Der Widersacher / Harry Bosch Bd.17
Thriller
Detective Harry Bosch bekommt zwei Fälle auf den Tisch:
Vor über zwanzig Jahren wurde eine Studentin vergewaltigt und umgebracht. Endlich können die DNA-Spuren von ihrer Leiche einem einschlägigen Sexualstraftäter zugeordnet...
Vor über zwanzig Jahren wurde eine Studentin vergewaltigt und umgebracht. Endlich können die DNA-Spuren von ihrer Leiche einem einschlägigen Sexualstraftäter zugeordnet...
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Produktinformationen zu „Der Widersacher / Harry Bosch Bd.17 “
Detective Harry Bosch bekommt zwei Fälle auf den Tisch:
Vor über zwanzig Jahren wurde eine Studentin vergewaltigt und umgebracht. Endlich können die DNA-Spuren von ihrer Leiche einem einschlägigen Sexualstraftäter zugeordnet werden. Doch der Mann war damals erst acht Jahre alt. Der zweite Fall hat sich gerade ereignet: Der zwielichtige Sohn eines einflussreichen Stadtrates von Los Angeles ist auf mysteriöse Weise aus dem siebten Stock eines Luxushotels gestürzt. Selbstmord - oder Mord?
Vor über zwanzig Jahren wurde eine Studentin vergewaltigt und umgebracht. Endlich können die DNA-Spuren von ihrer Leiche einem einschlägigen Sexualstraftäter zugeordnet werden. Doch der Mann war damals erst acht Jahre alt. Der zweite Fall hat sich gerade ereignet: Der zwielichtige Sohn eines einflussreichen Stadtrates von Los Angeles ist auf mysteriöse Weise aus dem siebten Stock eines Luxushotels gestürzt. Selbstmord - oder Mord?
Klappentext zu „Der Widersacher / Harry Bosch Bd.17 “
Detective Harry Bosch bekommt zwei Fälle auf den Tisch: Vor über zwanzig Jahren wurde eine Studentin vergewaltigt und umgebracht. Endlich können die DNA-Spuren von ihrer Leiche einem einschlägigen Sexualstraftäter zugeordnet werden. Doch der Mann war damals erst acht Jahre alt. Der zweite Fall hat sich gerade ereignet: Der zwielichtige Sohn eines einflussreichen Stadtrates von Los Angeles ist auf mysteriöse Weise aus dem siebten Stock eines Luxushotels gestürzt. Selbstmord - oder Mord?
Lese-Probe zu „Der Widersacher / Harry Bosch Bd.17 “
Der Widersacher von Michael ConnellyAus dem Amerikanischen von Sepp Leeb
1
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Bei der Einheit Offen-Ungelöst war einmal im Monat Weihnachten: immer dann, wenn Lieutenant Gail Duvall im Bereitschaftsraum ihre Runde wie Santa Claus machte und die neuen Aufträge wie Weihnachtsgeschenke an die sechs Detective-Teams der Abteilung verteilte. Die sogenannten Cold Hits, die kalten Treffer, waren die Daseinsberechtigung der Einheit. Bei Offen-Ungelöst warteten die Teams nicht darauf, zu Einsätzen und frischen Mordopfern gerufen zu werden. Sie warteten auf kalte Treffer.
Die Einheit Offen-Ungelöst stellte Ermittlungen zu ungelösten Mordfällen an, die sich in den letzten fünfzig Jahren in Los Angeles ereignet hatten. Sie bestand aus zwölf Detectives, einer Sekretärin, dem Chef des Bereitschaftsraums, kurz »der Spieß« genannt, und dem Lieutenant. Fünf der Teams aus je zwei Detectives teilten die fünfzig Jahre so unter sich auf, dass jedes Zweierteam für jeweils zehn willkürlich ausgewählte Jahrgänge zuständig war. Ihre Aufgabe bestand darin, alle ungelösten Mordfälle der ihnen zugeteilten Jahrgänge aus dem Archiv herauszusuchen, auszuwerten und lange aufbewahrte und in Vergessenheit geratene Beweise einzureichen, damit sie mit Hilfe modernster Techniken einer erneuten Analyse unterzogen werden konnten. Die DNA-Proben wurden vom neuen Bezirkslabor in der Cal State untersucht. Stimmte die DNA-Probe eines kalten Falls mit der DNA eines Individuums überein, das in einer der nationalen DNA-Datenbanken gespeichert war, bezeichnete man das als kalten Treffer. Am Ende eines jeden Monats verschickte das Labor per Post seine Ergebnisse. Wenn diese einen oder zwei Tage später im PAB, dem Police Administration Building in Downtown Los Angeles eintrafen, ging am nächsten Morgen - in der Regel spätestens um acht Uhr - die Tür von Lieutenant Duvalls Büro auf, und sie kam mit den Umschlägen in den Bereitschaftsraum. Die Trefferbenachrichtigungen wurden immer einzeln und in gelben Umschlägen versandt, und normalerweise wurden sie denjenigen Detective-Teams ausgehändigt, die die jeweiligen DNA-Proben an das Labor eingeschickt hatten. Manchmal gab es jedoch so viele kalte Treffer, dass ein Team nicht alle bearbeiten konnte. Manchmal waren auch die entsprechenden Detectives im Gericht oder krank oder im Urlaub. Und manchmal waren kalte Treffer darunter, die ein Höchstmaß an Können und Erfahrung erforderten. In diesen Fällen kam das sechste Team zum Einsatz. Es bestand aus den Detectives Harry Bosch und David Chu. Sie waren Springer. Sie übernahmen überzählige Fälle und Sonderermittlungen.
Am 3. Oktober, einem Montagmorgen, kam Lieutenant Gail Duvall mit nur drei gelben Umschlägen in den Bereitschafts-raum. Fast hätte Harry Bosch angesichts des dürftigen Ertrags der DNA-Treffer laut aufgestöhnt. Er wusste, dass bei so wenigen Umschlägen kein neuer Fall für ihn abfiele.
Nach einem zweijährigen Intermezzo bei einer Sondereinheit für Tötungsdelikte war Bosch inzwischen fast wieder ein Jahr bei Offen-Ungelöst. Da es sich dabei bereits um seine zweite Dienstzeit bei der Einheit handelte, hatte er rasch wieder in ihren Arbeitsrhythmus zurückgefunden. Sie waren nicht ständig in Außeneinsätzen unterwegs. Sie mussten nicht loshetzen, um an einen Tatort zu gelangen. Es gab nicht einmal Tatorte. Nur Akten- und Archivboxen. Die Arbeitszeit war im Großen und Ganzen streng auf neun bis vier begrenzt, mit einer Einschränkung: Die Arbeit war mit mehr Reisen verbunden als die der anderen Ermittler. Mörder, die ungeschoren davongekommen waren - oder dies zumindest glaubten - neigten nicht dazu, in der Nähe des Schauplatzes ihrer Verbrechen zu bleiben. Sie wechselten in der Regel den Wohnsitz, und oft mussten die OU-Ermittler auf Reisen gehen, um sie zu finden.
Ein wichtiger Bestandteil des Arbeitsrhythmus war das allmonatliche Warten auf das Eintreffen der gelben Umschläge. Manchmal schlief Bosch in den Nächten vor diesem speziellen Weihnachten schlecht. Er nahm in der ersten Woche eines Monats nie frei und kam nie zu spät zum Dienst, wenn die Aussicht bestand, dass die gelben Umschläge eingingen. Sogar seiner halbwüchsigen Tochter war dieser von gespannter Erwartung bestimmte Monatszyklus aufgefallen, und sie hatte ihn mit dem Menstruationszyklus verglichen. Bosch fand das überhaupt nicht witzig, es war ihm eher peinlich, als sie es erwähnte.
Und jetzt spürte er beim Anblick der wenigen Umschläge in Lieutenant Duvalls Hand die Enttäuschung wie einen festen Gegenstand in seiner Kehle. Er wollte einen neuen Fall. Er brauchte einen neuen Fall. Er musste den Gesichtsausdruck des Mörders sehen, wenn er an seine Tür klopfte und seine Dienstmarke zückte, die personifizierte Gerechtigkeit, die nach all den Jahren völlig unerwartet doch noch auftauchte. Danach konnte man süchtig werden, und im Moment hielt es Bosch kaum mehr aus ohne diesen Kick.
Den ersten Umschlag gab Lieutenant Duvall Rick Jackson. Er und sein Partner Rich Bengtson waren tüchtige Ermittler, die seit der Gründung der Einheit dabei waren. Daran gab es für Bosch nichts auszusetzen. Der nächste Umschlag wurde auf den leeren Schreibtisch gelegt, der Teddy Baker gehörte. Sie und ihr Partner Greg Kehoe waren gerade auf dem Rückweg von einer Festnahme in Tampa, Florida - ein Pilot, der aufgrund seiner Fingerabdrücke mit einer 1991 in Marina del Rey strangulierten Flugbegleiterin in Verbindung gebracht worden war.
Bosch wollte Lieutenant Duvall schon vorschlagen, den Umschlag einem anderen Team, nämlich seinem, zu geben, weil Baker und Kehoe mit dem Marina-Fall bereits ausgelastet seien. Doch dann sah Gail Duvall ihn an und winkte ihn mit dem letzten Umschlag in ihr Büro.
»Könnten Sie und Chu kurz zu mir kommen? Und Sie auch, Tim?«
Tim Marcia war der Spieß der Einheit, ein 3er-Detective, der hauptsächlich Supervisions- und Organisationsaufgaben übernahm. Er betreute die jungen Detectives und passte auf, dass die alten wie Jackson und Bosch nicht nachlässig wurden.
Bosch war bereits aufgestanden, bevor Duvall den Satz ganz zu Ende gesagt hatte. Gefolgt von Chu und Marcia, ging er in ihr Büro.
»Schließen Sie die Tür«, sagte Duvall. »Setzen Sie sich.«
Duvall hatte ein Eckbüro mit Fenstern, die sich auf die Spring Street und das Gebäude der Los Angeles Times öffneten. Aus Angst, sie könnte von den Reportern in den Redaktionsräumen auf der anderen Straßenseite beobachtet werden, ließ sie die Jalousien immer unten. Deshalb wirkte ihr Büro düster und höhlenartig. Bosch und Chu nahmen auf den zwei Stühlen vor Duvalls Schreibtisch Platz. Marcia, der das Büro als Letzter betrat, lehnte sich an einen alten Beweismittelsafe.
»Ich möchte, dass Sie beide diesen Fall übernehmen«, erklärte Duvall und reichte Bosch den gelben Umschlag. »Etwas daran ist eigenartig, und deshalb möchte ich, dass Sie möglichst nicht groß darüber reden, solange Sie nicht wissen, was genau Sache ist. Halten Sie Tim auf dem Laufenden, aber ansonsten behalten Sie das Ganze erst mal für sich.«
Der Umschlag war bereits geöffnet worden. Chu beugte sich zu Bosch herüber, als dieser die Lasche hochklappte und den Formularbogen herauszog. Darauf standen die Fallnummer der DNA-Probe sowie Name, Alter, letzter bekannter Wohnsitz und Vorstrafen der Person, mit deren genetischem Profil sie übereinstimmte.
Als Erstes fiel Bosch auf, dass die Fallnummer mit 89 begann. Das hieß, es war ein Fall aus dem Jahr 1989. Weitere Einzelheiten der Straftat waren nicht angegeben, nur die Jahreszahl. Bosch wusste, dass für Fälle aus diesem Jahr eigentlich Ross Shuler und Adriana Dolan zuständig waren. 1989 - er war damals als Mordermittler bei der Sondereinheit gewesen - war ein arbeitsreiches Jahr gewesen, und er hatte sich erst vor kurzem mit einem seiner eigenen ungelösten Fälle aus diesem Jahr befasst. Shuler und Dolan hießen in der Einheit »die Kids«. Sie waren junge, engagierte und gut ausgebildete Ermittler, hatten aber zusammen nicht einmal acht Jahre Erfahrung mit Mordfällen. Wenn also an diesem kalten Treffer irgendetwas eigenartig war, war es kein Wunder, dass ihn Lieutenant Duvall lieber Bosch gab. Bosch hatte in mehr Mordfällen ermittelt als alle anderen in der Abteilung zusammen. Das heißt, wenn man Jackson nicht mitzählte. Er war schon ewig dabei.
Als Nächstes warf Bosch einen Blick auf den Namen auf dem Formular: Clayton S. Pell. Er sagte ihm nichts. Pells Vorstrafenregister beinhaltete zahlreiche Festnahmen und drei Verurteilungen wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses, Freiheitsberaubung und Vergewaltigung. Wegen der Vegewaltigung hatte er sechs Jahre im Gefängnis gesessen und war vor achtzehn Monaten entlassen worden. Seine Bewährungsfrist betrug fünf Jahre, und die Angaben zu seinem letzten bekannten Wohnsitz stammten vom staatlichen Bewährungsausschuss. Er lebte in einem Rehabilitationszentrum für Sexualstraftäter in Panorama City.
