Glasbläser-Trilogie
"Die Glasbläserin", "Die Amerikanerin" und "Das gläserne Paradies"
- Die Glasbläserin: Lauscha, ein kleines Glasbläserdorf im Thüringer Wald im Jahre 1890:
Der Glasbläser Joost Steinmann stirbt, und die drei Töchter Johanna, Marie und Ruth stehen völlig mittellos da....
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Glasbläser-Trilogie “
- Die Glasbläserin: Lauscha, ein kleines Glasbläserdorf im Thüringer Wald im Jahre 1890:
Der Glasbläser Joost Steinmann stirbt, und die drei Töchter Johanna, Marie und Ruth stehen völlig mittellos da. Als aber ein amerikanischer Geschäftsmann auf die schönen gläsernen Christbaumkugeln aus Lauscha aufmerksam wird, gibt er eine Großbestellung für Amerika in Auftrag. Die couragierte Marie wittert ihre Chance und bricht mit allen Regeln: Sie wagt es, als Frau kunstvolle Christbaumkugeln zu kreieren. - Die Amerikanerin: Marie und Wanda – zwei Frauen, zwei Schicksale und die alte Erkenntnis, dass Glück und Glas zerbrechlich sind: Inmitten gesellschaftlicher Umbrüche und Neuanfänge versuchen die Glasbläserin Marie aus dem thüringischen Lauscha und ihre junge Nichte Wanda, ihr persönliches Glück zu finden – und vor allem zu behalten.
- Das gläserne Paradies: Glück und Glas sind zerbrechlich. Das erlebt die junge Wanda am eigenen Leib, als sie 1911 zu ihrer Glasbläserfamilie in den Thüringer Wald zurückkehrt: Das gläserne Paradies ist in Gefahr, denn eine der wichtigsten Glashütten soll verkauft werden. Wanda versucht, mit allen Mitteln zu helfen. Doch was als vielversprechende Rettungsaktion gedacht war, endet in einer Katastrophe.
COBURGER TAGEBLATT
"Eine von Deutschlands First Ladies des historischen Romans."
Bild am Sonntag
"Petra Durst-Benning versteht es wunderbar, zu unterhalten und vergessene Orte mit Leben zu füllen."
SWR
Lese-Probe zu „Glasbläser-Trilogie “
Die Glasbläserin von Petra Durst-BenningERSTES BUCH
Herbst 1890
AUFBRUCH
»In einfarbiges Glas zu sehen ... das Auge wird erfreut, das Herz ausgedehnt, das Gemüt erheitert;
eine unmittelbare Wärme scheint uns anzuwehen.«
(Johann Wolfgang von Goethe)
1
... mehr
Schon zweimal war Ruth an diesem Morgen oben gewesen, um Johanna zu wecken. Jedes Mal hatte sie ein Brummen zur Antwort bekommen, das sie zu der Annahme verleitete, ihre Schwester würde tatsächlich aufstehen. Warum falle ich nur jeden Tag erneut darauf rein, fragte sich Ruth ärgerlich, als sie die schmalen Stufen, die Küche und Werkstatt mit der oberen Etage des Hauses verband, zum dritten Mal emporstieg. Der Geruch von ausgelassenem Speck begleitete sie. An der Dachluke stellte sie sich auf Zehenspitzen und warf einen Blick nach unten hinters Haus, wo sie Marie singen hörte. Eine Spinne hatte quer über die Luke ein Netz gespannt. Ohne das feinziselierte Kunstwerk auch nur eines Blickes zu würdigen, wischte Ruth es mit der Hand weg. Marie war nirgendwo zu sehen, genauso wenig wie Vater. Ruth verzog den Mund. Bis einer von den beiden merken würde, dass es in der Küche verbrannt roch, würden die Kartoffelscheiben und Speckstreifen nur noch ein Klumpen Holzkohle sein!
Die Tür zu der Kammer, in der sie und ihre beiden Schwestern schliefen, hatte sie beim letzten Versuch, Johanna zu wecken, offen gelassen. So konnte sie schon vom Treppenabsatz aus erkennen, dass Johanna immer noch nicht auf den Beinen war. Ohne ein Wort trat Ruth ans Bett, packte die Leinendecke an einem Zipfel und zerrte sie unter Johannas Armen hervor.
