Gezeichnet
Kriminalroman
Mitreißend, fesselnd und mysteriös: Chefinspektor Franz Baumgartner, Leiter der Mordgruppe in Graz, rechnet noch in Schilling und glaubt unbeirrbar an das Gute - bis am Mathematikinstitut der Universität eine Reinigungskraft grausam ermordet wird. Neben ihr...
lieferbar
versandkostenfrei
Taschenbuch
12.95 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Gezeichnet “
Klappentext zu „Gezeichnet “
Mitreißend, fesselnd und mysteriös: Chefinspektor Franz Baumgartner, Leiter der Mordgruppe in Graz, rechnet noch in Schilling und glaubt unbeirrbar an das Gute - bis am Mathematikinstitut der Universität eine Reinigungskraft grausam ermordet wird. Neben ihr findet sich eine rätselhafte Botschaft.Eine Verschwörung? Ein wahnsinniger Einzeltäter? Gemeinsam mit der Profilerin Vera Königshofer versucht Baumgartner, in die Psyche des Mörders einzudringen. Was dabei zum Vorschein kommt, droht den idealistischen Ermittler aus der Bahn zu werfen.
Ein fulminant-rasantes Krimidebüt - Gänsehaut garantiert!
Lese-Probe zu „Gezeichnet “
Dienstag, 16 Uhr 10Der Tag, an dem er es tun wollte, war ungewöhnlich sonnig für Anfang November. Er kam ins Schwitzen, als er die Utensilien schleppte, die er für seinen Plan benötigte, den Karton, die Gasflasche, das Maßband. Vor ein paar Tagen war es schon empfindlich kalt gewesen und es hatte geregnet. Es war wahrscheinlich der letzte schöne Tag in diesem Jahr. Bald würde es zum ersten Mal Frost geben und damit war der Herbst endgültig vorbei. Die Bäume hatten bereits das rote Herbstlaub abgeworfen und streckten ihre nackten Äste in den Himmel.
Er rastete, nachdem er alles in den Raum mit der Tafel und den weißen Tischen hinaufgetragen hatte, und sah aus dem Fenster. Unten gingen Leute vorbei, manche noch im T-Shirt, andere schon im Wintermantel. Es würde noch einige Wochen dauern, bis sie sich auf das neue Wetter eingestellt hatten. Er beobachtete sie eine Weile, dann begann er, den Raum, in dem er es später tun wollte, vorzubereiten. Einige Minuten lang rückte er Dinge hin und her, bis er sicher war, dass alles passte. Als er fertig war, genehmigte er sich einen großen Schluck aus seinem Flachmann und holte einen gefalteten Zettel aus seiner Hosentasche, um ein letztes Mal seine Liste und die Grundrissskizze zu kontrollieren. Die Säge, das Maßband, die Flasche, alles war am richtigen Platz. Er steckte den Zettel wieder ein, zog den rechten Gummihandschuh aus, um den Schlüssel aus der Tasche zu holen. Mit der Linken schloss er die Tür, sperrte ab und machte sich in der einsetzenden Dämmerung auf den Weg nach Hause, wo er die letzten Stunden warten würde, bis die Zeit gekommen war.
18 Uhr 30
Es wurde still in der Kantine des Landeskriminalamts. Rainer Swoboda schluckte einen halb gekauten Bissen von seinem Lachsbrötchen hinunter und hustete. Wilszek von der Tatortgruppe nahm einen großen Schluck Sekt, um sich vorzubereiten. Alle
... mehr
richteten den Blick auf Baumgartner. Chefinspektor Franz Baumgartner, der Leiter der Mordgruppe, sah seine Mitarbeiter mit den kleinen, ausdruckslosen Augen an und begann leise zu sprechen.
„Liebe Kollegen, ich darf euch gratulieren. Es war nicht einfach, aber dank unserer Konsequenz und unserer guten Zusammenarbeit hat die Sache ein gutes Ende gefunden. Dafür gab es auch Lob von ganz oben. Manche von euch haben es schon gehört, die Ministerin hat mich heute angerufen und mir persönlich gratuliert. Sie hat unsere innovativen Methoden gelobt - das waren tatsächlich ihre Worte - und betont, dass Cyberkriminalität in Zukunft einen immer höheren Stellenwert einnehmen wird. Ich persönlich denke ja, dass es selbstverständlich ist, dass wir alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, aber wenn jemand besonderes Lob verdient, dann ist es wohl Oliver Brink, der leider schon nach Hause gefahren ist. Es ist gut zu wissen, dass wir ihn auch in Zukunft wieder als Computerexperten holen können, wenn es nötig ist. So oder so, Lob ist uns natürlich lieber als Kritik, und ich denke, wir können zufrieden sein mit unserer Arbeit."
Da und dort zeigte sich ein Lächeln und Hoffnung keimte auf, dass es diesmal weniger schlimm werden könnte. Baumgartners Reden waren berüchtigt, fast so berüchtigt wie sein kaffeebraunes Jackett oder seine weißen Tennissocken in den abgetragenen Schuhen. Wie seine Wachsfigurenfrisur mit dem präzise gezogenen Scheitel. Dabei besagten Gerüchte, dass er keine fünfundvierzig war.
Dann kam es.
„Das Wichtigste ist, dass wir die Ordnung wieder hergestellt haben. Diese Ordnung ist es, die erst dem Einzelnen seine Freiheit garantiert, eine eingeschränkte Freiheit, wie wir wissen, innerhalb bestimmter Regeln, aber die einzige, die möglich ist. Ihr müsst immer daran denken: Diese Ordnung, geschaffen durch die Gesetze der Republik Österreich, ist es, für die wir kämpfen. Die wir mit all unserem Einsatz erhalten und garantieren müssen. Vielleicht erinnert ihr euch daran, wenn ihr wieder einmal die Nacht durcharbeiten müsst und einen motivierenden Gedanken braucht. Ich kann daraus immer wieder Kraft schöpfen. Danke."
Stille. Jemand begann zu klatschen, hörte aber wieder auf, bevor die anderen einstimmen konnten. Baumgartner trank sein Glas leer - sein einziges an diesem Abend, so war es immer - und ging mit einem Käsebrötchen zur Seite. Langsam keimten die Gespräche wieder auf. Sie waren froh, dass sie es überstanden hatten. Das letzte Mal hatte er ihnen erklärt, dass Polizisten Vorbilder zu sein hätten und nicht zu schnell fahren oder falsch parken durften.
Caroline Meier nippte an ihrem Sekt. Sie lächelte still in sich hinein, während sie ihren Chef beobachtete. Dieser Mann hatte gerade einen der schwierigsten Fälle der jüngeren österreichischen Kriminalgeschichte gelöst, aber für ihn selbst schien das keine besondere Bedeutung zu haben. Für ihn ging ein ganz normaler Arbeitstag zu Ende.
Oder doch nicht ganz normal?
Sie hatte das Gefühl, dass irgendetwas anders war als sonst. Bei Baumgartner konnte man das immer schwer beurteilen. Manche hielten ihn für völlig gefühllos, aber das war natürlich Unsinn. Man musste nur genau hinsehen. Baumgartner war keiner, der eine Maske aufhatte oder seine Gefühle unterdrückte. Im Gegenteil.
Meier nahm sich noch ein Brötchen - Salami. Ihre Lieblingssorte, die mit dem Kürbiskernaufstrich, war aus. Der Hosenbund ihrer Jeans spannte bereits, doch sie widerstand der Versuchung, den Knopf zu öffnen. Sie schob sich an den Kollegen vorbei und stellte sich neben Baumgartner, der sein Brötchen kaute und ins Leere starrte.
„Gratuliere, Franz", sagte sie. „Das war dein Meisterstück. Damit hast du einige beeindruckt."
Er schien darüber nachzudenken. „Findest du? Es war am Ende viel zu einfach."
„Bist du nicht zufrieden?", fragte sie.
„Doch, natürlich." Er hob sein Brötchen, um noch einmal abzubeißen, hielt aber inne. „Mich ärgert nur, wie oberflächlich die Leute vom Ministerium sind, genauso wie die Medien. Du weißt, wie es bei dem toten Schüler im Stadtpark war. Dort haben wir wirklich erstklassig gearbeitet. Wir haben alle Möglichkeiten ausgeschöpft, und schnell waren wir außerdem, nur genutzt hat es nichts. Wer immer seinen Tod verschuldet hat, läuft immer noch unbehelligt durch die Stadt."
„Am Ende ist es ausgeglichen", meinte sie. „Man wird eben am Erfolg gemessen."
Er starrte in den Raum.
„Weißt du", sagte er nach einer Weile so leise, dass sie ihn kaum verstand, „manchmal habe ich das Gefühl, dass wir eigentlich machtlos sind."
„Wie meinst du das?", fragte Meier.
„Dass wir nur die erwischen, die es uns einfach machen. Die erwischt werden wollen. Nur jeder dritte Mord wird überhaupt entdeckt, wir alle kennen die Zahlen. Das Einzige, was uns rettet, ist, dass die Menschen im Grunde anständig sind. Sonst wären wir völlig überfordert."
Doch, etwas war anders, dachte sie.
„Klingt das komisch für dich, Anstand? Dieses Wort wird kaum noch verwendet heutzutage. Kennen es die jungen Leute noch?"
„Hattest du Streit mit Isabel?", fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. „Keinen Streit. Du weißt, wir streiten nicht."
„Aber etwas passt nicht, hab ich recht?"
Da schwieg er. Sie hatte sich also nicht getäuscht.
Zufrieden biss sie von dem Salamibrötchen, das ihr nicht schmeckte. Sie wickelte die angebissene Hälfte in die Serviette und legte sie auf den weißen Besprechungstisch, an dem sie lehnten.
„Weißt du was", sagte sie, „ich feiere heute mit Klara die Matura ihres Sohnes. Warum kommst du nicht mit? Es gibt eine Kleinigkeit zu essen, und wir haben einen guten Wein."
„Ich will euch nicht stören."
„Du störst nicht."
Er antwortete nicht, und das war völlig ausreichend.
„So, Leute!", sagte Meier, zur Runde gewandt. „Trinkt aus. Die Brötchen könnt ihr euch einpacken, wenn ihr wollt. Es gibt noch einiges zu tun für morgen. Seht zu, dass ihr die fehlenden Berichte fertig macht. Ihr wisst, so etwas dauert ewig, wenn man es nicht gleich erledigt. Wir sehen uns morgen in der Früh."
Die Leute von der Tatortgruppe warfen sich vielsagende Blicke zu, als Meier ihren Chef hinausgeleitete wie eine Mutter ihr Kind. Man witzelte gern über die sonderbare Beziehung der beiden. Sie wussten nichts von Meiers Privatleben, von ihrer bunten Patchworkfamilie, und das war auch gut so. Sie zog es vor, das bei der Polizei nicht an die große Glocke zu hängen.
20 Uhr
Baumgartner wirkte friedlich, als er in der Wohnung seiner Kollegin am Esstisch saß. Sie wohnte in Sankt Peter, am anderen Ende der Stadt, doch um diese Uhrzeit hatten sie keinen Stau mehr gehabt und waren zügig durchgekommen, trotz Baumgartners defensiver Fahrweise. Caroline Meier und ihre Freundin Klara aßen, tranken und lachten, während Baumgartner hin und wieder an seinem Weinglas nippte, ohne dass sich dessen Inhalt merklich verringerte.
Es hat ihn doch härter erwischt als sonst, dachte Meier. Sie machte sich Sorgen um ihn. Sie war sich nicht sicher, ob ihm bewusst war, wie wichtig Isabel für ihn war.
So eine schöne Frau. Sie war überrascht gewesen, als Baumgartner sie einander vorgestellt hatte. Ein Kauz wie er und diese Frau - sie verstand noch immer nicht, wie das ging. Da hatte es sicher mehrere Interessenten gegeben. Aber sie hatte sich für ihn entschieden.
Genauso wie Sukitsch, der ihm die Leitung der Mordgruppe übertragen hatte, nachdem Kampl in Pension gegangen war. Das hatte auch niemand verstanden. Viel zu jung, hatte es geheißen. Doch Sukitsch hatte ihn gegen seine eigenen Vorgesetzten in Schutz genommen und am Ende recht behalten. Es hatte sich gelohnt und Baumgartner war, spätestens seit dem letzten Fall, der international Aufsehen erregt hatte, vielen Leuten ein Begriff. Der Erfolg war allerdings trügerisch. Er grübelte wieder. Das war kein gutes Zeichen. Baumgartner war nicht so stark, wie sie alle glaubten.
Außerdem sind wir alle müde, dachte sie. Nicht nur er, auch ich. Vor allem ich.
Sie war froh, dass dieser Fall erledigt war. Dass der Druck nun nachließ.
„Franz, du bist so still. Was ist los?"
Klaras Frage ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken.
„Es ist nur der Herbst", antwortete er. „Jedes Jahr das Gleiche."
„Ja, furchtbar, nicht wahr? Man kommt von der Arbeit nach Hause und es ist stockdunkel. Ich kann froh sein, wenn ich in der Mittagspause die Sonne sehe! Da muss man ja depressiv werden."
Er lächelte und Meier sah, dass er in Gedanken ganz woanders war. Sie überlegte, wie sie ihn aufheitern konnte, doch da verwickelte Klara sie wieder in ein Gespräch und brachte sie zum Lachen.
Übertreib nicht, Caroline, ermahnte sie sich. Er ist erwachsen. Und außerdem ist er dein Chef. Bei Ersterem war sie sich allerdings manchmal nicht ganz sicher.
„Ich bin so froh, dass Sven jetzt fertig ist mit dieser Schule", begann Klara. „Im Nachtermin hat es dann doch noch geklappt. Sein Klassenvorstand war ein richtiger Vollidiot. Hat ständig von Disziplin geredet. Ich hab geglaubt, ich hätte mich verhört, als er damit beim Elternsprechtag kam. Der Herr Doktor. Sein Titel war ihm total wichtig. In Biologie! Das finde ich wirklich lächerlich in Österreich."
Sie lachte.
„Was findest du lächerlich?", fragte Baumgartner.
„Dass die Leute solchen Wert auf Titel legen!"
„Na ja, so ein Titel steht für eine gute Bildung", erwiderte Baumgartner. „Das ist etwas Wichtiges, finde ich."
„Ja, vor zwanzig, dreißig Jahren! Schau es dir heute an! Überall Quereinsteiger, Schulabbrecher. Flexibilität ist viel wichtiger. Und selbstbewusstes Auftreten."
„Ja, aber ob das etwas Gutes ist?"
„Willst du lieber die alten Hierarchien? Wo die Leute funktionieren müssen, sich unterordnen? Und dafür kriegen sie dann den Titel, quasi als Stempel. Das ist doch faschistoid, wenn du mich fragst."
Sie ist heute gut drauf, dachte Caroline Meier. Normalerweise lässt sie sich leichter provozieren. Heute sieht sie wieder aus wie eine Kriegerin. Mit ihren kurzen Haaren und der strengen Brille.
„Habt ihr eigentlich schon bei der Kraftwerksinitiative unterschrieben?", erkundigte sich Klara. Baumgartner schien verwirrt. „Was für ein Kraftwerk?"
„Das Wasserkraftwerk, ihr wisst schon. Die Staustufe in der Mur."
„Man kann für das Kraftwerk unterschreiben?", fragte Baumgartner.
Klara machte ein Gesicht, als hätte sie etwas falsch verstanden.
„Wie geht es eigentlich Sven auf seiner Maturareise?", begann Meier.
Da klingelte Baumgartners Telefon. Sofort wurde es still. Er hob ab und am anderen Ende begann jemand zu reden, abgehackt. Meier versuchte zu verstehen, was gesagt wurde, doch es gelang ihr nicht.
„Hmm", brummte er. „Wann?"
Er nickte. „Verstehe. Gib mir noch mal die genaue Adresse."
Er holte seinen Terminkalender aus der Tasche und machte eine Notiz.
„Danke", sagte er und legte auf.
Baumgartner packte Telefon und Kalender wieder ein.
„Was Berufliches?", fragte Klara, der die Spannung ihrer Freundin nicht entgangen war.
„Mord", antwortete er.
Während Klara erschrak, erstarrte Meier.
Baumgartner stand auf und nahm sein Jackett von der Sessellehne.
„Franz, ich glaube, ich hab echt schon zu viel getrunken", sagte Meier.
„Ja, ich weiß. Bleib nur hier, ich mach das. Ich kann noch fahren. Lass dein Handy eingeschaltet und sieh zu, dass du morgen früh bereit bist."
Er sandte ihr ein undefinierbares Lächeln, dann verschwand er.
21 Uhr 10
Das Erste, was ihm auffiel, war die Plane vor der Tür. Eine durchsichtige Plastikplane, wie sie Wilszek von der Tatortgruppe verwendete, sorgfältig ausgebreitet. Was hatte die hier zu suchen?
Er befand sich in einem Gebäude der Karl-Franzens-Universität, das er nicht kannte. Hier waren das Mathematik- und das Anglistikinstitut untergebracht, wie man ihm erklärt hatte. Es war ein moderner Bau, der kühl wirkte neben den klassizistischen Nachbargebäuden. Große Flächen aus weiß gestrichenem Putz und Beton beherrschten die vier Stockwerke hohe Halle mit dem Glasdach, durch das sich eine Stiege diagonal bis ganz nach oben zog.
SR 11.32 stand auf einem Schild neben der Tür im dritten Stock, die angelehnt war. Baumgartner wunderte sich über den scharfen Geruch, der in der Luft lag. Er kannte diesen Geruch, aber er wusste nicht, woher.
Er stieß die Tür mit dem Ellbogen auf und betrat den verstörendsten Tatort seiner bisherigen Karriere.
„Baumgartner, bleib wo du bist!", zischte eine Stimme von innen und ließ ihn im Türrahmen stehen bleiben. Es war Wilszek, der unter Flüchen irgendetwas sagte, das Baumgartner nicht verstand. Der Raum beanspruchte seine ganze Aufmerksamkeit.
Es gab wenig, das Baumgartner überraschen konnte. Er registrierte die Dinge mit der Ruhe eines Chirurgen. Gerade diese Gelassenheit gegenüber dem Unmenschlichen, die seine Kollegen manchmal schockierte, weil sie sie als Gefühlskälte interpretierten, konnte man auch für eine Stärke halten. Es stimmte: Er hasste oder liebte die Menschen nicht übermäßig, was er auf Anfrage auch zugab. Wenn man ihn allerdings fragte, warum er sich dann so für sie einsetzte, verstand er die Frage nicht.
Er war gebannt von dem Bild, das sich ihm bot, und versuchte, es zu verstehen. Es gelang ihm nicht. Jemand hatte auf den Boden erbrochen. Nun erkannte er den Geruch wieder.
„So eine Schweinerei, Baumgartner", sagte Wilszek, der im Overall der Spurensicherung zu ihm an die Tür kam. Er war gebückter als sonst. Martina Holzer kniete hinten im Raum auf dem Boden und sammelte mit einer Pinzette Haare ein. Waren sie nicht normalerweise zu dritt?
„Wenn einer die Nerven nicht hat für den Job, dann soll er es bleiben lassen."
Wilszeks Ton war härter als gewöhnlich. Baumgartner ließ seinen Blick über die Wand mit der riesigen vertikalen Blutspur wandern, die im kalten Licht der Neonröhre eine unnatürliche Farbe hatte.
„Versprich mir eins, wenn du kotzen musst, geh vor die Tür. Bist du allein?"
Baumgartner nickte. Nun verstand er. Einem von Wilszeks Mitarbeitern war schlecht geworden. Deshalb die Plane.
