Gestohlene Träume
Roman
Spannung, eine schicksalhafte Begegnung, ein verhängnisvolles Geheimnis und große Gefühle.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Gestohlene Träume “
Spannung, eine schicksalhafte Begegnung, ein verhängnisvolles Geheimnis und große Gefühle.
Klappentext zu „Gestohlene Träume “
Eine schicksalhafte Begegnung macht sie zur GejagtenTia Marshs Leben gehört der Wissenschaft. Dass ihr Interesse für die griechische Mythologie ihr einmal zum Verhängnis werden soll, ahnt sie jedoch nicht - bis sie Malachi Sullivan begegnet. Der attraktive Ire ist dem Geheimnis dreier silberner Schicksalsgöttinnen auf der Spur, das eng mit Tias Familie verknüpft zu sein scheint. Eine atemlose Jagd nach den wertvollen Statuen beginnt, denn nicht nur Malachi will die Göttinnen um jeden Preis besitzen ...
Lese-Probe zu „Gestohlene Träume “
Gestohlene Träume von Nora RobertsTEIL I
Spinnen
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7. Mai 1915
Da er glücklicherweise nicht ahnte, dass er dreiundzwanzig Minuten später tot sein würde, stellte sich Henry W. Wyley gerade vor, wie er der jungen Blondine, die in seinem Blickfeld aufgetaucht war, in den hübsch gerundeten Hintern kneifen würde. Es war eine vollkommen harmlose Fantasie, die weder der Blondine noch Henrys Frau schadete, Henry jedoch in außerordentlich gute Laune versetzte.
Eine Serviette über den runden Knien, den dicken Bauch angenehm gefüllt von einem späten, üppigen Mittagessen, saß er mit seiner Frau Edith - deren Hintern so beklagenswert flach wie ein Pfannkuchen war - in der milden Seeluft und genoss den Anblick der Blondine sowie eine gute Tasse Earl Grey. Henry, ein stattlicher Mann mit herzhaftem Lachen und einem Auge für die Damen, hatte keine Lust, sich zu den anderen Passagieren zu gesellen, die an der Reling standen, um einen Blick auf die sonnenbeschienene irische Küste zu erhaschen. Er kannte sie schon. Und außerdem würde es wahrscheinlich noch zahlreiche Gelegenheiten geben, sie wieder einmal zu sehen.
Was die Leute an Klippen und Gras so faszinierte, verstand er sowieso nicht. Henry war durch und durch ein Städter, der soliden Stahl und Beton schätzte. Und in diesem Moment war
er zudem viel mehr an den köstlichen Schokoladenplätzchen interessiert, die zum Tee gereicht wurden, vor allem, weil die Blondine inzwischen weitergegangen war.
Gut gelaunt verschlang er ein Plätzchen nach dem anderen, wobei Edith die ganze Zeit an ihm herummäkelte, er solle nicht so krümeln. Es war schade, dass sie sich solch kleine Vergnügen in den letzten Jahren ihres Lebens versagte. Sie würde sterben, wie sie gelebt hatte - voller Sorge um das Gewicht ihres Ehemanns und an den Krümeln herumbürstend, die von seinem Hemd zu Boden fielen.
Henry war dagegen ein Genießer. Was hatte es denn für einen Sinn, reich zu sein, wenn man sich dann nicht auch die guten Dinge des Lebens gönnte? Früher war er arm und hungrig gewesen. Reich und wohlgenährt zu sein war besser.
Er hatte nie gut ausgesehen, aber wenn ein Mann Geld hat, wird er eher stattlich als fett genannt, eher interessant als eigenwillig. Henry gefiel die Absurdität solcher Unterschiede.
Es war kurz vor drei an diesem strahlenden Mainachmittag, und der Wind strich über sein dunkles Toupet und rötete seine schwammigen Wangen. Henry trug eine goldene Uhr in der Tasche und in seiner Krawatte steckte eine mit Rubinen besetzte Nadel. Seine Frau Edith, dürr wie ein Hühnchen, trug feinste Pariser Couture. Er besaß fast drei Millionen. Zwar nicht ganz so viel wie Alfred Vanderbilt, der auch gerade den Atlantik überquerte, aber genug, um damit zufrieden zu sein. Genug, um eine Erste-Klasse-Passage auf diesem schwimmenden Palast bezahlen zu können, dachte Henry voller Stolz, während er überlegte, ob er noch ein viertes Plätzchen essen sollte. Genug, um seinen Kindern und später seinen Enkelkindern eine erstklassige Ausbildung zu ermöglichen.
Erste Klasse reisen zu können ist mir wahrscheinlich wichtiger als Alfred Vanderbilt, überlegte er. Schließlich hatte Alfred sich nie mit der Zweiten Klasse begnügen müssen.
Mit halbem Ohr lauschte Henry dem Geschnatter seiner Frau, die ihm erzählte, was sie alles unternehmen würden, wenn sie erst einmal in England wären. Sie würden Besuche machen und auch selbst Gäste einladen. Henry wolle doch sicher auf keinen Fall die ganze Zeit mit seinen Geschäftspartnern verbringen oder irgendwelche Abschlüsse tätigen.
Er stimmte ihr mit der ihm eigenen Liebenswürdigkeit zu. In fast vierzig Jahren Ehe hatte er seine Frau aufrichtig schätzen gelernt, und er würde ganz bestimmt dafür sorgen, dass sie sich während ihres Aufenthaltes in England gut unterhielt.