»Wie kannst du dich bei dieser Hitze so zudecken!« Kopfschüttelnd schaute sie auf ihre Schwester hinab, die endlich wach zu werden schien. Ruth ging zum Fenster und stieß beide Läden auf. Sofort drang die grelle Septembersonne ins Zimmer und tauchte alles in staubiges Licht.
Wie ein rheumatisches Weib schob Johanna ihre Beine aus dem Bett, und mehr als ein gequältes Stöhnen brachte sie dabei nicht heraus.
Ein scharfer Blick noch, und Ruth hastete die Treppe wieder hinunter, um das Frühstück zu retten. Während sie die Kartoffelscheiben und den Speck von der Pfanne löste und noch ein bisschen Öl nachgoss, dankte sie ihrem Herrgott dafür, eine Frühaufsteherin zu sein.
Von Kindesbeinen an hatte Johanna morgens nicht aufstehen wollen. Wie oft waren die Geschwister wegen ihr zu spät in die Dorfschule gekommen! Es war nicht so, dass Johanna einfach nur ungern aufstand - sie litt allmorgendlich und war vor zehn Uhr selten ein ganzer Mensch. »Es ist, als ob ich am Abend davor eine halbe Flasche Schnaps getrunken hätte«, hatte Johanna die Taubheit in ihrem Kopf einmal zu erklären versucht. Dabei hatten weder sie noch Ruth jemals eine halbe Flasche Schnaps getrunken und wussten demnach auch nicht genau, wie man sich danach fühlte. Jeder nahm Rücksicht auf Johannas morgendliche Schläfrigkeit und die Aufgaben im Haus waren unter den drei Schwestern so verteilt, dass Johanna morgens nichts zu schaffen hatte. Manchmal fragte sich Ruth jedoch, ob sie ihr damit überhaupt einen Gefallen taten. Sie seufzte. Wenn Mutter noch lebte ... die würde wahrscheinlich nicht so viel Aufhebens machen! Anna Steinmann war in vielen Fragen unnachgiebiger gewesen als ihr Mann. Ruth erschrak, als sie feststellte, dass sie Mühe hatte, sich das Gesicht ihrer Mutter für einen Moment vor Augen zu rufen. Zehn Jahre waren eine lange Zeit.
Das Wasser, das sie für den Morgenkaffee aufgesetzt hatte, begann dicke Blasen zu werfen und riss Ruth aus ihren Erinnerungen. Hastig zog sie den Kessel zur Seite. Sie mochte es nicht, wenn die kalt angesetzten Zichorienwurzeln zu brodeln begannen - zu schnell wurde das Getränk bitter. Besser war es, das Ganze nur leicht sieden zu lassen. Überhaupt war Ruth bei diesem Thema eigen: Der Kaffee, den sich die meisten im Dorf aus getrockneten und gemahlenen Runkelrüben brauten, konnte ihr gestohlen bleiben. Lieber würde sie Wasser trinken als dieses Gesöff! Am liebsten trank sie natürlich echten Bohnenkaffee, den es für ihren Geschmack allerdings viel zu selten gab. An jedem Freitag, wenn Johanna nach Sonneberg ging, um die Glaswaren zu verkaufen, die sie im Laufe der vergangenen Woche hergestellt hatten, brachte sie ein kleines Tütchen echten Bohnenkaffee mit. Obwohl es Joost Steinmann selbst nicht wichtig war, welche Art von Kaffee auf den Tisch kam, solange er dunkel und heiß war, gönnte er seinen Töchtern den kleinen Luxus. Und so war es ihnen schon vor langer Zeit zum Ritual geworden, Johannas Rückkehr aus Sonneberg mit Kaffee, süßem Brot und frisch eingelegtem Hering, den sie ebenfalls aus der Stadt mitbrachte, zu feiern.
