kerzengerade auf der Sofakante und erklärte mir
ausführlich, warum es besser war, dass sie mir meinen Sohn
vierzehn Jahre lang verschwiegen hatte. Aber man konnte es
auch auf eine kurze Formel bringen: Sie und Manuel hatten
von mir als Vater eben in jeder Hinsicht nichts beziehungsweise
in keiner Hinsicht irgendetwas zu erwarten gehabt. Das
machte mich gleichzeitig wütend und traurig. Wütend deshalb,
weil man sich so etwas nicht unbedingt sagen lassen
musste als frischgebackener Vater. Und traurig deshalb, weil es
wahrscheinlich stimmte.
Diesmal erwarteten sie aber etwas von mir, und da schaffte
ich es einfach nicht, nein zu sagen. Es ging aber ohnehin nur
um zwei, drei Stunden pro Tag, und das über lächerliche zwanzig
Wochen. Und ich war ja auch irgendwie neugierig auf meinen
Sohn.
»Weiß er, dass ich sein Vater bin?«, fragte ich.
»Noch nicht.«
»Mir wäre es nämlich lieber …«
»Ja, das dachte ich mir«, sagte sie.
Sie hatte ihren Sohn bereits auf einen »guten Freund aus
alten Zeiten« vorbereitet.
»Sehr gut«, sagte ich.
Ein erstaunliches Geschenk
Es war also der zehnte Arbeitstag mit Manuel im Blickwinkel,
und meine Neugierde auf einen eigenen Sohn war bereits sattsam
gestillt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass wir beide es
hier noch Tage, Wochen oder gar Monate miteinander aushalten
würden, und wenn ich mir sein Gesicht ansah, konnte ich
mir erst recht nicht vorstellen, dass er es sich vorstellen konnte.
Das Schlimmste war, dass er einfach nicht bereit war, in menschenwürdiger
Weise mit mir zu kommunizieren, egal welches
Thema ich wählte.
»Beatles oder Stones?«, fragte ich zum Beispiel. Das war
doch die Frage für einen Vierzehnjährigen! Ein einziges Wort
hätte mir genügt, ich hätte sofort das Popgeschichte-Album eines
halben Jahrhunderts für ihn aufgeblättert.
»Wie meinst du Beatles oder Stones?«, erwiderte er.
»Welche Musik gefällt dir besser, die von den Beatles oder
die von den Rolling Stones?« Schon für diese Langversion, die
klang, als würde man einem Alzheimer-Kranken einen Witz
erklären, verachtete ich mich selbst.
»Muss ich darauf antworten?«, demütigte er mich weiter.
»Nein, du musst nicht antworten, aber es hätte mich einfach
interessiert«, erwiderte ich.
»Also gut, mir gefällt beides nicht besonders.«
»Was für eine Musik gefällt dir denn besonders?«, setzte ich
nach.
»Das kommt darauf an.« Ein Hoffnungsschimmer.
»Worauf kommt es an?«, fragte ich.
»Es kommt darauf an, welche Musik gerade gespielt wird.«
»Ja, darauf kommt es im Grunde immer an«, erwiderte ich.
Damit war das Thema beendet. Und ich schwor mir, nie mehr
das Wort an Manuel zu richten. Und wenn er mich weiter ächtete,
würde ich ihn luftdicht verpacken und per Luftpost zu
seiner Mama nach Somalia schicken.
Nun aber geschah etwas Außergewöhnliches, das diesen
Tag für mich so nachhaltig besonders machen sollte: Norbert
Kunz, mein Chef, rief mich in sein Büro. Es ging um einen Artikel
in der Donnerstagausgabe von Tag für Tag, der von mir
stammte. An dieser Stelle muss ich ein bisschen ausholen, um
meine Daseinsberechtigung und meine Aufgabengebiete bei
der vom Großhandelskonzern Plus herausgegebenen Gratis-
Tageszeitung Tag für Tag zu erläutern.
