Großmama packt aus
Irene Dische lässt ihre Großmutter Elisabeth, genannt ''Mops'', erzählen - eine Frau, deren jüdischer Mann ihretwegen zum Katholizismus konvertiert ist. Doch die Nazis lassen dies nicht ''gelten'', und die Familie gelangt gerade noch rechtzeitig...
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Irene Dische lässt ihre Großmutter Elisabeth, genannt ''Mops'', erzählen - eine Frau, deren jüdischer Mann ihretwegen zum Katholizismus konvertiert ist. Doch die Nazis lassen dies nicht ''gelten'', und die Familie gelangt gerade noch rechtzeitig nach New York.
Tochter Renate arbeitet als Pathologin. Weil ihr Mann Dische die ganze Zeit an einer Erfindung sitzt, die ihm fast den Nobelpreis einbringt, erzieht Renate die gemeinsame Tochter Irene vornehmlich im Seziersaal.
''Irene Dische hat ein wunderbares unsentimentales Buch geschrieben, das auch eine Liebeserklärung ist an die Mutter, die Großmutter und ein wenig vielleicht sogar an sich selbst.''
Die Literarische Welt
"Hinreißend erzählt. Tragisch, komisch, grotesk wie auch makaber. Zum Dahinschmelzen.''
Focus
Bekanntlich verstrickt sich jeder, der über sein eigenes Leben schreiben will, in ein Lügenknäuel. Der Kunstgriff, mit dem Irene Dische diesem Dilemma entgeht, ist genial: an ihrer Statt erzählt Großmutter Elisabeth Rother, genannt Mops, und die Enkelin setzt sich lustvoll ihrem süffisanten, gnadenlos vorurteilsbeladenen Blick aus.
»Daß meine Enkeltochter so schwierig ist, hängt vor allem mit Carls geringer Spermiendichte zusammen« - zum Auftakt ein Paukenschlag, und damit wird das schlesisch-rheinische Familienensemble auf die Bühne gerufen. Carl, Elisabeths jüdischer Mann aus Leobschütz, ist ihretwegen zum Katholizismus konvertiert, was die Nazis und sein neuer Erlöser aber nicht gelten lassen wollten. Gerade noch rechtzeitig gelangte er mit Frau und Tochter nach New York, während Elisabeths Brüder aufrechte Nazis wurden und Carls Verwandtschaft im KZ endete.
Irenes Mutter, Renate, zerschnitt gerne Leichen und erzog ihre Tochter vornehmlich in der Pathologie, weil Dische, ihr unmöglicher Mann, zu Hause an einer Erfindung hockte, die ihm fast den Nobelpreis eingetragen hätte. Liesel, das Faktotum, ist moralisch unerschütterlich und Gott ebenso ergeben wie den Rothers:
Nachdem sie der sterbenden Großmutter mittels Himbeergeist zu einem sanften Tod verholfen hat, bleiben ihrer Fürsorge immer noch die unbelehrbare Renate und die missratene Irene, die zwar ihre Jungfräulichkeit löblich lange verteidigt, dafür aber keinen Schulabschluß und, wie es lange schien, auch sonst wenig zustande gekriegt hat... Wie in einem Kaleidoskop fügen sich die atemlos, liebevoll-bösartig erzählten Episoden dieser deutsch-amerikanischen, katholisch-jüdischen Sippe zu einem Gesamtbild bürgerlicher Familienkatastrophen.
Großmama packtaus vonIrene Dische
Leseprobe
Daß meine Enkeltochter so schwierig ist, hängt vor
allem mit Carls geringer Spermiendichte zusammen.
Er hat seine kleinen Männer durch Heldenhaftigkeit
ermordet. Darüber später mehr. Jedenfalls brachte
er nur ein Kind zustande. Und dieses eine hatte das falsche
Geschlecht. Wir versuchten es noch mal und noch mal. Er
pflanzte sich bei mir ein und ackerte los, strengte sich an,
schnaufte und schwitzte - er war kein Faulpelz. Nachher
blieb ich auf dem Rücken liegen. Ich streckte die Beine
in die Luft, legte die Sohlen aneinander und betete mit den
Füßen.