Er konnte es ihm nicht verdenken.
Wilszek reichte ihm weiße Überschuhe. „Da, für die Füße. Und bleib auf dem Weg. Hier, von der Tür, neben der Toten vorbei."
Sie traten ein.
„Ich denke, einen Suizid können wir ausschließen", stellte Wilszek fest, ohne über seinen Witz zu lachen. „Etwas Derartiges habe ich noch nie gesehen."
Baumgartner lief ein Schauer über den Rücken und er verstand sofort, dass Wilszek recht hatte.
„Was haben wir?", fragte er und sein Blick blieb wieder an der Blutspur hängen. Das Blut war mit großer Geschwindigkeit gegen die Wand gespritzt, das war ihm sofort klar. Und nicht nur Blut. Auf dem Boden lag eine Frau mit dem Gesicht nach unten. Zu sagen, sie lag auf dem Bauch, war aber auch nicht ganz korrekt, denn die untere Hälfte ihres Körpers war um 180 Grad verdreht, sodass die Zehen nach oben zeigten. Die Leiche war auf Höhe der Brust beinahe zur Gänze durchtrennt.
Da entdeckte Baumgartner die Handkreissäge, und ihn fröstelte. Daneben stand eine große Flasche, aus der ein träger weißer Dunst entwich.
„Hat sie noch gelebt?", fragte Baumgartner. „Als er -"
„Nein", unterbrach ihn Wilszek. „Zumindest glaube ich nicht, dass sie bei Bewusstsein war. Er hat sie erdrosselt, mit einem Seil oder etwas Ähnlichem. Wenn du mich fragst, war das die Todesursache. Ganz sicher kann ich es natürlich nicht sagen. Das muss Steger bestätigen. Siehst du die Flasche? Ich habe nicht gleich verstanden, was das sein soll. Beinahe hätte ich meinen Finger hineingesteckt. Flüssiger Stickstoff! Das verwendet man, um biologische Proben zu kühlen. Gibt es sicher hier irgendwo auf der Uni."
„Aber warum -"
„Keine Ahnung."
Wilszek wirkte ratlos.
„Ehrlich, Franz, ich bin froh, dass ich nicht in deiner Haut stecke. Sobald ich hier fertig bin, nehme ich Urlaub."
Sie wussten beide, dass das nicht ging.
„Anzeichen für einen Kampf?", fragte Baumgartner. „Hat sie sich gewehrt?"
„Nein, überhaupt keine", antwortete Wilszek. „Ich bin fast sicher, dass er sie betäubt hat. Wie, kann ich noch nicht sagen. Die Würgemale sind sehr scharf umgrenzt, siehst du? Und sonst keine Hämatome."
„Wer hat sie gefunden?"
„Eine Studentin."
„Um diese Uhrzeit?"
„Das musst du den Kollegen fragen, der als Erster am Tatort war. Blaschek heißt er."
Baumgartner nickte. „Wo ist er?"
„Unten, glaube ich. Woher soll ich das wissen? Ich glaube, er wollte den Hausmeister suchen."
Da erkannte Baumgartner in dem Chaos, dass die Tote etwas trug, das blau war und eine Schürze sein konnte. Sie war an den Rändern zerfetzt und fast schwarz vom Blut. Eine Putzfrau?
Baumgartner wandte sich ab. Man konnte in die Bauchhöhle hineinsehen.
„Wie lange ist sie schon tot?", fragte er.
„Nicht lange", antwortete Wilszek. „Das Blut ist noch nicht ganz getrocknet."
„Irgendwelche Anzeichen für Missbrauch?"
Wilszek zuckte mit den Schultern. „Ihre Hose hat sie an."
Baumgartner nickte und bemühte sich, jedes Detail zu registrieren, und während er wie gewohnt sorgfältig vorging, war ihm, als hätte ihm jemand einen kalten, glatten Stein in den Magen gelegt.
21 Uhr 50
Baumgartner war froh, in der Heinrichstraße, gleich um die Ecke, ein Café gefunden zu haben, das noch offen hatte. Das „Einstein" war gut besucht, aber die Musik war nicht zu laut.
Er bestellte einen großen Braunen und holte ein Notizbuch aus der Innentasche seines Jacketts. Vor dem Institutsgebäude wartete die Studentin, die die Leiche entdeckt hatte, und auch der Rektor hatte ihn sprechen wollen, doch er ignorierte sie und hielt sein übliches Procedere ein. Er musste so schnell wie möglich eine Beschreibung des Tatorts festhalten, solange der Eindruck noch frisch war.
Auch wenn er diesmal das Gefühl hatte, dass ihn das Bild ohnehin noch länger verfolgen würde.
Er schlug eine neue Seite auf und begann, sie schnell mit kleinen, sauberen Druckbuchstaben zu füllen.
Tote liegt in Seminarraum 11.32 im dritten Stock des Mathematikinstituts der Karl-Franzens-Universität Graz, ca. 1.60 groß, schlank. Dunkle Haare, Pferdeschwanz. Trägt vermutlich eine blaue Schürze. Liegt zwischen Tischen und Katheder, in der Nähe der an den Gang grenzenden Mauer, Kopf Richtung Fenster gewandt. Körper auf Höhe des Brustbeins zu zwei Dritteln durchtrennt. Oberkörper liegt mit dem Gesicht nach unten, Becken und Beine mit dem Gesäß nach unten. Daneben eine elektrische Handkreissäge, noch angesteckt, mit Verlängerungskabel, beides neu. Blut und Gewebereste auf der Säge, Blut und Gewebereste auf Katheder und Wand.
Baumgartner musste absetzen und zwang sich, einen Schluck von dem Kaffee zu trinken, der gebracht worden war, ohne dass er es gemerkt hatte.
Daneben eine offene Flasche mit flüssigem Stickstoff, geschätzte 50 l. Keine Anzeichen für sexuellen Missbrauch. Tod wahrscheinlich durch Erdrosseln, Tatwaffe noch nicht gefunden.
Baumgartner legte seinen Stift beiseite und nahm noch einen Schluck Kaffee.
Vielleicht wusste die Studentin etwas zu berichten. Er fand, dass er sie lange genug hatte warten lassen.
Baumgartner legte ein paar Münzen auf den Tisch und verließ das Lokal.
22 Uhr 5
Als er zum Institutsgebäude zurückkam, sah er vor sich im Licht der Laternen eine bunte Ansammlung von Menschen. Sie bewegten sich klamm und hektisch und erzeugten Dunstwolken, wenn sie sich unterhielten. Ein klarer Sternenhimmel war zwischen den Bäumen sichtbar und versprach eine kalte Nacht. Er zog den Kopf ein und näherte sich, während er überlegte, was er als Erstes tun sollte.
„Baumgartner, gut, dass Sie da sind!", rief ein Polizist in Uniform, den er nicht kannte.
„Blaschek?"
Der Polizist kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand. „Richtig."
Blaschek war ein kleiner, unaufgeregter Streifenpolizist, der ihm in knappen Worten erzählte, wie er nach dem Notruf hergefahren war und hier die Studentin getroffen hatte, die ihn dann nach oben geführt hatte. Das Mädchen saß ein wenig abseits auf einer Parkbank, trug einen dünnen Mantel und hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen.
Baumgartner dankte ihm. In diesem Moment kam Gregor Wolf um die Ecke und beschleunigte seine Schritte, als er ihn sah.
„Sie können jetzt fahren", sagte er zu Blaschek. „Den Rest schaffen wir allein."
„Etwas noch", meinte dieser. „Ich habe den Hausmeister ausfindig gemacht. Er kommt hierher."
„Danke."
Blaschek verabschiedete sich mit einem Nicken.
„Wie sieht es aus?", erkundigte sich Wolf, Baumgartners Stellvertreter als Leiter der Mordgruppe. Er hatte den Reißverschluss seiner Lederjacke bis zum Kinn geschlossen.
Als hätte sich ein Loch zur Hölle aufgetan, dachte Baumgartner und ärgerte sich im selben Moment über den Gedanken.
„Sieh es dir selber an. Wilszek ist oben."
Wolf kratzte sich an der Wange. Dort prangte ein großes Pflaster. Vor fast einer Woche hatte er sich so übel beim Rasieren geschnitten, dass er genäht werden musste. Er gähnte und machte sich auf den Weg. Im selben Moment dachte Baumgartner, er hätte ihn warnen sollen, doch jetzt war es zu spät. Stattdessen versuchte er, sich zu konzentrieren.
Das Mädchen, die Studentin.
Er wollte gerade zu ihr hinübergehen, als er hinter sich eine bekannte Frauenstimme hörte. „Herr Baumgartner, einen Moment!"
Baumgartner seufzte. Das Letzte, was er jetzt brauchte, war die Presse. „Stimmt es, Sie haben die Leiche einer Frau gefunden?"
„Sie sind zu früh", stellte er fest, ohne sich umzudrehen. „Kommen Sie später wieder."
„Wann?"
„Das weiß ich noch nicht."
Sie ließ nicht locker. „Es soll sich um außergewöhnliche Umstände handeln, stimmt das? Mein Chef hat den Redaktionsschluss extra noch um eine Stunde verschoben."
Baumgartner wandte sich um. Sie trug eines ihrer bunten Kleider, eine kurze Jeansjacke und noch höhere Schuhe als sonst. Er wunderte sich, dass sie nicht fror.
„Sie sind doch im Mailverteiler, nicht wahr? Dann bekommen Sie ohnehin die Presseaussendung. Warten Sie noch eine Stunde."
„Kommen Sie schon!", sagte sie beschwörend. „Geben Sie mir irgendwas! Sagen Sie mir nicht, dass das umsonst war. Ich bin extra hergefahren."
Er sah sie an. „Das tut mir leid für Sie, aber wir wissen noch nichts. Wenn Sie jetzt berichten, riskieren Sie eine Ente. Rufen Sie mich morgen Vormittag an, dann weiß ich mehr."
Sie wirkte enttäuscht, fragte aber nicht weiter nach. Sie sah sich um und Baumgartner befürchtete kurz, dass sie sich ein anderes Opfer suchen würde, doch schließlich räumte sie das Feld.
Wallner war manchmal lästig, aber Baumgartner konnte ganz gut mir ihr, vielleicht zu gut. Lass dich nicht ausnutzen, hatte Meier gesagt. Aber sie schrieb passable Artikel und hielt sich meistens an die Fakten. Mit ihr konnte man arbeiten, wenn man etwa eine Bitte nach Hinweisen aus der Bevölkerung platzieren wollte. „Graz Kompakt" hatte eine große Reichweite.
In diesem Moment kam ein schweres Motorrad über die gepflasterten Wege gefahren und manövrierte zwischen den Leuten hindurch. Der Fahrer stellte die Maschine neben einer Reihe von Fahrrädern ab, klappte den Ständer aus und nahm den Helm ab. Es war Steger, der Gerichtsmediziner. Baumgartner mochte ihn nicht. Steger trug einen schwarzen Anzug und teuer aussehende Schuhe. Er hängte den Helm auf den Lenker und kontrollierte seine Frisur im Seitenspiegel, dann kam er auf sie zu.
„Baumgartner, dass man Sie wieder einmal trifft! Wie lange ist es her - drei Tage?"
Er lachte laut und begrüßte ihn mit einem festen Händedruck. „Neues Jackett? Steht Ihnen gut!"
„Sie ist oben", sagte Baumgartner und wandte sich ab. Er ging zu der Bank, auf der die Studentin saß.
„Wie geht es Ihnen?" Sie wirkte gefasst. „Geht schon, danke."
„Wie heißen Sie?"
„Margit Lang."
„Mein Name ist Baumgartner. Ich bin vom Landeskriminalamt und leite die Untersuchung. Es tut mir leid, ich kann mir vorstellen, dass das alles sehr unangenehm für Sie ist. Ich habe nur ein paar Fragen, dann können Sie gehen."
Sie nickte, ohne ihn anzusehen.
„Wie haben Sie sie gefunden?", fragte Baumgartner.
„Ich wollte gerade nach Hause gehen, da habe ich im Seminarraum Licht gesehen", erklärte sie. „Ich dachte, dass Carina noch da ist. Sie lernt manchmal dort. Ich habe die Tür aufgemacht, und dann war da überall Blut."
„Was haben Sie dann gemacht?"
„Ich bin zurück auf den Gang und habe überlegt, was ich machen soll. Dann habe ich gedacht, dass ich nachsehen muss, was da passiert ist und ob jemand verletzt ist."
„Sie sind hineingegangen?"
„Ja", sagte sie und sah ihm in die Augen. „War das falsch?"
„Nein", beruhigte er sie. „Wir müssen es nur wissen, für die Spurensicherung."
„Ich habe sie liegen sehen", fuhr sie fort. „Ich bin sofort raus und runter ins Freie. Dann habe ich die Polizei gerufen."
„Ist Ihnen dabei jemand aufgefallen?", fragte Baumgartner. „War jemand in der Nähe?"
„Nein, ich kann mich nicht erinnern."
„Die Außentür war nicht abgesperrt?"
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, die war offen."
„Was war davor?", fragte er weiter. „Was haben Sie da gemacht?"
„Ich war einen Stock höher, auf dem Gang. Wir haben am Institut keinen Studierraum, deshalb sitzen wir an den Tischen auf den Gängen."
Baumgartner nickte. „Haben Sie da etwas gesehen oder gehört?"
„Klar", bestätigte sie. „Es waren Leute im Haus."
„Wie lange?"
„Ich weiß nicht. Bis acht ist immer irgendwer hier."
„Ist Ihnen irgendwas Besonderes aufgefallen?"
Sie zögerte. „Da war dieses Geräusch. Ich wusste zuerst nicht -"
„Eine Säge vielleicht?", bohrte Baumgartner nach.
Sie sah ihn an, dann schien sie zu verstehen und zog die Schultern hoch. „Möglich."
„Wann war das?"
„Um dreiviertel neun."
Er holte seinen Notizblock heraus und hielt die Uhrzeit fest.
„Müssen Sie das Institut jetzt sperren?", fragte sie.
Baumgartner sah von seinem Notizbuch auf. „Warum?"
„Ich habe übermorgen eine wichtige Prüfung. Ich darf da auf keinen Fall durchfallen."
„Können Sie nicht zu Hause lernen?", fuhr Baumgartner sie an. Im selben Moment bereute er, das gesagt zu haben. Das Leben ging weiter, und er dachte daran, wie spät sie noch auf dem Institut gewesen war.
„Der Seminarraum wird noch länger gesperrt sein", antwortete er milder, „aber ich denke, dass Sie morgen wieder ins Haus dürfen."
Sie nickte. Hinter sich hörte er eine laute Stimme.
„Danke für Ihre Hilfe", sagte er. „Falls Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte an."
Er gab ihr seine Karte und wandte sich ab.
„Ich sage Ihnen, ich kann mir nicht erklären, wie das passiert ist. Ich habe die Tür abgesperrt, das tue ich immer!"
Der große Mann im schmutzig grauen Mantel musste der Hausmeister sein.
„Aber Sie wussten, dass noch jemand im Gebäude war?", fragte Wolf, der etwas Verbissenes hatte, das zuvor noch nicht dagewesen war.
„Ich mache jedes Mal meinen Rundgang", erklärte der Mann. „Manche Studenten haben einen Schlüssel, die können selber raus. Ich vermute, dass einer von denen vergessen hat, die Tür abzusperren. Oder die Putzleute."
„Kommen Sie, da gehen doch ständig Leute aus und ein", sagte Baumgartner. Der Hausmeister schluckte.
„Niemand wird Ihnen einen Vorwurf machen, weil Sie die Tür nicht abgesperrt haben."
„Aber ich sage Ihnen doch -"
„Im Moment müssen Sie etwas anderes für mich tun", unterbrach ihn Baumgartner. „Wir vermuten, dass es sich bei der Toten um eine Frau aus dem Putztrupp handelt. Kennen Sie die Putzleute?"
Er nickte eifrig. „Sicher. Manchmal sind sie um neun noch nicht fertig."
„Ich würde gern wissen, ob Sie die Frau kennen. Ist es in Ordnung, wenn Sie einen Blick auf ihr Gesicht werfen?"
Die Augen des Hausmeisters wurden größer.
„Sie müssen keine Angst haben. Sie sieht ganz friedlich aus", sagte Baumgartner. Es reichte, wenn er ihm das Gesicht zeigte.
„Gut, in Ordnung."
Baumgartners Handy klingelte.
Es war Meier.
„Hallo. Was gibt's?"
„Was ist passiert?", fragte sie.
„Wir haben alles im Griff", antwortete er knapp. „Komm morgen auf die Universität zum Mathematikinstitut."
„Ist es schlimm?" Baumgartner zögerte.
„Morgen um sieben", sagte er und legte auf.
Zwei müde wirkende Angestellte der „Bestattung Graz" kamen mit einem Metallsarg aus dem Gebäude. Baumgartner kannte sie vom Sehen. Der eine hatte große Blutflecken auf den Ärmeln seiner Jacke. Es musste schwierig gewesen sein, sie in den Leichensack zu heben.
„Einen Moment!", rief Baumgartner. Er sah sich um und stellte zufrieden fest, dass niemand fotografierte. Er fragte sich, ob Wallner eine gute Journalistin war.
Er ließ den Sargdeckel wegheben und sorgte dafür, dass der Leichensack nur ein kleines Stück geöffnet wurde. Dann winkte er den Hausmeister herbei.
Dieser näherte sich langsam. Als er in den Sack sehen konnte, nickte er und wirkte erleichtert. „Die ist vom Putztrupp. Ich glaube, sie heißt Krasniqi."
Baumgartner holte sein Notizbuch hervor und schrieb den Namen auf. „Vorname?"
„Sara. Ohne h."
Baumgartner notierte, klappte das Notizbuch zu und gab den Männern ein Zeichen, dass sie den Sarg wieder zumachen konnten.
„Kann ich jetzt gehen?", fragte der Hausmeister.
„Ja. Aber bitte halten Sie sich zu unserer Verfügung."
„Geht in Ordnung, Herr Kommissar."
„Chefinspektor", sagte Baumgartner und wandte sich Wolf zu.
„Sag Wilszek, ich lege mich eine Stunde hin. Morgen bin ich wieder ansprechbar. Um sieben."
„Was soll ich tun", fragte Wolf. „Soll ich hierbleiben?"
„Mach dir das mit ihm aus", antwortete Baumgartner. „Es reicht, glaub ich, wenn du auf Abruf bereit bist."
Er holte sein Telefon heraus und wollte gerade im Landeskriminalamt anrufen, für eine erste Presseaussendung, als Wilszek aus dem Gebäude stürmte.
„Franz, schau dir das an! Das musst du sehen!"
Er hatte noch seinen Overall und die weißen Überschuhe an, die nach wenigen Schritten schmutzig waren. In der Hand hielt er einen flachen Plastiksack, in dem etwas war, das aussah wie ein Stück Papier.
Baumgartner ging ihm entgegen und betrachtete den kleinen Zettel hinter der transparenten Kunststofffolie.
„Was ist das?"
„Lies!", sagte Wilszek.
Da sah Baumgartner, dass dort etwas geschrieben stand.
23 Uhr 50
Müde betrat Baumgartner seine Wohnung in der Jakob-Gschiel-Gasse, einen Kilometer nördlich vom Landeskriminalamt. Das Licht war ausgeschaltet und als er es aufdrehte, sah er, dass ein Paar von Isabels Schuhen fehlte. Baumgartner ging in die Küche, ließ sich ein Glas Wasser ein. Er legte sein Jackett ab, setzte sich mit seinem Notizbuch an den Esstisch und begann, alle Fakten zu notieren, die er heute erfahren hatte.