Nach meinem Absprung von der Rundschau – okay, es war
eher ein Absturz als ein Absprung – holte mich Norbert Kunz
zu Tag für Tag. Er hatte meine journalistische Arbeit immer
sehr geschätzt, außerdem waren sein Vater und der Papa meiner
Exfrau Gudrun enge Freunde, die noch dazu gemeinsam
Golf spielten. Man sagt ja immer, Blut sei dicker als Wasser,
aber so dick wie Golf ist nicht einmal Blut.
Am liebsten hätte ich in der Kultur-Abteilung gearbeitet,
aber erstens gab es keine, weil Tag für Tag ein weitgehend kulturloses
Blatt für ein weitgehend kulturloses Publikum war,
und zweitens konnte ich es mir ohnehin nicht aussuchen. Ich
war für die bunten Meldungen zum Tag zuständig und betreute
die Leserbriefspalte. Wenn Sie sich fragen, was es bei Leserbriefen
zu betreuen gab, dann sollten Sie einmal sehen, wozu Leser
von Tag für Tag fähig waren. Mein drittes Aufgabengebiet war
schließlich Soziales. Das nannte ich immer, wenn mich wer
fragte, was ich so tat und worüber ich schrieb. Es klang freilich
sozialer und vor allem aufwendiger, als es war. Denn abgesehen
von einem Seebeben mit zehntausend Toten – darunter
aber bitte mindestens fünf Österreicher – war Tag für Tag kein
Elend elendig genug, um etwa einer Werbeeinschaltung für
Gartenlaubenheizgeräte den Platz wegzunehmen. Das Problem
beim Sozialen war, dass niemand dafür inserierte und
dass es also kein Geld abwarf. Denn vom Leid der Armen und
Schwachen konnte sich keiner etwas abschneiden, nicht einmal
die Halsabschneider vom Großhandelskonzern Plus.
Deshalb wurden Sozialthemen in Dreizeiler verpackt und irgendwo
zwischen den bunten Meldungen zum Tag versteckt.
Umso mehr war ich überrascht, als mich Norbert Kunz nun
extra zu sich bestellte, um mich auf so eine Kurznotiz anzusprechen.
In der Donnerstagausgabe hatte ich, weil mir noch
eine bunte Meldung zum Tag gefehlt hatte, eine überfüllte Obdachlosen-
Schlafstätte in Wien-Floridsdorf erwähnt, der die
Subventionen gekürzt worden waren und deren ehrenamtliche
Betreiber die Hälfte der Obdachlosen nun wieder auf die
Straße würden setzen müssen. Norbert Kunz hatte diese Meldung
mit Leuchtstift orange angestrichen und tippte mit dem
Finger darauf, was nichts Gutes bedeutete. Ich erwartete, dass
er mich wieder einmal darauf aufmerksam machen wollte,
dass so etwas bei uns nicht ging, dass wir ein wirtschaftlich
geführtes Unternehmen waren und die Finger von den Randgruppen
lassen sollten, für die es eigene Zeitungen gab, von
der Caritas, vom Roten Kreuz, von der Heilsarmee, von der
Gruft, weiß der Teufel von wem. Aber es kam anders.
»Macht Ihnen Ihre Arbeit eigentlich noch manchmal Spaß,
Herr Plassek?«, fragte er. Kunz war zwar nicht gerade der Herzensmensch,
dem das Wohlbefinden seiner Mitarbeiter ein
Anliegen war oder auch nur einen Gedanken wert, aber ein
Zyniker war er auch nicht, dazu fehlte ihm der Humor.
»Ehrlich gestanden arbeite ich hier nicht, um Spaß zu haben
«, erwiderte ich.
»Ich auch nicht.«
»Das beruhigt mich«, sagte ich.
»Aber es gibt Momente, da weiß man plötzlich wieder,
war um man es tut«, sagte er.
»Ach ja, gibt es die?«, fragte ich.
»Ja, die gibt es. So einen Moment habe ich gerade erlebt.«
»Fein, das freut mich für Sie. Wenn ich einmal so einen Moment
erlebe, melde ich mich bei Ihnen. Kann aber sein, dass
Sie da schon im Ruhestand sind. Dann melde ich mich bei
Ihrem Nachfolger«, sagte ich. Wenn einer von uns beiden ein
Zyniker war, dann nämlich ich.
