Grabmoosalm
Die Moserin hoch über Rosenheim hat ihre Tochter mit dem Wolf verwechselt, der ihre Schafe reißt. Deshalb ist die Tochter jetzt tot. Und der Moserin fehlt jede Erinnerung an die Tat. Oder etwa doch nicht? Als die Polizei den Fall...
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Produktinformationen zu „Grabmoosalm “
Die Moserin hoch über Rosenheim hat ihre Tochter mit dem Wolf verwechselt, der ihre Schafe reißt. Deshalb ist die Tochter jetzt tot. Und der Moserin fehlt jede Erinnerung an die Tat. Oder etwa doch nicht? Als die Polizei den Fall abschließt, beginnt Kriminalrat a.D. Joe Ottakring selbst zu ermitteln.
Klappentext zu „Grabmoosalm “
In der kleinen Welt der Vergesslichen passiert ein großes Unglück: Die Moserin von der Grabmoosalm hoch über Rosenheim hat ihre Tochter mit dem Wolf verwechselt, der ihre Schafe reißt. Deshalb ist die Tochter jetzt tot. Und der Moserin fehlt jede Erinnerung an die Tat. Oder doch nicht? Als die Polizei den Fall abschließt, fängt Kriminalrat a. D. Joe Ottakring selbst an zu ermitteln.
Lese-Probe zu „Grabmoosalm “
Grabmoosalm von Hannsdieter Loy»Die Person sickert Tropfen für Tropfen aus der Person heraus. «
Aus: Arno Geiger, » Der alte König in seinem Exil «
Von Bayern, insbesondere von Oberbayern, schwärmen viele und reden nur Gutes. Japaner, Texaner, Südkoreaner, Taiwaner, auch manche Bürger der in Einzelstaaten zersplitterten früheren Sowjetunion lassen ihr Geld hier. Sie loben das Bier und die knusprigen Haxn vom Schwein und die zarten von den Deandln. Das sind meist Menschen, die noch nie einen Tag in der Zentralschweiz, in der Steiermark, in Tirol oder Vorarlberg verbracht haben, wo's auch fast so schön ist.
Einverstanden. Man kann's hier aushalten. Und es gibt auch Flecken, die wirklich anziehend sind - Chiemsee, Neuschwanstein, Brünnstein, das Rosenheimer Land zum Beispiel. Aber dann gibt es eben auch - wie im richtigen Leben - gar grausliche Stellen auf der oberbayerischen Erdoberfläche. Nur Kasachen würden dort hinfahren oder vielleicht noch Nordäthiopier. Aber keiner der oben genannten Bayernfans.
Deshalb gibt es in dieser kargen Region weit und breit kein Tourismusbüro. Wahrscheinlich hat man weltweit noch kaum von diesem Landstrich in Oberbayern gehört.
Selbstverständlich trifft man auch hier Berge, Hügel, Dörfer und Seen an. Nur sind die Berge und Hügel nicht frisch und bunt, abenteuerlich gezackt und in Stein gehauen wie im übrigen Alpenland, sondern vegetieren halbrund und in kränkelndem Grau vor sich hin. Die Wälder sind morsch und braun, durchsetzt von umgefallenen und abgeknickten Bäumen. Nach den Stürmen und der folgenden Sommerhitze der letzten Jahre ist der Borkenkäfer als strahlender Sieger hervorgegangen.
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Die wenigen Dörfer dort töten den Nerv jedes unfreiwilligen Besuchers, und die zwei, drei Seen, die es gibt, bestehen zu acht Zehnteln aus Sumpf und Moor.
Es gibt Eichhörnchen, die auf den Fang von Kröten und Schmetterlingen aus sind, es wimmelt geradezu von flammendrot-nachtschwarz gefleckten Salamandern, die sich selbst auffressen und da- her zu den bedrohten Tierarten zählen, und man hört immer wieder von grünäugigen Wölfen, die anderen Tieren das Leben schwer machen oder es gar beenden.
Trotzdem leben in dieser abscheulichen Einöde Menschen. Es bleibt ihnen nichts anderes über.