Als er fertig war, klappte er das Buch zu und lehnte sich zurück. Er sah Isabels letzten Einkaufszettel auf dem Kühlschrank kleben. Milch, stand dort, Nudeln, Waschmittel. Er stand auf, öffnete den Kühlschrank und fand zwei Milchpackungen. Die hatte sie also noch gekauft. Baumgartner ging nachsehen, wie viel Wäsche er hatte, und fand drei Hemden und zwei Hosen. Unterwäsche war genug da. Er ging zurück und sah nochmals in den Kühlschrank. Ob er für die nächsten Tage genug zu essen hatte? Vielleicht sollte er von jetzt an besser ins Gasthaus gehen.
Eine Stunde später lag er im Bett und hatte einen sauren Geschmack im Mund. Er fühlte sich erschlagen und war doch unfähig zu schlafen. Ein Mord zerstört immer mehr als das Leben eines Menschen, dachte er. Er zerstört die schöne Oberfläche des Alltags der Leute. Es gibt so viele Dinge, die in den Menschen schlummern, die zum Teil gesagt, aber nicht ausgeführt, gedacht, aber nicht gesagt werden, oder aber den Menschen gar nicht bewusst sind. Der Anstand verbietet es - oder einfach die gesellschaftlichen Konventionen. Manchmal fehlt womöglich nur der Mut, eigene Entscheidungen zu treffen, Neuland zu betreten. Baumgartner befürchtete, dass oft wirklich nur der letzte Grund den Gewaltausbruch verhinderte.
Ein Mord ist immer auch etwas Mutiges, dachte er. Wie viele Leute hatten die Nerven, das zu tun, was er heute gesehen hatte? So jemand bricht mit allen gesellschaftlichen Konventionen und befreit sich. Diesen Mut fürchten und bewundern die Leute. Sie spüren eine kompromisslose Ehrlichkeit, eine ehrliche Botschaft. Die er verstehen musste.
Ihm fiel auf, dass das seltsame Gefühl im Magen immer noch da war. Es war schwächer geworden, aber nicht verschwunden. Das Gefühl war gekommen, als er versucht hatte, zur Routine überzugehen. Normalerweise war die Routine etwas Tröstliches, etwas, woran man sich festhalten konnte. Baumgartner befürchtete, dass das diesmal nicht funktionieren könnte. Der Täter hatte ihnen eine Nachricht hinterlassen. Dieser Gedanke, dass er getötet hatte, um etwas mitzuteilen, ließ den Stein so schwer werden, dass es schmerzte.
Als er den Zettel in dem Plastiksack entgegengenommen hatte, war ihm sofort klar gewesen, warum Wilszek so aufgeregt war. Darauf stand, sorgfältig mit dem Computer ausgedruckt, ein einziger Satz:
dies ist noetig um auf | die wirklichkeit | aufmerksam zu machen
Mittwoch, 6 Uhr
Baumgartner schreckte aus dem Schlaf hoch. Er brauchte einen Moment, um sich zu orientieren, dann drückte er den Wecker ab, der ein vertrautes, schreiendes Piepen von sich gab. Draußen war es noch völlig dunkel. Er musste sich überwinden, um die Füße unter der Decke hervorzuschieben und auf den kalten Parkettboden zu stellen. Er rieb sich die Augen. Isabel war nicht gekommen.Wenige Minuten später saß er bei einer Tasse Kaffee am Küchentisch und hörte dem Geräusch des Kühlschranks zu. Der heiße Milchkaffee wärmte ihn, und er gab sich diesem Gefühl hin. Die Zeitung lag zusammengefaltet neben ihm auf dem Tisch. Der neue Fall war zuerst nur eine dumpfe Ahnung und es dauerte einige Minuten, bis die Details vor seinem inneren Auge wieder erschienen. Er trank seinen Kaffee in einem Zug leer, zog den Mantel an und machte sich auf den Weg, froh, dass er so etwas wie Tatendrang verspürte.
7 Uhr
Als Baumgartner auf der Universität eintraf, hatte sich eine erste Ahnung von Helligkeit über den Platz vor dem Mathematikinsititut gelegt und hinter einigen Fenstern brannte Licht. Baumgartner mochte diesen frischen Geruch wenn es noch sehr früh war, doch heute roch es anders, mehr nach altem Rauch und Autoabgasen. Der Verkehr auf der benachbarten Heinrichstraße schwoll bereits an. Geduckte Gestalten kamen vorbei und drehten sich steif nach der Absperrung um, die Wilszek vor dem Institutstor angebracht hatte.
Meier wartete vor dem Eingang, fest in ihren Mantel eingewickelt.
„Warst du schon oben?", fragte er.
Sie nickte. Ein kaum merkliches Zittern fuhr durch ihren Körper.
„Weißt du schon, was du tun willst?", erkundigte sie sich.
Er dachte kurz nach, dann sagte er:
„Der Hausmeister hat die Tote identifiziert. Sie heißt Sara Krasniqi. Wir müssen das noch bestätigen. Schau bitte nach, ob sie vermisst wird und besorg mir ihre Daten, nächste Angehörige, Wohnadresse. Wilszek wird eine Liste von Leuten brauchen, die in diesem Gebäude aus und ein gehen. Wir müssen sie fragen, ob sie freiwillig ihre Fingerabdrücke hergeben. Das soll Gregor machen. Am Nachmittag machen wir eine erste Besprechung. Fünfzehn Uhr. Sag den anderen Bescheid."
„Geht in Ordnung", antwortete sie und wandte sich ab, um zu telefonieren. Sie schien froh, dass sie etwas zu tun hatte. Er wusste, dass sie ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie gestern nicht mehr gekommen war. Er hätte ihr gesagt, dass es keinen Grund dafür gab. Sie wusste das, deshalb sagte sie nichts.
Widerwillig näherte er sich dem Eingang, schlüpfte unter der Absperrung hindurch und ging hinauf zum Tatort, wo Wilszek noch immer am Arbeiten war. Ein junger Mann war diesmal mit dabei. Die große Blutspur an der Wand hatte sich braun verfärbt und erinnerte nun an die Reifenspur eines Autos, das durch Schlamm gefahren war. Wilszeks Assistenten beschäftigten sich mit den Wänden, während er selbst in einer Ecke kniete. Das bedeutete, dass sie beinahe fertig waren. Wilszek arbeitete sich immer spiralförmig von der Leiche aus in den Raum vor.
„Wie sieht es aus?", fragte Baumgartner. „Habt ihr was?"
Er richtete sich mühsam auf.
„Was glaubst du? Ein Seminarraum eben. Ich würde sagen, wir haben Fingerabdrücke und DNA von so ziemlich allen Mathestudenten. Du wirst mir von allen Proben besorgen müssen."
„Rede mit Gregor, der macht das."
Wilszeks Augen waren nur noch schmale Schlitze. Er blinzelte oft, so, als blendete ihn das schwache Morgenlicht von den Fenstern, und lachte leise.
„Gregor und hundert Mathematiker. Das wird sicher witzig."
„Erklär ihm einfach genau, was du brauchst", sagte Baumgartner.
Sie schwiegen.
„Was ist hier passiert?", fragte Baumgartner. Es klang, als ob er mit sich selbst sprach.
„Das musst du herausfinden, Franz. Ich kann es dir nicht sagen."
„Sag mir trotzdem, was du denkst."
Wilszek ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. „Er muss der Frau aufgelauert und sie dann irgendwie betäubt haben", meinte er. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass es keinen Kampf gab. Die Sache lief recht friedlich ab, wenn man das so nennen kann. Ich glaube nicht, dass jemand etwas gehört hat."
„Vielleicht hat er sie gekannt?", schlug Baumgartner vor.
„Möglich. Aber sie hätte sich trotzdem gewehrt."
Baumgartner nickte. „Und dann?"
„Dann kommt der Teil, den ich nicht verstehe."
„Hast du Müllsäcke gefunden oder irgendetwas Ähnliches?"
„Zum Einpacken, meinst du? Tut mir leid, keine Müllsäcke. Es ging beim Zerschneiden nicht um den Transport. Ich glaube, er wollte sie liegenlassen. Sonst wäre ja auch die Nachricht sinnlos."
„Also aggressive Mutilitation", stellte Baumgartner fest.
„Ich fürchte, davon musst du ausgehen. Er wollte etwas mitteilen. Nicht nur mit der Nachricht, auch mit dem Schnitt."
Das bestätigte nur Baumgartners Befürchtung. „Was ist mit dem Stickstoff?"
„Das ist interessant! Damit kannst du den Raum der Verdächtigen eingrenzen. Die Frage ist nicht nur, wer Zugang dazu hatte. Mich würde auch interessieren, wer auf so eine Idee kommt und warum. Dafür braucht man bestimmte Vorkenntnisse."
Baumgartner stand da, die Hände in den Taschen seines Mantels, und starrte auf den Boden.
„Gut", sagte er. „Wir treffen uns am Nachmittag um drei. Wär gut, wenn du auch vorbeikommst und den anderen das erzählst, was du mir gerade gesagt hast. Vielleicht hast du ja bis dahin noch ein paar interessante Spuren für uns."
„Mach ich", antwortete Wilszek. „Dann werd ich einmal schauen, dass ich ein paar Stunden Schlaf kriege."
„Tu das. Bis später", sagte Baumgartner und ging.
Als er vor die Tür trat, entdeckte er dort neben Meier die große Gestalt von Mario Sukitsch, dem leitenden Beamten des Landeskriminalamts - seinen Chef. Er schien seine Haube vergessen zu haben, seine Glatze war gerötet von der Kälte. Er trug wie immer seinen Leatherman außen am Gürtel.
„Guten Morgen, Franz. Wie sieht es aus?"
Meier ging zur Seite, um zu telefonieren, und Baumgartner erklärte ihm, was sie wussten. Sukitsch nahm es konzentriert auf.
„Gut", sagte Sukitsch. „Hast du alles, was du brauchst?"
„Ja, derzeit schon."
„Wenn du irgendwelche Hilfe benötigst, sag mir Bescheid."
„Was meinst du?", fragte Baumgartner.
Sukitsch tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Brust.
„Du weißt, dass diese Sache nicht vergleichbar ist mit dem, was du bisher gemacht hast. Das muss dir klar sein! Ich bin lange dabei, aber ich glaube nicht, dass ich so etwas schon einmal gesehen habe. Etwas Derartiges gibt es normalerweise nicht in Graz."
„Warum sollte es etwas Derartiges in Graz nicht geben?", entgegnete Baumgartner.
Sukitsch sah ihn belustigt an. „Ich sage ja nur, wenn du Sondermittel brauchst, externe Spezialisten, irgendwas, dann kläre ich das. Ich regle das mit dem Staatsanwalt. Du konzentrierst dich ganz auf den Fall."
Er legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Du machst das!", sagte er.
Meier kam zurück.
„Ich habe eine Adresse."
Baumgartner holte sein Notizbuch heraus.
„Elisabethinergasse 22", diktierte sie. „Gabriele Koren. Eine Wohngemeinschaft, hat man mir gesagt."
Er klappte geräuschvoll sein Notizbuch zu.
„Ich fahr hin", sagte er.
8 Uhr 35
Baumgartner saß beim Sorger in der Annenstraße und aß ein kleines Frühstück. Sein Notizbuch hatte er offen vor sich liegen, ohne etwas hineinzuschreiben. Er dachte über Sukitschs Bemerkung nach. Sein Chef hatte recht. Etwas grundlegend Neues war an diesem Fall. Etwas Absurdes, Fremdes, dachte er unwillkürlich. Etwas, das nicht hierher passte in dieses verträumte Städtchen im äußersten Südosten des deutschsprachigen Raums, dem man mediterranen Charme nachsagte.
Nebenbei ärgerte er sich über die Art, wie Sukitsch es gesagt hatte. Als ob er seiner Aufgabe nicht gewachsen wäre. Und doch kannte er Sukitsch gut genug, um zu wissen, dass dieser seine Gründe hatte.
Ihm fiel sein erstes Gespräch mit Oberst Sukitsch ein. Er war ungewöhnlich nervös gewesen. Normalerweise reagierte er Ranghöheren gegenüber nicht so. Einmal hatte er der Innenministerin die Hand geschüttelt. Dabei war er ganz ruhig gewesen.
Baumgartner hatte gehört, dass Sukitsch in seiner Jugend als Türsteher gearbeitet hatte, bevor er zur Polizei gekommen war. Vielleicht war es das. Diese Leute gaben einem immer das Gefühl, etwas Unrechtes getan zu haben.
Oberst Mario Sukitsch hatte ihn unter den dicken Knochenwulsten, auf denen seine Augenbrauen thronten, gemustert. Er hatte laut Baumgartners Biografie vorgelesen: Volksschulzeit, Unfalltod der Eltern, die Jahre, die er bei seinem Großvater gelebt hatte, die Zeit im Internat und der Wechsel in die Hauptschule. Dann hatte er die Mappe zugeklappt. Seine Glatze hatte glänzt, als er sich zurückgelehnt und die Arme verschränkt hatte, wobei die Adern auf den Unterarmen wie Kabel hervorgetreten waren.
„Worum geht es Ihnen, Baumgartner?", hatte Sukitsch plötzlich gefragt. „Ich habe hier Ihre Zeugnisse, die sind gut. Ich bin sicher, Sie können ein wertvoller Mitarbeiter sein. Aber mich würde interessieren, warum Sie sich das antun wollen. Haben Sie romantische Vorstellungen von der Polizeiarbeit?"
Baumgartner war überrascht gewesen von dieser Frage.
„Nein, habe ich nicht", hatte er ruhig geantwortet. „Ich bin seit drei Jahren in der Polizeiinspektion Köflach."
„Sehen Sie sich die amerikanischen Krimis an, es stimmt vieles, was dort gezeigt wird. Die Polizisten, die sich mit Gewaltverbrechen auseinandersetzen, sind oft einsame, frustrierte Menschen, viele von den wirklich guten zumindest. Nur eines ist anders: Es werden viel weniger Fälle wirklich aufgeklärt als im Fernsehen. Und es ist viel mehr Arbeit. Mich würde interessieren, ob Sie das wirklich wollen. Haben Sie gute Gründe für Ihre Entscheidung?"
Baumgartner war Sukitschs Blick ausgewichen. Ihm war dieses Verhör unangenehm gewesen, mehr noch, er war verärgert gewesen.
„Ich will etwas Sinnvolles tun", hatte er gesagt.
„Sinnvoll für Sie selbst oder für die anderen?"
Baumgartner hatte ihn angesehen. „Wenn es für die anderen sinnvoll ist, ist es auch für mich sinnvoll."
Sukitschs Miene war unergründlich gewesen.
„Sind Sie ein Gutmensch", hatte er weitergefragt, „wollen Sie die Welt retten?"
Baumgartner hatte die Zähne zusammengebissen.
„Sie etwa nicht?", hatte er entgegnet.
Sukitsch hatte gelacht. „Reden wir weiter von Ihnen. Ist es das? Sie wollen die Welt zu einem besseren Ort machen? Das ist herzig, Baumgartner. Aber es muss Ihnen klar sein, dass Sie nichts Wesentliches bewirken können, schon gar nicht bei der Polizei."
„Wo sonst, wenn nicht hier?", hatte Baumgartner zurückgegeben, lauter, als er beabsichtigt gehabt hatte.
„Alles, was Sie tun, wird nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sein. Und Sie werden oft Grenzfälle erleben, wo Sie nicht mehr wissen, was richtig ist. Sie werden unangenehme Dinge tun müssen. Das Recht setzt man nicht immer durch, indem man nett zu den Leuten ist. Manchmal muss man bereit sein, Opfer zu bringen. Man wird selbst Gewalt anwenden müssen, und wissen Sie was, es wird Ihnen vielleicht Spaß machen. Haben Sie darüber schon einmal nachgedacht?"
„Ich will einfach meine Arbeit machen", hatte Baumgartner gesagt, „ohne mich dafür rechtfertigen zu müssen."
Sukitsch hatte genickt. „Sie sind wirklich ein Gutmensch. Sie werden damit einfahren, Baumgartner, das kann ich Ihnen jetzt schon sagen."
„Heißt das, Sie nehmen mich nicht auf?"
„Doch, das tue ich."
Oberst Sukitsch war aufgestanden und hatte ihm die Hand gereicht. Baumgartner hatte sie ergriffen, ohne recht zu verstehen, was das alles sollte.
„Willkommen bei der Mordgruppe."
Das war vor drei Jahren gewesen. Inzwischen war Baumgartner zum Leiter der Mordgruppe aufgestiegen. Und die Prophezeiung des Chefs war nicht eingetreten. Baumgartner hatte das seltsame Gespräch nie wirklich verstanden. Entgegen seinem rauen Auftreten hatte sich Sukitsch als besonnen und fair erwiesen und Baumgartner immer unterstützt. Seine Warnung hatte er aber nie zurückgenommen und manchmal setzte er in Baumgartners Gegenwart noch diesen forschenden, belustigten Blick auf.
Er sollte das ernst nehmen, was Sukitsch gesagt hatte. Wahrscheinlich brauchte er wirklich Hilfe bei diesem Fall. Es gab Anzeichen, dass keines der sonst üblichen Motive vorlag. Keine Rache, keine Eifersucht, sondern etwas ganz anderes. Vielleicht brauchte er einen Psychologen. Womöglich war es das, was Sukitsch sagen wollte. Gerd Schaffer war gerade in den USA auf einem Kongress und würde seinen Aufenthalt wohl nicht abbrechen wegen dieser Sache, erst recht nicht nach den Differenzen, die es gegeben hatte, obwohl das auch schon wieder zwei Jahre her war. Schaffer trauerte immer noch Kampl nach, zu dem er ein besonderes Verhältnis gehabt hatte. Vielleicht sollte Baumgartner die Gelegenheit nutzen und stattdessen Vera Königshofer hinzuziehen. Darüber sollte er nachdenken.
Er trank seinen Kaffee aus und machte sich auf den Weg in den Bezirk Gries. Baumgartner parkte seinen Dienstwagen in der Elisabethinergasse vor einem türkischen Friseurladen und trat hinaus in die immer noch eisige Morgenluft. Ein torfiger Dunst wie von einem Fischteich stieg vom Mühlgang auf, dessen Wasserstand geringer war als sonst. Aus einem Lokal gegenüber, auf dem neben der Aufschrift „Kulturverein Ghana" noch Reklametafeln einer Spielhalle prangten, drang Gelächter und Geschnatter in einer afrikanischen Sprache. Zwei dunkelhaarige Burschen auf zu großen Fahrrädern querten die Straße und riefen einander mit kehligen, heiseren Stimmen Dinge zu, die er nicht verstand. Baumgartner wich ihnen aus und machte sich auf den Weg. Gries war ihm angenehmer als die Universität, trotz seines schlechten Rufs. Er hatte eine Schwäche für diese vernachlässigten Teile der Stadt. Die Viertel, wo die Leute weniger begütert waren und sich verschiedenste Kulturen mischten, die einander alle gleich fremd waren. Wenn etwas vernachlässigt wurde und dabei nicht schlimmer war als Gries, hatte das etwas Beruhigendes. Es sagte ihm, dass er als Polizist nicht ständig dahinter sein musste, um die Ordnung sicherzustellen.