Aber Henry hatte seine eigenen Pläne, und nur aus diesem Grund machte er die Überfahrt.
Wenn seine Informationen richtig waren, dann würde er die zweite Parze erwerben können. Den Wunsch, die kleine Silberstatue zu besitzen, hegte er, seitdem es ihm gelungen war, die erste der drei Schicksalsgöttinnen zu kaufen.
Henry wollte unbedingt alle drei sein Eigen nennen und sich um den Erwerb der dritten Statue kümmern, sobald die zweite in seinem Besitz wäre. Wenn er erst einmal das komplette Set besäße ... nun, das konnte man dann bestimmt Erste Klasse nennen.
Wyley's Antiquitäten würde damit alle Konkurrenten übertrumpfen.
Persönliche und berufliche Befriedigung - und alles wegen drei kleinen Silberstatuen, die allerdings ziemlich viel wert waren. Zusammen waren sie sogar ungeheuer viel wert. Vielleicht würde er sie eine Zeit lang ans Metropolitan Museum ausleihen. Ja, die Vorstellung gefiel ihm.
DIE DREI PARZEN
LEIHGABE AUS DER PRIVATSAMMLUNG
VON HENRY W. WYLEY
Edith würde ihre neuen Hüte bekommen, ihre Abendgesellschaften und ihre Spaziergänge. Und er hätte sich den Traum seines Lebens erfüllt.
Befriedigt seufzend lehnte Henry sich zurück, um eine letzte Tasse Earl Grey zu genießen.
Felix Greenfield war ein Dieb. Doch weder schämte er sich dieser Tatsache noch war er stolz darauf. Er hatte noch nie etwas anderes gemacht als stehlen. Und so wie Henry Wyley annahm, er werde noch öfter die Gelegenheit haben, auf die irische Küste zu blicken, ging Felix davon aus, dass er noch viele Jahre lang ein Dieb bleiben würde.
Er war geschickt in seiner Arbeit - zwar nicht brillant, wie er gern bereit war zuzugeben, aber gut genug, um davon leben zu können. Gut genug, um genügend Mittel für die Dritte- Klasse-Passage zurück nach England zu besitzen, während er in seiner gestohlenen Stewarduniform durch die Korridore der Ersten Klasse eilte.
In New York war ihm der Boden etwas zu heiß unter den Füßen geworden, weil ihm die Polizei wegen eines verpfuschten Diebstahls dicht auf den Fersen war. Und dabei lag es noch nicht einmal an ihm, jedenfalls nicht allein. Er hatte lediglich den Fehler gemacht, zum ersten Mal eines seiner ungeschriebenen Gesetze zu brechen und den Diebstahl gemeinsam mit einem Partner zu begehen.
Es war die falsche Entscheidung gewesen, denn sein Partner hatte eine weitere Regel gebrochen: Stiehl niemals, wenn es nicht leicht und diskret zu erledigen ist. Die Gier hat den alten Two-Pint Monk blind gemacht, dachte Felix seufzend, als er in die Suite der Wyleys schlüpfte. Was hatte sich der Mann bloß dabei gedacht, als er unbedingt dieses Collier aus Diamanten und Saphiren mitgehen lassen wollte? Und dann hatte er sich auch noch wie ein Amateur aufgeführt und - von seinen üblichen zwei Pint Lagerbier betrunken wie ein Seemann - mit dem Diebstahl geprahlt.
Nun ja, Two-Pint konnte jetzt im Gefängnis weiterprahlen, allerdings gab es da kein Lager, das ihm seine blöde Zunge lösen konnte. Aber leider hatte der Bastard gesungen und den Bullen Felix' Namen genannt.
Da war es wohl das Beste gewesen, eine nette Seereise anzutreten - und wo konnte man sich schon besser verstecken als auf einem Schiff, das so groß war wie eine Stadt?
Ein wenig Sorge hatte Felix allerdings der Krieg in Europa bereitet und das Gerede, dass die Deutschen auch Schiffe auf dem Meer angriffen. Aber das waren schließlich nur vage, abstrakte Warnungen. Die New Yorker Polizei und die Aussicht auf einen langen Aufenthalt hinter Gittern waren viel unmittelbarere und persönlichere Bedrohungen.
Felix konnte sich auf jeden Fall nicht vorstellen, dass ein so prächtiges Schiff wie die Lusitania den Atlantik überqueren würde, wenn wirklich Gefahr drohte. Nicht mit all diesen reichen Leuten an Bord. Schließlich war es ein ziviles Schiff, und die Deutschen hatten sicher Besseres zu tun, als einen Luxusliner anzugreifen, auf dem sich so viele amerikanische Bürger befanden.
Zum Glück hatte Felix ein Ticket ergattern und in der Menge der Passagiere untertauchen können.
Es hatte jedoch alles sehr schnell gehen müssen, und die Überfahrt hatte ihn all seine Ersparnisse gekostet.
Aber auf solch einem vornehmen, luxuriösen Schiff voller vornehmer, luxuriöser Menschen gab es sicher ein paar Gelegenheiten, um die Kasse wieder aufzufüllen.
Am besten war natürlich Bargeld. Bargeld hatte nie die falsche Größe oder Farbe.