Es waren diese kleinen Gewohnheiten, die sich herumsprachen und Joost Steinmann den Ruf einbrachten, eine »Weiberwirtschaft« zu haben. Dabei war es keineswegs so, dass Joosts Töchter Narrenfreiheit besaßen: In den eigenen vier Wänden hatten sie zwar tatsächlich mehr Freiheiten als andere Mädchen in ihrem Alter. Wenn es jedoch darum ging, seine drei Töchter vor vermeintlichem Übel zu bewahren, konnte Joost schlimmer als eine Glucke sein. Zum Singen in den Gesangsverein gehen? Unmöglich - wo doch auf dem Nachhauseweg böse Buben lauern konnten. Allein zu einer Sonnwendfeier? Diese Frage konnten sie sich sparen. Als ein paar Mädchen im Dorf einige Jahre zuvor eine Spinnstube gründeten, hatte er seine Töchter nicht einmal an deren harmlosen Zusammenkünften teilnehmen lassen. »Am Ende brecht ihr euch noch auf dem Nachhauseweg ein Bein!«, hatte er seine Ablehnung begründet und hinzugefügt: »Besser, ihr bleibt zu Hause und übt euch im Lesen und Schreiben.« Als ob Bücher ein Ersatz für fröhliches Geplänkel waren! Ruth schluckte. Ab November würde es wieder soweit sein: Während sich die anderen Mädchen an zwei Abenden in der Woche zum Spinnen trafen, würden sie und ihre Schwestern zu Hause hocken. Wenn nach der Spinnstube auf den Straßen die Schneebälle flogen und die Mädchen lachend und kreischend und von den Burschen verfolgt durch die Straßen rannten, würden Johanna, Marie und sie längst im Bett liegen.
Es war kein Wunder, dass es sich unter den jungen Burschen im Dorf längst herumgesprochen hatte, dass Joost es nicht schätzte, wenn seinen Mädchen der Hof gemacht wurde. Unter seinem missbilligenden Blick wurde es den meisten so unwohl, dass sie kein zweites Mal kamen, um eine der drei zu einem Spaziergang abzuholen.
Ruth ging zum Tisch und kramte in der Schublade nach dem kleinen Spiegel, den sie dort deponiert hatte. Wenn sie ihn weit genug von sich weg hielt, konnte sie - wenn auch nur klein - ihr ganzes Gesicht darin betrachten. Sie war eine Schönheit, das wusste sie. Ihre Schwestern und sie hatten die gleichmäßigen, wohlgeformten Züge ihrer Mutter geerbt, und diese war eine außergewöhnlich schöne Frau gewesen.
Entmutigt ließ Ruth den Spiegel sinken. Und wenn sie noch so zufrieden war mit dem, was sie im Spiegel sah - was nutzte es ihr? Würde jemals ein Mann ihre Lippen küssen? Würde ihr je einer sagen, dass ihre Augen glänzten wie dunkelster Bernstein? Oder dass ihre Haut so rein war wie ein Frühlingsmorgen? Wenn es nach Joost ginge, würde sie als alte Jungfer versauern!
Der einzige Mann, der regelmäßig bei ihnen ein und aus ging, war ihr Nachbar Peter Maienbaum. Seit dessen Eltern vor einigen Jahren kurz hintereinander gestorben waren, betrachtete Joost ihn als eine Art Sohn, keinesfalls jedoch als potentiellen Schürzenjäger. Ha!, von wegen! Ruth war sich ziemlich sicher, dass Peter schon seit längerem ein Auge auf Johanna geworfen hatte. So, wie er sie immer anstarrte! Doch außer ihr schien das niemandem aufzufallen, und Johanna schon gar nicht! Ruth seufzte tief auf. Wenn sie ein Mann so anschauen würde - sie würde es gewiss wahrnehmen!
»Johanna läuft wieder einmal durch die Gegend wie ein Hund ohne Schwanz! Aber kaum ist sie wach, kann sie uns für den Rest des Tages gar nicht genug herumkommandieren! Es ist doch immer dasselbe.« Graziös rutschte Marie auf die Eckbank. Sie war so schlank, dass sie dazu den Tisch nicht das kleinste Stück nach vorn schieben musste, bemerkte Ruth neidisch. Dabei waren alle drei Schwestern schlank, keine von ihnen so unförmig wie manches Weib im Dorf, mit hängenden Brüsten und schwammigen Rundungen überall. Jede von ihnen konnte dem lieben Gott für ausgeglichene Proportionen danken, für glatte, gesunde Haut und für kastanienfarbene Haare, die seidig glänzten, ohne dass sie mehr dafür tun mussten, als sie täglich mit hundert Strichen zu bürsten. Doch bei Marie war alles kleiner, feiner, zerbrechlicher - wie bei einer wertvollen Miniatur.