Kunz rang sich ein gequältes Lächeln ab und erzählte mir,
dass ihn soeben der Leiter der Obdachlosen-Schlafstätte in
Floridsdorf angerufen hatte, und zwar völlig aufgelöst und so
außer sich vor Freude, dass er kaum sprechen hatte können,
weil nämlich etwas Wunderbares geschehen sei.
»Er hat mit der Post ein dickes Kuvert bekommen. Von einem
anonymen Absender. Und in dem Umschlag war Geld.
Bargeld. Sehr viel Bargeld. Raten Sie mal, wie viel, Herr Plassek.
«
»Keine Ahnung.« Ich war da kein Experte. Mir hatte noch
nie jemand Geld geschickt, weder anonym noch nicht anonym.
»Zehntausend Euro.«
»Wow.« Da musste ich schlucken. Das waren fünf Monatsgehälter
bei Tag für Tag, zumindest für mich.
»Damit können die einen zweiten Raum mit Betten ausstatten
und müssen über den Winter keinen einzigen Obdachlosen
hinauswerfen«, sagte Kunz.
»Das ist schön, das ist wirklich schön«, erwiderte ich. Und
ich meinte es ernst. Mich konnten positive Nachrichten sehr
anrühren. Vermutlich deshalb, weil es so selten echte positive
Nachrichten gab. Was uns üblicherweise als positive Nachricht
verkauft wurde und was wir Journalisten munter weiterverkauften,
war Werbung, mithilfe derer sich irgendjemand auf
Kosten anderer bereicherte, sonst nichts.
»Aber warum hat er da gerade Sie angerufen?«, fragte ich.
Jetzt wirkte mein Herr Chefredakteur ganz schön euphorisch,
so sah man ihn selten.
»Im Kuvert des anonymen Spenders befand sich ein kleiner
Zeitungsausschnitt. Nichts sonst, nur das Geld und dieser beigelegte
kleine Zeitungsausschnitt. Und jetzt raten Sie mal, welcher
Zeitungsausschnitt das wohl war.«
Schon wieder raten, ich war schlecht im Raten. Doch Norbert
Kunz gab mir Hilfestellung und tippte auf den knallorange
hervorgehobenen Artikel, auf meine bunte Meldung
vom Donnerstag.
»Ja richtig, Herr Plassek. Unsere kleine Zeitungsnotiz hat
offensichtlich einen Menschen dazu veranlasst, spontan zehntausend
Euro an Obdachlose zu spenden. Ist das nicht irre?«
»Ja, das ist irre«, sagte ich. Obwohl es genau genommen
nicht unsere kleine Zeitungsnotiz, sondern meine kleine Zeitungsnotiz
war, aber egal. Hätte ich geahnt, dass diese Meldung
irgendeinem Menschen auf dieser Welt zehntausend
Euro wert sein könnte, hätte ich sie jedenfalls etwas liebevoller
formuliert.
»An der Geschichte bleiben wir jetzt natürlich groß dran«,
sagte Kunz.
»Wie meinen Sie das, groß dranbleiben?«
Er sah mich an wie einen Idioten, dem man die Grund
regeln des Boulevardjournalismus erklären musste. »Aufmacherstory,
Seite eins. Titel: Tag für Tag rettet Obdachlosenprojekt.
Untertitel: Großzügige Spende unserer Leser schafft neue
Quartiere für die Ärmsten der Armen. Oder so ähnlich. Dazu das
Faksimile unserer Meldung. Und vier, fünf, sechs Seiten Fotoreportage
über das Obdachlosenheim. Interview mit dem
überglücklichen Heimleiter. Gespräche mit Obdachlosen. Wie
stürzt man ab? Wie ist es, auf der Straße zu leben? Milieustudie.
Eine Grafik der von uns finanzierten neuen Schlafstätten …«
»Die sind nicht von uns finanziert«, erlaubte ich mir, Napoleon
mitten in seiner Vision der siegreichen Schlacht zu widersprechen.
»Indirekt schon, Herr Plassek, indirekt schon.«
»Und wann, dachten Sie, soll ich mit dem Interview und
mit der Reportage …?«
»Nicht Sie, Herr Plassek, das übernimmt Frau Kollegin
Rambuschek. Sie ist bereits über alles informiert und wird sich
vor Ort …«
»Wieso Sophie Rambuschek von der Wirtschaft? Soziales ist
doch an sich meine Arbeit, oder hab ich da was falsch verstanden?