Er sah die Gasse entlang. Er glaubte, zwei neue Kebabbuden zu entdecken, die letztes Mal noch nicht dagewesen waren. Die Stadt verändert sich, dachte er. Hier sieht man es am besten. Er fand das Haus, dessen ausgebleichte gelbe Fassade von schwarzen Wasserstreifen durchzogen war, die von den Regenrinnen der Balkone nach unten führten. Die Eingangstür war offen. Die gesuchte Wohnung befand sich im zweiten Stock. Er läutete, und nach wenigen Sekunden wurde aufgemacht.
Das Erste, was ihm auffiel, war der Geruch. Wie ein orientalischer Gewürzladen, dachte er. Er glaubte, einige unbenennbare Düfte zu erkennen, die man nur in indischen Restaurants erlebte, und außerdem Weihrauch.
Das Mädchen, das vor ihm stand, war klein und schlank, mit kurzen Beinen und runden Hüften, um die sie ein fein gemustertes Tuch in Erdfarben geschlungen hatte. Aus ihren Jeans ragten nackte Füße, die so gebräunt waren wie die Arme in dem ärmellosen Batikshirt. Sie hatte lange, unregelmäßig dicke Dreadlocks, die hinter dem Kopf zusammengebunden waren - so viele, dass der Rest des Körpers noch kleiner wirkte. Auf dem runden Gesicht war ein offenes Lächeln.
„Ja?", sagte das Mädchen.
„Grüß Gott, mein Name ist Baumgartner, ich bin vom Landeskriminalamt." Er zeigte seinen Ausweis. Sie beugte sich vor, um ihn genauer zu betrachten.
„Bin ich hier richtig bei Sara Krasniqi?"
„Ist leider nicht da", antwortete sie. Baumgartner bemühte sich um einen ruhigen, höflichen Ton.
„Darf ich kurz reinkommen?"
Sie sah ihn prüfend an, dann trat sie zur Seite.
Baumgartner betrat einen winzigen, dunklen Vorraum. Er folgte ihr in die Küche, wo ein Topf dampfend auf dem Herd stand. Sie nahm einen Kochlöffel und rührte um. Die Wand war bunt bemalt, in warmen Farben. Die ganze Wohnung sah abgewohnt aus und war liebevoll eingerichtet: Es gab selbst gebastelte Kerzen, einen Aschenbecher aus einer Bierdose, einen Ikea-Sessel und zwei andere, die mindestens 20 Jahre alt waren und die man rot gestrichen hatte. Auf einem Regal hingen verstaubte Faschingsgirlanden.
„Sie sind die Mitbewohnerin von Frau Krasniqi?", fragte Baumgartner.
Sie lachte, drehte sich zu ihm um und reichte ihm eine warme, schlaffe Hand. „Gabi Koren." Ihre Stimme hatte etwas Singendes.
Sie ahnt nichts, dachte Baumgartner. Er überlegte, wie er beginnen sollte.
„Wo ist Sara?"
„Ich weiß nicht", antwortete sie. „Sie ist gestern nicht nach Hause gekommen."
Baumgartner nickte.
Nun drehte sie sich um. „Was wollen Sie von Sara? Stimmt irgendetwas nicht?"
„Das wissen wir noch nicht sicher", erklärte Baumgartner. „Wir müssten mit ihren Angehörigen sprechen. Haben Sie da einen Kontakt?"
„Sara hat keine Angehörigen", sagte Koren bestimmt.
„Wie meinen Sie das?", hakte Baumgartner nach.
„Sie stammt aus dem Kosovo. Sie hat keinen Kontakt mehr dorthin."
„Und in Graz gibt es niemanden?"
Sie rührte in ihrem Topf. „Wir haben nur uns", sagte sie. „Dann muss ich Sie bitten, mit mir mitzukommen."
„Warum?"
Baumgartner zögerte. „Wir haben eine tote Frau gefunden. Es könnte sich dabei um Frau Krasniqi handeln."
Nun sah sie ihn scharf an. Suchend.
„Das kann nicht sein", stellte sie fest und wandte sich wieder ihrem Topf zu.
„Warum?"
Sie ignorierte die Frage.
„Können Sie mir ihr Zimmer zeigen?", fragte Baumgartner vorsichtig.
Koren wurde wachsam. „Was wollen Sie dort?"
„Ich will mich umsehen."
Sie schien zu überlegen.
„Ich muss sonst einen Durchsuchungsbefehl besorgen", erklärte Baumgartner. „Das dauert und ist eine Menge Aufwand. Es wäre leichter, wenn Sie mir einfach sagen, wo das Zimmer ist, und ich werfe einen kurzen Blick hinein. Ist das in Ordnung?"
Sie verschränkte die Hände und schien einen Moment zu überlegen. Dann nickte sie.
„Aber greifen Sie nichts an!"
„Wo?", fragte er.
Sie ging an ihm vorbei in den Vorraum und zeigte ihm eine braune Tür. Baumgartner wartete, bis sie zurück zum Herd ging, und trat ein.
Hier roch es bewohnt, dachte er. Wie ein Raum, der zu wenig gelüftet wurde. Das Zimmer war winzig, bot kaum Platz für ein Bett und einen Schreibtisch, auf dem ein alter Laptop stand. Es wirkte neutraler als die Küche. Was sofort auffiel, war ein halbes Dutzend Stofftiere auf dem Bett, die alle im Kreis auf einer alten Tagesdecke saßen und Baumgartner anstarrten. Dazwischen ein roter, herzförmiger Ikea-Polster, aus dem links und rechts zwei Arme wuchsen. Er schloss die Tür wieder.
Als er zurück in die Küche kam, hatte sie ihr Lächeln wiedergefunden.
„Stellen Sie bitte den Herd ab", sagte er. „Sie müssen mitkommen."
Sie rührte weiter. „Warum?"
Baumgartner wusste nicht, was er sagen sollte. Weil deine Freundin in der Mitte auseinandergesägt wurde?
Sie überlegte und schaltete die Herdplatte ab.
„Von mir aus", sagte sie.
„Außerdem brauchen wir ein Foto von Ihrer Freundin", fügte Baumgartner hinzu. „Haben Sie eines?"
Sie fischte einen kleinen Rahmen von einem Regal über dem Esstisch, nahm das Foto heraus und hielt es ihm lächelnd hin.
„Danke."
Sie gingen in den Vorraum, wo Koren einen roten Filzmantel und einen grünen Schal vom Haken nahm. Sie schlüpfte in zu große Wollsocken und braune, hohe Lederschuhe.
„Sie wirken nervös", sagte sie plötzlich, als sie wenig später neben ihm im Auto saß. „Viel negative Energie."
Er brauchte einen Moment, bis er verstand, was sie gesagt hatte. „Wie meinen Sie das?"
„Sie sollten sich das anschauen lassen. Man kann krank werden davon. Ich habe nämlich einen Blick dafür. Ich mache Energiearbeit, müssen Sie wissen."
Er nickte und wartete, bis die Ampel grün wurde. Beim Losfahren gingen ihm kurz die Reifen durch.
9 Uhr 15
Nach fast 20 Minuten Schweigen im Stop-and-go des Frühverkehrs erreichten sie das Landeskriminalamt in der Straßganger Straße. Baumgartner rollte mit seinem Dienstwagen durch die Nebeneinfahrt in der Grottenhofer Straße und nickte dem Portier zu, der gestresst aussah. Seit einigen Monaten war hier der provisorische Haupteingang, weil an der Straßganger Straße das neue Gebäude errichtet wurde. Es war an der Zeit: Der Komplex aus den Siebzigern, in dem sie derzeit saßen, wurde langsam etwas muffig. Er erinnerte an die drei Grazer Kasernen, die sich alle in unmittelbarer Nachbarschaft des Landeskriminalamts befanden. Als Baumgartner nach dem Wehrdienst in der Gablenz-Kaserne in die Polizeischule übersiedelt war - nur ein Stockwerk unter seiner jetzigen Kanzlei - hatte er deshalb auch das ungute Gefühl gehabt, weiterhin Soldat zu sein. Erst als sich der schulische Erfolg eingestellt hatte, durch seine klare Auffassungsgabe und sein überraschendes Abschneiden am Schießstand, war das Gefühl gewichen und hatte einer Zufriedenheit Platz gemacht, die er bis dahin nicht gekannt hatte. Erst zu diesem Zeitpunkt war er endgültig sicher gewesen, dass er Polizist werden wollte. Baumgartner ging mit Koren im Schlepptau zum Lift, vorbei an verblichenen, großformatigen Fotos von polizeiinternen Sportveranstaltungen - Schwimmen, Pistolenschießen, Bergsteigen. Sie fuhren in den dritten Stock, umrundeten einen großen Lichtschacht, der sich bis hinab ins Erdgeschoß erstreckte, passierten Sukitschs Tür und betraten gemeinsam die Kanzlei der Mordgruppe.
Baumgartner bat Koren, auf einen der Stühle in der Nähe des Eingangs Platz zu nehmen. „Bitte, warten Sie hier."
Wolf sah von seinem Tisch auf. Vor ihm lag seine Glock 19, zerlegt in ihre Einzelteile, zwischen einem guten Dutzend eng beschriebener gelber Post-its. Seine Hände bewegten sich präzise, fast liebevoll, als er mit einem Tuch das schwarze Plastik rieb. Baumgartner sah sich nach Meier um, die telefonierte. Als sie ihn sah, nahm sie das Telefon vom Ohr und hielt die Sprechmuschel zu.
„Franz, Steger fragt, wo du bleibst. Er will mit der Obduktion beginnen."
„Sag ihm, er soll warten", befahl Baumgartner.
„Er sagt, er hat eine Gruppe Studierende, die zusehen will. Er kann sie nicht warten lassen."
„Studenten?", fragte Baumgartner.
Sie zögerte. „Was soll ich ihm sagen?"
„Dass er warten soll."
Meier nickte.
Baumgartner wandte sich Wolf zu. „Wie läuft es bei dir? Hast du die Liste für Wilszek?"
„Die Sekretärin des Instituts schreibt sie gerade zusammen", antwortete Wolf und baute seine Dienstwaffe zusammen. „Ich warte auf die Mail."
Baumgartner drehte sich um und ging zurück zu Koren, die etwas verloren dort saß und aus den Augenwinkeln zu Wolf und seinem Putzritual hinüberspähte.
Da drehte sich Baumgartner noch einmal um. „Gregor? Schick mir einen Streifenwagen zur Gerichtsmedizin. Am liebsten diesen Blaschek, wenn er Zeit hat."
Wolf wartete auf eine Erklärung und als er keine erhielt, nickte er.
Baumgartner wandte sich an Koren. „Kommen Sie, gehen wir."
„Wohin?", fragte sie.
„Sie müssen uns bei der Identifizierung helfen."
9 Uhr 55
„Warten Sie draußen", sagte Baumgartner und trat in den Seziersaal. Dort stand bereits eine Gruppe junger Leute mit weißen Kitteln um einen metallenen Tisch, auf dem die nackte, blasse Leiche lag. Das Blut hatte man abgewaschen, nur noch die Ränder der klaffenden Wunde waren rot. Steger war auch da. Er entdeckte Baumgartner.
„Da sind Sie ja. Darf ich vorstellen -"
„Kommen Sie her", unterbrach ihn Baumgartner schroff.
Er zögerte und entschuldigte sich bei seinen Studenten.
„Was soll das?", fuhr Baumgartner ihn an.
„Was meinen Sie?", fragte Steger.
„Was ist mit den Studenten hier?"
„Sie machen bei mir eine Vorlesung", erklärte Steger. „Einführung in die Gerichtsmedizin."
„Schicken Sie sie nach Hause", sagte Baumgartner.
Steger sah ihn kühl an. „Das sind die Gerichtsmediziner von morgen. Wir müssen in die Zukunft investieren. Ob Sie das verstehen, ist mir ehrlich gesagt egal. Sie bleiben."
Die Männer schwiegen. Baumgartner hatte die Fäuste geballt.
„Sie haben mit der Obduktion zu warten, bis ich Zeit habe", sagte Baumgartner. „Sonst mach ich Sie zur Schnecke, das schwöre ich."
Steger hob beschwichtigend die Hände. „Ist ja gut. Nun haben Sie Zeit, oder?"
Da wich die Anspannung aus Baumgartners Körper. „Schicken Sie die Studenten hinaus und decken Sie die Leiche ab. Sie können sie später wieder hereinholen. Ich hab jemanden da, der sie vielleicht identifizieren kann."
Steger warf einen Blick auf seine Studenten, die bereits untereinander tuschelten, seufzte und ging mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.
„So, meine Damen und Herrn, ich muss Sie kurz noch einmal nach draußen bitten. Ja, ich weiß, es dauert alles länger als geplant. Ich fürchte, Hofstätter muss seine Vorlesung heute ausfallen lassen."
Baumgartner ging hinter der Gruppe her, um Koren zu holen. Als sie den Seziersaal mit seinem weißen Neonlicht und dem eigentümlichen Geruch von der Konservierungslösung für Körperpräparate betrat, schien sie noch kleiner zu werden.
„Kommen Sie", sagte Baumgartner leise. „Es dauert nicht lange. Sie haben es gleich hinter sich."
Kurz befürchtete er, sie könnte sich umdrehen und hinauslaufen, aber sie blieb tapfer und näherte sich dem Tisch, unter dem sich die Form der nackten Leiche abzeichnete.
„Ich werde die Decke wegziehen, damit Sie das Gesicht sehen können."
Sie sagte nichts, starrte nur die Leiche an. Da ging Baumgartner hin und schlug die Decke zurück. Sie stieß einen abgehackten Schrei aus. Baumgartner sah, wie sie zurückwich. Er war sich sicher, dass sie ihre Freundin erkannt hatte. In ihren Augen waren Tränen. Nach zwei Schritten stolperte sie über ihre eigenen Füße und fiel nach hinten auf den Boden. Baumgartner deckte das bläuliche Gesicht wieder zu und eilte zu ihr, um ihr aufzuhelfen. Er nahm ihren Arm und wollte sie wieder auf die Beine ziehen, doch sie blieb sitzen und begann laut zu schluchzen.
„Es tut mir leid", sagte Baumgartner und wusste nicht, ob es glaubwürdig klang. „Bitte, Frau Koren. Kommen Sie, gehen wir hinaus."
Sie schlang die Arme um seine Füße und vergrub das Gesicht in seine Hose.
Baumgartner wusste nicht, was er tun sollte. Er hatte Angst, sie könnte ihn umwerfen. „Frau Koren, bitte beruhigen Sie sich!"
Da kam Blaschek mit einem Kollegen durch die Tür herein. Koren heulte hemmungslos.
„Bitte, Blaschek", flehte er, „helfen Sie mir. Bringen Sie sie nach Hause."
Dieser eilte herbei und befreite Baumgartner vorsichtig aus ihrer Umarmung. Er richtete sie auf, doch ihre Knie klappten zusammen. Zu zweit stützten Blaschek und sein Kollege das Mädchen und trugen es hinaus.
Baumgartner versuchte vergeblich, die dunklen Tränenflecken auf seiner Hose wegzuwischen, als Steger wieder hereinkam, gefolgt von seinen Studenten.
„So, ich denke nun können wir beginnen, nicht wahr?"
Irgendjemand kicherte. Baumgartner sagte nichts. Gut gelaunt erklärte Steger das Procedere einer Obduktion und ließ sich manche Details von seinen Studenten ergänzen. „So, sehen wir uns die Tote einmal an. Was fällt Ihnen auf?"
Einige meldeten sich zu Wort. Der Schnitt wurde beschrieben, die zerfransten, aber geraden Wundränder. Jemand erriet, dass eine Säge verwendet worden war. Jemand anderer bemerkte die dunklen, scharfen Würgemale.
„Gut, sehr gut!", lobte Steger. „Sie sehen, wie aufschlussreich bereits so eine oberflächliche Betrachtung ist. Es muss alles protokolliert werden, jedes Detail kann den Ermittlern helfen. Bedenken Sie: Es ist nicht Ihre Aufgabe zu entscheiden, was wichtig ist und was nicht. Das ist die Verantwortung des Chefinspektors."
Er warf Baumgartner einen Blick zu.
„Gut, wenn es keine weiteren Details gibt, können wir mit der eigentlichen Obduktion beginnen."
„Entschuldigen Sie", meldete sich ein blondes Mädchen im Hintergrund, dessen schmales Gesicht fast so blass war wie die Haut der Leiche. Alle drehten sich nach ihr um. Sie errötete.
„Ja?", fragte Steger.
„Es ist wahrscheinlich kompletter Blödsinn. Es kann eigentlich nicht sein."
Ihre Stimme war fester, als ihr Gesichtsausdruck vermuten ließ.
„Was kann nicht sein?", wollte Baumgartner wissen. Etwas in ihm hatte Alarm geschlagen.
„Der Schnitt. Er ist genau rechtwinklig zur Körperachse. Glaube ich."
Steger lächelte. „So ist das, wenn man jemanden zerschneiden will. Das ist der kürzeste Weg."
Einige lachten. Baumgartner sah, dass sie noch nicht fertig war. Sie sah sich hilfesuchend um und als sie seinen Blick fand, fuhr sie fort.
„Es ist gar nicht der kürzeste Weg. Der wäre an der Taille. Außerdem wäre es leichter, unterhalb der Rippen zu schneiden. Der Mörder hat aber die letzte Rippe noch angesägt."
„Reden Sie weiter!", ermutigte sie Baumgartner.
Sie zögerte.
„Sie glauben, es gibt einen besonderen Grund, warum er hier gesägt hat?"
Steger lächelte immer noch und senkte den Blick.
„Sagen Sie es", drängte Baumgartner.
„Der Goldene Schnitt", sagte sie.
Plötzlich war es still im Seziersaal.
„Das ist eine schöne Idee", meinte Steger. „Aber wissen Sie, in der Praxis -"
„Was ist der Goldene Schnitt?", fragte Baumgartner.
„Ein besonders ausgewogenes mathematisches Längenverhältnis", erklärte Steger. „Zwei unterschiedlich lange Strecken. Die kurze verhält sich zur langen wie die lange zur Summe der beiden."
Baumgartner dachte kurz darüber nach.
„Was hat das für einen Sinn?"
„Hier? Gar keinen. Der Goldene Schnitt hat historische Bedeutung. Ein Sinnbild für Perfektion, schön anzuschauen. Finden Sie in alten Gemälden oder im Grundriss von Gebäuden."
„Messen Sie nach", befahl Baumgartner.
Steger holte ein Maßband aus der Tasche und drückte es einem Studenten neben sich in die Hand.
„Bitte."
Es wurde still, als der Student sich ans Messen machte. Nur das Tappen seiner Schritte auf dem Fliesenboden war zu hören.
„Eins fünfundsechzig groß."
„Messen Sie genau", sagte Steger und lächelte die blonde Studentin an. „Wir wollen sichergehen, dass wir uns nicht täuschen, nicht wahr?"
„Gut, also eins fünfundsechzig Komma fünf. Und der Schnitt -"
Er maß.
„Ein Meter und zwei Zentimeter."
„Genau?", fragte Steger.
Er nickte.
„Es stimmt", flüsterte die Studentin.
„Sind Sie sicher?", fragte Baumgartner.
Steger sah in die Runde. „Kann das irgendwer nachrechnen?"
„Sie hat recht." Jemand im Hintergrund hielt sein Smartphone in die Luft. „Fast auf den Millimeter."
„Na, dann müssen wir gratulieren, nicht wahr?", meinte Steger. Sein Lächeln war nicht mehr ganz so breit wie vorher. „Können wir jetzt beginnen?"
Baumgartner blieb, bis die Obduktion beendet war, doch seine Gedanken kreisten nur noch um die Entdeckung der Studentin. Sie hatte etwas gesehen, das ihm entgangen war. Vielleicht sollte er ihre Kontaktdaten aufschreiben.