Aufgrund von Pells Vorstrafenregister ging Bosch davon aus, dass es sich bei dem Fall von 1989 um einen Sexualmord handelte. Er spürte, wie sich alles in ihm zusammenzog. Er würde sich Clayton Pell schnappen und ihn seiner gerechten Strafe zuführen.
»Sehen Sie es?«, fragte Lieutenant Duvall.
»Ob ich was sehe?«, fragte Bosch. »Dass es ein Sexualmord war? Wie es aussieht, ist dieser Kerl ein typischer Sexualver ...«
»Das Geburtsdatum«, unterbrach ihn Duvall.
Bosch schaute auf das Formular. Auch Chu beugte sich vor. »Ach ja, hier.« Bosch deutete darauf. »9. November 1981. Wieso? Was soll damit ...«
»Er ist zu jung«, sagte Chu.
Bosch sah kurz seinen Partner an und dann wieder auf das Formular. Dann schaltete er. Clayton Pell war 1981 geboren. Er war zum Zeitpunkt des Mordes erst acht Jahre alt gewesen.
»Genau«, sagte Duvall. »Deshalb möchte ich, dass Sie sich von Shuler und Dolan die Akte und die Box besorgen und in aller Stille herausfinden, womit wir es hier zu tun haben. Ich hoffe nur, die beiden haben nicht zwei Fälle miteinander verwechselt und Genproben von einem jüngeren Fall versehentlich diesem alten zugeordnet. Wie Sie gerade sagen wollten, ist dieser Kerl eindeutig ein typischer Sextäter, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass er schon mit acht einen Mord begangen hat und ungestraft davongekommen ist. Irgendetwas stimmt hier eindeutig nicht. Finden Sie heraus, was das ist, und bevor Sie weitere Schritte unternehmen, kommen Sie erst einmal zu mir. Wenn hier jemand Mist gebaut hat und sich alles wieder ausbügeln lässt, brauchen wir uns wegen der Dienstaufsicht oder sonst jemandem keine Gedanken zu machen. Dann bleibt das Ganze unter uns.«
Auf den ersten Blick schien es, als wollte sie Shuler und Dolan die Dienstaufsicht vom Hals halten, aber Bosch ließ sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich auch selbst abzusichern versuchte. Die Aufstiegsmöglichkeiten eines Lieutenant, in dessen Einheit es bei der Beweismittelhandhabung zu einer schweren Panne gekommen war, waren nicht rosig. »Für welche Jahrgänge sind Shuler und Dolan sonst noch zuständig?«, erkundigte sich Bosch.
»Von den aktuelleren haben sie siebenundneunzig und zweitausend«, sagte Marcia. »Die Beweise könnten also von einem ihrer Fälle aus diesen beiden Jahrgängen stammen.« Bosch nickte. Er malte es sich bereits aus: die Verschmutzung des genetischen Beweismaterials eines Falls durch das eines anderen, verursacht durch Achtlosigkeit. Das Endergebnis wären zwei kontaminierte Fälle und ein Skandal, der an jedem haften bliebe, der irgendwie damit in Berührung gekommen war.
»Was sollen wir Shuler und Dolan sagen?«, fragte Chu. »Mit welcher Begründung schnappen wir ihnen den Fall weg?« Duvall blickte zu Marcia hoch.
»Sie haben demnächst einen Prozess«, sagte er in Beantwortung ihrer unausgesprochenen Frage. »Am Donnerstag beginnt die Auswahl der Geschworenen.«
Duvall nickte. »Ich werde ihnen sagen, dass ich ihnen dafür den Rücken freihalten möchte.«
»Und wenn sie den Fall trotzdem wollen?«, fragte Chu. »Was ist, wenn sie sagen, sie bekommen es schon hin?«
»Dann verklickere ich es ihnen halt anders«, sagte Duvall. »Sonst noch Fragen, Detectives?«
Bosch sah seine Vorgesetzte an.
»Wir werfen gern einen Blick auf die Sache und sehen, was es damit auf sich hat, Lieutenant. Aber gegen andere Cops ermittle ich nicht.«
»Kein Problem. Verlangt auch niemand von Ihnen. Gehen Sie der Sache nach und sagen Sie mir, wie die DNA einem Achtjährigen zugeordnet werden konnte, mehr will ich nicht von Ihnen.«
Bosch nickte und machte sich daran, aufzustehen.
»Und denken Sie vor allem an eines«, fügte Duvall hinzu. »Bevor Sie wegen etwas, was Sie rausgefunden haben, konkrete Schritte unternehmen, reden Sie erst mit mir.«
»Alles klar«, sagte Bosch.
Er, Chu und Marcia gingen zur Tür.
Aber Duvall rief Bosch zurück. »Harry, hätten Sie noch einen Moment Zeit?«
Bosch sah Chu an und zog die Augenbrauen hoch. Er wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Nachdem Chu und Marcia das Büro verlassen hatten, kam Lieutenant Duvall hinter ihrem Schreibtisch hervor und schloss die Tür. Sie blieb stehen und fuhr im selben geschäftsmäßigen Ton fort: »Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Ihr Antrag auf Verlängerung Ihrer Dienstzeit durchgegangen ist. Sie haben vier Jahre bekommen, rückwirkend.«
Bosch sah sie an und begann sofort, im Kopf nachzurechnen. Schließlich nickte er. Er hatte das Maximum an Dienstjahren bis zu seiner endgültigen Pensionierung beantragt - fünf Jahre, nicht rückwirkend - , aber er würde nehmen, was sie ihm gaben. Viel weiter als über die Highschool hinaus brächte es ihn nicht, aber es war besser als nichts.
»Also, ich freue mich«, fügte Duvall hinzu. »Damit haben Sie noch neununddreißig Monate mehr bei uns.«
Der Ton, in dem sie das sagte, verriet Bosch, dass sie seinen Gesichtsausdruck als Enttäuschung gedeutet hatte.
»Nein«, sagte er deshalb rasch. »Ich freue mich auch. Ich habe nur kurz nachgerechnet, wie weit mich das mit meiner Tochter bringt. Nein, sehr gut. Ich bin wirklich froh darüber.«
»Na dann gut.«
Das war ihre Art, zu sagen, dass die Besprechung zu Ende war. Bosch dankte ihr und verließ das Büro. Als er in den Bereitschaftsraum zurückkehrte, ließ er den Blick über die Schreibtische, Trennwände und Aktenschränke wandern. Er wusste, dass das sein Zuhause war und dass er - vorerst - bleiben konnte.
2
Die Einheit Offen-Ungelöst teilte sich das Nutzungsrecht für die zwei Besprechungszimmer im vierten Stock mit allen anderen Einheiten der Robbery-Homicide Division, der RHD. Normalerweise mussten die Detectives eins der Zimmer im Vorfeld reservieren, indem sie sich in einem Klemmbrett eintrugen, das an der Tür hing. Aber so früh an einem Montagmorgen waren beide Räume frei, und Bosch, Chu, Shuler und Dolan beschlagnahmten kurzerhand den kleineren der beiden.
Sie hatten die Mordakte und die kleine Beweismittel-Archivbox des Falls aus dem Jahr 1989 dabei.
»So«, begann Bosch, als alle saßen. »Ihr habt also nichts dagegen, wenn wir diesen Fall übernehmen? Wenn doch, können wir noch mal zu Duvall gehen und ihr sagen, dass ihr ihn unbedingt haben wollt.«
»Nein, schon okay«, sagte Shuler. »Wir sind mit dem Prozess voll ausgelastet, deshalb ist es auf jeden Fall besser so. Es ist unser erster Fall bei der Einheit, und wir wollen ihn unbedingt bis zum Schuldspruch begleiten.«
Bosch nickte und schlug beiläufig die Akte auf. »Könntet ihr uns dann vielleicht kurz sagen, worum es hier geht?«
Shuler nickte seiner Partnerin Dolan zu und gab den Kollegen dann eine Zusammenfassung des Falls aus dem Jahr 1989. Bosch blätterte währenddessen den Ordner durch.
»Wir haben ein neunzehnjähriges Opfer, Lily Price. Studentin aus Ohio, grundanständiges Mädchen. Sie wurde in Venice auf offener Straße entführt, als sie an einem Sonntagnachmittag vom Strand nach Hause ging. Der Ort der Entführung konnte schon damals auf die Gegend um die Kreuzung von Speedway und Voyage Street eingegrenzt werden. Price wohnte zusammen mit drei anderen Mädchen in der Voyage. Eine ihrer Mitbewohnerinnen war mit ihr am Strand gewesen, die zwei anderen waren in der Wohnung. Sie verschwand irgendwo zwischen diesen beiden Stellen. Sie hat dem anderen Mädchen gesagt, sie wolle nur kurz nach Hause, um dort auf die Toilette zu gehen, ist aber nie dort angekommen.«
»Sie hat ihr Handtuch und einen Walkman am Strand gelassen«, fuhr Shuler fort. »Und ihr Sonnenschutzmittel. Deshalb war klar, dass sie zurückkommen wollte. Ist sie aber nicht. Und laut den Aussagen ihrer beiden Mitbewohnerinnen, die im fraglichen Zeitraum in der Wohnung waren, ist sie auch dort nicht aufgetaucht.«
»Ihre Leiche wurde am nächsten Morgen auf den Felsen unten am Cut gefunden«, führte Dolan weiter aus. »Sie war nackt, und sie war vergewaltigt und anschließend stranguliert worden. Ihre Kleider wurden nie gefunden. Auch der Strick, mit dem sie stranguliert worden war, ist nie aufgetaucht.«
Bosch blätterte durch mehrere Klarsichthüllen mit verblassten Polaroidaufnahmen vom Tatort. Beim Anblick des Opfers konnte er nicht anders, als an seine Tochter zu denken, die mit fünfzehn noch ihr ganzes Leben vor sich hatte. Es hatte Zeiten gegeben, in denen ihn der Anblick solcher Fotos angestachelt und das Feuer in ihm entfacht hatte, das er brauchte, um vollen Einsatz zu bringen. Aber seit Maddie bei ihm lebte, fiel es ihm immer schwerer, sich Opfer anzusehen.
Es hielt ihn jedoch nicht davon ob, das Feuer zu schüren.
»Woher kommt die DNA?«, fragte er. »Sperma?«
»Nein, entweder hat der Mörder ein Kondom benutzt, oder er hat nicht ejakuliert«, sagte Dolan. »Kein Sperma.«
»Sie stammt von einem kleinen Blutfleck«, sagte Shuler. »Er befand sich am Hals des Opfers, direkt unter dem rechten Ohr. In diesem Bereich hatte sie aber keinerlei Verletzungen. Deshalb haben sie damals angenommen, dass das Blut vom Mörder stammte, dass er sich verletzt oder vorher schon geblutet hatte. Es war nur ein kleiner Tropfen. Eigentlich mehr ein Schmierer. Sie wurde mit einem Strick stranguliert. Wenn sie von hinten erdrosselt wurde, könnte seine Hand an dieser Stelle ihres Halses gewesen sein. Und wenn er eine Verletzung an der Hand hatte ...«
»Eine Übertragungsablagerung«, sagte Chu.
»Genau.«
Bosch fand das Polaroidfoto, auf dem der Hals des Opfers und der Blutfleck zu sehen waren.
Die Farben waren im Lauf der Zeit so stark verblasst, dass das Blut kaum mehr zu erkennen war. Um die Größe des Flecks auf dem Foto bestimmen zu können, war ein Lineal auf den Hals des Mädchens gelegt worden. Er war etwa zwei Zentimeter groß.
»Und diese Blutspur wurde abgenommen und aufbewahrt«, sagte Bosch. Diese Feststellung sollte weitere Erklärungen nach sich ziehen.
»Ja«, sagte Shuler. »Weil es ein Fleck war, wurde es abgetupft. Damals konnte allerdings nur die Blutgruppe bestimmt werden. Null, Rhesus positiv. Der Tupfer wurde in einem Röhrchen aufbewahrt, das wir in der Asservatenkammer gefunden haben, als wir den Fall übernommen haben. Das Blut ist inzwischen zu Pulver getrocknet.«
Shuler tippte mit einem Stift auf den Deckel der Archivbox. In diesem Moment begann das Handy in Boschs Hosentasche zu vibrieren. Normalerweise hätte er den Anruf auf die Mailbox gehen lassen, aber weil seine Tochter allein zu Hause war - sie war krank geworden und hatte nicht zur Schule gehen können - , wollte er sichergehen, dass der Anruf nicht von ihr kam. Er holte das Handy aus der Tasche und schaute auf das Display.