« Jetzt war ich selbst für meine Verhältnisse relativ irritiert.
»Schon, schon, Herr Plassek, aber wir brauchen Sie hier im
Haus«, sagte er.
Ach ja, richtig, es gab ja auch noch die Leserbriefe und die
bunten Meldungen zum Tag. Ich lächelte, und er wusste, wie ich
es meinte. Zum Glück war mir das alles hier nicht so wichtig.
Die Rambuschek, die war jung und hungrig, die hatte noch
eine Karriere vor sich. Ich war nie hungrig gewesen, immer
nur durstig. Und ich hatte niemals eine Karriere, aber die hatte
ich wenigstens hinter mir.
© Deuticke
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Autoren-Porträt von Daniel Glattauer
Daniel Glattauer, geboren 1960 in Wien, Bücher (u. a.): Die Ameisenzählung (2001), Darum (2003), Der Weihnachtshund (Neuausgabe 2004), Theo (2010), Mama, jetzt nicht! (2011), Ewig Dein (2012), Geschenkt (2014). Mit seinen Romanen Gut gegen Nordwind (2006) und Alle sieben Wellen (2009) schrieb er Bestseller, die auf der ganzen Welt gelesen werden. Die Komödie Die Wunderübung (2014) ist als Buch, am Theater und als Film sehr erfolgreich. Auf der Bühne sind auch die Komödien Vier Stern Stunden und Die Liebe Geld zu sehen. Und 2019 kam die Verfilmung von Gut gegen Nordwind ins Kino. Zuletzt erschien der Roman Die spürst du nicht (2023).
Autoren-Interview mit Daniel Glattauer
1.) Wie ist es, als ehemaliger Journalist über einen Journalisten als Protagonisten zu schreiben.Angenehm vertraut. Es ist für einen Autor immer von Vorteil, sich in der Welt seiner Hauptfiguren nicht fremd zu fühlen. Mit einem Biochemiker als Ich-Erzähler hätte ich mich jedenfalls deutlich mehr geplagt.
2.) Welche wahre Begebenheit steckt hinter der Geschichte?
Der Hintergrund ist eine anonyme Spendenserie in Braunschweig in Niedersachsen. Da liest jemand in der Zeitung von Hilfebedürftigen und ihren Helfern und schickt spontan hohe Geldsummen dorthin, immer mit dem entsprechenden Zeitungsartikel versehen. In drei Jahren wurden so mehr als 250.000 Euro gespendet. Und man weiß noch immer nicht, wer da dahinter steckt.
3.) Haben Sie selbst diese Erfahrung gemacht, durch einen Artikel etwas Großes auszulösen?
Nein, ich habe mich als Gerichtsreporter eher den verborgenen menschlichen Abgründen und als Kolumnist den kleinen humorigen Kuriositäten des Alltags zugewandt.
4.) Sind Sie selbst wohltätig?
Das Wohl der Anderen bereichert immer auch das eigene Leben. Es wäre ein grobes Versäumnis, würde ich nicht meinen Teil dazu beitragen.
5.) Worauf dürfen sich die Leser dieses Mal besonders freuen?
Ich glaube, es ist alles drin, was mich als Autor ausmacht. Wer meine Art zu schreiben mag, wird das Buch mögen. Und wer es mag, liest diesmal mehr als sonst: „Geschenkt" ist mit 336 Seiten mein bisher dickstes Buch.
Bibliographische Angaben
- Autor: Daniel Glattauer
- 2014, 334 Seiten, Maße: 13,3 x 20,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Paul Zsolnay Verlag
- ISBN-10: 3552062572
- ISBN-13: 9783552062573
- Erscheinungsdatum: 22.08.2014
Pressezitat
"Was Daniel Glattauer auszeichnet, ist sein Witz, aber auch sein Sinn für aussergewöhnliche Ansichten und unerwartete Wendungen." Tanja Kummer, Schweitzer Radio und Fernsehen, 28.08.14
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