Gott erhörte meine Gebete nicht. Als unsere Bemühungen
fünf Jahre lang nichts gefruchtet hatten und unser
Kind schon in die Schule ging, sagte ich: "Carl, nach den
Geboten der Kirche tut man das, um Kinder zu kriegen.
Und wenn es nicht ums Kinderkriegen geht, dann läßt man
es bleiben."
Er hatte alle möglichen Einwände in petto. Gott habe
die Zeugung zusammen mit dem Gebet geschaffen, als eine
Form mit Inhalt oder ohne, als Ritual, das man so oft wie
möglich wiederholen soll. Carl war sehr gläubig, und ich
liebte ihn. Ich glaubte ihm, was er sagte - obwohl, natürlich
nicht ganz. Eines Tages, als ich nicht wollte, sagte er: "Bei
den alten Juden gab es ein Gebot, sie sollten sich gerade am
Sabbat zueinander legen, weil der Höhepunkt sie Gott am
nächsten brächte."
"Juden!" schnaubte ich.
"Nicht alles an den Juden ist schlecht", entgegnete er.
Doch dann wurde er kleinlaut, was selten vorkam. Es war
ein Ausrutscher gewesen. Ich schmollte eine Zeitlang und
ließ ihn dann wieder. Aber ich setzte immer mehr Fett an.
Bald war so viel von mir da, daß man kaum noch sagen
konnte, wo ich anfing und wo aufhörte. Das entmutigte
ihn, und er ließ mich in Ruhe. Selbst einen Chirurgen kann
der menschliche Körper manchmal noch überraschen.
Als wir uns kennenlernten, war ich jedenfalls bildschön.
In meiner Familie galt ich immer als die Schönste weit und
breit; nach mir ging es bergab. Das klingt vielleicht eitel -
aber ich bin bloß objektiv. Zunächst einmal sagten immer
alle, ich und mein Lieblingsbruder Otto seien entzückend.
Daran änderte sich auch nichts, als wir in die Pubertät
kamen. Und zweitens bin ich nicht blind: wir sahen wirklich
aus wie germanische Götter, beide mit dichtem, kastanienbraunem
Haar, feingeschnittener Nase, großen, blauen
Augen, die wie Weltkugeln leuchteten, und fast vollkommen
fleischlosen Lippen. Man konnte deutlich erkennen, daß
unsere Familie Beziehungen zum Adel hatte.
Heutzutage gilt das ja nichts mehr, vor allem nicht in
weniger zivilisierten Gegenden wie New Jersey. Aber es
sollte zählen. Denn Adel, das sind Leute - eine Kette von
Leuten, die ein Gefühl von Würde und Wert von einer
Generation an die nächste weitergeben, und zwar behutsam,
damit nichts verlorengeht. Mein Ururgroßonkel hieß
Joseph von Görres. Ich will mich hier nicht mit Erklärungen
darüber aufhalten, wer das war. Aber in meiner Jugend
gehörte sein Name zur Allgemeinbildung, von den unzähligen
Straßen und Plätzen, die ihn trugen, gar nicht zu reden.
Und alle, die uns kannten, wußten, daß wir mit Görres ver
wandt waren. Zugegeben, nicht direkt: Er war mit einer
entfernten Tante verheiratet, einer von Lasaulx, auch das
ein vornehmer Name. Dann folgten Generationen von
Ärzten, Anwälten, Ingenieuren, Prälaten. Nicht alle waren
deutsch - manche auch holländisch, andere französische
Hugenotten -, aber fast alle waren katholisch. Mit der
Zeit gerieten die Gierlichs, meine Familie, immer mehr
ins Bürgertum, aber tiefer sind wir nie gesunken. Zu verdanken
hatten wir das natürlich den Frauen, die darauf
achteten, daß die Männer keine Fisimatenten machten.
Es ist Frauensache, dafür zu sorgen, daß die Familie ihr
Niveau hält. Männer sind nicht stark genug. Die Frauen
müssen darauf achten, daß sie nicht aus der Reihe tanzen,
auch nicht aus der Ahnenreihe. Das hat mir meine Großmutter
beigebracht. Mein bloßes Auftreten müsse, sobald
ich irgendwo erscheine, die Männer veranlassen, unwillkürlich
an ihre Hose zu greifen und zu prüfen, ob sie auch
zugeknöpft ist. Als sie mir das erklärte, war ich sieben.