Es war nicht seine Tochter. Es war Kizmin Rider, eine ehemalige Kollegin, die inzwischen als Lieutenant im Büro des Polizeichefs arbeitete. Er beschloss, sie nach der Besprechung zurückzurufen. Sie trafen sich einmal im Monat zum Mittagessen, und er nahm an, dass sie heute Zeit hatte oder anrief, weil sie gehört hatte, dass sein Antrag auf Verlängerung seiner Dienstzeit bewilligt worden war. Er steckte das Handy wieder ein.
»Habt ihr das Röhrchen geöffnet?«, fragte er.
»Natürlich nicht«, sagte Shuler.
»Okay, dann habt ihr also das Röhrchen mit dem Tupfer und dem, was von dem Blut noch übrig war, vor vier Monaten an das Bezirkslabor eingeschickt, richtig?«
»Ja«, bestätigte Shuler.
Bosch blätterte im Mordbuch zum Obduktionsbefund. Er tat so, als interessierte er sich mehr für das, was er sah, als für das, was er sagte.
»Habt ihr damals sonst noch was an das Labor eingeschickt?«
»Vom Price-Fall?«, fragte Dolan. »Nein, das war das einzige biologische Beweisstück, das es damals gab.«
Bosch nickte in der Hoffnung, sie würde weitersprechen.
»Auch sonst ist bei den damaligen Ermittlungen nichts herausgekommen«, fuhr Dolan fort. »Sie haben keinen Verdächtigen gefunden. Auf wen sind sie bei dem kalten Treffer gestoßen?«
»Dazu kommen wir gleich«, sagte Bosch. »Was ich damit gemeint habe, ist, habt ihr auch von den anderen Fällen, die ihr zu der Zeit bearbeitet habt, irgendwas an das Labor geschickt? Oder war das alles?«
»Nein, das war alles.« Shuler verengte argwöhnisch die Augen zu Schlitzen. »Entschuldige mal, aber was soll das eigentlich, Harry?«
Bosch fasste in die Innentasche seines Sakkos und zog das Formular heraus. Er schob es Shuler über den Tisch hinweg zu.
»Der Treffer deutet auf einen Sexualtäter hin, der eigentlich recht vielversprechend scheint - bis auf eins.«
Shuler entfaltete das Formular, und er und Dolan rückten näher zusammen, um es gemeinsam zu lesen; so, wie Bosch und Chu das vorher getan hatten.
»Wieso?«, fragte Dolan, der das Geburtsdatum noch nicht aufgefallen war. »Der Typ passt doch super.«
»Heute wäre er perfekt«, erwiderte Bosch. »Aber damals war er erst acht Jahre alt.«
»Willst du mich verarschen?«, fragte Dolan.
»Das kann doch wohl nicht sein?«, fügte Shuler hinzu.
Dolan zog das Formular zu sich hin, um es sich genauer anzusehen und das Geburtsdatum zu überprüfen. Shuler lehnte sich zurück und sah Bosch misstrauisch an.
»Ihr glaubt also, wir haben Scheiße gebaut und zwei Fälle miteinander vermengt?«
»Nein«, sagte Bosch. »Duvall hat uns zwar gebeten, dieser Möglichkeit nachzugehen, aber wie ich die Sache sehe, ist auf unserer Seite alles korrekt gelaufen.«
»Dann muss es im Labor passiert sein«, sagte Shuler. »Ist dir eigentlich klar, dass künftig jeder Strafverteidiger im County die DNA-Analysen, die von dort kommen, anzweifeln kann, wenn sie dort Scheiße gebaut haben?«
»Ja, kann ich mir gut vorstellen«, brummte Bosch. »Deshalb solltet ihr die ganze Geschichte erst mal für euch behalten, bis wir wissen, was tatsächlich passiert ist. Es gibt nämlich auch andere Möglichkeiten.«
Dolan hielt das Formular hoch. »Und was ist, wenn niemand gepfuscht hat? Wenn das Blut an dem toten Mädchen tatsächlich von diesem Pimpf stammt?«
»Ein Achtjähriger, der auf offener Straße eine Neunzehnjährige entführt und sie dann vergewaltigt, stranguliert und ihre Leiche vier Straßen weiter entsorgt?« Dieser Einwand kam von Chu. »Vollkommen ausgeschlossen.«
»Vielleicht war er nur dabei«, sagte Dolan. »Vielleicht war es der Auslöser, dass er ein Sextäter geworden ist. Ihr habt ja sein Vorstrafenregister gesehen. Der Typ passt hervorragend ins Bild - bis auf sein Alter.«
Bosch nickte.
»Vielleicht. Aber wie gesagt, es gibt auch andere Möglichkeiten. Noch besteht kein Grund zur Panik.«
Sein Handy begann erneut zu vibrieren. Er zog es heraus und sah, dass es wieder Kiz Rider war. Zwei Anrufe in fünf Minuten - er beschloss, lieber dranzugehen. Das war keine Verabredung zum Mittagessen.
»Ich gehe mal kurz nach draußen.« Bosch stand auf und nahm den Anruf auf dem Flur entgegen.
»Kiz?«
»Harry, ich versuche schon die ganze Zeit, dich zu erreichen.«
»Ich bin gerade in einer Besprechung. Was gibt es so Wichtiges?«
»Du wirst gleich ins OCP gerufen werden.«
»Ich soll in den zehnten hochkommen?«
Im neuen Polizeigebäude war das Office of the Chief of Police, das Büro des Polizeichefs, im zehnten Stock, komplett mit eigener Dachterrasse und Blick auf das Civic Center.
»Nein, zum Sunset Strip. Sie werden dich an einen Tatort schicken. Du sollst einen Fall übernehmen - über den du nicht begeistert sein wirst.«
»Also, Lieutenant, ich habe erst heute Morgen einen Fall bekommen. Da brauche ich nicht noch einen.«
Er dachte, wenn er sie mit ihrem offiziellen Titel ansprach, brächte das seine Skepsis besser zum Ausdruck. Vorladungen und Aufträge aus dem OCP waren immer mit Vorsicht zu genießen - da war immer Politik im Spiel, und man konnte schnell unter die Räder geraten.
»Er wird dir aber keine Wahl lassen, Harry.«
Mit »er« war der Polizeichef gemeint.
»Worum geht es?«
»Einen Selbstmörder im Chateau Marmont.«
»Wer?«
»Harry, ich finde, du solltest lieber auf den Anruf des Chief warten. Ich wollte dich nur ...«
»Wer ist es, Kiz? Wenn du etwas über mich weißt, dann, dass ich ein Geheimnis für mich behalten kann, bis es kein Geheimnis mehr ist.«
Sie zögerte, bevor sie antwortete.
»Soviel ich mitbekommen habe, ist nicht viel von ihm übrig, was noch erkennbar wäre - er ist aus dem siebten Stock gesprungen und auf Beton gelandet. Aber der vorläufigen Identifizierung zufolge ist es George Thomas Irving. Alter sechsundvierzig, wohnhaft in ...«
»Irving wie Irvin Irving? Wie Stadtrat Irvin Irving?«
Bosch wusste, dass ein Fall, in den sich das OCP so schnell einschaltete, einen politischen Beigeschmack haben musste. Und der Name Irving machte diesen Zusammenhang ersichtlich.
»Ja, genau der«, sagte Rider. »Die Geißel des LAPD im Allgemeinen und eines gewissen Detective Harry Bosch im Besonderen. Es ist sein Sohn, und Stadtrat Irving hat den Polizeichef angerufen und darauf gedrungen, dass du die Ermittlungen leitest. Und der Chief meinte, kein Problem.«
Bosch war baff.
»Warum will Irving ausgerechnet mich haben? Schon als er noch bei der Polizei war, hat er die ganze Zeit versucht, mich loszuwerden, und das hat sich auch nicht geändert, seit er in der Politik ist.«
»Das weiß ich leider nicht, Harry. Ich weiß nur, dass er dich dafür haben will.«
»Wann ist das Ganze reingegangen?«
»Der Anruf ist heute Morgen gegen Viertel vor sechs erfolgt. Aber wann es genau passiert ist, ist meines Wissens noch unklar.«
Bosch sah auf die Uhr. Der Fall war schon über drei Stunden alt, ein bisschen spät, um mit den Ermittlungen in einem Todesfall zu beginnen. Das war ein schweres Handicap.
»Was gibt es überhaupt noch groß zu ermitteln?«, fragte er. »Hast du nicht gesagt, er ist gesprungen?«
»Ursprünglich war Hollywood dafür zuständig, und sie wollten es als Selbstmord abhaken. Aber dann hat sich der Stadtrat eingeschaltet, weil er sich damit wahrscheinlich nicht so einfach zufriedengeben will. Deshalb will der Chief dich haben.«
»Ist denn dem Chief klar, dass ich mit Irving schon den einen oder anderen Strauß ausge ...«
»Ja, weiß er. Ihm ist aber auch klar, dass er jede Stimme braucht, die er im Stadtrat ergattern kann, wenn wir jemals wieder Überstunden für die Polizei genehmigt bekommen wollen.«
Bosch sah seine Vorgesetzte, Lieutenant Duvall, aus dem OU-Bereitschaftsraum in den Gang kommen.
Sie machte eine »Da sind Sie ja!«-Geste und steuerte auf ihn zu.
»Sieht ganz so aus, als würde ich gleich die offizielle Benachrichtigung erhalten«, sagte Bosch ins Telefon. »Danke für die Warnung, Kiz. Leuchtet mir zwar alles nicht so recht ein,
aber trotzdem danke. Wenn du sonst was hörst, gib mir Bescheid.«
»Harry, sei bloß vorsichtig. Irving ist alt, aber er hat immer noch Zähne.«
»Ich weiß.«
»Lass von dir hören.«
»Mache ich.«
Bosch klappte sein Handy zu, als Duvall ihn erreichte und ihm ein Blatt Papier hinhielt.
»Tut mir leid, Harry, jetzt ist doch alles anders gekommen. Sie und Chu sollen zu dieser Adresse hier fahren und einen aktuellen Fall übernehmen.«
»Wie bitte?«
Bosch sah auf die Adresse. Es war das Chateau Marmont.
»Anweisung vom Büro des Polizeichefs. Sie und Chu sollen nach Code drei weitermachen und in diesem Fall ermitteln. Mehr weiß ich nicht. Und dass der Chief persönlich dort ist und auf Sie wartet.«
»Und was ist mit dem Fall, den Sie uns gerade übergeben haben?«
»Den legen Sie erst mal auf Eis. Ich möchte, dass Sie sich auch darum kümmern, aber nur, wenn es sich irgendwie machen lässt.«
Sie deutete auf das Blatt Papier in seiner Hand.
»Das hat Vorrang.«
»Wirklich, Lieutenant?«
»Ja, natürlich. Der Chief hat mich persönlich angerufen, und er wird auch Sie noch anrufen. Sagen Sie also Chu Bescheid und fahren Sie gleich los.«
3
Wie erwartet, überschüttete ihn Chu mit Fragen, sobald sie auf dem Freeway 101 waren. Inzwischen waren sie fast zwei Jahre Partner, und Bosch hatte sich daran gewöhnt, dass sich Chus Unsicherheit in einem nicht abreißenden Strom von Fragen, Kommentaren und Mutmaßungen Ausdruck verschaffte. Normalerweise redete er dabei aber über etwas ganz anderes als über das, was ihn wirklich beschäftigte. Manchmal meinte es Bosch gut mit ihm und erzählte ihm, was er wissen wollte. Manchmal ließ er seinen jungen Partner aber auch so lang schmoren, bis dieser es nicht mehr aushielt. »Harry, was ist hier eigentlich los? Wir haben heute Morgen einen neuen Fall bekommen, und jetzt heißt es plötzlich, wir haben noch einen?«
»Das LAPD ist eine paramilitärische Organisation, Chu. Das heißt, wenn dir jemand Hochrangigeres sagt, dass du etwas tun sollst, tust du es. Dieser Befehl kommt vom Chief, und deshalb führen wir ihn aus. Das ist, was los ist. Irgendwann können wir uns dann auch wieder um den kalten Treffer kümmern. Aber vorerst haben wir einen aktuellen Fall, und der hat Vorrang.«
»Das hört sich ganz nach irgendwelchem politischen Schmu an.«
»High Jingo eben.«
»Was ist das?«
»Die Vermengung von Polizei und Politik. Wir sollen die genaueren Umstände des Tods von Stadtrat Irvin Irvings Sohn aufklären. Du kennst doch Irving, oder?«
»Sicher. Er war Deputy Chief, als ich angefangen habe. Dann hat er aber den Polizeidienst quittiert und für den Stadtrat kandidiert.«
»Das hat er aber nicht freiwillig getan. Er wurde gegangen. Und dann hat er sich als Stadtrat aufstellen lassen, um sich für seinen Rauswurf an der Polizei rächen zu können. Irving geht es nur um eins: dem LAPD das Leben so schwer wie möglich zu machen. Außerdem solltest du vielleicht wissen, dass er damals vor allem mich auf dem Kieker hatte. Wir sind ein paarmal aneinandergeraten, könnte man sagen.«
»Warum will er dann, dass du die Ermittlungen zum Tod seines Sohns leitest?«
»Das werden wir gleich erfahren.«
»Was hat dir Duvall über den Fall erzählt? War es Selbstmord?«
»Erzählt hat sie mir gar nichts. Sie hat mir nur die Adresse gegeben.«
Er beschloss, Chu nicht zu erzählen, was er von Kiz Rider über den Fall wusste. Sonst hätte er ihm verraten, dass er im Büro des Polizeichefs eine Quelle hatte. Er wollte noch nicht, dass Chu das wusste; aus diesem Grund hatte er bisher auch seine monatlichen Mittagessen mit Kiz vor ihm geheim gehalten.