»Immerhin ist sie schon unten. Ich hab schon befürchtet, dass ich nochmals die Treppe hinauf muss«, antwortete Ruth trocken.
Nach dem Tod ihrer Mutter hatten sie es sich angewöhnt, sich im angrenzenden Schuppen, in dem sie auch die Wäsche machten, zu waschen. Auch Joost selbst ging zur Morgentoilette nach draußen, statt sich einfach in der Küche zu waschen. So konnte jeder seinen persönlichen Raum wahren, was den Mädchen so wichtig war wie Joost selbst.
»Wo bleibt eigentlich Vater?«
»Ich weiß nicht. Bei ihm ist's gestern Abend später geworden als sonst. Er ist so laut die Treppe hochgepoltert, dass ich davon aufgewacht bin. Danach konnte ich ewig nicht mehr einschlafen!« Marie zog eine Grimasse. »Er wird doch nicht einen Rausch ausschlafen?«
Ruth zuckte mit den Schultern. »So viel trinkt er nun auch nicht«, sagte sie in einem leicht entschuldigenden Ton. Dabei hatte sie keinen Grund, Joosts Wirtshausbesuche verteidigen zu müssen. Er ging zwar jeden Abend für ein paar Stunden in den Schwarzen Adler, aber im Gegensatz zu anderen Männern aus dem Dorf trank er dabei selten einen über den Durst.
Die Kartoffelscheiben hatten inzwischen eine kräftige braune Kruste bekommen. Ruth pickte sich mit den Fingern eine davon heraus und steckte sie hastig in den Mund. Heiß! Dann schenkte sie Marie und sich einen Becher Kaffee ein. Der würzige Duft passte zu dem sonnigen Morgen. Pflaumenkuchentage nannte sie die sonnenbeglückten Tage, die nicht mehr zum Sommer, aber auch noch nicht zum Herbst gehörten. Das Konzert der Vögel, die es sich den Sommer über in dem großen Birnenbaum vor dem Küchenfenster bequem gemacht hatten, fehlte um diese Jahreszeit. Nur hin und wieder war ein Amselzirpen oder das grelle Pfeifen einer Lerche zu hören. Und bald würden die Herbstnebel auch dieses ersticken. Ruth inhalierte schnell den Kaffeeduft. Sie hasste die kalte Jahreszeit.
»Es dauert nicht mehr lange, dann müssen wir morgens wieder Licht machen«, sagte Marie, als habe sie dieselben Gedanken gehabt.
Dass die eine aussprach, was der anderen durch den Kopf ging, kam bei den Schwestern öfter vor.
Ja, sie hatten sich nach Anna Steinmanns Tod arrangiert - was das Zusammenleben und auch was die Arbeit anging. Natürlich fehlten immer irgendwo ein Paar Hände zum Anpacken. Aber mochten die anderen Glasbläser im Dorf lästern oder gutmütig spotten - die Steinmannsche Weiberwirtschaft gehörte nicht zu den schlechtesten Betrieben. Die Apotheker- und Reagenzgläser, die sie herstellten, waren erster Güte. Dass die Steinmanns die Produkte von Anfang bis Ende fertig machen konnten und keinen Arbeitsgang - weder das Schleifen der Stöpsel noch das Beschriften oder das Verpacken der Gläser - aus dem Haus geben mussten, war dabei von großem Vorteil. Wie die anderen Glasbläser verkauften auch sie ihre gesamten Waren an einen Verleger im nahe gelegenen Sonneberg. Friedhelm Strobel, dessen Verlagshaus beste Kontakte weltweit pflegte, betonte immer wieder, dass er durchaus bereit wäre, mehr Steinmann-Gläser aufzukaufen. Doch mit nur einem Glasbläser im Haus war es ihnen unmöglich, eine höhere Stückzahl herzustellen. Ein patenter Schwiegersohn wäre da eine große Hilfe, bekam Joost von seinen Wirtshauskameraden immer wieder zu hören. Doch er winkte nur ab. »Meine Mädchen müssen nicht heiraten - und des Geldes wegen schon gar nicht!«, war eine seiner beliebten Redensarten, die er mit nicht wenig Stolz in der Stimme zum Besten gab.