Der Goldene Schnitt. Ein mathematisches Verhältnis. Was hatte das zu bedeuten?
„Liebe Kollegen, ich darf euch gratulieren. Es war nicht einfach, aber dank unserer Konsequenz und unserer guten Zusammenarbeit hat die Sache ein gutes Ende gefunden. Dafür gab es auch Lob von ganz oben. Manche von euch haben es schon gehört, die Ministerin hat mich heute angerufen und mir persönlich gratuliert. Sie hat unsere innovativen Methoden gelobt - das waren tatsächlich ihre Worte - und betont, dass Cyberkriminalität in Zukunft einen immer höheren Stellenwert einnehmen wird. Ich persönlich denke ja, dass es selbstverständlich ist, dass wir alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, aber wenn jemand besonderes Lob verdient, dann ist es wohl Oliver Brink, der leider schon nach Hause gefahren ist. Es ist gut zu wissen, dass wir ihn auch in Zukunft wieder als Computerexperten holen können, wenn es nötig ist. So oder so, Lob ist uns natürlich lieber als Kritik, und ich denke, wir können zufrieden sein mit unserer Arbeit."
Da und dort zeigte sich ein Lächeln und Hoffnung keimte auf, dass es diesmal weniger schlimm werden könnte. Baumgartners Reden waren berüchtigt, fast so berüchtigt wie sein kaffeebraunes Jackett oder seine weißen Tennissocken in den abgetragenen Schuhen. Wie seine Wachsfigurenfrisur mit dem präzise gezogenen Scheitel. Dabei besagten Gerüchte, dass er keine fünfundvierzig war.
Dann kam es.
„Das Wichtigste ist, dass wir die Ordnung wieder hergestellt haben. Diese Ordnung ist es, die erst dem Einzelnen seine Freiheit garantiert, eine eingeschränkte Freiheit, wie wir wissen, innerhalb bestimmter Regeln, aber die einzige, die möglich ist. Ihr müsst immer daran denken: Diese Ordnung, geschaffen durch die Gesetze der Republik Österreich, ist es, für die wir kämpfen. Die wir mit all unserem Einsatz erhalten und garantieren müssen. Vielleicht erinnert ihr euch daran, wenn ihr wieder einmal die Nacht durcharbeiten müsst und einen motivierenden Gedanken braucht. Ich kann daraus immer wieder Kraft schöpfen. Danke."
Stille. Jemand begann zu klatschen, hörte aber wieder auf, bevor die anderen einstimmen konnten. Baumgartner trank sein Glas leer - sein einziges an diesem Abend, so war es immer - und ging mit einem Käsebrötchen zur Seite. Langsam keimten die Gespräche wieder auf. Sie waren froh, dass sie es überstanden hatten. Das letzte Mal hatte er ihnen erklärt, dass Polizisten Vorbilder zu sein hätten und nicht zu schnell fahren oder falsch parken durften.
Caroline Meier nippte an ihrem Sekt. Sie lächelte still in sich hinein, während sie ihren Chef beobachtete. Dieser Mann hatte gerade einen der schwierigsten Fälle der jüngeren österreichischen Kriminalgeschichte gelöst, aber für ihn selbst schien das keine besondere Bedeutung zu haben. Für ihn ging ein ganz normaler Arbeitstag zu Ende.
Oder doch nicht ganz normal?
Sie hatte das Gefühl, dass irgendetwas anders war als sonst. Bei Baumgartner konnte man das immer schwer beurteilen. Manche hielten ihn für völlig gefühllos, aber das war natürlich Unsinn. Man musste nur genau hinsehen. Baumgartner war keiner, der eine Maske aufhatte oder seine Gefühle unterdrückte. Im Gegenteil.
Meier nahm sich noch ein Brötchen - Salami. Ihre Lieblingssorte, die mit dem Kürbiskernaufstrich, war aus. Der Hosenbund ihrer Jeans spannte bereits, doch sie widerstand der Versuchung, den Knopf zu öffnen. Sie schob sich an den Kollegen vorbei und stellte sich neben Baumgartner, der sein Brötchen kaute und ins Leere starrte.
„Gratuliere, Franz", sagte sie. „Das war dein Meisterstück. Damit hast du einige beeindruckt."
Er schien darüber nachzudenken. „Findest du? Es war am Ende viel zu einfach."
„Bist du nicht zufrieden?", fragte sie.
„Doch, natürlich." Er hob sein Brötchen, um noch einmal abzubeißen, hielt aber inne. „Mich ärgert nur, wie oberflächlich die Leute vom Ministerium sind, genauso wie die Medien. Du weißt, wie es bei dem toten Schüler im Stadtpark war. Dort haben wir wirklich erstklassig gearbeitet. Wir haben alle Möglichkeiten ausgeschöpft, und schnell waren wir außerdem, nur genutzt hat es nichts. Wer immer seinen Tod verschuldet hat, läuft immer noch unbehelligt durch die Stadt."
„Am Ende ist es ausgeglichen", meinte sie. „Man wird eben am Erfolg gemessen."
Er starrte in den Raum.
„Weißt du", sagte er nach einer Weile so leise, dass sie ihn kaum verstand, „manchmal habe ich das Gefühl, dass wir eigentlich machtlos sind."
„Wie meinst du das?", fragte Meier.
„Dass wir nur die erwischen, die es uns einfach machen. Die erwischt werden wollen. Nur jeder dritte Mord wird überhaupt entdeckt, wir alle kennen die Zahlen. Das Einzige, was uns rettet, ist, dass die Menschen im Grunde anständig sind. Sonst wären wir völlig überfordert."
Doch, etwas war anders, dachte sie.
„Klingt das komisch für dich, Anstand? Dieses Wort wird kaum noch verwendet heutzutage. Kennen es die jungen Leute noch?"
„Hattest du Streit mit Isabel?", fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. „Keinen Streit. Du weißt, wir streiten nicht."
„Aber etwas passt nicht, hab ich recht?"
Da schwieg er. Sie hatte sich also nicht getäuscht.
Zufrieden biss sie von dem Salamibrötchen, das ihr nicht schmeckte. Sie wickelte die angebissene Hälfte in die Serviette und legte sie auf den weißen Besprechungstisch, an dem sie lehnten.
„Weißt du was", sagte sie, „ich feiere heute mit Klara die Matura ihres Sohnes. Warum kommst du nicht mit? Es gibt eine Kleinigkeit zu essen, und wir haben einen guten Wein."
„Ich will euch nicht stören."
„Du störst nicht."
Er antwortete nicht, und das war völlig ausreichend.
„So, Leute!", sagte Meier, zur Runde gewandt. „Trinkt aus. Die Brötchen könnt ihr euch einpacken, wenn ihr wollt. Es gibt noch einiges zu tun für morgen. Seht zu, dass ihr die fehlenden Berichte fertig macht. Ihr wisst, so etwas dauert ewig, wenn man es nicht gleich erledigt. Wir sehen uns morgen in der Früh."
Die Leute von der Tatortgruppe warfen sich vielsagende Blicke zu, als Meier ihren Chef hinausgeleitete wie eine Mutter ihr Kind. Man witzelte gern über die sonderbare Beziehung der beiden. Sie wussten nichts von Meiers Privatleben, von ihrer bunten Patchworkfamilie, und das war auch gut so. Sie zog es vor, das bei der Polizei nicht an die große Glocke zu hängen.
20 Uhr
Baumgartner wirkte friedlich, als er in der Wohnung seiner Kollegin am Esstisch saß. Sie wohnte in Sankt Peter, am anderen Ende der Stadt, doch um diese Uhrzeit hatten sie keinen Stau mehr gehabt und waren zügig durchgekommen, trotz Baumgartners defensiver Fahrweise. Caroline Meier und ihre Freundin Klara aßen, tranken und lachten, während Baumgartner hin und wieder an seinem Weinglas nippte, ohne dass sich dessen Inhalt merklich verringerte.
Es hat ihn doch härter erwischt als sonst, dachte Meier. Sie machte sich Sorgen um ihn. Sie war sich nicht sicher, ob ihm bewusst war, wie wichtig Isabel für ihn war.
So eine schöne Frau. Sie war überrascht gewesen, als Baumgartner sie einander vorgestellt hatte. Ein Kauz wie er und diese Frau - sie verstand noch immer nicht, wie das ging. Da hatte es sicher mehrere Interessenten gegeben. Aber sie hatte sich für ihn entschieden.
Genauso wie Sukitsch, der ihm die Leitung der Mordgruppe übertragen hatte, nachdem Kampl in Pension gegangen war. Das hatte auch niemand verstanden. Viel zu jung, hatte es geheißen. Doch Sukitsch hatte ihn gegen seine eigenen Vorgesetzten in Schutz genommen und am Ende recht behalten. Es hatte sich gelohnt und Baumgartner war, spätestens seit dem letzten Fall, der international Aufsehen erregt hatte, vielen Leuten ein Begriff. Der Erfolg war allerdings trügerisch. Er grübelte wieder. Das war kein gutes Zeichen. Baumgartner war nicht so stark, wie sie alle glaubten.
Außerdem sind wir alle müde, dachte sie. Nicht nur er, auch ich. Vor allem ich.
Sie war froh, dass dieser Fall erledigt war. Dass der Druck nun nachließ.
„Franz, du bist so still. Was ist los?"
Klaras Frage ließ sie aus ihren Gedanken aufschrecken.
„Es ist nur der Herbst", antwortete er. „Jedes Jahr das Gleiche."
„Ja, furchtbar, nicht wahr? Man kommt von der Arbeit nach Hause und es ist stockdunkel. Ich kann froh sein, wenn ich in der Mittagspause die Sonne sehe! Da muss man ja depressiv werden."
Er lächelte und Meier sah, dass er in Gedanken ganz woanders war. Sie überlegte, wie sie ihn aufheitern konnte, doch da verwickelte Klara sie wieder in ein Gespräch und brachte sie zum Lachen.
Übertreib nicht, Caroline, ermahnte sie sich. Er ist erwachsen. Und außerdem ist er dein Chef. Bei Ersterem war sie sich allerdings manchmal nicht ganz sicher.
„Ich bin so froh, dass Sven jetzt fertig ist mit dieser Schule", begann Klara. „Im Nachtermin hat es dann doch noch geklappt. Sein Klassenvorstand war ein richtiger Vollidiot. Hat ständig von Disziplin geredet. Ich hab geglaubt, ich hätte mich verhört, als er damit beim Elternsprechtag kam. Der Herr Doktor. Sein Titel war ihm total wichtig. In Biologie! Das finde ich wirklich lächerlich in Österreich."
Sie lachte.
„Was findest du lächerlich?", fragte Baumgartner.
„Dass die Leute solchen Wert auf Titel legen!"
„Na ja, so ein Titel steht für eine gute Bildung", erwiderte Baumgartner. „Das ist etwas Wichtiges, finde ich."
„Ja, vor zwanzig, dreißig Jahren! Schau es dir heute an! Überall Quereinsteiger, Schulabbrecher. Flexibilität ist viel wichtiger. Und selbstbewusstes Auftreten."
„Ja, aber ob das etwas Gutes ist?"
„Willst du lieber die alten Hierarchien? Wo die Leute funktionieren müssen, sich unterordnen? Und dafür kriegen sie dann den Titel, quasi als Stempel. Das ist doch faschistoid, wenn du mich fragst."
Sie ist heute gut drauf, dachte Caroline Meier. Normalerweise lässt sie sich leichter provozieren. Heute sieht sie wieder aus wie eine Kriegerin. Mit ihren kurzen Haaren und der strengen Brille.
„Habt ihr eigentlich schon bei der Kraftwerksinitiative unterschrieben?", erkundigte sich Klara. Baumgartner schien verwirrt. „Was für ein Kraftwerk?"
„Das Wasserkraftwerk, ihr wisst schon. Die Staustufe in der Mur."
„Man kann für das Kraftwerk unterschreiben?", fragte Baumgartner.
Klara machte ein Gesicht, als hätte sie etwas falsch verstanden.
„Wie geht es eigentlich Sven auf seiner Maturareise?", begann Meier.
Da klingelte Baumgartners Telefon. Sofort wurde es still. Er hob ab und am anderen Ende begann jemand zu reden, abgehackt. Meier versuchte zu verstehen, was gesagt wurde, doch es gelang ihr nicht.
„Hmm", brummte er. „Wann?"
Er nickte. „Verstehe. Gib mir noch mal die genaue Adresse."
Er holte seinen Terminkalender aus der Tasche und machte eine Notiz.
„Danke", sagte er und legte auf.
Baumgartner packte Telefon und Kalender wieder ein.
„Was Berufliches?", fragte Klara, der die Spannung ihrer Freundin nicht entgangen war.
„Mord", antwortete er.
Während Klara erschrak, erstarrte Meier.
Baumgartner stand auf und nahm sein Jackett von der Sessellehne.
„Franz, ich glaube, ich hab echt schon zu viel getrunken", sagte Meier.
„Ja, ich weiß. Bleib nur hier, ich mach das. Ich kann noch fahren. Lass dein Handy eingeschaltet und sieh zu, dass du morgen früh bereit bist."
Er sandte ihr ein undefinierbares Lächeln, dann verschwand er.
21 Uhr 10
Das Erste, was ihm auffiel, war die Plane vor der Tür. Eine durchsichtige Plastikplane, wie sie Wilszek von der Tatortgruppe verwendete, sorgfältig ausgebreitet. Was hatte die hier zu suchen?
Er befand sich in einem Gebäude der Karl-Franzens-Universität, das er nicht kannte. Hier waren das Mathematik- und das Anglistikinstitut untergebracht, wie man ihm erklärt hatte. Es war ein moderner Bau, der kühl wirkte neben den klassizistischen Nachbargebäuden. Große Flächen aus weiß gestrichenem Putz und Beton beherrschten die vier Stockwerke hohe Halle mit dem Glasdach, durch das sich eine Stiege diagonal bis ganz nach oben zog.
SR 11.32 stand auf einem Schild neben der Tür im dritten Stock, die angelehnt war. Baumgartner wunderte sich über den scharfen Geruch, der in der Luft lag. Er kannte diesen Geruch, aber er wusste nicht, woher.
Er stieß die Tür mit dem Ellbogen auf und betrat den verstörendsten Tatort seiner bisherigen Karriere.
„Baumgartner, bleib wo du bist!", zischte eine Stimme von innen und ließ ihn im Türrahmen stehen bleiben. Es war Wilszek, der unter Flüchen irgendetwas sagte, das Baumgartner nicht verstand. Der Raum beanspruchte seine ganze Aufmerksamkeit.
Es gab wenig, das Baumgartner überraschen konnte. Er registrierte die Dinge mit der Ruhe eines Chirurgen. Gerade diese Gelassenheit gegenüber dem Unmenschlichen, die seine Kollegen manchmal schockierte, weil sie sie als Gefühlskälte interpretierten, konnte man auch für eine Stärke halten. Es stimmte: Er hasste oder liebte die Menschen nicht übermäßig, was er auf Anfrage auch zugab. Wenn man ihn allerdings fragte, warum er sich dann so für sie einsetzte, verstand er die Frage nicht.
Er war gebannt von dem Bild, das sich ihm bot, und versuchte, es zu verstehen. Es gelang ihm nicht. Jemand hatte auf den Boden erbrochen. Nun erkannte er den Geruch wieder.
„So eine Schweinerei, Baumgartner", sagte Wilszek, der im Overall der Spurensicherung zu ihm an die Tür kam. Er war gebückter als sonst. Martina Holzer kniete hinten im Raum auf dem Boden und sammelte mit einer Pinzette Haare ein. Waren sie nicht normalerweise zu dritt?
„Wenn einer die Nerven nicht hat für den Job, dann soll er es bleiben lassen."
Wilszeks Ton war härter als gewöhnlich. Baumgartner ließ seinen Blick über die Wand mit der riesigen vertikalen Blutspur wandern, die im kalten Licht der Neonröhre eine unnatürliche Farbe hatte.
„Versprich mir eins, wenn du kotzen musst, geh vor die Tür. Bist du allein?"
Baumgartner nickte. Nun verstand er. Einem von Wilszeks Mitarbeitern war schlecht geworden. Deshalb die Plane.
Er konnte es ihm nicht verdenken.
Wilszek reichte ihm weiße Überschuhe. „Da, für die Füße. Und bleib auf dem Weg. Hier, von der Tür, neben der Toten vorbei."
Sie traten ein.
„Ich denke, einen Suizid können wir ausschließen", stellte Wilszek fest, ohne über seinen Witz zu lachen. „Etwas Derartiges habe ich noch nie gesehen."
Baumgartner lief ein Schauer über den Rücken und er verstand sofort, dass Wilszek recht hatte.
„Was haben wir?", fragte er und sein Blick blieb wieder an der Blutspur hängen. Das Blut war mit großer Geschwindigkeit gegen die Wand gespritzt, das war ihm sofort klar. Und nicht nur Blut. Auf dem Boden lag eine Frau mit dem Gesicht nach unten. Zu sagen, sie lag auf dem Bauch, war aber auch nicht ganz korrekt, denn die untere Hälfte ihres Körpers war um 180 Grad verdreht, sodass die Zehen nach oben zeigten. Die Leiche war auf Höhe der Brust beinahe zur Gänze durchtrennt.
Da entdeckte Baumgartner die Handkreissäge, und ihn fröstelte. Daneben stand eine große Flasche, aus der ein träger weißer Dunst entwich.
„Hat sie noch gelebt?", fragte Baumgartner. „Als er -"
„Nein", unterbrach ihn Wilszek. „Zumindest glaube ich nicht, dass sie bei Bewusstsein war. Er hat sie erdrosselt, mit einem Seil oder etwas Ähnlichem. Wenn du mich fragst, war das die Todesursache. Ganz sicher kann ich es natürlich nicht sagen. Das muss Steger bestätigen. Siehst du die Flasche? Ich habe nicht gleich verstanden, was das sein soll. Beinahe hätte ich meinen Finger hineingesteckt. Flüssiger Stickstoff! Das verwendet man, um biologische Proben zu kühlen. Gibt es sicher hier irgendwo auf der Uni."
„Aber warum -"
„Keine Ahnung."
Wilszek wirkte ratlos.
„Ehrlich, Franz, ich bin froh, dass ich nicht in deiner Haut stecke. Sobald ich hier fertig bin, nehme ich Urlaub."
Sie wussten beide, dass das nicht ging.
„Anzeichen für einen Kampf?", fragte Baumgartner. „Hat sie sich gewehrt?"
„Nein, überhaupt keine", antwortete Wilszek. „Ich bin fast sicher, dass er sie betäubt hat. Wie, kann ich noch nicht sagen. Die Würgemale sind sehr scharf umgrenzt, siehst du? Und sonst keine Hämatome."
„Wer hat sie gefunden?"
„Eine Studentin."
„Um diese Uhrzeit?"
„Das musst du den Kollegen fragen, der als Erster am Tatort war. Blaschek heißt er."
Baumgartner nickte. „Wo ist er?"
„Unten, glaube ich. Woher soll ich das wissen? Ich glaube, er wollte den Hausmeister suchen."
Da erkannte Baumgartner in dem Chaos, dass die Tote etwas trug, das blau war und eine Schürze sein konnte. Sie war an den Rändern zerfetzt und fast schwarz vom Blut. Eine Putzfrau?
Baumgartner wandte sich ab. Man konnte in die Bauchhöhle hineinsehen.
„Wie lange ist sie schon tot?", fragte er.
„Nicht lange", antwortete Wilszek. „Das Blut ist noch nicht ganz getrocknet."