Beispielsweise auf der Grabmoosalm. Das ist jene Alm in tau- sendzweihundertzwölf Metern Höhe, auf die man trifft, wenn man das stacheldrahtumzäunte Gelände der Papierfabrik umgangen, den übel riechenden Fluss überquert, das Schlangendickicht hinter sich gelassen hat und den zerfurchten, schmierigen Pfad hin - aufgestiegen ist, den die Waldbauern nach ihren Holzfällerarbeiten hinterlassen haben. Meist wird die Grabmoosalm umwabert von tief hängenden Wolken oder hoch stehendem Nebel, der sich mit dem beißenden Qualm der Fabrik tief unten mischt. Das wiederum hat den Vorteil, dass man die Wesen, die dort existieren, nicht so genau erkennt.
Alles wirkt ein bisserl geheimnisvoll, mysteriös.
Da hatten wir zum Beispiel die Annemirl. Ihr Gesicht glich der Landschaft um sie herum - Berge, Hügel, Dörfer, Seen. Es war von den Sorgen und dem Verdruss der Vergangenheit gezeichnet. Trotzdem muss man sagen, dass sich hinter ihrer allzeit strengen Miene durchaus der Charakter einer zärtlichen Mutter verbarg, die sie für ihre Tochter Resi zeitlebens gewesen war.
Ein Merkmal, das muss betont werden, ragte aus dem Gesicht der Annemirl hervor. Die Nase. Sie war so entwickelt wie in alten Zeiten beim Herrschergeschlecht der Habsburger. Zuerst aus der Gegend zwischen den Augen schräg und zielstrebig nach vorn schießend. Dann über einen krummen Rücken kühn abfallend wie ein Wasserfall, der sich in eine Klamm ergießt, bis zur Mundpartie, wo der untere, parallel zur Erdoberfläche waagrecht abstehen- de Nasenteil sich wieder dem übrigen Gelände einordnet. Wie gesagt, wie bei den Habsburgern. Womit nicht angedeutet werden soll, dass die Mosers von Königen und Kaisern abstammten. Vermutlich wussten sie nicht einmal etwas mit dem historischen Namen anzufangen.
Und dennoch: Die Vorfahren der Annemirl könnten durchaus einmal einem Habsburger über den Weg gelaufen sein. Denn die Mosers bewirtschafteten die Grabmoosalm seit Menschengedenken. Annemirl hatte sie vor Jahren von ihrer Mutter übernommen. Von der Moserin, so wird der jeweils älteste Familienteil genannt. Immer war es eine Frau, niemals ein Mann. Männer schienen in der Hierarchie dieser Almbauern über die Jahrhunderte nichts zu suchen gehabt zu haben. Nicht, dass die Moserinnen sich wie Einzeller selbst vermehrt hätten. Dazu bedurfte es durchaus eines Mannes und herkömmlicher Methode. Doch ein Mann tauchte im Familienbuch nie auf. Es war stets bei einer Moserin geblieben.
Ob es nun an den Charaktereigenschaften der Mosers gelegen hat, an der Einsamkeit dort oben oder ob es die pure Verzweiflung war, in dieser trostlosen Gegend leben zu müssen - die Bewohner der Grabmoosalm lagen ständig in Streit miteinander. Und zwar jede mit jeder. Besonders hervorgetan hatten sich dabei die Moserin und die Annemirl, ihre Tochter.
»Geh du heid in den Stall! «
»Na, i war gestern scho. Geh du! «
» Zifixluja no amoi! I werd an Dreck tun und in'n Stoi gehn. Geh du, hab i gsagt! «
Sie lagen sich in den Haaren, zerrten sich an ihren Schürzen, bis sie auf dem Fußboden herumkugelten. Und vertrugen sich erst nach Tagen wieder, bevor der Streit aufs Neue losging.
Hätte die Annemirl auch nur im Entferntesten geahnt, wie schrecklich absehbar ihre Zukunft sein würde, als sie an diesem Tag auf die Jagd nach dem Wolf ging, hätte sie ihre Mutter wahrscheinlich vorher erschlagen.
So aber kam alles ganz anders.
Erster Teil
EINS
Es ging alles sehr schnell. Die Annemirl konnte nicht vorhersehen, dass sie praktisch überhaupt keine Zukunft mehr vor sich hatte. Jedenfalls keine, die der Erwähnung wert gewesen wäre.