»Hört sich alles ein bisschen dubios an.«
Boschs Handy begann zu summen, und er schaute auf das Display. Die Rufnummer war unterdrückt, aber er ging dran. Es war der Polizeichef. Bosch kannte ihn schon lange und hatte sogar bei einigen Ermittlungsverfahren mit ihm zusammengearbeitet. Der Chief hatte sich von unten hochgedient und war unter anderem lange als Ermittler und Supervisor bei der Abteilung Diebstahl und Tötungsdelikte tätig gewesen. Er war erst zwei Jahre Polizeichef und hatte die Truppe noch auf seiner Seite. Aber die Streichung bezahlter Überstunden und andere budgetbedingte Maßnahmen, wie der kontinuierliche Personalabbau, sorgten an der Basis für Unmut. Der Chief war an einem kritischen Punkt. Wenn er den Rückhalt der Truppe verlor, verlor er die Chance, der Polizei seinen Stempel aufzudrücken.
»Harry, hier Marty. Wo bist du gerade?«
»Auf dem Eins-null-eins. Wir sind sofort los, als ich es erfahren habe.«
»Ich will das unbedingt geklärt haben, bevor die Medien Wind davon bekommen, was nicht mehr lang dauern kann. Kein Grund, noch mehr Kriegsschauplätze zu eröffnen. Wie du sicher bereits weißt, ist das Opfer der Sohn von Stadtrat Irving. Irving hat darauf bestanden, dass du die Ermittlungen leitest.«
»Warum?«
»Seine Gründe hat er mir nicht genannt. Ich weiß, dass ihr euch ein paarmal in die Wolle gekriegt habt.«
»Allerdings. Was kannst du mir über den Fall erzählen?«
»Nicht sehr viel.«
Er gab Bosch die gleiche Zusammenfassung, die Rider ihm gegeben hatte, nur mit ein paar zusätzlichen Details.
»Wer ist aus Hollywood dort?«
»Glanville und Solomon.«
Bosch kannte die zwei Ermittler von früheren Fällen und Sondereinheiten. Beide waren für ihre breite Statur und ihr ausgewachsenes Ego bekannt. Sie wurden Fass und Kiste genannt und fanden das gut. Sie kleideten sich auffällig und trugen dicke Ringe. Und Boschs Kenntnis nach waren sie kompetente Ermittler. Wenn sie den Fall als Selbstmord einstuften, lagen sie höchstwahrscheinlich richtig.
»Sie werden unter deiner Leitung weitermachen«, sagte der Chief. »Das habe ich ihnen persönlich zu verstehen gegeben.«
»Okay, Chief.«
»Harry, ich erwarte, dass du dich voll reinhängst. Deine Vorgeschichte ist mir da herzlich egal. Vergiss sie am besten. Wir können es uns nicht leisten, dass der Stadtrat hinterher sagt, wir hätten keinen vollen Einsatz gezeigt.«
»Alles klar.«
Bosch blieb eine Weile still und überlegte, was er noch fragen könnte.
»Wo ist übrigens der Stadtrat, Chief?«
»Unten im Foyer.«
»War er im Zimmer?«
»Darauf hat er bestanden. Ich habe ihm erlaubt, sich dort umzusehen, solange er nichts anfasst, und dann haben wir ihn sofort wieder rausgeführt.«
»Das hättest du nicht tun sollen, Marty.«
Bosch wusste, es war nicht ganz ungefährlich, dem Polizeichef zu sagen, dass er etwas falsch gemacht hatte. Da tat es auch nichts zur Sache, dass sie mal gemeinsam Leichen auf den Rücken gedreht hatten.
»Aber wahrscheinlich hattest du keine andere Wahl«, fügte er hinzu.
»Sieh einfach zu, dass du möglichst schnell herkommst, und gib mir Bescheid, wenn du da bist. Falls du mich nicht direkt erreichst, wendest du dich am besten an Lieutenant Rider.«
Aber seine unterdrückte Handynummer rückte er nicht heraus. Damit war für Bosch der Fall klar. Er würde mit seinem alten Kumpel, dem Polizeichef, nicht mehr länger auf direktem Weg kommunizieren. Nicht klar war dagegen, wie der Chief die Ermittlungen von ihm geführt haben wollte.
»Chief«, sagte er deshalb ganz förmlich, um klarzustellen, dass er nicht auf alte Verbindlichkeiten zurückgreifen wollte. »Wenn ich da jetzt raufgehe und es ist ein Selbstmord, werde ich es auch als Selbstmord einstufen. Wenn du was anderes willst, musst du dir jemand anders suchen.«
»Nein, nein, schon gut, Harry. Du machst es so, wie du es für richtig hältst. Egal, was dabei herauskommt.«
»Bist du da sicher? Ist das auch, was Irving will?«
»Es ist, was ich will.«
»Verstehe.«
»Hat dir Duvall übrigens schon wegen des Verlängerungsantrags Bescheid gesagt?«
»Ja, hat sie.«
»Ich habe für die vollen fünf Jahre plädiert, aber in der Kommission gibt es ein paar Leute, denen in deiner Personalakte nicht alles gefallen hat. Wir haben so viel rausgeholt wie möglich, Harry.«
»Danke.«
»Keine Ursache.«
Der Chief beendete das Gespräch. Bosch hatte kaum sein Handy eingesteckt, als Chu ihn bereits mit Fragen bombardierte. Bosch schilderte ihm den Inhalt des Telefonats, während er vom Freeway auf den Sunset Boulevard bog und nach Westen weiterfuhr.
Chu nutzte Boschs Auskunftsbereitschaft dazu, die Frage zu stellen, die ihm schon den ganzen Morgen auf der Zunge brannte.
»Was war eigentlich mit Lieutenant Duvall, Harry?«, fragte er. »Willst du mir nicht langsam sagen, worum es da ging?«
Bosch spielte den Begriffsstutzigen.
»Worum soll es wann gegangen sein?«
»Jetzt tu doch nicht so, Harry. Als sie in ihrem Büro allein mit dir geredet hat, was hat sie da gesagt? Sie will mich loswerden, oder? Ich bin eigentlich auch nie richtig warmgeworden mit ihr.«
Bosch konnte einfach nicht anders. Das Glas seines Partners war immer halb leer, und deshalb ließ er sich keine Gelegenheit entgehen, ihn aufzuziehen.
»Sie hat gesagt, sie will dich seitlich versetzen - also schon im Morddezernat behalten. Anscheinend werden demnächst im South Bureau ein paar Stellen frei, und sie will mal mit ihnen reden. Dich gegen jemand von da unten tauschen.«
»Nein!«
Chu war erst vor kurzem nach Pasadena gezogen. Von dort täglich zum South Bureau fahren zu müssen wäre ein Alptraum.
»Und, was hast du ihr gesagt?«, fragte er. »Hast du wenigsten ein gutes Wort für mich eingelegt?«
»Was hast du eigentlich gegen South, Mann? Ich habe ihr gesagt, in zwei Jahren hast du dich dort unten so richtig schön eingelebt. Woanders würde das fünf Jahre dauern.«
»Harry!«
Bosch begann zu lachen. Es half ihm, die Spannung abzubauen. Das bevorstehende Treffen mit Irving lag ihm schwer im Magen. Es ließ sich nicht umgehen, und er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte.
»Verarscht du mich etwa?«, quiekte Chu und drehte sich ganz zu Bosch herum. »Sag bloß, du verarscht mich?«
»Jetzt reg dich erst mal wieder ab, Chu. Sie hat mir nur gesagt, dass mein Verlängerungsantrag durchgegangen ist. Du darfst dich noch drei Jahre und drei Monate länger mit mir rumärgern, mehr nicht.«
»Ach so ... aber, ist doch super, oder?«
»Sicher. Klar.«
Chu war zu jung, um sich über Dinge wie einen Verlängerungsantrag Gedanken zu machen. Fast zehn Jahre zuvor hatte Bosch seine Pensionsansprüche geltend gemacht und in einer unbedachten Entscheidung den Dienst quittiert. Nach zwei Jahren als Zivilist war er jedoch im Zuge des sogenannten DROP, des Deferred Retirement Option Plan des LAPD, in den Polizeidienst zurückgekehrt. Diese Regelung diente dem Zweck, erfahrene Ermittler weiter zu beschäftigen und ihnen zu ermöglichen, das zu tun, was sie am besten konnten. In Boschs Fall war das, in Mordfällen zu ermitteln. Er war ein Runderneuerter mit einem Sieben-Jahres-Vertrag. Nicht alle beim LAPD waren über diese Regelung glücklich, vor allem nicht die Detectives der Außenstellen, die auf eine prestigeträchtige Stelle bei der renommierten Robbery-Homicide Division in Downtown spekulierten.
Eine DROP-Wiedereinstellung in den Polizeidienst konnte einmalig um drei bis fünf Jahre verlängert werden. Danach war die Pensionierung unumgänglich. Einen solchen Verlängerungsantrag hatte Bosch ein Jahr zuvor gestellt, und wie es sich für eine Bürokratie, die etwas auf sich hielt, gehörte, war ihm erst jetzt mitgeteilt worden, dass sein Dienstvertrag verlängert worden war. Für ihn war es eine Zeit angespannten Wartens gewesen, denn er wusste, dass er jederzeit in den Ruhestand geschickt werden konnte, wenn die Polizeikommission seinem Antrag nicht stattgab. Es war auf jeden Fall eine erfreuliche Nachricht, auch wenn jetzt ganz deutlich abzusehen war, wie lange er noch eine Dienstmarke tragen würde. Deshalb erfüllte ihn die gute Nachricht auch mit einer gewissen Wehmut. Wenn er die offizielle Benachrichtigung der Kommission erhielt, würde darin das genaue Datum seines letzten Tags als Polizist stehen. Und ob er es wollte oder nicht, um nichts anderes kreisten jetzt seine Gedanken. Seine Zukunft hatte Grenzen. Vielleicht gehörte er ja auch zu denen, für die das Glas immer halb leer war.
Danach ließ ihn Chu mit seinen Fragen in Ruhe, und Bosch versuchte, nicht an den DROP zu denken. Stattdessen dachte er an Irving, als er in Richtung Westen fuhr. Der Stadtrat war über vierzig Jahre im Polizeidienst gewesen, hatte es aber nie an die Spitze des LAPD geschafft. Nachdem er seine ganze Karriere darauf zugeschnitten hatte, sich für das Amt des Polizeichefs in Stellung zu bringen, war es ihm in einem politischen Wirbelsturm weggeschnappt worden. Und ein paar Jahre danach war er - unter Boschs Zutun - ganz aus dem Polizeidienst gedrängt worden. Derart düpiert, hatte er für den Stadtrat kandidiert, war gewählt worden und hatte es sich fortan zur Aufgabe gemacht, sich an der Strafverfolgungsbehörde zu rächen, für die er sich so viele Jahre abgerackert hatte. Dabei ging er sogar so weit, gegen jede Gehaltserhöhung und Personalerweiterung bei der Polizei zu stimmen. Zugleich war er immer der Erste, der bei jeder Unregelmäßigkeit und jedem vermeintlichen Verstoß seitens eines Polizisten nach einer unabhängigen Untersuchung und nach einer Aufarbeitung des Vorfalls rief. Den schwersten Schlag hatte er dem LAPD jedoch vor einem Jahr beigebracht, als er mit allem Nachdruck die Kostensenkungsklage befürwortet hatte, die das LAPD-Budget für die Überstundenvergütung um 100 Millionen Dollar beschnitt. Das tat jedem Polizisten, egal welchen Rangs, weh.
Bei den Wahlen im November kandidierte Irving erneut für den Stadtrat, wobei sein Gegenkandidat nur auf dem Papier existierte. Ein junger Geschäftsmann aus der Westside hoffte, sich gegen den in die Jahre gekommenen Politikveteranen Irving als jugendlicher Außenseiter profilieren zu können, konnte damit aber bei den Wählern nicht punkten. Irvings Wiederwahl stand so gut wie fest, ohne dass er auch nur ein Wahlkampfbüro eröffnen musste.