„Irgendwelche Anzeichen für Missbrauch?"
Wilszek zuckte mit den Schultern. „Ihre Hose hat sie an."
Baumgartner nickte und bemühte sich, jedes Detail zu registrieren, und während er wie gewohnt sorgfältig vorging, war ihm, als hätte ihm jemand einen kalten, glatten Stein in den Magen gelegt.
21 Uhr 50
Baumgartner war froh, in der Heinrichstraße, gleich um die Ecke, ein Café gefunden zu haben, das noch offen hatte. Das „Einstein" war gut besucht, aber die Musik war nicht zu laut.
Er bestellte einen großen Braunen und holte ein Notizbuch aus der Innentasche seines Jacketts. Vor dem Institutsgebäude wartete die Studentin, die die Leiche entdeckt hatte, und auch der Rektor hatte ihn sprechen wollen, doch er ignorierte sie und hielt sein übliches Procedere ein. Er musste so schnell wie möglich eine Beschreibung des Tatorts festhalten, solange der Eindruck noch frisch war.
Auch wenn er diesmal das Gefühl hatte, dass ihn das Bild ohnehin noch länger verfolgen würde.
Er schlug eine neue Seite auf und begann, sie schnell mit kleinen, sauberen Druckbuchstaben zu füllen.
Tote liegt in Seminarraum 11.32 im dritten Stock des Mathematikinstituts der Karl-Franzens-Universität Graz, ca. 1.60 groß, schlank. Dunkle Haare, Pferdeschwanz. Trägt vermutlich eine blaue Schürze. Liegt zwischen Tischen und Katheder, in der Nähe der an den Gang grenzenden Mauer, Kopf Richtung Fenster gewandt. Körper auf Höhe des Brustbeins zu zwei Dritteln durchtrennt. Oberkörper liegt mit dem Gesicht nach unten, Becken und Beine mit dem Gesäß nach unten. Daneben eine elektrische Handkreissäge, noch angesteckt, mit Verlängerungskabel, beides neu. Blut und Gewebereste auf der Säge, Blut und Gewebereste auf Katheder und Wand.
Baumgartner musste absetzen und zwang sich, einen Schluck von dem Kaffee zu trinken, der gebracht worden war, ohne dass er es gemerkt hatte.
Daneben eine offene Flasche mit flüssigem Stickstoff, geschätzte 50 l. Keine Anzeichen für sexuellen Missbrauch. Tod wahrscheinlich durch Erdrosseln, Tatwaffe noch nicht gefunden.
Baumgartner legte seinen Stift beiseite und nahm noch einen Schluck Kaffee.
Vielleicht wusste die Studentin etwas zu berichten. Er fand, dass er sie lange genug hatte warten lassen.
Baumgartner legte ein paar Münzen auf den Tisch und verließ das Lokal.
22 Uhr 5
Als er zum Institutsgebäude zurückkam, sah er vor sich im Licht der Laternen eine bunte Ansammlung von Menschen. Sie bewegten sich klamm und hektisch und erzeugten Dunstwolken, wenn sie sich unterhielten. Ein klarer Sternenhimmel war zwischen den Bäumen sichtbar und versprach eine kalte Nacht. Er zog den Kopf ein und näherte sich, während er überlegte, was er als Erstes tun sollte.
„Baumgartner, gut, dass Sie da sind!", rief ein Polizist in Uniform, den er nicht kannte.
„Blaschek?"
Der Polizist kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand. „Richtig."
Blaschek war ein kleiner, unaufgeregter Streifenpolizist, der ihm in knappen Worten erzählte, wie er nach dem Notruf hergefahren war und hier die Studentin getroffen hatte, die ihn dann nach oben geführt hatte. Das Mädchen saß ein wenig abseits auf einer Parkbank, trug einen dünnen Mantel und hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen.
Baumgartner dankte ihm. In diesem Moment kam Gregor Wolf um die Ecke und beschleunigte seine Schritte, als er ihn sah.
„Sie können jetzt fahren", sagte er zu Blaschek. „Den Rest schaffen wir allein."
„Etwas noch", meinte dieser. „Ich habe den Hausmeister ausfindig gemacht. Er kommt hierher."
„Danke."
Blaschek verabschiedete sich mit einem Nicken.
„Wie sieht es aus?", erkundigte sich Wolf, Baumgartners Stellvertreter als Leiter der Mordgruppe. Er hatte den Reißverschluss seiner Lederjacke bis zum Kinn geschlossen.
Als hätte sich ein Loch zur Hölle aufgetan, dachte Baumgartner und ärgerte sich im selben Moment über den Gedanken.
„Sieh es dir selber an. Wilszek ist oben."
Wolf kratzte sich an der Wange. Dort prangte ein großes Pflaster. Vor fast einer Woche hatte er sich so übel beim Rasieren geschnitten, dass er genäht werden musste. Er gähnte und machte sich auf den Weg. Im selben Moment dachte Baumgartner, er hätte ihn warnen sollen, doch jetzt war es zu spät. Stattdessen versuchte er, sich zu konzentrieren.
Das Mädchen, die Studentin.
Er wollte gerade zu ihr hinübergehen, als er hinter sich eine bekannte Frauenstimme hörte. „Herr Baumgartner, einen Moment!"
Baumgartner seufzte. Das Letzte, was er jetzt brauchte, war die Presse. „Stimmt es, Sie haben die Leiche einer Frau gefunden?"
„Sie sind zu früh", stellte er fest, ohne sich umzudrehen. „Kommen Sie später wieder."
„Wann?"
„Das weiß ich noch nicht."
Sie ließ nicht locker. „Es soll sich um außergewöhnliche Umstände handeln, stimmt das? Mein Chef hat den Redaktionsschluss extra noch um eine Stunde verschoben."
Baumgartner wandte sich um. Sie trug eines ihrer bunten Kleider, eine kurze Jeansjacke und noch höhere Schuhe als sonst. Er wunderte sich, dass sie nicht fror.
„Sie sind doch im Mailverteiler, nicht wahr? Dann bekommen Sie ohnehin die Presseaussendung. Warten Sie noch eine Stunde."
„Kommen Sie schon!", sagte sie beschwörend. „Geben Sie mir irgendwas! Sagen Sie mir nicht, dass das umsonst war. Ich bin extra hergefahren."
Er sah sie an. „Das tut mir leid für Sie, aber wir wissen noch nichts. Wenn Sie jetzt berichten, riskieren Sie eine Ente. Rufen Sie mich morgen Vormittag an, dann weiß ich mehr."
Sie wirkte enttäuscht, fragte aber nicht weiter nach. Sie sah sich um und Baumgartner befürchtete kurz, dass sie sich ein anderes Opfer suchen würde, doch schließlich räumte sie das Feld.
Wallner war manchmal lästig, aber Baumgartner konnte ganz gut mir ihr, vielleicht zu gut. Lass dich nicht ausnutzen, hatte Meier gesagt. Aber sie schrieb passable Artikel und hielt sich meistens an die Fakten. Mit ihr konnte man arbeiten, wenn man etwa eine Bitte nach Hinweisen aus der Bevölkerung platzieren wollte. „Graz Kompakt" hatte eine große Reichweite.
In diesem Moment kam ein schweres Motorrad über die gepflasterten Wege gefahren und manövrierte zwischen den Leuten hindurch. Der Fahrer stellte die Maschine neben einer Reihe von Fahrrädern ab, klappte den Ständer aus und nahm den Helm ab. Es war Steger, der Gerichtsmediziner. Baumgartner mochte ihn nicht. Steger trug einen schwarzen Anzug und teuer aussehende Schuhe. Er hängte den Helm auf den Lenker und kontrollierte seine Frisur im Seitenspiegel, dann kam er auf sie zu.
„Baumgartner, dass man Sie wieder einmal trifft! Wie lange ist es her - drei Tage?"
Er lachte laut und begrüßte ihn mit einem festen Händedruck. „Neues Jackett? Steht Ihnen gut!"
„Sie ist oben", sagte Baumgartner und wandte sich ab. Er ging zu der Bank, auf der die Studentin saß.
„Wie geht es Ihnen?" Sie wirkte gefasst. „Geht schon, danke."
„Wie heißen Sie?"
„Margit Lang."
„Mein Name ist Baumgartner. Ich bin vom Landeskriminalamt und leite die Untersuchung. Es tut mir leid, ich kann mir vorstellen, dass das alles sehr unangenehm für Sie ist. Ich habe nur ein paar Fragen, dann können Sie gehen."
Sie nickte, ohne ihn anzusehen.
„Wie haben Sie sie gefunden?", fragte Baumgartner.
„Ich wollte gerade nach Hause gehen, da habe ich im Seminarraum Licht gesehen", erklärte sie. „Ich dachte, dass Carina noch da ist. Sie lernt manchmal dort. Ich habe die Tür aufgemacht, und dann war da überall Blut."
„Was haben Sie dann gemacht?"
„Ich bin zurück auf den Gang und habe überlegt, was ich machen soll. Dann habe ich gedacht, dass ich nachsehen muss, was da passiert ist und ob jemand verletzt ist."
„Sie sind hineingegangen?"
„Ja", sagte sie und sah ihm in die Augen. „War das falsch?"
„Nein", beruhigte er sie. „Wir müssen es nur wissen, für die Spurensicherung."
„Ich habe sie liegen sehen", fuhr sie fort. „Ich bin sofort raus und runter ins Freie. Dann habe ich die Polizei gerufen."
„Ist Ihnen dabei jemand aufgefallen?", fragte Baumgartner. „War jemand in der Nähe?"
„Nein, ich kann mich nicht erinnern."
„Die Außentür war nicht abgesperrt?"
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, die war offen."
„Was war davor?", fragte er weiter. „Was haben Sie da gemacht?"
„Ich war einen Stock höher, auf dem Gang. Wir haben am Institut keinen Studierraum, deshalb sitzen wir an den Tischen auf den Gängen."
Baumgartner nickte. „Haben Sie da etwas gesehen oder gehört?"
„Klar", bestätigte sie. „Es waren Leute im Haus."
„Wie lange?"
„Ich weiß nicht. Bis acht ist immer irgendwer hier."
„Ist Ihnen irgendwas Besonderes aufgefallen?"
Sie zögerte. „Da war dieses Geräusch. Ich wusste zuerst nicht -"
„Eine Säge vielleicht?", bohrte Baumgartner nach.
Sie sah ihn an, dann schien sie zu verstehen und zog die Schultern hoch. „Möglich."
„Wann war das?"
„Um dreiviertel neun."
Er holte seinen Notizblock heraus und hielt die Uhrzeit fest.
„Müssen Sie das Institut jetzt sperren?", fragte sie.
Baumgartner sah von seinem Notizbuch auf. „Warum?"
„Ich habe übermorgen eine wichtige Prüfung. Ich darf da auf keinen Fall durchfallen."
„Können Sie nicht zu Hause lernen?", fuhr Baumgartner sie an. Im selben Moment bereute er, das gesagt zu haben. Das Leben ging weiter, und er dachte daran, wie spät sie noch auf dem Institut gewesen war.
„Der Seminarraum wird noch länger gesperrt sein", antwortete er milder, „aber ich denke, dass Sie morgen wieder ins Haus dürfen."
Sie nickte. Hinter sich hörte er eine laute Stimme.
„Danke für Ihre Hilfe", sagte er. „Falls Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte an."
Er gab ihr seine Karte und wandte sich ab.
„Ich sage Ihnen, ich kann mir nicht erklären, wie das passiert ist. Ich habe die Tür abgesperrt, das tue ich immer!"
Der große Mann im schmutzig grauen Mantel musste der Hausmeister sein.
„Aber Sie wussten, dass noch jemand im Gebäude war?", fragte Wolf, der etwas Verbissenes hatte, das zuvor noch nicht dagewesen war.
„Ich mache jedes Mal meinen Rundgang", erklärte der Mann. „Manche Studenten haben einen Schlüssel, die können selber raus. Ich vermute, dass einer von denen vergessen hat, die Tür abzusperren. Oder die Putzleute."
„Kommen Sie, da gehen doch ständig Leute aus und ein", sagte Baumgartner. Der Hausmeister schluckte.
„Niemand wird Ihnen einen Vorwurf machen, weil Sie die Tür nicht abgesperrt haben."
„Aber ich sage Ihnen doch -"
„Im Moment müssen Sie etwas anderes für mich tun", unterbrach ihn Baumgartner. „Wir vermuten, dass es sich bei der Toten um eine Frau aus dem Putztrupp handelt. Kennen Sie die Putzleute?"
Er nickte eifrig. „Sicher. Manchmal sind sie um neun noch nicht fertig."
„Ich würde gern wissen, ob Sie die Frau kennen. Ist es in Ordnung, wenn Sie einen Blick auf ihr Gesicht werfen?"
Die Augen des Hausmeisters wurden größer.
„Sie müssen keine Angst haben. Sie sieht ganz friedlich aus", sagte Baumgartner. Es reichte, wenn er ihm das Gesicht zeigte.
„Gut, in Ordnung."
Baumgartners Handy klingelte.
Es war Meier.
„Hallo. Was gibt's?"
„Was ist passiert?", fragte sie.
„Wir haben alles im Griff", antwortete er knapp. „Komm morgen auf die Universität zum Mathematikinstitut."
„Ist es schlimm?" Baumgartner zögerte.
„Morgen um sieben", sagte er und legte auf.
Zwei müde wirkende Angestellte der „Bestattung Graz" kamen mit einem Metallsarg aus dem Gebäude. Baumgartner kannte sie vom Sehen. Der eine hatte große Blutflecken auf den Ärmeln seiner Jacke. Es musste schwierig gewesen sein, sie in den Leichensack zu heben.
„Einen Moment!", rief Baumgartner. Er sah sich um und stellte zufrieden fest, dass niemand fotografierte. Er fragte sich, ob Wallner eine gute Journalistin war.
Er ließ den Sargdeckel wegheben und sorgte dafür, dass der Leichensack nur ein kleines Stück geöffnet wurde. Dann winkte er den Hausmeister herbei.
Dieser näherte sich langsam. Als er in den Sack sehen konnte, nickte er und wirkte erleichtert. „Die ist vom Putztrupp. Ich glaube, sie heißt Krasniqi."
Baumgartner holte sein Notizbuch hervor und schrieb den Namen auf. „Vorname?"
„Sara. Ohne h."
Baumgartner notierte, klappte das Notizbuch zu und gab den Männern ein Zeichen, dass sie den Sarg wieder zumachen konnten.
„Kann ich jetzt gehen?", fragte der Hausmeister.
„Ja. Aber bitte halten Sie sich zu unserer Verfügung."
„Geht in Ordnung, Herr Kommissar."
„Chefinspektor", sagte Baumgartner und wandte sich Wolf zu.
„Sag Wilszek, ich lege mich eine Stunde hin. Morgen bin ich wieder ansprechbar. Um sieben."
„Was soll ich tun", fragte Wolf. „Soll ich hierbleiben?"
„Mach dir das mit ihm aus", antwortete Baumgartner. „Es reicht, glaub ich, wenn du auf Abruf bereit bist."
Er holte sein Telefon heraus und wollte gerade im Landeskriminalamt anrufen, für eine erste Presseaussendung, als Wilszek aus dem Gebäude stürmte.
„Franz, schau dir das an! Das musst du sehen!"
Er hatte noch seinen Overall und die weißen Überschuhe an, die nach wenigen Schritten schmutzig waren. In der Hand hielt er einen flachen Plastiksack, in dem etwas war, das aussah wie ein Stück Papier.
Baumgartner ging ihm entgegen und betrachtete den kleinen Zettel hinter der transparenten Kunststofffolie.
„Was ist das?"
„Lies!", sagte Wilszek.
Da sah Baumgartner, dass dort etwas geschrieben stand.
23 Uhr 50
Müde betrat Baumgartner seine Wohnung in der Jakob-Gschiel-Gasse, einen Kilometer nördlich vom Landeskriminalamt. Das Licht war ausgeschaltet und als er es aufdrehte, sah er, dass ein Paar von Isabels Schuhen fehlte. Baumgartner ging in die Küche, ließ sich ein Glas Wasser ein. Er legte sein Jackett ab, setzte sich mit seinem Notizbuch an den Esstisch und begann, alle Fakten zu notieren, die er heute erfahren hatte.
Als er fertig war, klappte er das Buch zu und lehnte sich zurück. Er sah Isabels letzten Einkaufszettel auf dem Kühlschrank kleben. Milch, stand dort, Nudeln, Waschmittel. Er stand auf, öffnete den Kühlschrank und fand zwei Milchpackungen. Die hatte sie also noch gekauft. Baumgartner ging nachsehen, wie viel Wäsche er hatte, und fand drei Hemden und zwei Hosen. Unterwäsche war genug da. Er ging zurück und sah nochmals in den Kühlschrank. Ob er für die nächsten Tage genug zu essen hatte? Vielleicht sollte er von jetzt an besser ins Gasthaus gehen.
Eine Stunde später lag er im Bett und hatte einen sauren Geschmack im Mund. Er fühlte sich erschlagen und war doch unfähig zu schlafen. Ein Mord zerstört immer mehr als das Leben eines Menschen, dachte er. Er zerstört die schöne Oberfläche des Alltags der Leute. Es gibt so viele Dinge, die in den Menschen schlummern, die zum Teil gesagt, aber nicht ausgeführt, gedacht, aber nicht gesagt werden, oder aber den Menschen gar nicht bewusst sind. Der Anstand verbietet es - oder einfach die gesellschaftlichen Konventionen. Manchmal fehlt womöglich nur der Mut, eigene Entscheidungen zu treffen, Neuland zu betreten. Baumgartner befürchtete, dass oft wirklich nur der letzte Grund den Gewaltausbruch verhinderte.
Ein Mord ist immer auch etwas Mutiges, dachte er. Wie viele Leute hatten die Nerven, das zu tun, was er heute gesehen hatte? So jemand bricht mit allen gesellschaftlichen Konventionen und befreit sich. Diesen Mut fürchten und bewundern die Leute. Sie spüren eine kompromisslose Ehrlichkeit, eine ehrliche Botschaft. Die er verstehen musste.
Ihm fiel auf, dass das seltsame Gefühl im Magen immer noch da war. Es war schwächer geworden, aber nicht verschwunden. Das Gefühl war gekommen, als er versucht hatte, zur Routine überzugehen. Normalerweise war die Routine etwas Tröstliches, etwas, woran man sich festhalten konnte. Baumgartner befürchtete, dass das diesmal nicht funktionieren könnte. Der Täter hatte ihnen eine Nachricht hinterlassen. Dieser Gedanke, dass er getötet hatte, um etwas mitzuteilen, ließ den Stein so schwer werden, dass es schmerzte.
Als er den Zettel in dem Plastiksack entgegengenommen hatte, war ihm sofort klar gewesen, warum Wilszek so aufgeregt war. Darauf stand, sorgfältig mit dem Computer ausgedruckt, ein einziger Satz:
dies ist noetig um auf | die wirklichkeit | aufmerksam zu machen
Mittwoch, 6 Uhr
Baumgartner schreckte aus dem Schlaf hoch. Er brauchte einen Moment, um sich zu orientieren, dann drückte er den Wecker ab, der ein vertrautes, schreiendes Piepen von sich gab. Draußen war es noch völlig dunkel. Er musste sich überwinden, um die Füße unter der Decke hervorzuschieben und auf den kalten Parkettboden zu stellen. Er rieb sich die Augen. Isabel war nicht gekommen.Wenige Minuten später saß er bei einer Tasse Kaffee am Küchentisch und hörte dem Geräusch des Kühlschranks zu. Der heiße Milchkaffee wärmte ihn, und er gab sich diesem Gefühl hin. Die Zeitung lag zusammengefaltet neben ihm auf dem Tisch. Der neue Fall war zuerst nur eine dumpfe Ahnung und es dauerte einige Minuten, bis die Details vor seinem inneren Auge wieder erschienen. Er trank seinen Kaffee in einem Zug leer, zog den Mantel an und machte sich auf den Weg, froh, dass er so etwas wie Tatendrang verspürte.