Die Frauen wurden von klein auf zur Umsicht bei der
Wahl ihrer Männer erzogen. Meine Großmutter zum Beispiel
hat einen reichen Adeligen abgewiesen, weil er faul
war. Er besaß ein Schloß, aber er hatte keinen Posten. Statt
dessen heiratete sie einen tüchtigen Ingenieur, der sie ein
paar Jahre später damit belohnte, daß er die Eisenbahnlinie
von Berlin nach Sankt Petersburg baute. Zar Alexander war
nämlich so dankbar, daß er meiner Großmutter eine ganze
Schatulle mit Onyx- und Brillantschmuck schenkte - große
Stücke, die man wirklich als "Familienjuwelen"bezeichnen
kann. Das Wort Juwelen mag ich zwar nicht besonders -
wegen der ersten Silbe -, aber das, was es bezeichnet, hat
mir in meinem Leben immer viel Freude gemacht. Ich habe
schließlich auch die von meiner Großmutter geerbt, habe
sie gehegt und gehütet, und Jahrzehnte später habe ich
mein Leben aufs Spiel gesetzt, das großzügige Geschenk
Zar Alexanders an ein sicheres Ufer zu schmuggeln - bloß
damit meine Enkeltochter Irene sie dann für einen Apfel
und ein Ei bei Christie's versteigern läßt, unter derartunwürdigen
Umständen, daß sich eine schlichte Vertreibung
dagegen wie ein Sonntagsausflug nach Chadwick Beach
ausnimmt. Darauf komme ich noch.
Denn diese schauderhafte kleine Geschichte betrifft
meine Enkeltochter, das ganze Wie und Warum ihres Lebens,
eine Art Beichte, die ich ihr aufschreiben will, weil
auch sie in ihrem Leben einen Punkt erreicht hat, wo sie
dringend in ihrem Gewissen aufräumen muß. Auf dem
lastet nämlich so einiges. Aber daran ist sie nicht allein
schuld. Sie hatte schlimme Vorbilder, ihre Mutter und
ihren Vater. Und in Sachen Moral war sie schon von Natur
aus nicht gut gerüstet. Es sieht tatsächlich so aus, als seien
die schlechten Eigenschaften, die sich mit der Zeit in der
Familie zusammengebraut und fortgepflanzt haben, am
Ende allesamt bei ihr gelandet. Darauf komme ich noch,
aber nicht, um sie zu entschuldigen. Denn man kann sehr
wohl damit fertig werden. Es kommt nur darauf an, aus
dem, was man hat, das beste zu machen. Trotzdem, ihr
Hintergrund muß beschrieben werden, damit man den
Vordergrund begreift. Wo war ich stehengeblieben?
Mein Aussehen.
Auf unserem Verlobungsphoto sehe ich aus wie eine
Märtyrerin, die im nächsten Moment einem Löwen zum
Fraß vorgeworfen werden soll. Mein künftiger Gemahl hält
mich im Arm, und sein wildes Tier rempelt schon gegen
die stofflichen und zeitlichen Hindernisse, die noch zwischen
uns liegen: Hose und Hochzeitsfeier. Bald würde
es losgelassen werden. Carls Augen waren noch größer als
meine, aber schwarz. Auch seine Nase war groß und gebogen,
und er hatte schwere Knochen. Sein Tier würde
nicht klein sein.
Ich will damit nicht sagen, daß sich Carl jemals anders
als vollkommen ehrenwert benommen hätte. Bei unserer
Hochzeit trug er Uniform. Mit seinen Heldenorden und
dem Säbel am Gürtel sah er aus wie der deutsche Edelmann
par excellence. Seine moralischen Referenzen waren
untadelig. Trotzdem war es natürlich ein Fehler, ihn zu
heiraten. Ich zog die Familie damit nach unten, bescherte
ihr eine regelrechte Bruchlandung. Liebe macht leichtsinnig.