Draußen wehte ein leichter Wind von Norden. Es war kühl. Neblig trotz des Luftzugs. Im Gastraum der Grabmoosalm verbreitete der alte tannengrüne Kachelofen eine wohlige Wärme. Die Annemirl stand mit einem Haferl heißem Kaffee in der Hand vor einem der vier Jogltische im Gastraum. Die geladene Flinte von der Wolfsjagd schob sie quer über den Tisch zu ihrem Platz.
Es schepperte.
Raffiniert wie eine Giftschlange schnappte sich die alte Moserin die geladene Flinte genau in dem Augenblick, als die Annemirl mit ihrem halb vollen Kaffeehaferl aus cremefarbener Keramik an ihren Platz auf der Bank rutschte. Sie schob sich noch ein rotes Kissen unter, sammelte den langen Rock ein und streifte die weiße Schürze glatt. Hinter ihr ein Fenster, rote Geranien in der Fensternische.
Die Moserin hob die Flinte fachgerecht und legte an. Entsicherte. Zielte über Kimme und Korn auf ihre Tochter. Sie rang nach Luft. Schweiß perlte von ihrer Stirn.
» Was machst du da? « , schrie die Annemirl. » Du blöde Kuh! Nimm die Flinte runter! «
Sie wollte die Tasse an die Lippen setzen. Ihre Hand blieb mitten in der Bewegung stehen.
Der lang gezogene Knall eines Gewehrschusses rollte durch den Gastraum.
Wie eine Granate explodierte die Kaffeetasse vor dem Gesicht der Annemirl. Winzige, halb winzige und sehr winzige Scherbchen verteilten sich zusammen mit dem braunen Gesöff auf einen Schlag über Annemirls weiße Schürze, ihr blutleeres Gesicht und das eh schon rot geblümte Kopftuch. Hässliche Flecken entstanden.
Ein dünner Schrei von der Tür her. Die Resi hielt sich die eine Hand vor den Mund und den Seppe an der anderen Hand.
Die Sissi sah vom Ofen her gelangweilt auf.
»Was haaaaaa ...« Was hast du vor, wollte die Annemirl wohl noch schreien. Es wären ihre letzten Worte gewesen. Doch dazu kam es nicht mehr. Im Moment des größten Mundaufsperrens beim »aaaa ...« schlug die zweite Kugel in rotes Fleisch ein und nahm auch noch drei Zähne mit.
Die Moserin hatte ihr mit unbewegtem Gesicht direkt in den Mund geschossen.
Alles, was die Moser Annemirl je gewusst, gedacht, gefühlt oder geliebt hatte, troff behutsam wie Himbeerpudding an der Glasscheibe hinter ihr hinab.
Die Moserin, wie sie ihr den Schlüssel zur Alm übergibt. Die kraftvolle Gestalt Sissis, wie sie sich in den Wolf verbeißt. Der Körper ihres toten Babys in seinem Bettchen, ihre erste Fehlgeburt. Der Streit mit dem Pfarrer wegen ihres sündigen Verhältnisses im Dorf unten. Weihnachten auf der Alm. Das Gesicht ihrer Tochter und ihres Enkels, die jetzt fassungslos an der Tür verharren.
Bilder über Bilder, die sich in weniger als einer Viertelsekunde gegenseitig einholten, bevor ihr durchlöcherter Kopf, von dem die Hälfte fehlte, nach links wegrutschte.
Die Moserin bückte sich, legte das Gewehr auf den Holzbohlen des Fußbodens nieder, pflückte die zwei leeren Patronenhülsen vom Teppich, pustete hinein und steckte sie in die Schürzentasche.
»Endlich isser tot, der Wolf « , flüsterte sie halblaut und ließ sich auf der Bank am Kachelofen nieder. Sie senkte die Augen auf die unter ihr liegende Sissi und seufzte tief.
»Endlich tot. Kein Schaf mehr kaputt. «
Die Resi stand mit pochendem Herz und nahm das Bild in sich auf. Sie würde es für ewig in sich tragen. Ihre Mutter tot, ihr zerschossener Kopf, ein umgestürzter Stuhl, das verspritzte Blut und ihr Gehirn, ein Gewehr auf den Holzbohlen neben einem hellen Webteppich mit blauen Rändern.