7 Uhr
Als Baumgartner auf der Universität eintraf, hatte sich eine erste Ahnung von Helligkeit über den Platz vor dem Mathematikinsititut gelegt und hinter einigen Fenstern brannte Licht. Baumgartner mochte diesen frischen Geruch wenn es noch sehr früh war, doch heute roch es anders, mehr nach altem Rauch und Autoabgasen. Der Verkehr auf der benachbarten Heinrichstraße schwoll bereits an. Geduckte Gestalten kamen vorbei und drehten sich steif nach der Absperrung um, die Wilszek vor dem Institutstor angebracht hatte.
Meier wartete vor dem Eingang, fest in ihren Mantel eingewickelt.
„Warst du schon oben?", fragte er.
Sie nickte. Ein kaum merkliches Zittern fuhr durch ihren Körper.
„Weißt du schon, was du tun willst?", erkundigte sie sich.
Er dachte kurz nach, dann sagte er:
„Der Hausmeister hat die Tote identifiziert. Sie heißt Sara Krasniqi. Wir müssen das noch bestätigen. Schau bitte nach, ob sie vermisst wird und besorg mir ihre Daten, nächste Angehörige, Wohnadresse. Wilszek wird eine Liste von Leuten brauchen, die in diesem Gebäude aus und ein gehen. Wir müssen sie fragen, ob sie freiwillig ihre Fingerabdrücke hergeben. Das soll Gregor machen. Am Nachmittag machen wir eine erste Besprechung. Fünfzehn Uhr. Sag den anderen Bescheid."
„Geht in Ordnung", antwortete sie und wandte sich ab, um zu telefonieren. Sie schien froh, dass sie etwas zu tun hatte. Er wusste, dass sie ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie gestern nicht mehr gekommen war. Er hätte ihr gesagt, dass es keinen Grund dafür gab. Sie wusste das, deshalb sagte sie nichts.
Widerwillig näherte er sich dem Eingang, schlüpfte unter der Absperrung hindurch und ging hinauf zum Tatort, wo Wilszek noch immer am Arbeiten war. Ein junger Mann war diesmal mit dabei. Die große Blutspur an der Wand hatte sich braun verfärbt und erinnerte nun an die Reifenspur eines Autos, das durch Schlamm gefahren war. Wilszeks Assistenten beschäftigten sich mit den Wänden, während er selbst in einer Ecke kniete. Das bedeutete, dass sie beinahe fertig waren. Wilszek arbeitete sich immer spiralförmig von der Leiche aus in den Raum vor.
„Wie sieht es aus?", fragte Baumgartner. „Habt ihr was?"
Er richtete sich mühsam auf.
„Was glaubst du? Ein Seminarraum eben. Ich würde sagen, wir haben Fingerabdrücke und DNA von so ziemlich allen Mathestudenten. Du wirst mir von allen Proben besorgen müssen."
„Rede mit Gregor, der macht das."
Wilszeks Augen waren nur noch schmale Schlitze. Er blinzelte oft, so, als blendete ihn das schwache Morgenlicht von den Fenstern, und lachte leise.
„Gregor und hundert Mathematiker. Das wird sicher witzig."
„Erklär ihm einfach genau, was du brauchst", sagte Baumgartner.
Sie schwiegen.
„Was ist hier passiert?", fragte Baumgartner. Es klang, als ob er mit sich selbst sprach.
„Das musst du herausfinden, Franz. Ich kann es dir nicht sagen."
„Sag mir trotzdem, was du denkst."
Wilszek ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. „Er muss der Frau aufgelauert und sie dann irgendwie betäubt haben", meinte er. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass es keinen Kampf gab. Die Sache lief recht friedlich ab, wenn man das so nennen kann. Ich glaube nicht, dass jemand etwas gehört hat."
„Vielleicht hat er sie gekannt?", schlug Baumgartner vor.
„Möglich. Aber sie hätte sich trotzdem gewehrt."
Baumgartner nickte. „Und dann?"
„Dann kommt der Teil, den ich nicht verstehe."
„Hast du Müllsäcke gefunden oder irgendetwas Ähnliches?"
„Zum Einpacken, meinst du? Tut mir leid, keine Müllsäcke. Es ging beim Zerschneiden nicht um den Transport. Ich glaube, er wollte sie liegenlassen. Sonst wäre ja auch die Nachricht sinnlos."
„Also aggressive Mutilitation", stellte Baumgartner fest.
„Ich fürchte, davon musst du ausgehen. Er wollte etwas mitteilen. Nicht nur mit der Nachricht, auch mit dem Schnitt."
Das bestätigte nur Baumgartners Befürchtung. „Was ist mit dem Stickstoff?"
„Das ist interessant! Damit kannst du den Raum der Verdächtigen eingrenzen. Die Frage ist nicht nur, wer Zugang dazu hatte. Mich würde auch interessieren, wer auf so eine Idee kommt und warum. Dafür braucht man bestimmte Vorkenntnisse."
Baumgartner stand da, die Hände in den Taschen seines Mantels, und starrte auf den Boden.
„Gut", sagte er. „Wir treffen uns am Nachmittag um drei. Wär gut, wenn du auch vorbeikommst und den anderen das erzählst, was du mir gerade gesagt hast. Vielleicht hast du ja bis dahin noch ein paar interessante Spuren für uns."
„Mach ich", antwortete Wilszek. „Dann werd ich einmal schauen, dass ich ein paar Stunden Schlaf kriege."
„Tu das. Bis später", sagte Baumgartner und ging.
Als er vor die Tür trat, entdeckte er dort neben Meier die große Gestalt von Mario Sukitsch, dem leitenden Beamten des Landeskriminalamts - seinen Chef. Er schien seine Haube vergessen zu haben, seine Glatze war gerötet von der Kälte. Er trug wie immer seinen Leatherman außen am Gürtel.
„Guten Morgen, Franz. Wie sieht es aus?"
Meier ging zur Seite, um zu telefonieren, und Baumgartner erklärte ihm, was sie wussten. Sukitsch nahm es konzentriert auf.
„Gut", sagte Sukitsch. „Hast du alles, was du brauchst?"
„Ja, derzeit schon."
„Wenn du irgendwelche Hilfe benötigst, sag mir Bescheid."
„Was meinst du?", fragte Baumgartner.
Sukitsch tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Brust.
„Du weißt, dass diese Sache nicht vergleichbar ist mit dem, was du bisher gemacht hast. Das muss dir klar sein! Ich bin lange dabei, aber ich glaube nicht, dass ich so etwas schon einmal gesehen habe. Etwas Derartiges gibt es normalerweise nicht in Graz."
„Warum sollte es etwas Derartiges in Graz nicht geben?", entgegnete Baumgartner.
Sukitsch sah ihn belustigt an. „Ich sage ja nur, wenn du Sondermittel brauchst, externe Spezialisten, irgendwas, dann kläre ich das. Ich regle das mit dem Staatsanwalt. Du konzentrierst dich ganz auf den Fall."
Er legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Du machst das!", sagte er.
Meier kam zurück.
„Ich habe eine Adresse."
Baumgartner holte sein Notizbuch heraus.
„Elisabethinergasse 22", diktierte sie. „Gabriele Koren. Eine Wohngemeinschaft, hat man mir gesagt."
Er klappte geräuschvoll sein Notizbuch zu.
„Ich fahr hin", sagte er.
8 Uhr 35
Baumgartner saß beim Sorger in der Annenstraße und aß ein kleines Frühstück. Sein Notizbuch hatte er offen vor sich liegen, ohne etwas hineinzuschreiben. Er dachte über Sukitschs Bemerkung nach. Sein Chef hatte recht. Etwas grundlegend Neues war an diesem Fall. Etwas Absurdes, Fremdes, dachte er unwillkürlich. Etwas, das nicht hierher passte in dieses verträumte Städtchen im äußersten Südosten des deutschsprachigen Raums, dem man mediterranen Charme nachsagte.
Nebenbei ärgerte er sich über die Art, wie Sukitsch es gesagt hatte. Als ob er seiner Aufgabe nicht gewachsen wäre. Und doch kannte er Sukitsch gut genug, um zu wissen, dass dieser seine Gründe hatte.
Ihm fiel sein erstes Gespräch mit Oberst Sukitsch ein. Er war ungewöhnlich nervös gewesen. Normalerweise reagierte er Ranghöheren gegenüber nicht so. Einmal hatte er der Innenministerin die Hand geschüttelt. Dabei war er ganz ruhig gewesen.
Baumgartner hatte gehört, dass Sukitsch in seiner Jugend als Türsteher gearbeitet hatte, bevor er zur Polizei gekommen war. Vielleicht war es das. Diese Leute gaben einem immer das Gefühl, etwas Unrechtes getan zu haben.
Oberst Mario Sukitsch hatte ihn unter den dicken Knochenwulsten, auf denen seine Augenbrauen thronten, gemustert. Er hatte laut Baumgartners Biografie vorgelesen: Volksschulzeit, Unfalltod der Eltern, die Jahre, die er bei seinem Großvater gelebt hatte, die Zeit im Internat und der Wechsel in die Hauptschule. Dann hatte er die Mappe zugeklappt. Seine Glatze hatte glänzt, als er sich zurückgelehnt und die Arme verschränkt hatte, wobei die Adern auf den Unterarmen wie Kabel hervorgetreten waren.
„Worum geht es Ihnen, Baumgartner?", hatte Sukitsch plötzlich gefragt. „Ich habe hier Ihre Zeugnisse, die sind gut. Ich bin sicher, Sie können ein wertvoller Mitarbeiter sein. Aber mich würde interessieren, warum Sie sich das antun wollen. Haben Sie romantische Vorstellungen von der Polizeiarbeit?"
Baumgartner war überrascht gewesen von dieser Frage.
„Nein, habe ich nicht", hatte er ruhig geantwortet. „Ich bin seit drei Jahren in der Polizeiinspektion Köflach."
„Sehen Sie sich die amerikanischen Krimis an, es stimmt vieles, was dort gezeigt wird. Die Polizisten, die sich mit Gewaltverbrechen auseinandersetzen, sind oft einsame, frustrierte Menschen, viele von den wirklich guten zumindest. Nur eines ist anders: Es werden viel weniger Fälle wirklich aufgeklärt als im Fernsehen. Und es ist viel mehr Arbeit. Mich würde interessieren, ob Sie das wirklich wollen. Haben Sie gute Gründe für Ihre Entscheidung?"
Baumgartner war Sukitschs Blick ausgewichen. Ihm war dieses Verhör unangenehm gewesen, mehr noch, er war verärgert gewesen.
„Ich will etwas Sinnvolles tun", hatte er gesagt.
„Sinnvoll für Sie selbst oder für die anderen?"
Baumgartner hatte ihn angesehen. „Wenn es für die anderen sinnvoll ist, ist es auch für mich sinnvoll."
Sukitschs Miene war unergründlich gewesen.
„Sind Sie ein Gutmensch", hatte er weitergefragt, „wollen Sie die Welt retten?"
Baumgartner hatte die Zähne zusammengebissen.
„Sie etwa nicht?", hatte er entgegnet.
Sukitsch hatte gelacht. „Reden wir weiter von Ihnen. Ist es das? Sie wollen die Welt zu einem besseren Ort machen? Das ist herzig, Baumgartner. Aber es muss Ihnen klar sein, dass Sie nichts Wesentliches bewirken können, schon gar nicht bei der Polizei."
„Wo sonst, wenn nicht hier?", hatte Baumgartner zurückgegeben, lauter, als er beabsichtigt gehabt hatte.
„Alles, was Sie tun, wird nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sein. Und Sie werden oft Grenzfälle erleben, wo Sie nicht mehr wissen, was richtig ist. Sie werden unangenehme Dinge tun müssen. Das Recht setzt man nicht immer durch, indem man nett zu den Leuten ist. Manchmal muss man bereit sein, Opfer zu bringen. Man wird selbst Gewalt anwenden müssen, und wissen Sie was, es wird Ihnen vielleicht Spaß machen. Haben Sie darüber schon einmal nachgedacht?"
„Ich will einfach meine Arbeit machen", hatte Baumgartner gesagt, „ohne mich dafür rechtfertigen zu müssen."
Sukitsch hatte genickt. „Sie sind wirklich ein Gutmensch. Sie werden damit einfahren, Baumgartner, das kann ich Ihnen jetzt schon sagen."
„Heißt das, Sie nehmen mich nicht auf?"
„Doch, das tue ich."
Oberst Sukitsch war aufgestanden und hatte ihm die Hand gereicht. Baumgartner hatte sie ergriffen, ohne recht zu verstehen, was das alles sollte.
„Willkommen bei der Mordgruppe."
Das war vor drei Jahren gewesen. Inzwischen war Baumgartner zum Leiter der Mordgruppe aufgestiegen. Und die Prophezeiung des Chefs war nicht eingetreten. Baumgartner hatte das seltsame Gespräch nie wirklich verstanden. Entgegen seinem rauen Auftreten hatte sich Sukitsch als besonnen und fair erwiesen und Baumgartner immer unterstützt. Seine Warnung hatte er aber nie zurückgenommen und manchmal setzte er in Baumgartners Gegenwart noch diesen forschenden, belustigten Blick auf.
Er sollte das ernst nehmen, was Sukitsch gesagt hatte. Wahrscheinlich brauchte er wirklich Hilfe bei diesem Fall. Es gab Anzeichen, dass keines der sonst üblichen Motive vorlag. Keine Rache, keine Eifersucht, sondern etwas ganz anderes. Vielleicht brauchte er einen Psychologen. Womöglich war es das, was Sukitsch sagen wollte. Gerd Schaffer war gerade in den USA auf einem Kongress und würde seinen Aufenthalt wohl nicht abbrechen wegen dieser Sache, erst recht nicht nach den Differenzen, die es gegeben hatte, obwohl das auch schon wieder zwei Jahre her war. Schaffer trauerte immer noch Kampl nach, zu dem er ein besonderes Verhältnis gehabt hatte. Vielleicht sollte Baumgartner die Gelegenheit nutzen und stattdessen Vera Königshofer hinzuziehen. Darüber sollte er nachdenken.
Er trank seinen Kaffee aus und machte sich auf den Weg in den Bezirk Gries. Baumgartner parkte seinen Dienstwagen in der Elisabethinergasse vor einem türkischen Friseurladen und trat hinaus in die immer noch eisige Morgenluft. Ein torfiger Dunst wie von einem Fischteich stieg vom Mühlgang auf, dessen Wasserstand geringer war als sonst. Aus einem Lokal gegenüber, auf dem neben der Aufschrift „Kulturverein Ghana" noch Reklametafeln einer Spielhalle prangten, drang Gelächter und Geschnatter in einer afrikanischen Sprache. Zwei dunkelhaarige Burschen auf zu großen Fahrrädern querten die Straße und riefen einander mit kehligen, heiseren Stimmen Dinge zu, die er nicht verstand. Baumgartner wich ihnen aus und machte sich auf den Weg. Gries war ihm angenehmer als die Universität, trotz seines schlechten Rufs. Er hatte eine Schwäche für diese vernachlässigten Teile der Stadt. Die Viertel, wo die Leute weniger begütert waren und sich verschiedenste Kulturen mischten, die einander alle gleich fremd waren. Wenn etwas vernachlässigt wurde und dabei nicht schlimmer war als Gries, hatte das etwas Beruhigendes. Es sagte ihm, dass er als Polizist nicht ständig dahinter sein musste, um die Ordnung sicherzustellen.
Er sah die Gasse entlang. Er glaubte, zwei neue Kebabbuden zu entdecken, die letztes Mal noch nicht dagewesen waren. Die Stadt verändert sich, dachte er. Hier sieht man es am besten. Er fand das Haus, dessen ausgebleichte gelbe Fassade von schwarzen Wasserstreifen durchzogen war, die von den Regenrinnen der Balkone nach unten führten. Die Eingangstür war offen. Die gesuchte Wohnung befand sich im zweiten Stock. Er läutete, und nach wenigen Sekunden wurde aufgemacht.
Das Erste, was ihm auffiel, war der Geruch. Wie ein orientalischer Gewürzladen, dachte er. Er glaubte, einige unbenennbare Düfte zu erkennen, die man nur in indischen Restaurants erlebte, und außerdem Weihrauch.
Das Mädchen, das vor ihm stand, war klein und schlank, mit kurzen Beinen und runden Hüften, um die sie ein fein gemustertes Tuch in Erdfarben geschlungen hatte. Aus ihren Jeans ragten nackte Füße, die so gebräunt waren wie die Arme in dem ärmellosen Batikshirt. Sie hatte lange, unregelmäßig dicke Dreadlocks, die hinter dem Kopf zusammengebunden waren - so viele, dass der Rest des Körpers noch kleiner wirkte. Auf dem runden Gesicht war ein offenes Lächeln.
„Ja?", sagte das Mädchen.
„Grüß Gott, mein Name ist Baumgartner, ich bin vom Landeskriminalamt." Er zeigte seinen Ausweis. Sie beugte sich vor, um ihn genauer zu betrachten.
„Bin ich hier richtig bei Sara Krasniqi?"
„Ist leider nicht da", antwortete sie. Baumgartner bemühte sich um einen ruhigen, höflichen Ton.
„Darf ich kurz reinkommen?"
Sie sah ihn prüfend an, dann trat sie zur Seite.
Baumgartner betrat einen winzigen, dunklen Vorraum. Er folgte ihr in die Küche, wo ein Topf dampfend auf dem Herd stand. Sie nahm einen Kochlöffel und rührte um. Die Wand war bunt bemalt, in warmen Farben. Die ganze Wohnung sah abgewohnt aus und war liebevoll eingerichtet: Es gab selbst gebastelte Kerzen, einen Aschenbecher aus einer Bierdose, einen Ikea-Sessel und zwei andere, die mindestens 20 Jahre alt waren und die man rot gestrichen hatte. Auf einem Regal hingen verstaubte Faschingsgirlanden.
„Sie sind die Mitbewohnerin von Frau Krasniqi?", fragte Baumgartner.
Sie lachte, drehte sich zu ihm um und reichte ihm eine warme, schlaffe Hand. „Gabi Koren." Ihre Stimme hatte etwas Singendes.
Sie ahnt nichts, dachte Baumgartner. Er überlegte, wie er beginnen sollte.
„Wo ist Sara?"
„Ich weiß nicht", antwortete sie. „Sie ist gestern nicht nach Hause gekommen."
Baumgartner nickte.
Nun drehte sie sich um. „Was wollen Sie von Sara? Stimmt irgendetwas nicht?"
„Das wissen wir noch nicht sicher", erklärte Baumgartner. „Wir müssten mit ihren Angehörigen sprechen. Haben Sie da einen Kontakt?"
„Sara hat keine Angehörigen", sagte Koren bestimmt.
„Wie meinen Sie das?", hakte Baumgartner nach.
„Sie stammt aus dem Kosovo. Sie hat keinen Kontakt mehr dorthin."
„Und in Graz gibt es niemanden?"
Sie rührte in ihrem Topf. „Wir haben nur uns", sagte sie. „Dann muss ich Sie bitten, mit mir mitzukommen."