Felix sah sich in der Suite um und pfiff leise durch die Zähne. Stell dir nur mal vor, du könntest so stilvoll reisen, dachte er und gestattete sich einen kleinen Moment der Träumerei. Er verstand zwar weniger von der Architektur und dem Stil, der ihn umgab, als ein Floh von der Rasse des Hundes, den er beißt, aber dass die Einrichtung gediegen war, erkannte Felix auf den ersten Blick.
Der Salon war größer als seine ganze Dritte-Klasse-Kabine, und auch das Schlafzimmer war riesig.
Die Passagiere, die hier schliefen, wussten nichts von der drangvollen Enge, den dunklen Ecken und üblen Gerüchen in der Dritten Klasse. Felix neidete ihnen ihre Privilegien jedoch nicht. Schließlich könnte er niemanden bestehlen, wenn es diese reichen Menschen nicht gäbe.
Aber jetzt durfte er nicht noch mehr Zeit mit Träumereien verschwenden. Es war schon kurz vor drei, und wenn die Wyleys sich an ihren üblichen Tagesablauf hielten, würde die Frau noch vor vier herunterkommen, um ihr Mittagsschläfchen zu halten.
Felix hatte geschickte Hände, und während er nach Bargeldsuchte, bemühte er sich, möglichst wenig Unordnung zu machen. Große Scheine hatten die Wyleys wahrscheinlich in der Obhut des Chefstewards gelassen. Aber solch vornehme Herrschaften hatten gern stets ein bisschen Geld zur Hand.
Er entdeckte einen Umschlag, auf dem das Wort STEWARD stand, und als er ihn grinsend öffnete, fand er ein reichliches Trinkgeld darin, das er in die Hosentasche seiner geliehenen Uniform gleiten ließ.
Innerhalb von zehn Minuten hatte er fast hundertfünfzig Dollar gefunden und eingesteckt, und dazu noch ein paar hübsche Granatohrringe, die die Frau sorglos in einer Handtasche aufbewahrte.
Die Schmuckkoffer fasste er nicht an - weder den des Mannes noch den der Frau. Damit würde er nur Probleme heraufbeschwören. Doch als er vorsichtig die Wäscheschubladen durchwühlte, ertasteten seine Finger einen in Samt eingeschlagenen, harten Gegenstand.
Neugierig schlug Felix das Tuch auf.
Er verstand nichts von Kunst, aber reines Silber erkannte er auf den ersten Blick. Die Dame - es war nämlich eine Frau - war so klein, dass sie in seine Faust passte. Sie hielt eine Art Spindel in der Hand und trug ein fließendes Gewand.
Sie sah hübsch aus. Anziehend, konnte man fast sagen, wenn auch für seinen Geschmack ein bisschen zu kühl und berechnend.
Er bevorzugte Frauen, die ein bisschen dumm, dafür aber von heiterem Gemüt waren.
Bei der Statue lag ein Zettel mit einem Namen und einer Adresse sowie der gekritzelten Notiz Kontakt für die zweite Parze.
Felix betrachtete den Zettel und prägte sich die Adresse aus Gewohnheit ein. Möglicherweise war das ein weiteres Opfer, das er ausnehmen konnte, wenn er in London war.
Er begann, die kleine Statue wieder einzuschlagen, um sie an ihren Platz zurückzulegen, wickelte sie dann aber noch einmal aus. In seiner langen Karriere als Dieb hatte er noch nie einem persönlichen Begehren nachgegeben, dem Wunsch, einen Gegenstand zu behalten.
Diebesgut war für ihn stets nicht mehr als ein Mittel zum Zweck gewesen. Aber jetzt stand Felix Greenfield in der luxuriösen Kabine auf dem prächtigen Schiff, das gerade an der irischen Küste vorbeiglitt, und spürte das Verlangen, die kleine Silberstatue zu besitzen.
Sie war so ... hübsch! Und sie schmiegte sich so gut in seine Hand. So ein kleines Ding. Wer würde sie schon vermissen? »Sei nicht dumm«, murmelte er und wickelte die Statue wieder in den Samtlappen. »Nimm das Geld, Kumpel, und sieh zu, dass du wegkommst.«
Als er sie gerade wieder in die Schublade zurücklegen wollte, vernahm Felix ein Donnergrollen. Der Boden unter seinen Füßen bebte. Felix verlor beinahe das Gleichgewicht und taumelte auf die Tür zu, die Statue immer noch in der Hand. Ohne nachzudenken stopfte er sie in die Hosentasche und trat in den Korridor, als sich plötzlich der Boden unter ihm hob.
Wieder ertönte ein Geräusch, dieses Mal jedoch kein Donnern, sondern eher ein Dröhnen, als ob ein großer Hammer auf das Schiff einschlüge.
Felix rannte um sein Leben.
Und lief mitten ins Chaos hinein.
Das Schiff neigte sich mit einem Ruck zur Seite, sodass Felix stürzte und hilflos den Flur entlangrollte. Überall ertönten Schreie und hastige Schritte. Die Lichter gingen aus, und er schmeckte Blut in seinem Mund.
Sein erster panischer Gedanke war, dass das Schiff einen Eisberg gerammt haben könnte, so wie es der Titanic passiert war. Aber an diesem warmen Frühlingstag, so nahe der irischen Küste, konnte es doch wohl kaum Eisberge geben.