»Wieso sagst du mir am Telefon, dass die Annemirl gstorbn ist, ha?« fragte der Landarzt die Resi aufgebracht.
Er war ein dicker Mann in grünem Loden und war mit seinem alten Schnauferl den Berg heraufgekommen.
»Die ist erschossen worden. Ermordet. Oder hat sie sich selber erschossen? Jedenfalls einfach so vor sich hingstorbn is die ned. «
Die Augen des Doktors schossen Blitze durch die starke Hornbrille in Resis Richtung.
»Hast du des gsehn, wie's passiert ist, ha? «
Als die Resi wortlos und noch immer verstört nickte, sagte er: » I will's gar ned wissen. Plag di net. Ich muss eh die Polizei ein- schalten. Erzähl du des denen. «
» Also, dann erzählen Sie! «
Während die beiden Männer und die Frau in weißen Kapuzen- overalls sich über jeden Quadratzentimeter im Gastraum der Grab- moosalm hermachten, saß die Resi einem grimmigen Herrn im feinen Anzug gegenüber. Er hatte sich ihr als Kriminalirgendwas vorgestellt, ihr sogar seinen Ausweis unter die Nase gehalten. Doch den Namen wusste sie nicht mehr.
Innerhalb von Sekunden hatten die Kriminaler herausgefunden, dass mit der alten Moserin nicht viel anzufangen war. Eigentlich gar nichts. Sie saß still in einer Ecke und stierte vor sich hin.
Deshalb hatten sie sich gleich an die Resi gewandt.
Zuerst hatte die Resi fürchterlich geheult. Sie war aus dem Heulen gar nicht mehr herausgekommen. Sie und der Seppe waren sich in den Armen gelegen und hatten beide Rotz und Wasser geweint und geschluchzt.
Geliebt hatte die Resi ihre Mutter nicht. Sie waren mehr wie zwei Schwestern gewesen, die oft stritten. Aber trotzdem ...
Sie hatte sich überlegt, was sie denen sagen sollte. Und ein paar Einzelheiten verändert, damit die Sach nicht herauskommt. Und dem Seppe hatte sie eingetrichtert, bloß kein Wort zu sagen. Einfach nur zuhören, was sie selber sagt, wenn's so weit ist.
Der Moserin hatte sie, soweit das ging, die neue Sachlage er- klärt und ihr eingeschärft, sie solle sich raushalten. »Ich regel das schon « , hatte sie zur Moserin gesagt. » Ich werd mich einfach engagieren. «
» Hier entlang « , hatte sie - ganz frisch gebackene Chefin der Grabmoosalm - zu den Kriminalern gesagt.
Die Männer und die Frau waren ihr von der Haustür her anstandslos gefolgt.
Die Resi hatte sich vorgenommen, die Polizei selbst zu ihrer toten Mutter zu führen. Aber nachher brachte sie es doch nicht fertig. An der Tür war sie stehen geblieben.
»Sie ist da drin« , sagte sie leise und deutete auf die Tür zum Leichenzimmer.
Copyright © Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten
Die wenigen Dörfer dort töten den Nerv jedes unfreiwilligen Besuchers, und die zwei, drei Seen, die es gibt, bestehen zu acht Zehnteln aus Sumpf und Moor.
Es gibt Eichhörnchen, die auf den Fang von Kröten und Schmetterlingen aus sind, es wimmelt geradezu von flammendrot-nachtschwarz gefleckten Salamandern, die sich selbst auffressen und da- her zu den bedrohten Tierarten zählen, und man hört immer wieder von grünäugigen Wölfen, die anderen Tieren das Leben schwer machen oder es gar beenden.
Trotzdem leben in dieser abscheulichen Einöde Menschen. Es bleibt ihnen nichts anderes über.