Ich stritt mich mit den Eltern. Er sei zu unserem
Glauben übergetreten und überhaupt doppelt so gütig wie
ich - zu ihm komme die Güte wie von selbst, während ich
mich ihretwegen immer anstrengen müsse (darauf heftiges
Nicken meiner Eltern) -, und deshalb sei er als Ehemann
eine vollkommen respektable Wahl. Wenn nicht er, dann
keiner - wie ich es mir immer geschworen hatte, bis ich ihn
kennenlernte, den Herrn Doktor Rother.
Es war in einem Feldlazarett gewesen, während einer
Beinamputation. Ich war eine der Schwestern im keimfreien
Kittel, das Haar unter einem spitzen Häubchen verborgen.
Er war noch tiefer vermummt. Er trug eine Maske.
Wie groß seine Nase war, sah ich erst später. Ich sah seine
schwarzen Augen. Und die regsamen, anmutigen Hände,
die die Säge mit solcher Vertrautheit führten. Er schnitt
und schnippelte und nähte, alles sehr flink. Seine Hände
waren breit und muskulös, und die langen Finger liefen
in schmalen Spitzen mit gepflegten Nägeln aus. Als der
Stumpf gründlich gesäubert war und wie eine riesige Salami
auf dem Operationstisch lag, stieß er einen Seufzer aus, trat
einen Schritt zurück und sah mich an.
Eine Zeitlang wollte ich nichts von ihm wissen. Im
Rheinland, wo ich herkam, hatte ich schon alle in Frage
kommenden Jungen abgewiesen. Aber dann ließ ich mich
doch von ihm küssen. Es war gar nicht so übel. Er war sehr
sauber. Er schenkte mir einen Ring. Ich gab ihn zurück. Er
schenkte mir noch einen.
Sein Vater besaß eine Eisenwarenhandlung in einer oberschlesischen
Kleinstadt. Die Männer in der Familie trugen Käppchen, die FrauenPerücken.
Ich nahm den Ring an. Ich sagte es meinen Eltern und Geschwistern.Mein Bruder
Otto sagte nichts. Wirklich - keinen Ton. Er sprach nicht
mehr mit mir. Peter, mein jüngster Bruder, verkündete, er
mache sich Sorgen. Bis dahin war immer er das schwarze
Schaf in der Familie gewesen, hatte nicht mal das Abitur
geschafft, und es sah so aus, als würde er sich als Handwerker
oder Arbeiter durchschlagen müssen. Doch jetzt
war er im Vergleich zu mir plötzlich ein großes Licht. Er
genoß es, daß nun zur Abwechslung einmal ich in der
Klemme steckte, und als ich nach Hause kam, um mit den
Eltern über die Hochzeit zu sprechen, tat er so, als wolle
er mir meine "dumme Idee" ausreden. Es amüsierte mich,
wie er mir bei einem eilig angesetzten Abendessen einen
Vortrag hielt, und mein Lächeln brachte ihn in Rage. Seine
Schreie - "Du kleine Idiotin!" - spritzten in dieVorspeise,
eine köstliche Milchkaltschale. Es war Hochsommer. Kalte
Suppe, auf der kleine Eisberge aus Eierschnee schwammen.
Meine Schwestern sahen mich nur an, und ihre Seelen
bekamen Falten vor lauter Kummer: Verrat. Gemeinsam
waren wir durch das rheinische Bürgerleben getanzt, hatten
Bälle besucht und unsere ersten Bouquets getrocknet,
hatten mit Offizieren und Akademikern und anderen Vertretern
der höheren Männlichkeit geschäkert, wenn sie
denn dazu einluden, und hatten gleichzeitig immer wieder
den Schwur aus frühen Kindertagen bekräftigt, daß wir
unsere Unschuld bewahren und dafür ein interessantes
Leben führen würden. Meine Schwestern waren über meinen
Entschluß so erschüttert, daß sie nichts dagegen sagten.
Und ich bekam meinen Willen. Eine Woche nach Carls
Taufe heiratete ich ihn und folgte ihm in die abgelegene
Ecke des Reiches, in der er aufgewachsen war.