An die Deutschen dachte er nicht. Auch nicht an den Krieg. Felix rappelte sich hoch, rannte in dem stockdunklen Flur gegen Wände, stolperte, als er die Treppe hinaufstürzte, über seine eigenen Füße und fand sich plötzlich an Deck wieder, wo es vor Menschen nur so wimmelte. Die Rettungsboote wurden bereits hinuntergelassen, und überall waren Entsetzensschreie zu hören, während Frauen und Kinder angewiesen wurden, in die Boote zu klettern.
Das kann doch nicht wahr sein, dachte Felix voller Panik, wo doch die grüne Küstenlinie bereits deutlich zu erkennen ist! In diesem Moment neigte sich das Schiff erneut zur Seite, und eines der Rettungsboote, das gerade hinuntergelassen wurde, kippte um. Die Passagiere stürzten schreiend ins Meer. Felix war umgeben von entsetzten Gesichtern. Überall auf dem Deck lagen Trümmer, die stöhnende, blutende Passagiere unter sich begraben hatten. Manche bewegten sich schon nicht mehr.
Und Felix roch, was er schon oft in seinem Leben gerochen hatte.
Er roch den Tod.
Frauen umklammerten ihre Kinder und weinten oder beteten. Männer rannten voller Panik umher oder versuchten hektisch, die Verwundeten unter den Trümmern hervorzuziehen.
Durch das Chaos eilten Stewards und verteilten Schwimmwesten. Sie wirken so ruhig, als ob sie Tee servierten, dachte Felix, als einer der Männer an ihm vorbeikam.
»Na los, Mann, tu deine Pflicht! Kümmere dich um die Passagiere! « Es dauerte einen Augenblick, bis Felix einfiel, dass er ja immer noch die gestohlene Stewarduniform trug. Und einen weiteren Moment, bis er begriff, wirklich begriff, dass das Schiff unterging.
Verflucht, wir sterben!, dachte er inmitten der Schreie und Gebete.
Vom Wasser her waren verzweifelte Hilferufe zu hören. Felix drängte sich bis an die Reling durch, sah Menschen im Wasser treiben. Sah Menschen ertrinken.
Als ein weiteres Rettungsboot hinabgelassen wurde, fragte er sich, ob er eine Chance hätte, hineinzuspringen und sich zu retten. Er versuchte, an eine höher gelegene Stelle des Decks zu gelangen, um festen Boden unter die Füße zu bekommen. Er konnte an nichts anderes denken als daran, wie er es schaffen konnte zu überleben.
Das Deck neigte sich noch weiter zur Seite, und er rutschte mit zahllosen anderen Menschen auf das Wasser zu. Es gelang ihm, sich mit einer Hand an der Reling festzuklammern und gleichzeitig wie durch ein Wunder mit der anderen eine Schwimmweste aufzufangen, die an ihm vorbeirutschte.
Dankesgebete murmelnd begann er, sie sich umzulegen. Das ist ein Zeichen, dachte er, ein Zeichen Gottes, dass ich überleben soll.
Während er noch mit zitternden Fingern an der Schwimmweste herumfummelte, entdeckte er eine Frau, die zwischen ein paar umgestürzten Deckstühlen eingeklemmt war. Ein kleines Kind mit engelhaftem Gesichtchen klammerte sich an sie. Die Frau weinte nicht. Sie schrie auch nicht. Sie wiegte einfach nur den kleinen Jungen in ihren Armen.
»Heilige Maria, Mutter Gottes ...« Felix kroch über das Deck auf die Frau zu und zerrte an den Stühlen, die auf ihr lagen.
»Ich habe mir das Bein verletzt.« Sie strich ihrem Kind über das Haar, und die Ringe an ihren Fingern funkelten in der Frühlingssonne. Ihre Stimme klang zwar ruhig, aber ihre Augen waren weit aufgerissen, glasig vor Schock und Schmerzen und dem gleichen Entsetzen, das auch Felix das Herz bis zum Halse schlagen ließ.
»Ich glaube nicht, dass ich laufen kann. Können Sie meinen kleinen Jungen nehmen? Bitte, bringen Sie ihn zu einem Rettungsboot. Bringen Sie ihn in Sicherheit.«
Felix überlegte nur einen Herzschlag lang. Und dann lächelte das Kind.
»Legen Sie die Schwimmweste an, Missus, und halten Sie den Jungen fest.«
»Wir ziehen sie besser meinem Sohn an.«
»Sie ist ihm zu groß. Sie würde ihm nichts nutzen.«
»Ich habe meinen Mann verloren.« Ihre Aussprache war deutlich und kultiviert, und sie blickte ihn aus ihren glasigen Augen unverwandt an, während Felix ihr die Schwimmweste überstreifte. »Er ist über die Reling gestürzt. Ich fürchte, er ist tot.«
»Aber Sie nicht, nicht wahr? Und der Junge auch nicht.« Durch den beißenden Gestank von Panik und Tod konnte er das Kind riechen - Puder, Jugend, Unschuld. »Wie heißt er?« »Steven. Steven Edward Cunningham der Dritte.«
»Dann werde ich jetzt Sie und Steven Edward Cunningham den Dritten zu einem Rettungsboot bringen.«
»Wir sinken.«
Übersetzung: Margarethe Pée
Copyright © für die deutsche Ausgabe 2003 by Ullstein Heyne List GmbH&Co. KG / Marion von Schröder Verlag
7. Mai 1915
Da er glücklicherweise nicht ahnte, dass er dreiundzwanzig Minuten später tot sein würde, stellte sich Henry W. Wyley gerade vor, wie er der jungen Blondine, die in seinem Blickfeld aufgetaucht war, in den hübsch gerundeten Hintern kneifen würde. Es war eine vollkommen harmlose Fantasie, die weder der Blondine noch Henrys Frau schadete, Henry jedoch in außerordentlich gute Laune versetzte.