Beispielsweise auf der Grabmoosalm. Das ist jene Alm in tau- sendzweihundertzwölf Metern Höhe, auf die man trifft, wenn man das stacheldrahtumzäunte Gelände der Papierfabrik umgangen, den übel riechenden Fluss überquert, das Schlangendickicht hinter sich gelassen hat und den zerfurchten, schmierigen Pfad hin - aufgestiegen ist, den die Waldbauern nach ihren Holzfällerarbeiten hinterlassen haben. Meist wird die Grabmoosalm umwabert von tief hängenden Wolken oder hoch stehendem Nebel, der sich mit dem beißenden Qualm der Fabrik tief unten mischt. Das wiederum hat den Vorteil, dass man die Wesen, die dort existieren, nicht so genau erkennt.
Alles wirkt ein bisserl geheimnisvoll, mysteriös.
Da hatten wir zum Beispiel die Annemirl. Ihr Gesicht glich der Landschaft um sie herum - Berge, Hügel, Dörfer, Seen. Es war von den Sorgen und dem Verdruss der Vergangenheit gezeichnet. Trotzdem muss man sagen, dass sich hinter ihrer allzeit strengen Miene durchaus der Charakter einer zärtlichen Mutter verbarg, die sie für ihre Tochter Resi zeitlebens gewesen war.
Ein Merkmal, das muss betont werden, ragte aus dem Gesicht der Annemirl hervor. Die Nase. Sie war so entwickelt wie in alten Zeiten beim Herrschergeschlecht der Habsburger. Zuerst aus der Gegend zwischen den Augen schräg und zielstrebig nach vorn schießend. Dann über einen krummen Rücken kühn abfallend wie ein Wasserfall, der sich in eine Klamm ergießt, bis zur Mundpartie, wo der untere, parallel zur Erdoberfläche waagrecht abstehen- de Nasenteil sich wieder dem übrigen Gelände einordnet. Wie gesagt, wie bei den Habsburgern. Womit nicht angedeutet werden soll, dass die Mosers von Königen und Kaisern abstammten. Vermutlich wussten sie nicht einmal etwas mit dem historischen Namen anzufangen.
Und dennoch: Die Vorfahren der Annemirl könnten durchaus einmal einem Habsburger über den Weg gelaufen sein. Denn die Mosers bewirtschafteten die Grabmoosalm seit Menschengedenken. Annemirl hatte sie vor Jahren von ihrer Mutter übernommen. Von der Moserin, so wird der jeweils älteste Familienteil genannt. Immer war es eine Frau, niemals ein Mann. Männer schienen in der Hierarchie dieser Almbauern über die Jahrhunderte nichts zu suchen gehabt zu haben. Nicht, dass die Moserinnen sich wie Einzeller selbst vermehrt hätten. Dazu bedurfte es durchaus eines Mannes und herkömmlicher Methode. Doch ein Mann tauchte im Familienbuch nie auf. Es war stets bei einer Moserin geblieben.
Ob es nun an den Charaktereigenschaften der Mosers gelegen hat, an der Einsamkeit dort oben oder ob es die pure Verzweiflung war, in dieser trostlosen Gegend leben zu müssen - die Bewohner der Grabmoosalm lagen ständig in Streit miteinander. Und zwar jede mit jeder. Besonders hervorgetan hatten sich dabei die Moserin und die Annemirl, ihre Tochter.
»Geh du heid in den Stall! «
»Na, i war gestern scho. Geh du! «
» Zifixluja no amoi! I werd an Dreck tun und in'n Stoi gehn. Geh du, hab i gsagt! «
Sie lagen sich in den Haaren, zerrten sich an ihren Schürzen, bis sie auf dem Fußboden herumkugelten. Und vertrugen sich erst nach Tagen wieder, bevor der Streit aufs Neue losging.
Hätte die Annemirl auch nur im Entferntesten geahnt, wie schrecklich absehbar ihre Zukunft sein würde, als sie an diesem Tag auf die Jagd nach dem Wolf ging, hätte sie ihre Mutter wahrscheinlich vorher erschlagen.
So aber kam alles ganz anders.
Erster Teil
EINS
Es ging alles sehr schnell. Die Annemirl konnte nicht vorhersehen, dass sie praktisch überhaupt keine Zukunft mehr vor sich hatte. Jedenfalls keine, die der Erwähnung wert gewesen wäre.