Bei einem mit allen Wassern gewaschenen Politiker wie Irving stand für Bosch außer Frage, dass der gegenwärtige Polizeichef irgendeine Art von Deal mit ihm ausgehandelt hatte. Ein Quidproquo. Bosch würde sicher nicht ohne Gegenleistung für den Fall zur Verfügung gestellt. Obwohl sich Bosch in Sachen Politik nie für besonders hellsichtig gehalten hatte, war er sicher, bald herauszufi nden, was dahintersteckte.
Für die deutschsprachige Ausgabe: © 2014 Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München Alle Rechte vorbehalten.
Bei der Einheit Offen-Ungelöst war einmal im Monat Weihnachten: immer dann, wenn Lieutenant Gail Duvall im Bereitschaftsraum ihre Runde wie Santa Claus machte und die neuen Aufträge wie Weihnachtsgeschenke an die sechs Detective-Teams der Abteilung verteilte. Die sogenannten Cold Hits, die kalten Treffer, waren die Daseinsberechtigung der Einheit. Bei Offen-Ungelöst warteten die Teams nicht darauf, zu Einsätzen und frischen Mordopfern gerufen zu werden. Sie warteten auf kalte Treffer.
Die Einheit Offen-Ungelöst stellte Ermittlungen zu ungelösten Mordfällen an, die sich in den letzten fünfzig Jahren in Los Angeles ereignet hatten. Sie bestand aus zwölf Detectives, einer Sekretärin, dem Chef des Bereitschaftsraums, kurz »der Spieß« genannt, und dem Lieutenant. Fünf der Teams aus je zwei Detectives teilten die fünfzig Jahre so unter sich auf, dass jedes Zweierteam für jeweils zehn willkürlich ausgewählte Jahrgänge zuständig war. Ihre Aufgabe bestand darin, alle ungelösten Mordfälle der ihnen zugeteilten Jahrgänge aus dem Archiv herauszusuchen, auszuwerten und lange aufbewahrte und in Vergessenheit geratene Beweise einzureichen, damit sie mit Hilfe modernster Techniken einer erneuten Analyse unterzogen werden konnten. Die DNA-Proben wurden vom neuen Bezirkslabor in der Cal State untersucht. Stimmte die DNA-Probe eines kalten Falls mit der DNA eines Individuums überein, das in einer der nationalen DNA-Datenbanken gespeichert war, bezeichnete man das als kalten Treffer. Am Ende eines jeden Monats verschickte das Labor per Post seine Ergebnisse. Wenn diese einen oder zwei Tage später im PAB, dem Police Administration Building in Downtown Los Angeles eintrafen, ging am nächsten Morgen - in der Regel spätestens um acht Uhr - die Tür von Lieutenant Duvalls Büro auf, und sie kam mit den Umschlägen in den Bereitschaftsraum. Die Trefferbenachrichtigungen wurden immer einzeln und in gelben Umschlägen versandt, und normalerweise wurden sie denjenigen Detective-Teams ausgehändigt, die die jeweiligen DNA-Proben an das Labor eingeschickt hatten. Manchmal gab es jedoch so viele kalte Treffer, dass ein Team nicht alle bearbeiten konnte. Manchmal waren auch die entsprechenden Detectives im Gericht oder krank oder im Urlaub. Und manchmal waren kalte Treffer darunter, die ein Höchstmaß an Können und Erfahrung erforderten. In diesen Fällen kam das sechste Team zum Einsatz. Es bestand aus den Detectives Harry Bosch und David Chu. Sie waren Springer. Sie übernahmen überzählige Fälle und Sonderermittlungen.
Am 3. Oktober, einem Montagmorgen, kam Lieutenant Gail Duvall mit nur drei gelben Umschlägen in den Bereitschafts-raum. Fast hätte Harry Bosch angesichts des dürftigen Ertrags der DNA-Treffer laut aufgestöhnt. Er wusste, dass bei so wenigen Umschlägen kein neuer Fall für ihn abfiele.
Nach einem zweijährigen Intermezzo bei einer Sondereinheit für Tötungsdelikte war Bosch inzwischen fast wieder ein Jahr bei Offen-Ungelöst. Da es sich dabei bereits um seine zweite Dienstzeit bei der Einheit handelte, hatte er rasch wieder in ihren Arbeitsrhythmus zurückgefunden. Sie waren nicht ständig in Außeneinsätzen unterwegs. Sie mussten nicht loshetzen, um an einen Tatort zu gelangen. Es gab nicht einmal Tatorte. Nur Akten- und Archivboxen. Die Arbeitszeit war im Großen und Ganzen streng auf neun bis vier begrenzt, mit einer Einschränkung: Die Arbeit war mit mehr Reisen verbunden als die der anderen Ermittler. Mörder, die ungeschoren davongekommen waren - oder dies zumindest glaubten - neigten nicht dazu, in der Nähe des Schauplatzes ihrer Verbrechen zu bleiben. Sie wechselten in der Regel den Wohnsitz, und oft mussten die OU-Ermittler auf Reisen gehen, um sie zu finden.
Ein wichtiger Bestandteil des Arbeitsrhythmus war das allmonatliche Warten auf das Eintreffen der gelben Umschläge. Manchmal schlief Bosch in den Nächten vor diesem speziellen Weihnachten schlecht. Er nahm in der ersten Woche eines Monats nie frei und kam nie zu spät zum Dienst, wenn die Aussicht bestand, dass die gelben Umschläge eingingen. Sogar seiner halbwüchsigen Tochter war dieser von gespannter Erwartung bestimmte Monatszyklus aufgefallen, und sie hatte ihn mit dem Menstruationszyklus verglichen. Bosch fand das überhaupt nicht witzig, es war ihm eher peinlich, als sie es erwähnte.
Und jetzt spürte er beim Anblick der wenigen Umschläge in Lieutenant Duvalls Hand die Enttäuschung wie einen festen Gegenstand in seiner Kehle. Er wollte einen neuen Fall. Er brauchte einen neuen Fall. Er musste den Gesichtsausdruck des Mörders sehen, wenn er an seine Tür klopfte und seine Dienstmarke zückte, die personifizierte Gerechtigkeit, die nach all den Jahren völlig unerwartet doch noch auftauchte. Danach konnte man süchtig werden, und im Moment hielt es Bosch kaum mehr aus ohne diesen Kick.
Den ersten Umschlag gab Lieutenant Duvall Rick Jackson. Er und sein Partner Rich Bengtson waren tüchtige Ermittler, die seit der Gründung der Einheit dabei waren. Daran gab es für Bosch nichts auszusetzen. Der nächste Umschlag wurde auf den leeren Schreibtisch gelegt, der Teddy Baker gehörte. Sie und ihr Partner Greg Kehoe waren gerade auf dem Rückweg von einer Festnahme in Tampa, Florida - ein Pilot, der aufgrund seiner Fingerabdrücke mit einer 1991 in Marina del Rey strangulierten Flugbegleiterin in Verbindung gebracht worden war.
Bosch wollte Lieutenant Duvall schon vorschlagen, den Umschlag einem anderen Team, nämlich seinem, zu geben, weil Baker und Kehoe mit dem Marina-Fall bereits ausgelastet seien. Doch dann sah Gail Duvall ihn an und winkte ihn mit dem letzten Umschlag in ihr Büro.
»Könnten Sie und Chu kurz zu mir kommen? Und Sie auch, Tim?«
Tim Marcia war der Spieß der Einheit, ein 3er-Detective, der hauptsächlich Supervisions- und Organisationsaufgaben übernahm. Er betreute die jungen Detectives und passte auf, dass die alten wie Jackson und Bosch nicht nachlässig wurden.
Bosch war bereits aufgestanden, bevor Duvall den Satz ganz zu Ende gesagt hatte. Gefolgt von Chu und Marcia, ging er in ihr Büro.
»Schließen Sie die Tür«, sagte Duvall. »Setzen Sie sich.«
Duvall hatte ein Eckbüro mit Fenstern, die sich auf die Spring Street und das Gebäude der Los Angeles Times öffneten. Aus Angst, sie könnte von den Reportern in den Redaktionsräumen auf der anderen Straßenseite beobachtet werden, ließ sie die Jalousien immer unten. Deshalb wirkte ihr Büro düster und höhlenartig. Bosch und Chu nahmen auf den zwei Stühlen vor Duvalls Schreibtisch Platz. Marcia, der das Büro als Letzter betrat, lehnte sich an einen alten Beweismittelsafe.
»Ich möchte, dass Sie beide diesen Fall übernehmen«, erklärte Duvall und reichte Bosch den gelben Umschlag. »Etwas daran ist eigenartig, und deshalb möchte ich, dass Sie möglichst nicht groß darüber reden, solange Sie nicht wissen, was genau Sache ist. Halten Sie Tim auf dem Laufenden, aber ansonsten behalten Sie das Ganze erst mal für sich.«
Der Umschlag war bereits geöffnet worden. Chu beugte sich zu Bosch herüber, als dieser die Lasche hochklappte und den Formularbogen herauszog. Darauf standen die Fallnummer der DNA-Probe sowie Name, Alter, letzter bekannter Wohnsitz und Vorstrafen der Person, mit deren genetischem Profil sie übereinstimmte.
Als Erstes fiel Bosch auf, dass die Fallnummer mit 89 begann. Das hieß, es war ein Fall aus dem Jahr 1989. Weitere Einzelheiten der Straftat waren nicht angegeben, nur die Jahreszahl. Bosch wusste, dass für Fälle aus diesem Jahr eigentlich Ross Shuler und Adriana Dolan zuständig waren. 1989 - er war damals als Mordermittler bei der Sondereinheit gewesen - war ein arbeitsreiches Jahr gewesen, und er hatte sich erst vor kurzem mit einem seiner eigenen ungelösten Fälle aus diesem Jahr befasst. Shuler und Dolan hießen in der Einheit »die Kids«. Sie waren junge, engagierte und gut ausgebildete Ermittler, hatten aber zusammen nicht einmal acht Jahre Erfahrung mit Mordfällen. Wenn also an diesem kalten Treffer irgendetwas eigenartig war, war es kein Wunder, dass ihn Lieutenant Duvall lieber Bosch gab. Bosch hatte in mehr Mordfällen ermittelt als alle anderen in der Abteilung zusammen. Das heißt, wenn man Jackson nicht mitzählte. Er war schon ewig dabei.
Als Nächstes warf Bosch einen Blick auf den Namen auf dem Formular: Clayton S. Pell. Er sagte ihm nichts. Pells Vorstrafenregister beinhaltete zahlreiche Festnahmen und drei Verurteilungen wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses, Freiheitsberaubung und Vergewaltigung. Wegen der Vegewaltigung hatte er sechs Jahre im Gefängnis gesessen und war vor achtzehn Monaten entlassen worden. Seine Bewährungsfrist betrug fünf Jahre, und die Angaben zu seinem letzten bekannten Wohnsitz stammten vom staatlichen Bewährungsausschuss. Er lebte in einem Rehabilitationszentrum für Sexualstraftäter in Panorama City.
Aufgrund von Pells Vorstrafenregister ging Bosch davon aus, dass es sich bei dem Fall von 1989 um einen Sexualmord handelte. Er spürte, wie sich alles in ihm zusammenzog. Er würde sich Clayton Pell schnappen und ihn seiner gerechten Strafe zuführen.
»Sehen Sie es?«, fragte Lieutenant Duvall.
»Ob ich was sehe?«, fragte Bosch. »Dass es ein Sexualmord war? Wie es aussieht, ist dieser Kerl ein typischer Sexualver ...«
»Das Geburtsdatum«, unterbrach ihn Duvall.
Bosch schaute auf das Formular. Auch Chu beugte sich vor. »Ach ja, hier.« Bosch deutete darauf. »9. November 1981. Wieso? Was soll damit ...«
»Er ist zu jung«, sagte Chu.
Bosch sah kurz seinen Partner an und dann wieder auf das Formular. Dann schaltete er. Clayton Pell war 1981 geboren. Er war zum Zeitpunkt des Mordes erst acht Jahre alt gewesen.