Eine Serviette über den runden Knien, den dicken Bauch angenehm gefüllt von einem späten, üppigen Mittagessen, saß er mit seiner Frau Edith - deren Hintern so beklagenswert flach wie ein Pfannkuchen war - in der milden Seeluft und genoss den Anblick der Blondine sowie eine gute Tasse Earl Grey. Henry, ein stattlicher Mann mit herzhaftem Lachen und einem Auge für die Damen, hatte keine Lust, sich zu den anderen Passagieren zu gesellen, die an der Reling standen, um einen Blick auf die sonnenbeschienene irische Küste zu erhaschen. Er kannte sie schon. Und außerdem würde es wahrscheinlich noch zahlreiche Gelegenheiten geben, sie wieder einmal zu sehen.
Was die Leute an Klippen und Gras so faszinierte, verstand er sowieso nicht. Henry war durch und durch ein Städter, der soliden Stahl und Beton schätzte. Und in diesem Moment war
er zudem viel mehr an den köstlichen Schokoladenplätzchen interessiert, die zum Tee gereicht wurden, vor allem, weil die Blondine inzwischen weitergegangen war.
Gut gelaunt verschlang er ein Plätzchen nach dem anderen, wobei Edith die ganze Zeit an ihm herummäkelte, er solle nicht so krümeln. Es war schade, dass sie sich solch kleine Vergnügen in den letzten Jahren ihres Lebens versagte. Sie würde sterben, wie sie gelebt hatte - voller Sorge um das Gewicht ihres Ehemanns und an den Krümeln herumbürstend, die von seinem Hemd zu Boden fielen.
Henry war dagegen ein Genießer. Was hatte es denn für einen Sinn, reich zu sein, wenn man sich dann nicht auch die guten Dinge des Lebens gönnte? Früher war er arm und hungrig gewesen. Reich und wohlgenährt zu sein war besser.
Er hatte nie gut ausgesehen, aber wenn ein Mann Geld hat, wird er eher stattlich als fett genannt, eher interessant als eigenwillig. Henry gefiel die Absurdität solcher Unterschiede.
Es war kurz vor drei an diesem strahlenden Mainachmittag, und der Wind strich über sein dunkles Toupet und rötete seine schwammigen Wangen. Henry trug eine goldene Uhr in der Tasche und in seiner Krawatte steckte eine mit Rubinen besetzte Nadel. Seine Frau Edith, dürr wie ein Hühnchen, trug feinste Pariser Couture. Er besaß fast drei Millionen. Zwar nicht ganz so viel wie Alfred Vanderbilt, der auch gerade den Atlantik überquerte, aber genug, um damit zufrieden zu sein. Genug, um eine Erste-Klasse-Passage auf diesem schwimmenden Palast bezahlen zu können, dachte Henry voller Stolz, während er überlegte, ob er noch ein viertes Plätzchen essen sollte. Genug, um seinen Kindern und später seinen Enkelkindern eine erstklassige Ausbildung zu ermöglichen.
Erste Klasse reisen zu können ist mir wahrscheinlich wichtiger als Alfred Vanderbilt, überlegte er. Schließlich hatte Alfred sich nie mit der Zweiten Klasse begnügen müssen.
Mit halbem Ohr lauschte Henry dem Geschnatter seiner Frau, die ihm erzählte, was sie alles unternehmen würden, wenn sie erst einmal in England wären. Sie würden Besuche machen und auch selbst Gäste einladen. Henry wolle doch sicher auf keinen Fall die ganze Zeit mit seinen Geschäftspartnern verbringen oder irgendwelche Abschlüsse tätigen.
Er stimmte ihr mit der ihm eigenen Liebenswürdigkeit zu. In fast vierzig Jahren Ehe hatte er seine Frau aufrichtig schätzen gelernt, und er würde ganz bestimmt dafür sorgen, dass sie sich während ihres Aufenthaltes in England gut unterhielt.
Aber Henry hatte seine eigenen Pläne, und nur aus diesem Grund machte er die Überfahrt.
Wenn seine Informationen richtig waren, dann würde er die zweite Parze erwerben können. Den Wunsch, die kleine Silberstatue zu besitzen, hegte er, seitdem es ihm gelungen war, die erste der drei Schicksalsgöttinnen zu kaufen.
Henry wollte unbedingt alle drei sein Eigen nennen und sich um den Erwerb der dritten Statue kümmern, sobald die zweite in seinem Besitz wäre. Wenn er erst einmal das komplette Set besäße ... nun, das konnte man dann bestimmt Erste Klasse nennen.
Wyley's Antiquitäten würde damit alle Konkurrenten übertrumpfen.