Was er mir zur Entschädigung anbot, ließ ich mir gefallen
- einen Boxer, einen Dackel und die größte Villa im
Ort. Sie war größer als das Haus der Gierlichs in Boppard
mit seinem Blick über das Rheintal, hatte hohe Stuckdecken,
schöne Parkettböden, eine riesige Küche, einen
Dienstbotentrakt, ein Kinderzimmer und drei Toiletten,
zwei für die Herrschaft, eine für das Personal. Noch eine
Entschädigung - ich bekam ein hübsches Zimmer mit
einem Kanapee. Für jede Jahreszeit hatte ich andere Überzüge.
Pastellfarben im Frühling und Sommer, feierliches
Braun und Grau im Herbst und dunkle Rot- und Grüntöne
im Winter. Auf einem kleinen Tisch lagen meine
Bücher und die Plätzchen, die ebenfalls mit den Jahreszeiten
wechselten. Wenn ich mich auf den Frühling freute,
blumige Anisplätzchen; im Sommer luftige Waffeln und
Löffelbiskuit; im Herbst Russisch Brot; im Winter Lebkuchen
und Spekulatius. Durchs Fenster sah ich die Gartenanlagen
oder die Schneewehen hinter dem Haus. Den Vorgarten
begrenzte eine hohe Ziegelmauer, so daß die Leute,
die vorübergingen, nicht hereinsehen konnten. Aber die
meisten Passanten waren freundlich, und viele waren mit
uns verwandt. Ich akzeptierte Carls Verwandtschaft und
nannte sie gern meine Familie, auch wenn sie gesellschaftlich
nicht unser Niveau hatten - vier liebenswerte Schwestern,
die ohne Haushaltshilfe auskamen, die ganz allein
saubermachten und alle möglichen Torten und Kuchen
backten; und drei Brüder - der eine Friseur, der zweite
Kantor in der Synagoge und der jüngste, genau wie Peter
Gierlich, das schwarze Schaf der Familie, schlimmer - ein
Dieb.
Die Jüngsten sind meistens die schwarzen Schafe, wie
es sich dann auch bei Irene herausstellte. Ich habe hier
mal herumgefragt, woran das liegt, habe aber keine befriedigende
Antwort bekommen. Als ich Carl kennenlernte,
war Alfred Rother gerade mal fünfzehn, aber bis ins Gefängnis
hatte er es mit seiner Unternehmungslust schon
gebracht. Kein Schwerverbrechen. Er hatte auf dem Müll
eine kaputte Kamera gefunden und sie wieder hergerichtet.
Mit ihr zog er dann über Land - angeblich, um Porträtaufnahmen
der Bauern mit ihren Familien zu machen. Sie
zahlten im voraus, machten sich fein und bauten sich vor
der Kamera auf. Dann drückte er feierlich den Auslöser,
und das war das letzte, was sie von ihm sahen. Als der
kleine Alfred aus dem Gefängnis freikam, behauptete er,
es tue ihm leid, schockierte uns mit seinen Geschichten
und war bald mit irgendeiner anderen Masche wieder verschwunden.
Obwohl er der einzige Mann in der Familie
war, der ebenfalls ohne Käppchen herumlief, konnte Carl
ihn nicht ausstehen. "Ich habe genug Geschwister hier in
der Gegend, dich brauche ich nicht auch noch, Alfred",
sagte er und verbot ihm, uns zu besuchen.
Ich ließ Alfred durch die Hintertür herein, wenn Carl
nicht zu Hause war, gab ihm was Anständiges zu essen und
erzählte ihm so viel von Jesus, daß die Einladung zu rechtfertigen
war. Ich wußte, ich säte auf unfruchtbarem Boden,
aber ich fühlte mich wohl in der Gesellschaft dieser jugendlichen
Variante meines Carl. Alfred wargenauso dunkelhäutig
und muskulös wie er und fast so klug. Nachher
schickte ich ihn unter allerlei Ermahnungen weg, auf die
er nie hörte, und trotzdem war mir leicht ums Herz. Mir
gefielen auch die zahllosen kleinen Nichten und Neffen,
die in der Stadt lebten und immer so brav waren. Sie machten
aus Leobschütz, diesem trostlosen Provinznest, einen
warmen Schoß.