»Genau«, sagte Duvall. »Deshalb möchte ich, dass Sie sich von Shuler und Dolan die Akte und die Box besorgen und in aller Stille herausfinden, womit wir es hier zu tun haben. Ich hoffe nur, die beiden haben nicht zwei Fälle miteinander verwechselt und Genproben von einem jüngeren Fall versehentlich diesem alten zugeordnet. Wie Sie gerade sagen wollten, ist dieser Kerl eindeutig ein typischer Sextäter, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass er schon mit acht einen Mord begangen hat und ungestraft davongekommen ist. Irgendetwas stimmt hier eindeutig nicht. Finden Sie heraus, was das ist, und bevor Sie weitere Schritte unternehmen, kommen Sie erst einmal zu mir. Wenn hier jemand Mist gebaut hat und sich alles wieder ausbügeln lässt, brauchen wir uns wegen der Dienstaufsicht oder sonst jemandem keine Gedanken zu machen. Dann bleibt das Ganze unter uns.«
Auf den ersten Blick schien es, als wollte sie Shuler und Dolan die Dienstaufsicht vom Hals halten, aber Bosch ließ sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich auch selbst abzusichern versuchte. Die Aufstiegsmöglichkeiten eines Lieutenant, in dessen Einheit es bei der Beweismittelhandhabung zu einer schweren Panne gekommen war, waren nicht rosig. »Für welche Jahrgänge sind Shuler und Dolan sonst noch zuständig?«, erkundigte sich Bosch.
»Von den aktuelleren haben sie siebenundneunzig und zweitausend«, sagte Marcia. »Die Beweise könnten also von einem ihrer Fälle aus diesen beiden Jahrgängen stammen.« Bosch nickte. Er malte es sich bereits aus: die Verschmutzung des genetischen Beweismaterials eines Falls durch das eines anderen, verursacht durch Achtlosigkeit. Das Endergebnis wären zwei kontaminierte Fälle und ein Skandal, der an jedem haften bliebe, der irgendwie damit in Berührung gekommen war.
»Was sollen wir Shuler und Dolan sagen?«, fragte Chu. »Mit welcher Begründung schnappen wir ihnen den Fall weg?« Duvall blickte zu Marcia hoch.
»Sie haben demnächst einen Prozess«, sagte er in Beantwortung ihrer unausgesprochenen Frage. »Am Donnerstag beginnt die Auswahl der Geschworenen.«
Duvall nickte. »Ich werde ihnen sagen, dass ich ihnen dafür den Rücken freihalten möchte.«
»Und wenn sie den Fall trotzdem wollen?«, fragte Chu. »Was ist, wenn sie sagen, sie bekommen es schon hin?«
»Dann verklickere ich es ihnen halt anders«, sagte Duvall. »Sonst noch Fragen, Detectives?«
Bosch sah seine Vorgesetzte an.
»Wir werfen gern einen Blick auf die Sache und sehen, was es damit auf sich hat, Lieutenant. Aber gegen andere Cops ermittle ich nicht.«
»Kein Problem. Verlangt auch niemand von Ihnen. Gehen Sie der Sache nach und sagen Sie mir, wie die DNA einem Achtjährigen zugeordnet werden konnte, mehr will ich nicht von Ihnen.«
Bosch nickte und machte sich daran, aufzustehen.
»Und denken Sie vor allem an eines«, fügte Duvall hinzu. »Bevor Sie wegen etwas, was Sie rausgefunden haben, konkrete Schritte unternehmen, reden Sie erst mit mir.«
»Alles klar«, sagte Bosch.
Er, Chu und Marcia gingen zur Tür.
Aber Duvall rief Bosch zurück. »Harry, hätten Sie noch einen Moment Zeit?«
Bosch sah Chu an und zog die Augenbrauen hoch. Er wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Nachdem Chu und Marcia das Büro verlassen hatten, kam Lieutenant Duvall hinter ihrem Schreibtisch hervor und schloss die Tür. Sie blieb stehen und fuhr im selben geschäftsmäßigen Ton fort: »Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Ihr Antrag auf Verlängerung Ihrer Dienstzeit durchgegangen ist. Sie haben vier Jahre bekommen, rückwirkend.«
Bosch sah sie an und begann sofort, im Kopf nachzurechnen. Schließlich nickte er. Er hatte das Maximum an Dienstjahren bis zu seiner endgültigen Pensionierung beantragt - fünf Jahre, nicht rückwirkend - , aber er würde nehmen, was sie ihm gaben. Viel weiter als über die Highschool hinaus brächte es ihn nicht, aber es war besser als nichts.
»Also, ich freue mich«, fügte Duvall hinzu. »Damit haben Sie noch neununddreißig Monate mehr bei uns.«
Der Ton, in dem sie das sagte, verriet Bosch, dass sie seinen Gesichtsausdruck als Enttäuschung gedeutet hatte.
»Nein«, sagte er deshalb rasch. »Ich freue mich auch. Ich habe nur kurz nachgerechnet, wie weit mich das mit meiner Tochter bringt. Nein, sehr gut. Ich bin wirklich froh darüber.«
»Na dann gut.«
Das war ihre Art, zu sagen, dass die Besprechung zu Ende war. Bosch dankte ihr und verließ das Büro. Als er in den Bereitschaftsraum zurückkehrte, ließ er den Blick über die Schreibtische, Trennwände und Aktenschränke wandern. Er wusste, dass das sein Zuhause war und dass er - vorerst - bleiben konnte.
2
Die Einheit Offen-Ungelöst teilte sich das Nutzungsrecht für die zwei Besprechungszimmer im vierten Stock mit allen anderen Einheiten der Robbery-Homicide Division, der RHD. Normalerweise mussten die Detectives eins der Zimmer im Vorfeld reservieren, indem sie sich in einem Klemmbrett eintrugen, das an der Tür hing. Aber so früh an einem Montagmorgen waren beide Räume frei, und Bosch, Chu, Shuler und Dolan beschlagnahmten kurzerhand den kleineren der beiden.
Sie hatten die Mordakte und die kleine Beweismittel-Archivbox des Falls aus dem Jahr 1989 dabei.
»So«, begann Bosch, als alle saßen. »Ihr habt also nichts dagegen, wenn wir diesen Fall übernehmen? Wenn doch, können wir noch mal zu Duvall gehen und ihr sagen, dass ihr ihn unbedingt haben wollt.«
»Nein, schon okay«, sagte Shuler. »Wir sind mit dem Prozess voll ausgelastet, deshalb ist es auf jeden Fall besser so. Es ist unser erster Fall bei der Einheit, und wir wollen ihn unbedingt bis zum Schuldspruch begleiten.«
Bosch nickte und schlug beiläufig die Akte auf. »Könntet ihr uns dann vielleicht kurz sagen, worum es hier geht?«
Shuler nickte seiner Partnerin Dolan zu und gab den Kollegen dann eine Zusammenfassung des Falls aus dem Jahr 1989. Bosch blätterte währenddessen den Ordner durch.
»Wir haben ein neunzehnjähriges Opfer, Lily Price. Studentin aus Ohio, grundanständiges Mädchen. Sie wurde in Venice auf offener Straße entführt, als sie an einem Sonntagnachmittag vom Strand nach Hause ging. Der Ort der Entführung konnte schon damals auf die Gegend um die Kreuzung von Speedway und Voyage Street eingegrenzt werden. Price wohnte zusammen mit drei anderen Mädchen in der Voyage. Eine ihrer Mitbewohnerinnen war mit ihr am Strand gewesen, die zwei anderen waren in der Wohnung. Sie verschwand irgendwo zwischen diesen beiden Stellen. Sie hat dem anderen Mädchen gesagt, sie wolle nur kurz nach Hause, um dort auf die Toilette zu gehen, ist aber nie dort angekommen.«
»Sie hat ihr Handtuch und einen Walkman am Strand gelassen«, fuhr Shuler fort. »Und ihr Sonnenschutzmittel. Deshalb war klar, dass sie zurückkommen wollte. Ist sie aber nicht. Und laut den Aussagen ihrer beiden Mitbewohnerinnen, die im fraglichen Zeitraum in der Wohnung waren, ist sie auch dort nicht aufgetaucht.«
»Ihre Leiche wurde am nächsten Morgen auf den Felsen unten am Cut gefunden«, führte Dolan weiter aus. »Sie war nackt, und sie war vergewaltigt und anschließend stranguliert worden. Ihre Kleider wurden nie gefunden. Auch der Strick, mit dem sie stranguliert worden war, ist nie aufgetaucht.«
Bosch blätterte durch mehrere Klarsichthüllen mit verblassten Polaroidaufnahmen vom Tatort. Beim Anblick des Opfers konnte er nicht anders, als an seine Tochter zu denken, die mit fünfzehn noch ihr ganzes Leben vor sich hatte. Es hatte Zeiten gegeben, in denen ihn der Anblick solcher Fotos angestachelt und das Feuer in ihm entfacht hatte, das er brauchte, um vollen Einsatz zu bringen. Aber seit Maddie bei ihm lebte, fiel es ihm immer schwerer, sich Opfer anzusehen.
Es hielt ihn jedoch nicht davon ob, das Feuer zu schüren.
»Woher kommt die DNA?«, fragte er. »Sperma?«
»Nein, entweder hat der Mörder ein Kondom benutzt, oder er hat nicht ejakuliert«, sagte Dolan. »Kein Sperma.«
»Sie stammt von einem kleinen Blutfleck«, sagte Shuler. »Er befand sich am Hals des Opfers, direkt unter dem rechten Ohr. In diesem Bereich hatte sie aber keinerlei Verletzungen. Deshalb haben sie damals angenommen, dass das Blut vom Mörder stammte, dass er sich verletzt oder vorher schon geblutet hatte. Es war nur ein kleiner Tropfen. Eigentlich mehr ein Schmierer. Sie wurde mit einem Strick stranguliert. Wenn sie von hinten erdrosselt wurde, könnte seine Hand an dieser Stelle ihres Halses gewesen sein. Und wenn er eine Verletzung an der Hand hatte ...«
»Eine Übertragungsablagerung«, sagte Chu.
»Genau.«
Bosch fand das Polaroidfoto, auf dem der Hals des Opfers und der Blutfleck zu sehen waren.
Die Farben waren im Lauf der Zeit so stark verblasst, dass das Blut kaum mehr zu erkennen war. Um die Größe des Flecks auf dem Foto bestimmen zu können, war ein Lineal auf den Hals des Mädchens gelegt worden. Er war etwa zwei Zentimeter groß.
»Und diese Blutspur wurde abgenommen und aufbewahrt«, sagte Bosch. Diese Feststellung sollte weitere Erklärungen nach sich ziehen.
»Ja«, sagte Shuler. »Weil es ein Fleck war, wurde es abgetupft. Damals konnte allerdings nur die Blutgruppe bestimmt werden. Null, Rhesus positiv. Der Tupfer wurde in einem Röhrchen aufbewahrt, das wir in der Asservatenkammer gefunden haben, als wir den Fall übernommen haben. Das Blut ist inzwischen zu Pulver getrocknet.«
Shuler tippte mit einem Stift auf den Deckel der Archivbox. In diesem Moment begann das Handy in Boschs Hosentasche zu vibrieren. Normalerweise hätte er den Anruf auf die Mailbox gehen lassen, aber weil seine Tochter allein zu Hause war - sie war krank geworden und hatte nicht zur Schule gehen können - , wollte er sichergehen, dass der Anruf nicht von ihr kam. Er holte das Handy aus der Tasche und schaute auf das Display.
Es war nicht seine Tochter. Es war Kizmin Rider, eine ehemalige Kollegin, die inzwischen als Lieutenant im Büro des Polizeichefs arbeitete. Er beschloss, sie nach der Besprechung zurückzurufen. Sie trafen sich einmal im Monat zum Mittagessen, und er nahm an, dass sie heute Zeit hatte oder anrief, weil sie gehört hatte, dass sein Antrag auf Verlängerung seiner Dienstzeit bewilligt worden war. Er steckte das Handy wieder ein.
»Habt ihr das Röhrchen geöffnet?«, fragte er.
»Natürlich nicht«, sagte Shuler.
»Okay, dann habt ihr also das Röhrchen mit dem Tupfer und dem, was von dem Blut noch übrig war, vor vier Monaten an das Bezirkslabor eingeschickt, richtig?«
»Ja«, bestätigte Shuler.
Bosch blätterte im Mordbuch zum Obduktionsbefund. Er tat so, als interessierte er sich mehr für das, was er sah, als für das, was er sagte.
»Habt ihr damals sonst noch was an das Labor eingeschickt?«
»Vom Price-Fall?«, fragte Dolan. »Nein, das war das einzige biologische Beweisstück, das es damals gab.«
Bosch nickte in der Hoffnung, sie würde weitersprechen.
»Auch sonst ist bei den damaligen Ermittlungen nichts herausgekommen«, fuhr Dolan fort. »Sie haben keinen Verdächtigen gefunden. Auf wen sind sie bei dem kalten Treffer gestoßen?«
»Dazu kommen wir gleich«, sagte Bosch. »Was ich damit gemeint habe, ist, habt ihr auch von den anderen Fällen, die ihr zu der Zeit bearbeitet habt, irgendwas an das Labor geschickt? Oder war das alles?«
»Nein, das war alles.« Shuler verengte argwöhnisch die Augen zu Schlitzen. »Entschuldige mal, aber was soll das eigentlich, Harry?«
Bosch fasste in die Innentasche seines Sakkos und zog das Formular heraus. Er schob es Shuler über den Tisch hinweg zu.