Persönliche und berufliche Befriedigung - und alles wegen drei kleinen Silberstatuen, die allerdings ziemlich viel wert waren. Zusammen waren sie sogar ungeheuer viel wert. Vielleicht würde er sie eine Zeit lang ans Metropolitan Museum ausleihen. Ja, die Vorstellung gefiel ihm.
DIE DREI PARZEN
LEIHGABE AUS DER PRIVATSAMMLUNG
VON HENRY W. WYLEY
Edith würde ihre neuen Hüte bekommen, ihre Abendgesellschaften und ihre Spaziergänge. Und er hätte sich den Traum seines Lebens erfüllt.
Befriedigt seufzend lehnte Henry sich zurück, um eine letzte Tasse Earl Grey zu genießen.
Felix Greenfield war ein Dieb. Doch weder schämte er sich dieser Tatsache noch war er stolz darauf. Er hatte noch nie etwas anderes gemacht als stehlen. Und so wie Henry Wyley annahm, er werde noch öfter die Gelegenheit haben, auf die irische Küste zu blicken, ging Felix davon aus, dass er noch viele Jahre lang ein Dieb bleiben würde.
Er war geschickt in seiner Arbeit - zwar nicht brillant, wie er gern bereit war zuzugeben, aber gut genug, um davon leben zu können. Gut genug, um genügend Mittel für die Dritte- Klasse-Passage zurück nach England zu besitzen, während er in seiner gestohlenen Stewarduniform durch die Korridore der Ersten Klasse eilte.
In New York war ihm der Boden etwas zu heiß unter den Füßen geworden, weil ihm die Polizei wegen eines verpfuschten Diebstahls dicht auf den Fersen war. Und dabei lag es noch nicht einmal an ihm, jedenfalls nicht allein. Er hatte lediglich den Fehler gemacht, zum ersten Mal eines seiner ungeschriebenen Gesetze zu brechen und den Diebstahl gemeinsam mit einem Partner zu begehen.
Es war die falsche Entscheidung gewesen, denn sein Partner hatte eine weitere Regel gebrochen: Stiehl niemals, wenn es nicht leicht und diskret zu erledigen ist. Die Gier hat den alten Two-Pint Monk blind gemacht, dachte Felix seufzend, als er in die Suite der Wyleys schlüpfte. Was hatte sich der Mann bloß dabei gedacht, als er unbedingt dieses Collier aus Diamanten und Saphiren mitgehen lassen wollte? Und dann hatte er sich auch noch wie ein Amateur aufgeführt und - von seinen üblichen zwei Pint Lagerbier betrunken wie ein Seemann - mit dem Diebstahl geprahlt.
Nun ja, Two-Pint konnte jetzt im Gefängnis weiterprahlen, allerdings gab es da kein Lager, das ihm seine blöde Zunge lösen konnte. Aber leider hatte der Bastard gesungen und den Bullen Felix' Namen genannt.
Da war es wohl das Beste gewesen, eine nette Seereise anzutreten - und wo konnte man sich schon besser verstecken als auf einem Schiff, das so groß war wie eine Stadt?
Ein wenig Sorge hatte Felix allerdings der Krieg in Europa bereitet und das Gerede, dass die Deutschen auch Schiffe auf dem Meer angriffen. Aber das waren schließlich nur vage, abstrakte Warnungen. Die New Yorker Polizei und die Aussicht auf einen langen Aufenthalt hinter Gittern waren viel unmittelbarere und persönlichere Bedrohungen.
Felix konnte sich auf jeden Fall nicht vorstellen, dass ein so prächtiges Schiff wie die Lusitania den Atlantik überqueren würde, wenn wirklich Gefahr drohte. Nicht mit all diesen reichen Leuten an Bord. Schließlich war es ein ziviles Schiff, und die Deutschen hatten sicher Besseres zu tun, als einen Luxusliner anzugreifen, auf dem sich so viele amerikanische Bürger befanden.
Zum Glück hatte Felix ein Ticket ergattern und in der Menge der Passagiere untertauchen können.
Es hatte jedoch alles sehr schnell gehen müssen, und die Überfahrt hatte ihn all seine Ersparnisse gekostet.
Aber auf solch einem vornehmen, luxuriösen Schiff voller vornehmer, luxuriöser Menschen gab es sicher ein paar Gelegenheiten, um die Kasse wieder aufzufüllen.
Am besten war natürlich Bargeld. Bargeld hatte nie die falsche Größe oder Farbe.
Felix sah sich in der Suite um und pfiff leise durch die Zähne. Stell dir nur mal vor, du könntest so stilvoll reisen, dachte er und gestattete sich einen kleinen Moment der Träumerei. Er verstand zwar weniger von der Architektur und dem Stil, der ihn umgab, als ein Floh von der Rasse des Hundes, den er beißt, aber dass die Einrichtung gediegen war, erkannte Felix auf den ersten Blick.
Der Salon war größer als seine ganze Dritte-Klasse-Kabine, und auch das Schlafzimmer war riesig.
Die Passagiere, die hier schliefen, wussten nichts von der drangvollen Enge, den dunklen Ecken und üblen Gerüchen in der Dritten Klasse. Felix neidete ihnen ihre Privilegien jedoch nicht. Schließlich könnte er niemanden bestehlen, wenn es diese reichen Menschen nicht gäbe.