Draußen wehte ein leichter Wind von Norden. Es war kühl. Neblig trotz des Luftzugs. Im Gastraum der Grabmoosalm verbreitete der alte tannengrüne Kachelofen eine wohlige Wärme. Die Annemirl stand mit einem Haferl heißem Kaffee in der Hand vor einem der vier Jogltische im Gastraum. Die geladene Flinte von der Wolfsjagd schob sie quer über den Tisch zu ihrem Platz.
Es schepperte.
Raffiniert wie eine Giftschlange schnappte sich die alte Moserin die geladene Flinte genau in dem Augenblick, als die Annemirl mit ihrem halb vollen Kaffeehaferl aus cremefarbener Keramik an ihren Platz auf der Bank rutschte. Sie schob sich noch ein rotes Kissen unter, sammelte den langen Rock ein und streifte die weiße Schürze glatt. Hinter ihr ein Fenster, rote Geranien in der Fensternische.
Die Moserin hob die Flinte fachgerecht und legte an. Entsicherte. Zielte über Kimme und Korn auf ihre Tochter. Sie rang nach Luft. Schweiß perlte von ihrer Stirn.
» Was machst du da? « , schrie die Annemirl. » Du blöde Kuh! Nimm die Flinte runter! «
Sie wollte die Tasse an die Lippen setzen. Ihre Hand blieb mitten in der Bewegung stehen.
Der lang gezogene Knall eines Gewehrschusses rollte durch den Gastraum.
Wie eine Granate explodierte die Kaffeetasse vor dem Gesicht der Annemirl. Winzige, halb winzige und sehr winzige Scherbchen verteilten sich zusammen mit dem braunen Gesöff auf einen Schlag über Annemirls weiße Schürze, ihr blutleeres Gesicht und das eh schon rot geblümte Kopftuch. Hässliche Flecken entstanden.
Ein dünner Schrei von der Tür her. Die Resi hielt sich die eine Hand vor den Mund und den Seppe an der anderen Hand.
Die Sissi sah vom Ofen her gelangweilt auf.
»Was haaaaaa ...« Was hast du vor, wollte die Annemirl wohl noch schreien. Es wären ihre letzten Worte gewesen. Doch dazu kam es nicht mehr. Im Moment des größten Mundaufsperrens beim »aaaa ...« schlug die zweite Kugel in rotes Fleisch ein und nahm auch noch drei Zähne mit.
Die Moserin hatte ihr mit unbewegtem Gesicht direkt in den Mund geschossen.
Alles, was die Moser Annemirl je gewusst, gedacht, gefühlt oder geliebt hatte, troff behutsam wie Himbeerpudding an der Glasscheibe hinter ihr hinab.
Die Moserin, wie sie ihr den Schlüssel zur Alm übergibt. Die kraftvolle Gestalt Sissis, wie sie sich in den Wolf verbeißt. Der Körper ihres toten Babys in seinem Bettchen, ihre erste Fehlgeburt. Der Streit mit dem Pfarrer wegen ihres sündigen Verhältnisses im Dorf unten. Weihnachten auf der Alm. Das Gesicht ihrer Tochter und ihres Enkels, die jetzt fassungslos an der Tür verharren.
Bilder über Bilder, die sich in weniger als einer Viertelsekunde gegenseitig einholten, bevor ihr durchlöcherter Kopf, von dem die Hälfte fehlte, nach links wegrutschte.
Die Moserin bückte sich, legte das Gewehr auf den Holzbohlen des Fußbodens nieder, pflückte die zwei leeren Patronenhülsen vom Teppich, pustete hinein und steckte sie in die Schürzentasche.
»Endlich isser tot, der Wolf « , flüsterte sie halblaut und ließ sich auf der Bank am Kachelofen nieder. Sie senkte die Augen auf die unter ihr liegende Sissi und seufzte tief.
»Endlich tot. Kein Schaf mehr kaputt. «
Die Resi stand mit pochendem Herz und nahm das Bild in sich auf. Sie würde es für ewig in sich tragen. Ihre Mutter tot, ihr zerschossener Kopf, ein umgestürzter Stuhl, das verspritzte Blut und ihr Gehirn, ein Gewehr auf den Holzbohlen neben einem hellen Webteppich mit blauen Rändern.