Mit einem Seufzer stellte Ruth ihren Becher ab und ging zum Herd. Mühelos hob sie die schwere gusseiserne Pfanne und stellte die Morgenmahlzeit auf dem Tisch ab. »Jetzt reicht's! Ich geh' nachschauen, wo ...« Sie brach ab. Johanna war im Türrahmen erschienen. Noch blasser als sonst am Morgen, die Augen weit aufgerissen, als habe sie im Gang den Teufel getroffen, hielt sie sich eine Hand vor den Mund, schien einen nicht enden wollenden Schrei zu unterdrücken.
»Johanna! Um Gottes willen! Was ist los?«, rief Marie.
Ruth verspürte einen Klumpen in ihrem Hals, der vor einem Augenblick noch nicht da gewesen war. Zwei eiskalte Hände quetschten ihr Herz zusammen, und sie wusste in diesem Moment, dass etwas Furchtbares passiert war. Sie brachte keinen Ton heraus.
»Der Vater ... « Auf Johannas Stirn hatte sich eine Falte gebildet, die vom Haaransatz bis zur Nase reichte. »Er liegt oben im Bett. Er rührt sich nimmer.«
...
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Schon zweimal war Ruth an diesem Morgen oben gewesen, um Johanna zu wecken. Jedes Mal hatte sie ein Brummen zur Antwort bekommen, das sie zu der Annahme verleitete, ihre Schwester würde tatsächlich aufstehen. Warum falle ich nur jeden Tag erneut darauf rein, fragte sich Ruth ärgerlich, als sie die schmalen Stufen, die Küche und Werkstatt mit der oberen Etage des Hauses verband, zum dritten Mal emporstieg. Der Geruch von ausgelassenem Speck begleitete sie. An der Dachluke stellte sie sich auf Zehenspitzen und warf einen Blick nach unten hinters Haus, wo sie Marie singen hörte. Eine Spinne hatte quer über die Luke ein Netz gespannt. Ohne das feinziselierte Kunstwerk auch nur eines Blickes zu würdigen, wischte Ruth es mit der Hand weg. Marie war nirgendwo zu sehen, genauso wenig wie Vater. Ruth verzog den Mund. Bis einer von den beiden merken würde, dass es in der Küche verbrannt roch, würden die Kartoffelscheiben und Speckstreifen nur noch ein Klumpen Holzkohle sein!
Die Tür zu der Kammer, in der sie und ihre beiden Schwestern schliefen, hatte sie beim letzten Versuch, Johanna zu wecken, offen gelassen. So konnte sie schon vom Treppenabsatz aus erkennen, dass Johanna immer noch nicht auf den Beinen war. Ohne ein Wort trat Ruth ans Bett, packte die Leinendecke an einem Zipfel und zerrte sie unter Johannas Armen hervor.
»Wie kannst du dich bei dieser Hitze so zudecken!« Kopfschüttelnd schaute sie auf ihre Schwester hinab, die endlich wach zu werden schien. Ruth ging zum Fenster und stieß beide Läden auf. Sofort drang die grelle Septembersonne ins Zimmer und tauchte alles in staubiges Licht.
Wie ein rheumatisches Weib schob Johanna ihre Beine aus dem Bett, und mehr als ein gequältes Stöhnen brachte sie dabei nicht heraus.
Ein scharfer Blick noch, und Ruth hastete die Treppe wieder hinunter, um das Frühstück zu retten. Während sie die Kartoffelscheiben und den Speck von der Pfanne löste und noch ein bisschen Öl nachgoss, dankte sie ihrem Herrgott dafür, eine Frühaufsteherin zu sein.
Von Kindesbeinen an hatte Johanna morgens nicht aufstehen wollen. Wie oft waren die Geschwister wegen ihr zu spät in die Dorfschule gekommen! Es war nicht so, dass Johanna einfach nur ungern aufstand - sie litt allmorgendlich und war vor zehn Uhr selten ein ganzer Mensch. »Es ist, als ob ich am Abend davor eine halbe Flasche Schnaps getrunken hätte«, hatte Johanna die Taubheit in ihrem Kopf einmal zu erklären versucht. Dabei hatten weder sie noch Ruth jemals eine halbe Flasche Schnaps getrunken und wussten demnach auch nicht genau, wie man sich danach fühlte. Jeder nahm Rücksicht auf Johannas morgendliche Schläfrigkeit und die Aufgaben im Haus waren unter den drei Schwestern so verteilt, dass Johanna morgens nichts zu schaffen hatte. Manchmal fragte sich Ruth jedoch, ob sie ihr damit überhaupt einen Gefallen taten. Sie seufzte. Wenn Mutter noch lebte ... die würde wahrscheinlich nicht so viel Aufhebens machen! Anna Steinmann war in vielen Fragen unnachgiebiger gewesen als ihr Mann. Ruth erschrak, als sie feststellte, dass sie Mühe hatte, sich das Gesicht ihrer Mutter für einen Moment vor Augen zu rufen. Zehn Jahre waren eine lange Zeit.