Aber jetzt durfte er nicht noch mehr Zeit mit Träumereien verschwenden. Es war schon kurz vor drei, und wenn die Wyleys sich an ihren üblichen Tagesablauf hielten, würde die Frau noch vor vier herunterkommen, um ihr Mittagsschläfchen zu halten.
Felix hatte geschickte Hände, und während er nach Bargeldsuchte, bemühte er sich, möglichst wenig Unordnung zu machen. Große Scheine hatten die Wyleys wahrscheinlich in der Obhut des Chefstewards gelassen. Aber solch vornehme Herrschaften hatten gern stets ein bisschen Geld zur Hand.
Er entdeckte einen Umschlag, auf dem das Wort STEWARD stand, und als er ihn grinsend öffnete, fand er ein reichliches Trinkgeld darin, das er in die Hosentasche seiner geliehenen Uniform gleiten ließ.
Innerhalb von zehn Minuten hatte er fast hundertfünfzig Dollar gefunden und eingesteckt, und dazu noch ein paar hübsche Granatohrringe, die die Frau sorglos in einer Handtasche aufbewahrte.
Die Schmuckkoffer fasste er nicht an - weder den des Mannes noch den der Frau. Damit würde er nur Probleme heraufbeschwören. Doch als er vorsichtig die Wäscheschubladen durchwühlte, ertasteten seine Finger einen in Samt eingeschlagenen, harten Gegenstand.
Neugierig schlug Felix das Tuch auf.
Er verstand nichts von Kunst, aber reines Silber erkannte er auf den ersten Blick. Die Dame - es war nämlich eine Frau - war so klein, dass sie in seine Faust passte. Sie hielt eine Art Spindel in der Hand und trug ein fließendes Gewand.
Sie sah hübsch aus. Anziehend, konnte man fast sagen, wenn auch für seinen Geschmack ein bisschen zu kühl und berechnend.
Er bevorzugte Frauen, die ein bisschen dumm, dafür aber von heiterem Gemüt waren.
Bei der Statue lag ein Zettel mit einem Namen und einer Adresse sowie der gekritzelten Notiz Kontakt für die zweite Parze.
Felix betrachtete den Zettel und prägte sich die Adresse aus Gewohnheit ein. Möglicherweise war das ein weiteres Opfer, das er ausnehmen konnte, wenn er in London war.
Er begann, die kleine Statue wieder einzuschlagen, um sie an ihren Platz zurückzulegen, wickelte sie dann aber noch einmal aus. In seiner langen Karriere als Dieb hatte er noch nie einem persönlichen Begehren nachgegeben, dem Wunsch, einen Gegenstand zu behalten.
Diebesgut war für ihn stets nicht mehr als ein Mittel zum Zweck gewesen. Aber jetzt stand Felix Greenfield in der luxuriösen Kabine auf dem prächtigen Schiff, das gerade an der irischen Küste vorbeiglitt, und spürte das Verlangen, die kleine Silberstatue zu besitzen.
Sie war so ... hübsch! Und sie schmiegte sich so gut in seine Hand. So ein kleines Ding. Wer würde sie schon vermissen? »Sei nicht dumm«, murmelte er und wickelte die Statue wieder in den Samtlappen. »Nimm das Geld, Kumpel, und sieh zu, dass du wegkommst.«
Als er sie gerade wieder in die Schublade zurücklegen wollte, vernahm Felix ein Donnergrollen. Der Boden unter seinen Füßen bebte. Felix verlor beinahe das Gleichgewicht und taumelte auf die Tür zu, die Statue immer noch in der Hand. Ohne nachzudenken stopfte er sie in die Hosentasche und trat in den Korridor, als sich plötzlich der Boden unter ihm hob.
Wieder ertönte ein Geräusch, dieses Mal jedoch kein Donnern, sondern eher ein Dröhnen, als ob ein großer Hammer auf das Schiff einschlüge.
Felix rannte um sein Leben.
Und lief mitten ins Chaos hinein.
Das Schiff neigte sich mit einem Ruck zur Seite, sodass Felix stürzte und hilflos den Flur entlangrollte. Überall ertönten Schreie und hastige Schritte. Die Lichter gingen aus, und er schmeckte Blut in seinem Mund.
Sein erster panischer Gedanke war, dass das Schiff einen Eisberg gerammt haben könnte, so wie es der Titanic passiert war. Aber an diesem warmen Frühlingstag, so nahe der irischen Küste, konnte es doch wohl kaum Eisberge geben.
An die Deutschen dachte er nicht. Auch nicht an den Krieg. Felix rappelte sich hoch, rannte in dem stockdunklen Flur gegen Wände, stolperte, als er die Treppe hinaufstürzte, über seine eigenen Füße und fand sich plötzlich an Deck wieder, wo es vor Menschen nur so wimmelte. Die Rettungsboote wurden bereits hinuntergelassen, und überall waren Entsetzensschreie zu hören, während Frauen und Kinder angewiesen wurden, in die Boote zu klettern.
Das kann doch nicht wahr sein, dachte Felix voller Panik, wo doch die grüne Küstenlinie bereits deutlich zu erkennen ist! In diesem Moment neigte sich das Schiff erneut zur Seite, und eines der Rettungsboote, das gerade hinuntergelassen wurde, kippte um. Die Passagiere stürzten schreiend ins Meer. Felix war umgeben von entsetzten Gesichtern. Überall auf dem Deck lagen Trümmer, die stöhnende, blutende Passagiere unter sich begraben hatten. Manche bewegten sich schon nicht mehr.
