Handy
Egal ob in einer Datscha im Berliner Umland oder einem Friseurladen in Manhattan - überall bauen sich Menschen in einer Zeit der Beschleunigung ihre ganz speziellen "Notbremsen", verteidigen ihre Zufluchten und das kleine Glück.
Tragikomische Geschichten um Alltag, Liebe, Sinnsuche u.v.m.
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Egal ob in einer Datscha im Berliner Umland oder einem Friseurladen in Manhattan - überall bauen sich Menschen in einer Zeit der Beschleunigung ihre ganz speziellen "Notbremsen", verteidigen ihre Zufluchten und das kleine Glück.
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Handy - Dreizehn Geschichten inalter Manier von Ingo Schulze
LESEPROBE
Sie kamenin der Nacht vom 20. auf den 21. Juli, zwischen zwölf und halb eins. Vielewerden es nicht gewesen sein, fünf, sechs Kerle vielleicht. Ich hörte nur dieStimmen und das Krachen. Wahrscheinlich haben die gar nicht gemerkt, dass imBungalow Licht brannte. Die Schlafkammer geht nach hinten raus, und dieVorhänge waren zugezogen. Die erste schwüle Nacht seit langem und der Beginnunserer letzten Urlaubswoche. Ich las noch - Stifter, »Aus der Mappe meinesUrgroßvaters«.
Constanzewar per Telegramm für Dienstag früh um acht nach Berlin in die Zeitung bestelltworden. Anscheinend hatte ihre Sekretärin unsere Adresse herausgerückt. DieSerie über Fontanes Lieblingsorte drohte ins Stockenzu geraten, weil die zugesagten Artikel nicht pünktlich kamen. Das ist halt derNachteil, wenn man nicht weit wegfährt. Wir beide - ich arbeite in derSportredaktion, Constanze im Feuilleton - sind mehr oder weniger das ganze Jahrunterwegs und haben keine Lust, auch noch im Urlaub auf Flughäfenherumzusitzen. Letzten Sommer mieteten wir zum ersten Mal diesen Bungalow,zwanzig Mark pro Tag, fünf mal fünf Meter Grundfläche, in Prieros, südöstlichvon Berlin, genau 46 Kilometer von unserer Haustür entfernt, ein Eckgrundstück,überall Kiefern, ideal bei Hitze.
Es warkomisch, allein dort zu sein. Nicht, dass ich Angst gehabt hätte, aber ichhörte jeden Ast, der herunterfiel, jeden Vogel, der übers Dach hüpfte, jedesRascheln.
Wie Schüsseknallte es, als sie die Zaunlatten eintraten. Und dieses Gegröle! Ich machtedas Licht aus, zog mir die Hose an, ging nach vorn - die Außenjalousie bleibtauch nachts immer oben. Ich sah trotzdem nichts. Plötzlich gab es ein dumpfesGeräusch. Irgendetwas Schweres war umgekippt. Sie johlten. Zuerst wollte ichdas Außenlicht anmachen, um zu zeigen, dass jemand da war und diese Idiotennicht glaubten, sie blieben unbemerkt. Ein paarmalkrachte es noch - dann zogen sie weiter.
Selbst anden Beinen spürte ich Schweiß. Ich wusch mir das Gesicht. Vom Bett aus öffneteich das Fenster. Draußen hatte es sich abgekühlt. Die Kerle waren fast nichtmehr zu hören.
Punktsieben klingelte mein Handy. Klingeln ist eigentlich der falsche Ausdruck, eherähnelte es einem immer lauter werdenden »Tülülütüt, tülülütüt«, das mir lieb und vertraut war, weil esConstanze ankündigte. Nur sie kannte die Nummer.
WährendConstanze davon sprach, wie unerträglich heiß es in Berlin sei, und fragte,warum ich sie nicht daran gehindert hätte, in diese asoziale Stadt zu fahren,ging ich mit dem Handy hinaus in den sonnigen stillen Morgen und besichtigtedie Verwüstung. Drei Zaunfelder lagen auf dem Weg. Ein Betonpfosten war kurzüber der Erde abgebrochen. Aus dem Stumpf ragten zwei Spiralstäbe. Am Torhatten die Randalierer die Zeitungsröhre senkrecht gedreht. Direkt darunterentdeckte ich Dach und Rückwand des Vogelhäuschens. Ich zählte siebeneingetretene und vier herausgerissene Latten. Constanze sagte, dass ihr erstjetzt die ganze Gemeinheit des Telegramms klar werde. Ich hätte sie wirklichnicht fahren lassen dürfen.
UmConstanze nicht zu belasten - sie beschleicht sowieso schnell das Gefühl, diesoder das sei ein schlechtes Omen -, verschwieg ich den nächtlichen Besuch. Eswäre auch schwer gewesen, sie zu unterbrechen. Sogar unsere Vorgänger imBungalow kriegten ihr Fett ab, weil sie die Sicherung herausgeschraubt hatten,ohne an den halb vollen Kühlschrank zu denken. Plötzlich rief Constanze, siemüsse los, sie vermisse mich, sie küsse mich, und legte auf.
Ich krochwieder ins Bett. Natürlich war dieser Vandalismus nichts, was ich persönlichnehmen musste, und die Erklärung war auch relativ einfach. Die knappzweitausend Quadratmeter Land, die zu dem Bungalow gehören, sind zur Pacht.Zweitausendeins oder spätestens zweitausendvier ist Schluss, dann müssen unsereBekannten hier runter, dann endet die Übergangszeit. Deshalb investieren sieschon seit Jahren nichts mehr. An einigen Stellen, an denen das Holz für Nägelzu morsch ist, hält Draht den Zaun zusammen.
VergangenenHerbst hatte Constanze einen Artikel über die New Yorker Polizei geschrieben,über deren neue Philosophie. Mir fiel das Beispiel von dem Auto ein, daswochenlang unbenutzt am Straßenrand steht. Müll sammelt sich drum herum an,unter den Scheibenwischern klemmen vergilbte Reklamezettel. Eines Morgens fehltein Rad, zwei Tage später sind die Nummernschilder weg, bald die restlichenRäder. Eine Scheibe wird eingeschlagen, und schon gibts kein Halten mehr. DerWagen geht in Flammen auf. Schlussfolgerung: Es dürfen erst gar keineSchmuddelecken entstehen.
Wenigstenswar dieser Zwischenfall Constanze erspart geblieben. Zusammen hätten wirwahrscheinlich eine Unvorsichtigkeit begangen, oder Constanze wäre tagelangdeprimiert gewesen, weil wir gekniffen, weil wir uns versteckt hatten. Jetztaber musste ich etwas unternehmen, sonst würden sie uns heute oder morgen dieScheiben einwerfen.
© BerlinVerlag
- Autor: Ingo Schulze
- 2007, 1. Auflage, 288 Seiten, Maße: 14,2 x 22 cm, Leinen, Deutsch
- Verlag: BERLIN VERLAG
- ISBN-10: 3827007208
- ISBN-13: 9783827007209
- Erscheinungsdatum: 23.02.2007
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