Das Wasser, das sie für den Morgenkaffee aufgesetzt hatte, begann dicke Blasen zu werfen und riss Ruth aus ihren Erinnerungen. Hastig zog sie den Kessel zur Seite. Sie mochte es nicht, wenn die kalt angesetzten Zichorienwurzeln zu brodeln begannen - zu schnell wurde das Getränk bitter. Besser war es, das Ganze nur leicht sieden zu lassen. Überhaupt war Ruth bei diesem Thema eigen: Der Kaffee, den sich die meisten im Dorf aus getrockneten und gemahlenen Runkelrüben brauten, konnte ihr gestohlen bleiben. Lieber würde sie Wasser trinken als dieses Gesöff! Am liebsten trank sie natürlich echten Bohnenkaffee, den es für ihren Geschmack allerdings viel zu selten gab. An jedem Freitag, wenn Johanna nach Sonneberg ging, um die Glaswaren zu verkaufen, die sie im Laufe der vergangenen Woche hergestellt hatten, brachte sie ein kleines Tütchen echten Bohnenkaffee mit. Obwohl es Joost Steinmann selbst nicht wichtig war, welche Art von Kaffee auf den Tisch kam, solange er dunkel und heiß war, gönnte er seinen Töchtern den kleinen Luxus. Und so war es ihnen schon vor langer Zeit zum Ritual geworden, Johannas Rückkehr aus Sonneberg mit Kaffee, süßem Brot und frisch eingelegtem Hering, den sie ebenfalls aus der Stadt mitbrachte, zu feiern.
Es waren diese kleinen Gewohnheiten, die sich herumsprachen und Joost Steinmann den Ruf einbrachten, eine »Weiberwirtschaft« zu haben. Dabei war es keineswegs so, dass Joosts Töchter Narrenfreiheit besaßen: In den eigenen vier Wänden hatten sie zwar tatsächlich mehr Freiheiten als andere Mädchen in ihrem Alter. Wenn es jedoch darum ging, seine drei Töchter vor vermeintlichem Übel zu bewahren, konnte Joost schlimmer als eine Glucke sein. Zum Singen in den Gesangsverein gehen? Unmöglich - wo doch auf dem Nachhauseweg böse Buben lauern konnten. Allein zu einer Sonnwendfeier? Diese Frage konnten sie sich sparen. Als ein paar Mädchen im Dorf einige Jahre zuvor eine Spinnstube gründeten, hatte er seine Töchter nicht einmal an deren harmlosen Zusammenkünften teilnehmen lassen. »Am Ende brecht ihr euch noch auf dem Nachhauseweg ein Bein!«, hatte er seine Ablehnung begründet und hinzugefügt: »Besser, ihr bleibt zu Hause und übt euch im Lesen und Schreiben.« Als ob Bücher ein Ersatz für fröhliches Geplänkel waren! Ruth schluckte. Ab November würde es wieder soweit sein: Während sich die anderen Mädchen an zwei Abenden in der Woche zum Spinnen trafen, würden sie und ihre Schwestern zu Hause hocken. Wenn nach der Spinnstube auf den Straßen die Schneebälle flogen und die Mädchen lachend und kreischend und von den Burschen verfolgt durch die Straßen rannten, würden Johanna, Marie und sie längst im Bett liegen.
Es war kein Wunder, dass es sich unter den jungen Burschen im Dorf längst herumgesprochen hatte, dass Joost es nicht schätzte, wenn seinen Mädchen der Hof gemacht wurde. Unter seinem missbilligenden Blick wurde es den meisten so unwohl, dass sie kein zweites Mal kamen, um eine der drei zu einem Spaziergang abzuholen.