Und Felix roch, was er schon oft in seinem Leben gerochen hatte.
Er roch den Tod.
Frauen umklammerten ihre Kinder und weinten oder beteten. Männer rannten voller Panik umher oder versuchten hektisch, die Verwundeten unter den Trümmern hervorzuziehen.
Durch das Chaos eilten Stewards und verteilten Schwimmwesten. Sie wirken so ruhig, als ob sie Tee servierten, dachte Felix, als einer der Männer an ihm vorbeikam.
»Na los, Mann, tu deine Pflicht! Kümmere dich um die Passagiere! « Es dauerte einen Augenblick, bis Felix einfiel, dass er ja immer noch die gestohlene Stewarduniform trug. Und einen weiteren Moment, bis er begriff, wirklich begriff, dass das Schiff unterging.
Verflucht, wir sterben!, dachte er inmitten der Schreie und Gebete.
Vom Wasser her waren verzweifelte Hilferufe zu hören. Felix drängte sich bis an die Reling durch, sah Menschen im Wasser treiben. Sah Menschen ertrinken.
Als ein weiteres Rettungsboot hinabgelassen wurde, fragte er sich, ob er eine Chance hätte, hineinzuspringen und sich zu retten. Er versuchte, an eine höher gelegene Stelle des Decks zu gelangen, um festen Boden unter die Füße zu bekommen. Er konnte an nichts anderes denken als daran, wie er es schaffen konnte zu überleben.
Das Deck neigte sich noch weiter zur Seite, und er rutschte mit zahllosen anderen Menschen auf das Wasser zu. Es gelang ihm, sich mit einer Hand an der Reling festzuklammern und gleichzeitig wie durch ein Wunder mit der anderen eine Schwimmweste aufzufangen, die an ihm vorbeirutschte.
Dankesgebete murmelnd begann er, sie sich umzulegen. Das ist ein Zeichen, dachte er, ein Zeichen Gottes, dass ich überleben soll.
Während er noch mit zitternden Fingern an der Schwimmweste herumfummelte, entdeckte er eine Frau, die zwischen ein paar umgestürzten Deckstühlen eingeklemmt war. Ein kleines Kind mit engelhaftem Gesichtchen klammerte sich an sie. Die Frau weinte nicht. Sie schrie auch nicht. Sie wiegte einfach nur den kleinen Jungen in ihren Armen.
»Heilige Maria, Mutter Gottes ...« Felix kroch über das Deck auf die Frau zu und zerrte an den Stühlen, die auf ihr lagen.
»Ich habe mir das Bein verletzt.« Sie strich ihrem Kind über das Haar, und die Ringe an ihren Fingern funkelten in der Frühlingssonne. Ihre Stimme klang zwar ruhig, aber ihre Augen waren weit aufgerissen, glasig vor Schock und Schmerzen und dem gleichen Entsetzen, das auch Felix das Herz bis zum Halse schlagen ließ.
»Ich glaube nicht, dass ich laufen kann. Können Sie meinen kleinen Jungen nehmen? Bitte, bringen Sie ihn zu einem Rettungsboot. Bringen Sie ihn in Sicherheit.«
Felix überlegte nur einen Herzschlag lang. Und dann lächelte das Kind.
»Legen Sie die Schwimmweste an, Missus, und halten Sie den Jungen fest.«
»Wir ziehen sie besser meinem Sohn an.«
»Sie ist ihm zu groß. Sie würde ihm nichts nutzen.«
»Ich habe meinen Mann verloren.« Ihre Aussprache war deutlich und kultiviert, und sie blickte ihn aus ihren glasigen Augen unverwandt an, während Felix ihr die Schwimmweste überstreifte. »Er ist über die Reling gestürzt. Ich fürchte, er ist tot.«
»Aber Sie nicht, nicht wahr? Und der Junge auch nicht.« Durch den beißenden Gestank von Panik und Tod konnte er das Kind riechen - Puder, Jugend, Unschuld. »Wie heißt er?« »Steven. Steven Edward Cunningham der Dritte.«
»Dann werde ich jetzt Sie und Steven Edward Cunningham den Dritten zu einem Rettungsboot bringen.«
»Wir sinken.«
Übersetzung: Margarethe Pée
Copyright © für die deutsche Ausgabe 2003 by Ullstein Heyne List GmbH&Co. KG / Marion von Schröder Verlag
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Autoren-Porträt von Nora Roberts
Nora Roberts, geb. 1950 in Maryland. Als sie 1979 in ihrem Landhaus eingeschneit wurde, griff sie zu Stift und Papier und begann zu schreiben. Ihren ersten Roman veröffentlichte sie 1981. Seitdem hat Nora Roberts über 100 Bücher geschrieben. Mit einer Gesamtauflage von mehr als 100 Millionen Exemplaren ist sie eine der erfolgreichsten Autorinnen weltweit. Nora Roberts hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Ehemann in Keedsville, Maryland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nora Roberts
- 2012, 496 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Pée, Margarethe van
- Übersetzer: Margarethe van Pée
- Verlag: Diana
- ISBN-10: 3453356640
- ISBN-13: 9783453356641
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