Die größte Entschädigung: in unserer Kleinstadt war
Carl ein großer Mann, und obendrein war er ein ziemlich
großer Mann in einer richtigen Großstadt. Bei uns leitete
er das Städtische Krankenhaus, und in Breslau lehrte er an
der Universität. Man sprach ihn nicht einfach mit Herr
Doktor an, sondern mit Herr Professor Doktor. Ich als seine
Frau war also nun Frau Professor Doktor, und dieses Stückchen
Anerkennung - eigentlich eine Kleinigkeit - machte
viel von dem Kleinkarierten wett, mit dem eine weltläufige
Rheinländerin wie ich, die es nach Oberschlesien verschlagen
hatte, fertig werden mußte. Aber davon abgesehen,
bewunderte ich Carl so sehr, wie ich keinen Menschen je
bewundert habe - ausgenommen meinen großen Bruder
Otto. Mein Mann war genauso intelligent und genauso
charaktervoll. In gewisser Weise war er sogar noch besser,
denn er hatte diese außergewöhnlichen, ruhigen,verantwortungsbewußten
Hände; sie waren seine Heilwerkzeuge.
Unser Kind machte ihn ganz traurig, denn bald zeigte sich,
daß es schwere Fehler hatte.
Fehler Nummer eins: es ähnelte mir nicht in dem, worauf
es ankam. Es hatte Carls riesige dunkle Augen, seine Nase
und außerdem ganz von allein - ich weiß nicht, woher sie
kamen - rote, wulstige Lippen. Anders als wir hatte unser
Kind auch ein auffällig schwach ausgeprägtes Kinn, und
Carl meinte, das bedeute, es habe auch kein Rückgrat.
Gleich nach der Geburt konnte man das alles natürlich
noch nicht erkennen. Da erkennt man ja überhaupt noch
nichts. Sie sehen alle gleich aus, und um ganz ehrlich zu
sein, ich finde sie ein bißchen abstoßend. Aber das wußte
ich vorher, und es war nicht das, was mich enttäuschte,
sondern etwas anderes. Fehler Nummer zwei. Ein Schock.
Darauf war ich nicht gefaßt: ein Mädchen.
Es war schlimm genug, daß ich ein Mädchen war und
kein Offizier und Kriegsheld werden konnte. Otto badete
immer nackt, aber ich sollte die Unterhose anbehalten,
damit man nichts sah. Ich zog sie trotzdem aus, und mein
Kindermädchen gab mir eins hinter die Ohren dafür. Vater,
ich war unkeusch. Andauernd. Alle anderen um mich
herum waren leuchtende Vorbilder. Meine Schwestern
waren immer schon nach fünf Minuten wieder aus dem
Beichtstuhl. Ich nicht. Vater, ich war zornig, neidisch,
habgierig.
Copyright (c) 2005 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
Übersetzung: Reinhard Kaiser
Autorenporträtvon Irene Dische
Irene Dische wurde am 13. Februar 1952 in New York geboren.Die Deutsch-Amerikanerin ist Tochter eines Biochemikers und einer Ärztin. Vorihrem Studium an der Harvard-Universität unternahm sie eine Weltreise. Späterschrieb sie Reportagen für große amerikanische Zeitschriften. Seit 1977 lebtIrene Dische vorwiegend in Berlin. Als Entdecker der Autorin Irene Dische giltHans Magnus Enzensberger. Geschrieben hat Dische ihre Werke zumeist inEnglisch. Bekannt wurde die Autorin des Erzählungsbandes "Fromme Lügen" oderdes Romans "Ein fremdes Gefühl oder Veränderungen über einen Deutschen" aberzunächst durch Übersetzungen ins Deutsche. "Esterházy" heißt ein Kinderbuch,das in Koproduktion mit Enzensberger und dem Zeichner Michael Sowaentstand.
Interview mitIrene Dische
In "Großmama packt aus" schildern Sie mit bisweilenschreiender Komik das Leben Ihrer Großmutter und Ihr eigenes Leben, das starkvon ihr geprägt wurde. War die Auseinandersetzung mit dieser "Überoma" nichtauch manchmal kompliziert für Sie?
Ja, schon.Meine Großmutter fand, dass ich doch etwas verwegen bin - und das stimmt jaauch. Ich war jedenfalls nicht so, wie sie sich das vorstellte. Vielleicht wares auch einfach so, dass ich mir einen anderen Vater gewünscht hätte.