»Der Treffer deutet auf einen Sexualtäter hin, der eigentlich recht vielversprechend scheint - bis auf eins.«
Shuler entfaltete das Formular, und er und Dolan rückten näher zusammen, um es gemeinsam zu lesen; so, wie Bosch und Chu das vorher getan hatten.
»Wieso?«, fragte Dolan, der das Geburtsdatum noch nicht aufgefallen war. »Der Typ passt doch super.«
»Heute wäre er perfekt«, erwiderte Bosch. »Aber damals war er erst acht Jahre alt.«
»Willst du mich verarschen?«, fragte Dolan.
»Das kann doch wohl nicht sein?«, fügte Shuler hinzu.
Dolan zog das Formular zu sich hin, um es sich genauer anzusehen und das Geburtsdatum zu überprüfen. Shuler lehnte sich zurück und sah Bosch misstrauisch an.
»Ihr glaubt also, wir haben Scheiße gebaut und zwei Fälle miteinander vermengt?«
»Nein«, sagte Bosch. »Duvall hat uns zwar gebeten, dieser Möglichkeit nachzugehen, aber wie ich die Sache sehe, ist auf unserer Seite alles korrekt gelaufen.«
»Dann muss es im Labor passiert sein«, sagte Shuler. »Ist dir eigentlich klar, dass künftig jeder Strafverteidiger im County die DNA-Analysen, die von dort kommen, anzweifeln kann, wenn sie dort Scheiße gebaut haben?«
»Ja, kann ich mir gut vorstellen«, brummte Bosch. »Deshalb solltet ihr die ganze Geschichte erst mal für euch behalten, bis wir wissen, was tatsächlich passiert ist. Es gibt nämlich auch andere Möglichkeiten.«
Dolan hielt das Formular hoch. »Und was ist, wenn niemand gepfuscht hat? Wenn das Blut an dem toten Mädchen tatsächlich von diesem Pimpf stammt?«
»Ein Achtjähriger, der auf offener Straße eine Neunzehnjährige entführt und sie dann vergewaltigt, stranguliert und ihre Leiche vier Straßen weiter entsorgt?« Dieser Einwand kam von Chu. »Vollkommen ausgeschlossen.«
»Vielleicht war er nur dabei«, sagte Dolan. »Vielleicht war es der Auslöser, dass er ein Sextäter geworden ist. Ihr habt ja sein Vorstrafenregister gesehen. Der Typ passt hervorragend ins Bild - bis auf sein Alter.«
Bosch nickte.
»Vielleicht. Aber wie gesagt, es gibt auch andere Möglichkeiten. Noch besteht kein Grund zur Panik.«
Sein Handy begann erneut zu vibrieren. Er zog es heraus und sah, dass es wieder Kiz Rider war. Zwei Anrufe in fünf Minuten - er beschloss, lieber dranzugehen. Das war keine Verabredung zum Mittagessen.
»Ich gehe mal kurz nach draußen.« Bosch stand auf und nahm den Anruf auf dem Flur entgegen.
»Kiz?«
»Harry, ich versuche schon die ganze Zeit, dich zu erreichen.«
»Ich bin gerade in einer Besprechung. Was gibt es so Wichtiges?«
»Du wirst gleich ins OCP gerufen werden.«
»Ich soll in den zehnten hochkommen?«
Im neuen Polizeigebäude war das Office of the Chief of Police, das Büro des Polizeichefs, im zehnten Stock, komplett mit eigener Dachterrasse und Blick auf das Civic Center.
»Nein, zum Sunset Strip. Sie werden dich an einen Tatort schicken. Du sollst einen Fall übernehmen - über den du nicht begeistert sein wirst.«
»Also, Lieutenant, ich habe erst heute Morgen einen Fall bekommen. Da brauche ich nicht noch einen.«
Er dachte, wenn er sie mit ihrem offiziellen Titel ansprach, brächte das seine Skepsis besser zum Ausdruck. Vorladungen und Aufträge aus dem OCP waren immer mit Vorsicht zu genießen - da war immer Politik im Spiel, und man konnte schnell unter die Räder geraten.
»Er wird dir aber keine Wahl lassen, Harry.«
Mit »er« war der Polizeichef gemeint.
»Worum geht es?«
»Einen Selbstmörder im Chateau Marmont.«
»Wer?«
»Harry, ich finde, du solltest lieber auf den Anruf des Chief warten. Ich wollte dich nur ...«
»Wer ist es, Kiz? Wenn du etwas über mich weißt, dann, dass ich ein Geheimnis für mich behalten kann, bis es kein Geheimnis mehr ist.«
Sie zögerte, bevor sie antwortete.
»Soviel ich mitbekommen habe, ist nicht viel von ihm übrig, was noch erkennbar wäre - er ist aus dem siebten Stock gesprungen und auf Beton gelandet. Aber der vorläufigen Identifizierung zufolge ist es George Thomas Irving. Alter sechsundvierzig, wohnhaft in ...«
»Irving wie Irvin Irving? Wie Stadtrat Irvin Irving?«
Bosch wusste, dass ein Fall, in den sich das OCP so schnell einschaltete, einen politischen Beigeschmack haben musste. Und der Name Irving machte diesen Zusammenhang ersichtlich.
»Ja, genau der«, sagte Rider. »Die Geißel des LAPD im Allgemeinen und eines gewissen Detective Harry Bosch im Besonderen. Es ist sein Sohn, und Stadtrat Irving hat den Polizeichef angerufen und darauf gedrungen, dass du die Ermittlungen leitest. Und der Chief meinte, kein Problem.«
Bosch war baff.
»Warum will Irving ausgerechnet mich haben? Schon als er noch bei der Polizei war, hat er die ganze Zeit versucht, mich loszuwerden, und das hat sich auch nicht geändert, seit er in der Politik ist.«
»Das weiß ich leider nicht, Harry. Ich weiß nur, dass er dich dafür haben will.«
»Wann ist das Ganze reingegangen?«
»Der Anruf ist heute Morgen gegen Viertel vor sechs erfolgt. Aber wann es genau passiert ist, ist meines Wissens noch unklar.«
Bosch sah auf die Uhr. Der Fall war schon über drei Stunden alt, ein bisschen spät, um mit den Ermittlungen in einem Todesfall zu beginnen. Das war ein schweres Handicap.
»Was gibt es überhaupt noch groß zu ermitteln?«, fragte er. »Hast du nicht gesagt, er ist gesprungen?«
»Ursprünglich war Hollywood dafür zuständig, und sie wollten es als Selbstmord abhaken. Aber dann hat sich der Stadtrat eingeschaltet, weil er sich damit wahrscheinlich nicht so einfach zufriedengeben will. Deshalb will der Chief dich haben.«
»Ist denn dem Chief klar, dass ich mit Irving schon den einen oder anderen Strauß ausge ...«
»Ja, weiß er. Ihm ist aber auch klar, dass er jede Stimme braucht, die er im Stadtrat ergattern kann, wenn wir jemals wieder Überstunden für die Polizei genehmigt bekommen wollen.«
Bosch sah seine Vorgesetzte, Lieutenant Duvall, aus dem OU-Bereitschaftsraum in den Gang kommen.
Sie machte eine »Da sind Sie ja!«-Geste und steuerte auf ihn zu.
»Sieht ganz so aus, als würde ich gleich die offizielle Benachrichtigung erhalten«, sagte Bosch ins Telefon. »Danke für die Warnung, Kiz. Leuchtet mir zwar alles nicht so recht ein,
aber trotzdem danke. Wenn du sonst was hörst, gib mir Bescheid.«
»Harry, sei bloß vorsichtig. Irving ist alt, aber er hat immer noch Zähne.«
»Ich weiß.«
»Lass von dir hören.«
»Mache ich.«
Bosch klappte sein Handy zu, als Duvall ihn erreichte und ihm ein Blatt Papier hinhielt.
»Tut mir leid, Harry, jetzt ist doch alles anders gekommen. Sie und Chu sollen zu dieser Adresse hier fahren und einen aktuellen Fall übernehmen.«
»Wie bitte?«
Bosch sah auf die Adresse. Es war das Chateau Marmont.
»Anweisung vom Büro des Polizeichefs. Sie und Chu sollen nach Code drei weitermachen und in diesem Fall ermitteln. Mehr weiß ich nicht. Und dass der Chief persönlich dort ist und auf Sie wartet.«
»Und was ist mit dem Fall, den Sie uns gerade übergeben haben?«
»Den legen Sie erst mal auf Eis. Ich möchte, dass Sie sich auch darum kümmern, aber nur, wenn es sich irgendwie machen lässt.«
Sie deutete auf das Blatt Papier in seiner Hand.
»Das hat Vorrang.«
»Wirklich, Lieutenant?«
»Ja, natürlich. Der Chief hat mich persönlich angerufen, und er wird auch Sie noch anrufen. Sagen Sie also Chu Bescheid und fahren Sie gleich los.«
3
Wie erwartet, überschüttete ihn Chu mit Fragen, sobald sie auf dem Freeway 101 waren. Inzwischen waren sie fast zwei Jahre Partner, und Bosch hatte sich daran gewöhnt, dass sich Chus Unsicherheit in einem nicht abreißenden Strom von Fragen, Kommentaren und Mutmaßungen Ausdruck verschaffte. Normalerweise redete er dabei aber über etwas ganz anderes als über das, was ihn wirklich beschäftigte. Manchmal meinte es Bosch gut mit ihm und erzählte ihm, was er wissen wollte. Manchmal ließ er seinen jungen Partner aber auch so lang schmoren, bis dieser es nicht mehr aushielt. »Harry, was ist hier eigentlich los? Wir haben heute Morgen einen neuen Fall bekommen, und jetzt heißt es plötzlich, wir haben noch einen?«
»Das LAPD ist eine paramilitärische Organisation, Chu. Das heißt, wenn dir jemand Hochrangigeres sagt, dass du etwas tun sollst, tust du es. Dieser Befehl kommt vom Chief, und deshalb führen wir ihn aus. Das ist, was los ist. Irgendwann können wir uns dann auch wieder um den kalten Treffer kümmern. Aber vorerst haben wir einen aktuellen Fall, und der hat Vorrang.«
»Das hört sich ganz nach irgendwelchem politischen Schmu an.«
»High Jingo eben.«
»Was ist das?«
»Die Vermengung von Polizei und Politik. Wir sollen die genaueren Umstände des Tods von Stadtrat Irvin Irvings Sohn aufklären. Du kennst doch Irving, oder?«
»Sicher. Er war Deputy Chief, als ich angefangen habe. Dann hat er aber den Polizeidienst quittiert und für den Stadtrat kandidiert.«
»Das hat er aber nicht freiwillig getan. Er wurde gegangen. Und dann hat er sich als Stadtrat aufstellen lassen, um sich für seinen Rauswurf an der Polizei rächen zu können. Irving geht es nur um eins: dem LAPD das Leben so schwer wie möglich zu machen. Außerdem solltest du vielleicht wissen, dass er damals vor allem mich auf dem Kieker hatte. Wir sind ein paarmal aneinandergeraten, könnte man sagen.«
»Warum will er dann, dass du die Ermittlungen zum Tod seines Sohns leitest?«
»Das werden wir gleich erfahren.«
»Was hat dir Duvall über den Fall erzählt? War es Selbstmord?«
»Erzählt hat sie mir gar nichts. Sie hat mir nur die Adresse gegeben.«
Er beschloss, Chu nicht zu erzählen, was er von Kiz Rider über den Fall wusste. Sonst hätte er ihm verraten, dass er im Büro des Polizeichefs eine Quelle hatte. Er wollte noch nicht, dass Chu das wusste; aus diesem Grund hatte er bisher auch seine monatlichen Mittagessen mit Kiz vor ihm geheim gehalten.
»Hört sich alles ein bisschen dubios an.«
Boschs Handy begann zu summen, und er schaute auf das Display. Die Rufnummer war unterdrückt, aber er ging dran. Es war der Polizeichef. Bosch kannte ihn schon lange und hatte sogar bei einigen Ermittlungsverfahren mit ihm zusammengearbeitet. Der Chief hatte sich von unten hochgedient und war unter anderem lange als Ermittler und Supervisor bei der Abteilung Diebstahl und Tötungsdelikte tätig gewesen. Er war erst zwei Jahre Polizeichef und hatte die Truppe noch auf seiner Seite. Aber die Streichung bezahlter Überstunden und andere budgetbedingte Maßnahmen, wie der kontinuierliche Personalabbau, sorgten an der Basis für Unmut. Der Chief war an einem kritischen Punkt. Wenn er den Rückhalt der Truppe verlor, verlor er die Chance, der Polizei seinen Stempel aufzudrücken.