»Wieso sagst du mir am Telefon, dass die Annemirl gstorbn ist, ha?« fragte der Landarzt die Resi aufgebracht.
Er war ein dicker Mann in grünem Loden und war mit seinem alten Schnauferl den Berg heraufgekommen.
»Die ist erschossen worden. Ermordet. Oder hat sie sich selber erschossen? Jedenfalls einfach so vor sich hingstorbn is die ned. «
Die Augen des Doktors schossen Blitze durch die starke Hornbrille in Resis Richtung.
»Hast du des gsehn, wie's passiert ist, ha? «
Als die Resi wortlos und noch immer verstört nickte, sagte er: » I will's gar ned wissen. Plag di net. Ich muss eh die Polizei ein- schalten. Erzähl du des denen. «
» Also, dann erzählen Sie! «
Während die beiden Männer und die Frau in weißen Kapuzen- overalls sich über jeden Quadratzentimeter im Gastraum der Grab- moosalm hermachten, saß die Resi einem grimmigen Herrn im feinen Anzug gegenüber. Er hatte sich ihr als Kriminalirgendwas vorgestellt, ihr sogar seinen Ausweis unter die Nase gehalten. Doch den Namen wusste sie nicht mehr.
Innerhalb von Sekunden hatten die Kriminaler herausgefunden, dass mit der alten Moserin nicht viel anzufangen war. Eigentlich gar nichts. Sie saß still in einer Ecke und stierte vor sich hin.
Deshalb hatten sie sich gleich an die Resi gewandt.
Zuerst hatte die Resi fürchterlich geheult. Sie war aus dem Heulen gar nicht mehr herausgekommen. Sie und der Seppe waren sich in den Armen gelegen und hatten beide Rotz und Wasser geweint und geschluchzt.
Geliebt hatte die Resi ihre Mutter nicht. Sie waren mehr wie zwei Schwestern gewesen, die oft stritten. Aber trotzdem ...
Sie hatte sich überlegt, was sie denen sagen sollte. Und ein paar Einzelheiten verändert, damit die Sach nicht herauskommt. Und dem Seppe hatte sie eingetrichtert, bloß kein Wort zu sagen. Einfach nur zuhören, was sie selber sagt, wenn's so weit ist.
Der Moserin hatte sie, soweit das ging, die neue Sachlage er- klärt und ihr eingeschärft, sie solle sich raushalten. »Ich regel das schon « , hatte sie zur Moserin gesagt. » Ich werd mich einfach engagieren. «
» Hier entlang « , hatte sie - ganz frisch gebackene Chefin der Grabmoosalm - zu den Kriminalern gesagt.
Die Männer und die Frau waren ihr von der Haustür her anstandslos gefolgt.
Die Resi hatte sich vorgenommen, die Polizei selbst zu ihrer toten Mutter zu führen. Aber nachher brachte sie es doch nicht fertig. An der Tür war sie stehen geblieben.
»Sie ist da drin« , sagte sie leise und deutete auf die Tür zum Leichenzimmer.
Copyright © Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten
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Autoren-Porträt von Hannsdieter Loy
Nach Jetfliegen, Industrie, Yellow Press und Fantasy kam Hannsdieter Loy zum Krimischreiben. Daneben übersetzt er kanadische Liebesromane ins Deutsche. Insgesamt eine Vita, die man bei einem früheren Kampfpiloten der Luftwaffe und Kommandeur nicht zwingend vermuten würde. HDL lebt dort, wo seine Romane spielen - in Oberbayern. So sind die Dienstreisen kürzer und die Verdächtigen näher.
Bibliographische Angaben
- Autor: Hannsdieter Loy
- 2012, 224 Seiten, Maße: 13,5 x 20,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: EMONS VERLAG
- ISBN-10: 3954510456
- ISBN-13: 9783954510450
- Erscheinungsdatum: 30.10.2012
Rezension zu „Grabmoosalm “
Loys turbulenter und temporeicher Oberbayern-Krimi, der den Heimatdialekt geschickt einsetzt, ist gespickt mit grotesken Situationen und liest sich amüsant und kurzweilig. Ulrike Gieck-Schulz
Kommentar zu "Grabmoosalm"
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