Wie auchimmer: Meine Großmutter war eine so starke, so engagierte Person. Man kann einesolche "Königin" nicht entthronen. Ich jedenfalls kann das nicht, auch wenn ichsehr große Probleme mit ihr hatte. Sie ist für mich immer eine Respektspersongeblieben. Im Übrigen war meine Großmutter auch sehr stark ein Teil ihrerGeneration. Der Antisemitismus, der auch manche ihrer Äußerungen prägte,gehörte damals einfach zum guten Ton.
Neben möglichen Schwierigkeiten durch eine solche Prägung:Hat eine solche Frau, die Emanzipation gelebt hat, auch Dinge für Sieselbstverständlich gemacht, die vorher nicht unbedingt selbstverständlichwaren?
MeineGroßmutter hat großen Wert darauf gelegt, dass ihre Tochter wirklichemanzipiert ist. Auch meine Mutter hat mich so erzogen. Meine Großmuttergehörte aber, im Unterschied zu meiner Mutter, nicht zum Bohemesumpf. Sie hatdennoch absolut ungewöhnlich gelebt. Einerseits war sie sehr bürgerlich,andererseits aber auch sehr stark, sie hat ihre Familie absolut herrscht. Siewar die Königin - selbst im höchsten Alter. Eine echte Rivalin gab es für sienur in Gestalt der Putzfrau.
Die Großmutter - ein Vorbild?
Nein, ichkann ein geregeltes Leben nicht ertragen, ich habe dagegen eine echteAbneigung. Das ist allerdings heutzutage nicht mehr so ungewöhnlich, wie es dasvielleicht noch zu Zeiten meiner Mutter war.
Ein Mensch bleibt aufrecht - trotz Krieg, trotzAnfeindungen, trotz Entbehrungen. Diese Kraft gibt er weiter an seine Kinderund seine Enkelin, Sie. Ist Ihr Buch ein optimistisches Manifest?
MeineGroßmutter hatte sich fest vorgenommen, dass sie nichts im Leben kleinkriegt.Sie legte Wert darauf, möglichst immer gute Laune zu haben. Heute scheinenviele Menschen keinen großen Wert mehr darauf zu legen. Wenn sie etwasPositives weitergegeben hat, dann das: Wenn sie schon lebt, dann auchgefälligst glücklich, verdammt noch mal. Sie hat trotz aller Widrigkeitenversucht, glücklich zu bleiben.
Glauben Sie, dass Ihre GroßmutterIhre gemeinsame Biografie autorisiert hätte?
Ja,wahrscheinlich schon. Das Buch ist in ihrem Sinne geschrieben. Es gibtnatürlich einiges in ihm, was so nicht stimmt, nicht der Wirklichkeitentspricht. Dennoch glaube ich, dass sie es insgesamt als stimmig empfundenhätte. Außerdem wird sie durch dieses Buch ins Leben zurückgeholt und hat jetztviele Freunde.
Ihr neues Buch "Lieben" ist ein Band mit Erzählungen.Bezeichnet der Titel die Mehrzahl von "Liebe", oder meinen Sie das Verb"lieben"? Können Sie uns ein bisschen von dem verraten, worum es in denErzählungen geht?
Der Titelmeint beides. Im Englischen heißt das Buch "Loves". Es enthält 25 Erzählungen,die als Thema irgendeine von Art Liebe haben: Liebe zum Land, Liebe zum Tieroder Liebe zu anderen Menschen. Zwei Erzählungen handeln auch vonnarzisstischer Liebe. In der Mitte des Buches gibt es ein Libretto mit demTitel "Zum Lügen ist es nie zu spät", das Enzensberger übersetzt hat. Übrigensgeht die eine Hälfte der Geschichten gut, die andere schlecht aus.
Die Fragen stellte Mathias Voigt,Literaturtest.
- Autor: Irene Dische
- 2006, 20. Aufl., 384 Seiten, Maße: 12 x 19,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Reinhard Kaiser
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423135212
- ISBN-13: 9783423135214
- Erscheinungsdatum: 21.11.2006
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