»Harry, hier Marty. Wo bist du gerade?«
»Auf dem Eins-null-eins. Wir sind sofort los, als ich es erfahren habe.«
»Ich will das unbedingt geklärt haben, bevor die Medien Wind davon bekommen, was nicht mehr lang dauern kann. Kein Grund, noch mehr Kriegsschauplätze zu eröffnen. Wie du sicher bereits weißt, ist das Opfer der Sohn von Stadtrat Irving. Irving hat darauf bestanden, dass du die Ermittlungen leitest.«
»Warum?«
»Seine Gründe hat er mir nicht genannt. Ich weiß, dass ihr euch ein paarmal in die Wolle gekriegt habt.«
»Allerdings. Was kannst du mir über den Fall erzählen?«
»Nicht sehr viel.«
Er gab Bosch die gleiche Zusammenfassung, die Rider ihm gegeben hatte, nur mit ein paar zusätzlichen Details.
»Wer ist aus Hollywood dort?«
»Glanville und Solomon.«
Bosch kannte die zwei Ermittler von früheren Fällen und Sondereinheiten. Beide waren für ihre breite Statur und ihr ausgewachsenes Ego bekannt. Sie wurden Fass und Kiste genannt und fanden das gut. Sie kleideten sich auffällig und trugen dicke Ringe. Und Boschs Kenntnis nach waren sie kompetente Ermittler. Wenn sie den Fall als Selbstmord einstuften, lagen sie höchstwahrscheinlich richtig.
»Sie werden unter deiner Leitung weitermachen«, sagte der Chief. »Das habe ich ihnen persönlich zu verstehen gegeben.«
»Okay, Chief.«
»Harry, ich erwarte, dass du dich voll reinhängst. Deine Vorgeschichte ist mir da herzlich egal. Vergiss sie am besten. Wir können es uns nicht leisten, dass der Stadtrat hinterher sagt, wir hätten keinen vollen Einsatz gezeigt.«
»Alles klar.«
Bosch blieb eine Weile still und überlegte, was er noch fragen könnte.
»Wo ist übrigens der Stadtrat, Chief?«
»Unten im Foyer.«
»War er im Zimmer?«
»Darauf hat er bestanden. Ich habe ihm erlaubt, sich dort umzusehen, solange er nichts anfasst, und dann haben wir ihn sofort wieder rausgeführt.«
»Das hättest du nicht tun sollen, Marty.«
Bosch wusste, es war nicht ganz ungefährlich, dem Polizeichef zu sagen, dass er etwas falsch gemacht hatte. Da tat es auch nichts zur Sache, dass sie mal gemeinsam Leichen auf den Rücken gedreht hatten.
»Aber wahrscheinlich hattest du keine andere Wahl«, fügte er hinzu.
»Sieh einfach zu, dass du möglichst schnell herkommst, und gib mir Bescheid, wenn du da bist. Falls du mich nicht direkt erreichst, wendest du dich am besten an Lieutenant Rider.«
Aber seine unterdrückte Handynummer rückte er nicht heraus. Damit war für Bosch der Fall klar. Er würde mit seinem alten Kumpel, dem Polizeichef, nicht mehr länger auf direktem Weg kommunizieren. Nicht klar war dagegen, wie der Chief die Ermittlungen von ihm geführt haben wollte.
»Chief«, sagte er deshalb ganz förmlich, um klarzustellen, dass er nicht auf alte Verbindlichkeiten zurückgreifen wollte. »Wenn ich da jetzt raufgehe und es ist ein Selbstmord, werde ich es auch als Selbstmord einstufen. Wenn du was anderes willst, musst du dir jemand anders suchen.«
»Nein, nein, schon gut, Harry. Du machst es so, wie du es für richtig hältst. Egal, was dabei herauskommt.«
»Bist du da sicher? Ist das auch, was Irving will?«
»Es ist, was ich will.«
»Verstehe.«
»Hat dir Duvall übrigens schon wegen des Verlängerungsantrags Bescheid gesagt?«
»Ja, hat sie.«
»Ich habe für die vollen fünf Jahre plädiert, aber in der Kommission gibt es ein paar Leute, denen in deiner Personalakte nicht alles gefallen hat. Wir haben so viel rausgeholt wie möglich, Harry.«
»Danke.«
»Keine Ursache.«
Der Chief beendete das Gespräch. Bosch hatte kaum sein Handy eingesteckt, als Chu ihn bereits mit Fragen bombardierte. Bosch schilderte ihm den Inhalt des Telefonats, während er vom Freeway auf den Sunset Boulevard bog und nach Westen weiterfuhr.
Chu nutzte Boschs Auskunftsbereitschaft dazu, die Frage zu stellen, die ihm schon den ganzen Morgen auf der Zunge brannte.
»Was war eigentlich mit Lieutenant Duvall, Harry?«, fragte er. »Willst du mir nicht langsam sagen, worum es da ging?«
Bosch spielte den Begriffsstutzigen.
»Worum soll es wann gegangen sein?«
»Jetzt tu doch nicht so, Harry. Als sie in ihrem Büro allein mit dir geredet hat, was hat sie da gesagt? Sie will mich loswerden, oder? Ich bin eigentlich auch nie richtig warmgeworden mit ihr.«
Bosch konnte einfach nicht anders. Das Glas seines Partners war immer halb leer, und deshalb ließ er sich keine Gelegenheit entgehen, ihn aufzuziehen.
»Sie hat gesagt, sie will dich seitlich versetzen - also schon im Morddezernat behalten. Anscheinend werden demnächst im South Bureau ein paar Stellen frei, und sie will mal mit ihnen reden. Dich gegen jemand von da unten tauschen.«
»Nein!«
Chu war erst vor kurzem nach Pasadena gezogen. Von dort täglich zum South Bureau fahren zu müssen wäre ein Alptraum.
»Und, was hast du ihr gesagt?«, fragte er. »Hast du wenigsten ein gutes Wort für mich eingelegt?«
»Was hast du eigentlich gegen South, Mann? Ich habe ihr gesagt, in zwei Jahren hast du dich dort unten so richtig schön eingelebt. Woanders würde das fünf Jahre dauern.«
»Harry!«
Bosch begann zu lachen. Es half ihm, die Spannung abzubauen. Das bevorstehende Treffen mit Irving lag ihm schwer im Magen. Es ließ sich nicht umgehen, und er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte.
»Verarscht du mich etwa?«, quiekte Chu und drehte sich ganz zu Bosch herum. »Sag bloß, du verarscht mich?«
»Jetzt reg dich erst mal wieder ab, Chu. Sie hat mir nur gesagt, dass mein Verlängerungsantrag durchgegangen ist. Du darfst dich noch drei Jahre und drei Monate länger mit mir rumärgern, mehr nicht.«
»Ach so ... aber, ist doch super, oder?«
»Sicher. Klar.«
Chu war zu jung, um sich über Dinge wie einen Verlängerungsantrag Gedanken zu machen. Fast zehn Jahre zuvor hatte Bosch seine Pensionsansprüche geltend gemacht und in einer unbedachten Entscheidung den Dienst quittiert. Nach zwei Jahren als Zivilist war er jedoch im Zuge des sogenannten DROP, des Deferred Retirement Option Plan des LAPD, in den Polizeidienst zurückgekehrt. Diese Regelung diente dem Zweck, erfahrene Ermittler weiter zu beschäftigen und ihnen zu ermöglichen, das zu tun, was sie am besten konnten. In Boschs Fall war das, in Mordfällen zu ermitteln. Er war ein Runderneuerter mit einem Sieben-Jahres-Vertrag. Nicht alle beim LAPD waren über diese Regelung glücklich, vor allem nicht die Detectives der Außenstellen, die auf eine prestigeträchtige Stelle bei der renommierten Robbery-Homicide Division in Downtown spekulierten.
Eine DROP-Wiedereinstellung in den Polizeidienst konnte einmalig um drei bis fünf Jahre verlängert werden. Danach war die Pensionierung unumgänglich. Einen solchen Verlängerungsantrag hatte Bosch ein Jahr zuvor gestellt, und wie es sich für eine Bürokratie, die etwas auf sich hielt, gehörte, war ihm erst jetzt mitgeteilt worden, dass sein Dienstvertrag verlängert worden war. Für ihn war es eine Zeit angespannten Wartens gewesen, denn er wusste, dass er jederzeit in den Ruhestand geschickt werden konnte, wenn die Polizeikommission seinem Antrag nicht stattgab. Es war auf jeden Fall eine erfreuliche Nachricht, auch wenn jetzt ganz deutlich abzusehen war, wie lange er noch eine Dienstmarke tragen würde. Deshalb erfüllte ihn die gute Nachricht auch mit einer gewissen Wehmut. Wenn er die offizielle Benachrichtigung der Kommission erhielt, würde darin das genaue Datum seines letzten Tags als Polizist stehen. Und ob er es wollte oder nicht, um nichts anderes kreisten jetzt seine Gedanken. Seine Zukunft hatte Grenzen. Vielleicht gehörte er ja auch zu denen, für die das Glas immer halb leer war.
Danach ließ ihn Chu mit seinen Fragen in Ruhe, und Bosch versuchte, nicht an den DROP zu denken. Stattdessen dachte er an Irving, als er in Richtung Westen fuhr. Der Stadtrat war über vierzig Jahre im Polizeidienst gewesen, hatte es aber nie an die Spitze des LAPD geschafft. Nachdem er seine ganze Karriere darauf zugeschnitten hatte, sich für das Amt des Polizeichefs in Stellung zu bringen, war es ihm in einem politischen Wirbelsturm weggeschnappt worden. Und ein paar Jahre danach war er - unter Boschs Zutun - ganz aus dem Polizeidienst gedrängt worden. Derart düpiert, hatte er für den Stadtrat kandidiert, war gewählt worden und hatte es sich fortan zur Aufgabe gemacht, sich an der Strafverfolgungsbehörde zu rächen, für die er sich so viele Jahre abgerackert hatte. Dabei ging er sogar so weit, gegen jede Gehaltserhöhung und Personalerweiterung bei der Polizei zu stimmen. Zugleich war er immer der Erste, der bei jeder Unregelmäßigkeit und jedem vermeintlichen Verstoß seitens eines Polizisten nach einer unabhängigen Untersuchung und nach einer Aufarbeitung des Vorfalls rief. Den schwersten Schlag hatte er dem LAPD jedoch vor einem Jahr beigebracht, als er mit allem Nachdruck die Kostensenkungsklage befürwortet hatte, die das LAPD-Budget für die Überstundenvergütung um 100 Millionen Dollar beschnitt. Das tat jedem Polizisten, egal welchen Rangs, weh.
Bei den Wahlen im November kandidierte Irving erneut für den Stadtrat, wobei sein Gegenkandidat nur auf dem Papier existierte. Ein junger Geschäftsmann aus der Westside hoffte, sich gegen den in die Jahre gekommenen Politikveteranen Irving als jugendlicher Außenseiter profilieren zu können, konnte damit aber bei den Wählern nicht punkten. Irvings Wiederwahl stand so gut wie fest, ohne dass er auch nur ein Wahlkampfbüro eröffnen musste.
Bei einem mit allen Wassern gewaschenen Politiker wie Irving stand für Bosch außer Frage, dass der gegenwärtige Polizeichef irgendeine Art von Deal mit ihm ausgehandelt hatte. Ein Quidproquo. Bosch würde sicher nicht ohne Gegenleistung für den Fall zur Verfügung gestellt. Obwohl sich Bosch in Sachen Politik nie für besonders hellsichtig gehalten hatte, war er sicher, bald herauszufi nden, was dahintersteckte.
Für die deutschsprachige Ausgabe: © 2014 Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München Alle Rechte vorbehalten.
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Autoren-Porträt von Michael Connelly
Connelly, MichaelMichael Connelly, geboren 1956 in Philadelphia, studierte zunächst Journalismus und Kreatives Schreiben in Florida. Anschließend (ab 1980) arbeitete er für verschiedene Zeitungen in Fort Lauderdale und Daytona Beach, wo er sich auf Polizeireportagen spezialisierte. Nachdem 1986 eine seiner Reportagen für den Pulitzer Preis nominiert worden war, wechselte er als Polizeireporter zur »Los Angeles Times«. Für sein Thrillerdebüt, »Schwarzes Echo«, den ersten Band der Harry-Bosch-Serie, erhielt er 1992 auf Anhieb den Edgar Award, den renommiertesten amerikanischen Krimipreis. Zahlreiche Bestseller folgten, die ihn zum erfolgreichsten Thrillerautor der USA machten.
Bibliographische Angaben
- Autor: Michael Connelly
- 2014, 2. Aufl., 464 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Sepp Leeb
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426511355
- ISBN-13: 9783426511350
- Erscheinungsdatum: 28.01.2014
Rezension zu „Der Widersacher / Harry Bosch Bd.17 “
"Harry Bosch in Höchstform" TV Movie 20140214
Pressezitat
"Harry Bosch in Höchstform" TV Movie 20140214
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