Ruth ging zum Tisch und kramte in der Schublade nach dem kleinen Spiegel, den sie dort deponiert hatte. Wenn sie ihn weit genug von sich weg hielt, konnte sie - wenn auch nur klein - ihr ganzes Gesicht darin betrachten. Sie war eine Schönheit, das wusste sie. Ihre Schwestern und sie hatten die gleichmäßigen, wohlgeformten Züge ihrer Mutter geerbt, und diese war eine außergewöhnlich schöne Frau gewesen.
Entmutigt ließ Ruth den Spiegel sinken. Und wenn sie noch so zufrieden war mit dem, was sie im Spiegel sah - was nutzte es ihr? Würde jemals ein Mann ihre Lippen küssen? Würde ihr je einer sagen, dass ihre Augen glänzten wie dunkelster Bernstein? Oder dass ihre Haut so rein war wie ein Frühlingsmorgen? Wenn es nach Joost ginge, würde sie als alte Jungfer versauern!
Der einzige Mann, der regelmäßig bei ihnen ein und aus ging, war ihr Nachbar Peter Maienbaum. Seit dessen Eltern vor einigen Jahren kurz hintereinander gestorben waren, betrachtete Joost ihn als eine Art Sohn, keinesfalls jedoch als potentiellen Schürzenjäger. Ha!, von wegen! Ruth war sich ziemlich sicher, dass Peter schon seit längerem ein Auge auf Johanna geworfen hatte. So, wie er sie immer anstarrte! Doch außer ihr schien das niemandem aufzufallen, und Johanna schon gar nicht! Ruth seufzte tief auf. Wenn sie ein Mann so anschauen würde - sie würde es gewiss wahrnehmen!
»Johanna läuft wieder einmal durch die Gegend wie ein Hund ohne Schwanz! Aber kaum ist sie wach, kann sie uns für den Rest des Tages gar nicht genug herumkommandieren! Es ist doch immer dasselbe.« Graziös rutschte Marie auf die Eckbank. Sie war so schlank, dass sie dazu den Tisch nicht das kleinste Stück nach vorn schieben musste, bemerkte Ruth neidisch. Dabei waren alle drei Schwestern schlank, keine von ihnen so unförmig wie manches Weib im Dorf, mit hängenden Brüsten und schwammigen Rundungen überall. Jede von ihnen konnte dem lieben Gott für ausgeglichene Proportionen danken, für glatte, gesunde Haut und für kastanienfarbene Haare, die seidig glänzten, ohne dass sie mehr dafür tun mussten, als sie täglich mit hundert Strichen zu bürsten. Doch bei Marie war alles kleiner, feiner, zerbrechlicher - wie bei einer wertvollen Miniatur.
»Immerhin ist sie schon unten. Ich hab schon befürchtet, dass ich nochmals die Treppe hinauf muss«, antwortete Ruth trocken.
Nach dem Tod ihrer Mutter hatten sie es sich angewöhnt, sich im angrenzenden Schuppen, in dem sie auch die Wäsche machten, zu waschen. Auch Joost selbst ging zur Morgentoilette nach draußen, statt sich einfach in der Küche zu waschen. So konnte jeder seinen persönlichen Raum wahren, was den Mädchen so wichtig war wie Joost selbst.
»Wo bleibt eigentlich Vater?«
»Ich weiß nicht. Bei ihm ist's gestern Abend später geworden als sonst. Er ist so laut die Treppe hochgepoltert, dass ich davon aufgewacht bin. Danach konnte ich ewig nicht mehr einschlafen!« Marie zog eine Grimasse. »Er wird doch nicht einen Rausch ausschlafen?«
Ruth zuckte mit den Schultern. »So viel trinkt er nun auch nicht«, sagte sie in einem leicht entschuldigenden Ton. Dabei hatte sie keinen Grund, Joosts Wirtshausbesuche verteidigen zu müssen. Er ging zwar jeden Abend für ein paar Stunden in den Schwarzen Adler, aber im Gegensatz zu anderen Männern aus dem Dorf trank er dabei selten einen über den Durst.