„Warum?"
Baumgartner zögerte. „Wir haben eine tote Frau gefunden. Es könnte sich dabei um Frau Krasniqi handeln."
Nun sah sie ihn scharf an. Suchend.
„Das kann nicht sein", stellte sie fest und wandte sich wieder ihrem Topf zu.
„Warum?"
Sie ignorierte die Frage.
„Können Sie mir ihr Zimmer zeigen?", fragte Baumgartner vorsichtig.
Koren wurde wachsam. „Was wollen Sie dort?"
„Ich will mich umsehen."
Sie schien zu überlegen.
„Ich muss sonst einen Durchsuchungsbefehl besorgen", erklärte Baumgartner. „Das dauert und ist eine Menge Aufwand. Es wäre leichter, wenn Sie mir einfach sagen, wo das Zimmer ist, und ich werfe einen kurzen Blick hinein. Ist das in Ordnung?"
Sie verschränkte die Hände und schien einen Moment zu überlegen. Dann nickte sie.
„Aber greifen Sie nichts an!"
„Wo?", fragte er.
Sie ging an ihm vorbei in den Vorraum und zeigte ihm eine braune Tür. Baumgartner wartete, bis sie zurück zum Herd ging, und trat ein.
Hier roch es bewohnt, dachte er. Wie ein Raum, der zu wenig gelüftet wurde. Das Zimmer war winzig, bot kaum Platz für ein Bett und einen Schreibtisch, auf dem ein alter Laptop stand. Es wirkte neutraler als die Küche. Was sofort auffiel, war ein halbes Dutzend Stofftiere auf dem Bett, die alle im Kreis auf einer alten Tagesdecke saßen und Baumgartner anstarrten. Dazwischen ein roter, herzförmiger Ikea-Polster, aus dem links und rechts zwei Arme wuchsen. Er schloss die Tür wieder.
Als er zurück in die Küche kam, hatte sie ihr Lächeln wiedergefunden.
„Stellen Sie bitte den Herd ab", sagte er. „Sie müssen mitkommen."
Sie rührte weiter. „Warum?"
Baumgartner wusste nicht, was er sagen sollte. Weil deine Freundin in der Mitte auseinandergesägt wurde?
Sie überlegte und schaltete die Herdplatte ab.
„Von mir aus", sagte sie.
„Außerdem brauchen wir ein Foto von Ihrer Freundin", fügte Baumgartner hinzu. „Haben Sie eines?"
Sie fischte einen kleinen Rahmen von einem Regal über dem Esstisch, nahm das Foto heraus und hielt es ihm lächelnd hin.
„Danke."
Sie gingen in den Vorraum, wo Koren einen roten Filzmantel und einen grünen Schal vom Haken nahm. Sie schlüpfte in zu große Wollsocken und braune, hohe Lederschuhe.
„Sie wirken nervös", sagte sie plötzlich, als sie wenig später neben ihm im Auto saß. „Viel negative Energie."
Er brauchte einen Moment, bis er verstand, was sie gesagt hatte. „Wie meinen Sie das?"
„Sie sollten sich das anschauen lassen. Man kann krank werden davon. Ich habe nämlich einen Blick dafür. Ich mache Energiearbeit, müssen Sie wissen."
Er nickte und wartete, bis die Ampel grün wurde. Beim Losfahren gingen ihm kurz die Reifen durch.
9 Uhr 15
Nach fast 20 Minuten Schweigen im Stop-and-go des Frühverkehrs erreichten sie das Landeskriminalamt in der Straßganger Straße. Baumgartner rollte mit seinem Dienstwagen durch die Nebeneinfahrt in der Grottenhofer Straße und nickte dem Portier zu, der gestresst aussah. Seit einigen Monaten war hier der provisorische Haupteingang, weil an der Straßganger Straße das neue Gebäude errichtet wurde. Es war an der Zeit: Der Komplex aus den Siebzigern, in dem sie derzeit saßen, wurde langsam etwas muffig. Er erinnerte an die drei Grazer Kasernen, die sich alle in unmittelbarer Nachbarschaft des Landeskriminalamts befanden. Als Baumgartner nach dem Wehrdienst in der Gablenz-Kaserne in die Polizeischule übersiedelt war - nur ein Stockwerk unter seiner jetzigen Kanzlei - hatte er deshalb auch das ungute Gefühl gehabt, weiterhin Soldat zu sein. Erst als sich der schulische Erfolg eingestellt hatte, durch seine klare Auffassungsgabe und sein überraschendes Abschneiden am Schießstand, war das Gefühl gewichen und hatte einer Zufriedenheit Platz gemacht, die er bis dahin nicht gekannt hatte. Erst zu diesem Zeitpunkt war er endgültig sicher gewesen, dass er Polizist werden wollte. Baumgartner ging mit Koren im Schlepptau zum Lift, vorbei an verblichenen, großformatigen Fotos von polizeiinternen Sportveranstaltungen - Schwimmen, Pistolenschießen, Bergsteigen. Sie fuhren in den dritten Stock, umrundeten einen großen Lichtschacht, der sich bis hinab ins Erdgeschoß erstreckte, passierten Sukitschs Tür und betraten gemeinsam die Kanzlei der Mordgruppe.
Baumgartner bat Koren, auf einen der Stühle in der Nähe des Eingangs Platz zu nehmen. „Bitte, warten Sie hier."
Wolf sah von seinem Tisch auf. Vor ihm lag seine Glock 19, zerlegt in ihre Einzelteile, zwischen einem guten Dutzend eng beschriebener gelber Post-its. Seine Hände bewegten sich präzise, fast liebevoll, als er mit einem Tuch das schwarze Plastik rieb. Baumgartner sah sich nach Meier um, die telefonierte. Als sie ihn sah, nahm sie das Telefon vom Ohr und hielt die Sprechmuschel zu.
„Franz, Steger fragt, wo du bleibst. Er will mit der Obduktion beginnen."
„Sag ihm, er soll warten", befahl Baumgartner.
„Er sagt, er hat eine Gruppe Studierende, die zusehen will. Er kann sie nicht warten lassen."
„Studenten?", fragte Baumgartner.
Sie zögerte. „Was soll ich ihm sagen?"
„Dass er warten soll."
Meier nickte.
Baumgartner wandte sich Wolf zu. „Wie läuft es bei dir? Hast du die Liste für Wilszek?"
„Die Sekretärin des Instituts schreibt sie gerade zusammen", antwortete Wolf und baute seine Dienstwaffe zusammen. „Ich warte auf die Mail."
Baumgartner drehte sich um und ging zurück zu Koren, die etwas verloren dort saß und aus den Augenwinkeln zu Wolf und seinem Putzritual hinüberspähte.
Da drehte sich Baumgartner noch einmal um. „Gregor? Schick mir einen Streifenwagen zur Gerichtsmedizin. Am liebsten diesen Blaschek, wenn er Zeit hat."
Wolf wartete auf eine Erklärung und als er keine erhielt, nickte er.
Baumgartner wandte sich an Koren. „Kommen Sie, gehen wir."
„Wohin?", fragte sie.
„Sie müssen uns bei der Identifizierung helfen."
9 Uhr 55
„Warten Sie draußen", sagte Baumgartner und trat in den Seziersaal. Dort stand bereits eine Gruppe junger Leute mit weißen Kitteln um einen metallenen Tisch, auf dem die nackte, blasse Leiche lag. Das Blut hatte man abgewaschen, nur noch die Ränder der klaffenden Wunde waren rot. Steger war auch da. Er entdeckte Baumgartner.
„Da sind Sie ja. Darf ich vorstellen -"
„Kommen Sie her", unterbrach ihn Baumgartner schroff.
Er zögerte und entschuldigte sich bei seinen Studenten.
„Was soll das?", fuhr Baumgartner ihn an.
„Was meinen Sie?", fragte Steger.
„Was ist mit den Studenten hier?"
„Sie machen bei mir eine Vorlesung", erklärte Steger. „Einführung in die Gerichtsmedizin."
„Schicken Sie sie nach Hause", sagte Baumgartner.
Steger sah ihn kühl an. „Das sind die Gerichtsmediziner von morgen. Wir müssen in die Zukunft investieren. Ob Sie das verstehen, ist mir ehrlich gesagt egal. Sie bleiben."
Die Männer schwiegen. Baumgartner hatte die Fäuste geballt.
„Sie haben mit der Obduktion zu warten, bis ich Zeit habe", sagte Baumgartner. „Sonst mach ich Sie zur Schnecke, das schwöre ich."
Steger hob beschwichtigend die Hände. „Ist ja gut. Nun haben Sie Zeit, oder?"
Da wich die Anspannung aus Baumgartners Körper. „Schicken Sie die Studenten hinaus und decken Sie die Leiche ab. Sie können sie später wieder hereinholen. Ich hab jemanden da, der sie vielleicht identifizieren kann."
Steger warf einen Blick auf seine Studenten, die bereits untereinander tuschelten, seufzte und ging mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.
„So, meine Damen und Herrn, ich muss Sie kurz noch einmal nach draußen bitten. Ja, ich weiß, es dauert alles länger als geplant. Ich fürchte, Hofstätter muss seine Vorlesung heute ausfallen lassen."
Baumgartner ging hinter der Gruppe her, um Koren zu holen. Als sie den Seziersaal mit seinem weißen Neonlicht und dem eigentümlichen Geruch von der Konservierungslösung für Körperpräparate betrat, schien sie noch kleiner zu werden.
„Kommen Sie", sagte Baumgartner leise. „Es dauert nicht lange. Sie haben es gleich hinter sich."
Kurz befürchtete er, sie könnte sich umdrehen und hinauslaufen, aber sie blieb tapfer und näherte sich dem Tisch, unter dem sich die Form der nackten Leiche abzeichnete.
„Ich werde die Decke wegziehen, damit Sie das Gesicht sehen können."
Sie sagte nichts, starrte nur die Leiche an. Da ging Baumgartner hin und schlug die Decke zurück. Sie stieß einen abgehackten Schrei aus. Baumgartner sah, wie sie zurückwich. Er war sich sicher, dass sie ihre Freundin erkannt hatte. In ihren Augen waren Tränen. Nach zwei Schritten stolperte sie über ihre eigenen Füße und fiel nach hinten auf den Boden. Baumgartner deckte das bläuliche Gesicht wieder zu und eilte zu ihr, um ihr aufzuhelfen. Er nahm ihren Arm und wollte sie wieder auf die Beine ziehen, doch sie blieb sitzen und begann laut zu schluchzen.
„Es tut mir leid", sagte Baumgartner und wusste nicht, ob es glaubwürdig klang. „Bitte, Frau Koren. Kommen Sie, gehen wir hinaus."
Sie schlang die Arme um seine Füße und vergrub das Gesicht in seine Hose.
Baumgartner wusste nicht, was er tun sollte. Er hatte Angst, sie könnte ihn umwerfen. „Frau Koren, bitte beruhigen Sie sich!"
Da kam Blaschek mit einem Kollegen durch die Tür herein. Koren heulte hemmungslos.
„Bitte, Blaschek", flehte er, „helfen Sie mir. Bringen Sie sie nach Hause."
Dieser eilte herbei und befreite Baumgartner vorsichtig aus ihrer Umarmung. Er richtete sie auf, doch ihre Knie klappten zusammen. Zu zweit stützten Blaschek und sein Kollege das Mädchen und trugen es hinaus.
Baumgartner versuchte vergeblich, die dunklen Tränenflecken auf seiner Hose wegzuwischen, als Steger wieder hereinkam, gefolgt von seinen Studenten.
„So, ich denke nun können wir beginnen, nicht wahr?"
Irgendjemand kicherte. Baumgartner sagte nichts. Gut gelaunt erklärte Steger das Procedere einer Obduktion und ließ sich manche Details von seinen Studenten ergänzen. „So, sehen wir uns die Tote einmal an. Was fällt Ihnen auf?"
Einige meldeten sich zu Wort. Der Schnitt wurde beschrieben, die zerfransten, aber geraden Wundränder. Jemand erriet, dass eine Säge verwendet worden war. Jemand anderer bemerkte die dunklen, scharfen Würgemale.
„Gut, sehr gut!", lobte Steger. „Sie sehen, wie aufschlussreich bereits so eine oberflächliche Betrachtung ist. Es muss alles protokolliert werden, jedes Detail kann den Ermittlern helfen. Bedenken Sie: Es ist nicht Ihre Aufgabe zu entscheiden, was wichtig ist und was nicht. Das ist die Verantwortung des Chefinspektors."
Er warf Baumgartner einen Blick zu.
„Gut, wenn es keine weiteren Details gibt, können wir mit der eigentlichen Obduktion beginnen."
„Entschuldigen Sie", meldete sich ein blondes Mädchen im Hintergrund, dessen schmales Gesicht fast so blass war wie die Haut der Leiche. Alle drehten sich nach ihr um. Sie errötete.
„Ja?", fragte Steger.
„Es ist wahrscheinlich kompletter Blödsinn. Es kann eigentlich nicht sein."
Ihre Stimme war fester, als ihr Gesichtsausdruck vermuten ließ.
„Was kann nicht sein?", wollte Baumgartner wissen. Etwas in ihm hatte Alarm geschlagen.
„Der Schnitt. Er ist genau rechtwinklig zur Körperachse. Glaube ich."
Steger lächelte. „So ist das, wenn man jemanden zerschneiden will. Das ist der kürzeste Weg."
Einige lachten. Baumgartner sah, dass sie noch nicht fertig war. Sie sah sich hilfesuchend um und als sie seinen Blick fand, fuhr sie fort.
„Es ist gar nicht der kürzeste Weg. Der wäre an der Taille. Außerdem wäre es leichter, unterhalb der Rippen zu schneiden. Der Mörder hat aber die letzte Rippe noch angesägt."
„Reden Sie weiter!", ermutigte sie Baumgartner.
Sie zögerte.
„Sie glauben, es gibt einen besonderen Grund, warum er hier gesägt hat?"
Steger lächelte immer noch und senkte den Blick.
„Sagen Sie es", drängte Baumgartner.
„Der Goldene Schnitt", sagte sie.
Plötzlich war es still im Seziersaal.
„Das ist eine schöne Idee", meinte Steger. „Aber wissen Sie, in der Praxis -"
„Was ist der Goldene Schnitt?", fragte Baumgartner.
„Ein besonders ausgewogenes mathematisches Längenverhältnis", erklärte Steger. „Zwei unterschiedlich lange Strecken. Die kurze verhält sich zur langen wie die lange zur Summe der beiden."
Baumgartner dachte kurz darüber nach.
„Was hat das für einen Sinn?"
„Hier? Gar keinen. Der Goldene Schnitt hat historische Bedeutung. Ein Sinnbild für Perfektion, schön anzuschauen. Finden Sie in alten Gemälden oder im Grundriss von Gebäuden."
„Messen Sie nach", befahl Baumgartner.
Steger holte ein Maßband aus der Tasche und drückte es einem Studenten neben sich in die Hand.
„Bitte."
Es wurde still, als der Student sich ans Messen machte. Nur das Tappen seiner Schritte auf dem Fliesenboden war zu hören.
„Eins fünfundsechzig groß."
„Messen Sie genau", sagte Steger und lächelte die blonde Studentin an. „Wir wollen sichergehen, dass wir uns nicht täuschen, nicht wahr?"
„Gut, also eins fünfundsechzig Komma fünf. Und der Schnitt -"
Er maß.
„Ein Meter und zwei Zentimeter."
„Genau?", fragte Steger.
Er nickte.
„Es stimmt", flüsterte die Studentin.
„Sind Sie sicher?", fragte Baumgartner.
Steger sah in die Runde. „Kann das irgendwer nachrechnen?"
„Sie hat recht." Jemand im Hintergrund hielt sein Smartphone in die Luft. „Fast auf den Millimeter."
„Na, dann müssen wir gratulieren, nicht wahr?", meinte Steger. Sein Lächeln war nicht mehr ganz so breit wie vorher. „Können wir jetzt beginnen?"
Baumgartner blieb, bis die Obduktion beendet war, doch seine Gedanken kreisten nur noch um die Entdeckung der Studentin. Sie hatte etwas gesehen, das ihm entgangen war. Vielleicht sollte er ihre Kontaktdaten aufschreiben.
Der Goldene Schnitt. Ein mathematisches Verhältnis. Was hatte das zu bedeuten?
... weniger
Autoren-Porträt von Reinhard Kleindl
Reinhard Kleindl, geboren 1980 in Graz, studierte Theoretische Physik und veröffentlichte schon früh Kurzgeschichten. Nach Abschluss des Studiums arbeitete er unter anderem als freier Wissenschaftsjournalist, bis er mit dem Trendsport "Slackline" in Kontakt kam. Inzwischen ist er Profi und realisiert Projekte rund um den Globus. 'Gezeichnet' ist sein Krimidebüt. www.buchwerk.at
Bibliographische Angaben
- Autor: Reinhard Kleindl
- 2015, 2. Aufl., 288 Seiten, Maße: 11,4 x 18,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Haymon Verlag
- ISBN-10: 3852189578
- ISBN-13: 9783852189574
- Erscheinungsdatum: 06.08.2014
Rezension zu „Gezeichnet “
"Die Bänder, die Reinhard Kleindl beim Slacklinen über Bergschluchten spannt, um darüber zu balancieren und so auf spektakuläre Art sein Geld zu verdienen, sind so kunstvoll gewoben wie der rote Faden, den er durch seinen ersten Krimi zieht. Und der Abgrund darunter ist ähnlich tief - und potenziell tödlich." Steirerkrone, Christoph Hartner "Der erste Krimi des jungen Grazer Physikers Reinhard Kleindl ist eine gelungene Talentprobe." Kurier, Peter Pisa "Wenn ein Physiker und Slackline-Pionier einen Krimi schreibt, wird einem nicht fad." FM4, Maria Motter "... eine wirklich gelungene Mischung mit hohem Unterhaltungswert. Und das ist bei einem Debütroman eine beachtliche Leistung und lässt in Zukunft auf das Beste hoffen. Die Kombination aus gut gezeichneten Charakteren, einer gelungen konstruierten Handlung und einer ebenso geschickt einen Spannungsbogen erzeugenden Erzählweise ergibt einen beachtenswerten Krimi." buchkritik.at, Alfred Ohswald
Pressezitat
"Die Bänder, die Reinhard Kleindl beim Slacklinen über Bergschluchten spannt, um darüber zu balancieren und so auf spektakuläre Art sein Geld zu verdienen, sind so kunstvoll gewoben wie der rote Faden, den er durch seinen ersten Krimi zieht. Und der Abgrund darunter ist ähnlich tief - und potenziell tödlich." Steirerkrone, Christoph Hartner "Der erste Krimi des jungen Grazer Physikers Reinhard Kleindl ist eine gelungene Talentprobe." Kurier, Peter Pisa "Wenn ein Physiker und Slackline-Pionier einen Krimi schreibt, wird einem nicht fad." FM4, Maria Motter "... eine wirklich gelungene Mischung mit hohem Unterhaltungswert. Und das ist bei einem Debütroman eine beachtliche Leistung und lässt in Zukunft auf das Beste hoffen. Die Kombination aus gut gezeichneten Charakteren, einer gelungen konstruierten Handlung und einer ebenso geschickt einen Spannungsbogen erzeugenden Erzählweise ergibt einen beachtenswerten Krimi." buchkritik.at, Alfred Ohswald
Kommentare zu "Gezeichnet"
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 33Schreiben Sie einen Kommentar zu "Gezeichnet".
Kommentar verfassen