Die Kartoffelscheiben hatten inzwischen eine kräftige braune Kruste bekommen. Ruth pickte sich mit den Fingern eine davon heraus und steckte sie hastig in den Mund. Heiß! Dann schenkte sie Marie und sich einen Becher Kaffee ein. Der würzige Duft passte zu dem sonnigen Morgen. Pflaumenkuchentage nannte sie die sonnenbeglückten Tage, die nicht mehr zum Sommer, aber auch noch nicht zum Herbst gehörten. Das Konzert der Vögel, die es sich den Sommer über in dem großen Birnenbaum vor dem Küchenfenster bequem gemacht hatten, fehlte um diese Jahreszeit. Nur hin und wieder war ein Amselzirpen oder das grelle Pfeifen einer Lerche zu hören. Und bald würden die Herbstnebel auch dieses ersticken. Ruth inhalierte schnell den Kaffeeduft. Sie hasste die kalte Jahreszeit.
»Es dauert nicht mehr lange, dann müssen wir morgens wieder Licht machen«, sagte Marie, als habe sie dieselben Gedanken gehabt.
Dass die eine aussprach, was der anderen durch den Kopf ging, kam bei den Schwestern öfter vor.
Ja, sie hatten sich nach Anna Steinmanns Tod arrangiert - was das Zusammenleben und auch was die Arbeit anging. Natürlich fehlten immer irgendwo ein Paar Hände zum Anpacken. Aber mochten die anderen Glasbläser im Dorf lästern oder gutmütig spotten - die Steinmannsche Weiberwirtschaft gehörte nicht zu den schlechtesten Betrieben. Die Apotheker- und Reagenzgläser, die sie herstellten, waren erster Güte. Dass die Steinmanns die Produkte von Anfang bis Ende fertig machen konnten und keinen Arbeitsgang - weder das Schleifen der Stöpsel noch das Beschriften oder das Verpacken der Gläser - aus dem Haus geben mussten, war dabei von großem Vorteil. Wie die anderen Glasbläser verkauften auch sie ihre gesamten Waren an einen Verleger im nahe gelegenen Sonneberg. Friedhelm Strobel, dessen Verlagshaus beste Kontakte weltweit pflegte, betonte immer wieder, dass er durchaus bereit wäre, mehr Steinmann-Gläser aufzukaufen. Doch mit nur einem Glasbläser im Haus war es ihnen unmöglich, eine höhere Stückzahl herzustellen. Ein patenter Schwiegersohn wäre da eine große Hilfe, bekam Joost von seinen Wirtshauskameraden immer wieder zu hören. Doch er winkte nur ab. »Meine Mädchen müssen nicht heiraten - und des Geldes wegen schon gar nicht!«, war eine seiner beliebten Redensarten, die er mit nicht wenig Stolz in der Stimme zum Besten gab.
Mit einem Seufzer stellte Ruth ihren Becher ab und ging zum Herd. Mühelos hob sie die schwere gusseiserne Pfanne und stellte die Morgenmahlzeit auf dem Tisch ab. »Jetzt reicht's! Ich geh' nachschauen, wo ...« Sie brach ab. Johanna war im Türrahmen erschienen. Noch blasser als sonst am Morgen, die Augen weit aufgerissen, als habe sie im Gang den Teufel getroffen, hielt sie sich eine Hand vor den Mund, schien einen nicht enden wollenden Schrei zu unterdrücken.
»Johanna! Um Gottes willen! Was ist los?«, rief Marie.
Ruth verspürte einen Klumpen in ihrem Hals, der vor einem Augenblick noch nicht da gewesen war. Zwei eiskalte Hände quetschten ihr Herz zusammen, und sie wusste in diesem Moment, dass etwas Furchtbares passiert war. Sie brachte keinen Ton heraus.
»Der Vater ... « Auf Johannas Stirn hatte sich eine Falte gebildet, die vom Haaransatz bis zur Nase reichte. »Er liegt oben im Bett. Er rührt sich nimmer.«
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Autoren-Porträt von Petra Durst-Benning
Petra Durst-Benning, 1965 in Baden-Württemberg geboren, lebt mit ihrem Mann südlich von Stuttgart. Mit ihren historischen Romanen zählt sie zur ersten Garde deutscher Bestsellerautorinnen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Petra Durst-Benning
- 1383 Seiten, Maße: 13,2 x 20,9 cm, Gebunden
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868008268
- ISBN-13: 9783868008265
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