Harry Hole Band 7: Schneemann
Harry Holes siebter Fall. Kriminalroman
Ein grausamer Serienmörder treibt sein Unwesen. Seine Opfer: junge Mütter. Sein Markenzeichen: Er hinterlässt stets einen Schneemann am Tatort. Kommissar Harry Hole gerät bei den Ermittlungen in ein Labyrinth aus falschen Fährten....
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Produktinformationen zu „Harry Hole Band 7: Schneemann “
Ein grausamer Serienmörder treibt sein Unwesen. Seine Opfer: junge Mütter. Sein Markenzeichen: Er hinterlässt stets einen Schneemann am Tatort. Kommissar Harry Hole gerät bei den Ermittlungen in ein Labyrinth aus falschen Fährten. Bis er selbst ins Visier des Killers gerät.
Klappentext zu „Harry Hole Band 7: Schneemann “
Ein Serienmörder tötet auf bestialische Art und Weise. Seine Opfer: junge Mütter. Auf der fieberhaften Jagd nach dem unheimlichen "Schneemann" kämpft sich Kommissar Harry Hole durch ein Labyrinth aus Verdächtigungen und falschen Spuren. Immer neue Morde geschehen. Als Hole selbst ins Visier des Killers gerät, entwickelt sich ein gnadenloses Duell. Entdecken Sie auch MESSER, den neuen großen Kriminalroman um Kommissar Harry Hole!
Lese-Probe zu „Harry Hole Band 7: Schneemann “
Schneemann von Jo Nesbø…
Harry ging in sein neues Büro, das für ihn wohl immer so heißen würde. Schließlich hieß auch das fünfzig Jahre alte Stadion des FC Barcelona auf Katalanisch noch immer Camp Nou, das »neue Stadion«. Er ließ sich auf seinen Stuhl plumpsen und schaltete das Radio ein, während er den Bildern zunickte, die auf dem obersten Regalbrett an der Wand lehnten. Irgendwann in ferner Zukunft, wenn er einmal daran dachte, Nägel zu kaufen, würde er sie aufhängen. Ellen Gjelten, Jack Halvorsen und Bjarne Møller. In dieser Reihenfolge standen sie da, chronologisch. Der Club der toten Polizisten. Im Radio redeten norwegische Politiker und Soziologen über die Präsidentenwahl in Amerika. Harry erkannte die Stimme von Arve Støp, dem Verleger des Erfolgsmagazins »Liberal«. Er galt als einer der kompetentesten, arrogantesten und unterhaltsamsten Meinungsbildner. Harry drehte die Lautstärke auf, bis die Stimmen durch den Raum hallten, nahm die Peerless-Handschellen von der Tischplatte seines neuen Schreibtisches und übte sich im Speedcuffing am Tischbein, das schon ganz zersplittert war. Angewöhnt hatte Harry sich diese Unsitte auf einem FBI-Kurs in Chicago, wobei er die Technik im Laufe der einsamen Abende in einer heruntergekommenen Wohnung in Cabrini Green noch perfektioniert hatte, begleitet vom Streiten der Nachbarn und mit Jim Beam als einziger Gesellschaft. Es ging dabei darum, die geöffneten Handschellen so um das Handgelenk des Häftlings zu schlagen, dass der gefederte Riegel herumschwang und auf der anderen Seite des Handgelenks arretierte. Mit Präzision und dem richtigen Schwung konnte man sich so an einen Häftling ketten, bevor dieser überhaupt reagieren konnte. Harry hatte das beruflich noch nie gebraucht, und auch das andere, das er dort gelernt
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hatte, war ihm erst ein einziges Mal von Nutzen gewesen: wie man einen Serienmörder festnimmt. Die Handschellen schlossen sich klickend um das Tischbein, während man im Hintergrund die Stimmen im Radio hörte:
»Wie lässt sich Ihrer Meinung nach die Skepsis erklären, die man hierzulande George Bush entgegenbringt, Arve Støp?« »Wir sind ein überbehütetes Land, das im Grunde nie in irgendeinem Krieg gekämpft hat. Das haben wir immer schön den anderen überlassen. England, der Sowjetunion und den USA, ja, eigentlich verstecken wir uns seit den Kriegen Napoleons hinter dem Rücken unserer großen Brüder. Norwegens Sicherheit baut auf der Gewissheit auf, dass die anderen schon einschreiten werden, wenn es darauf ankommt. Das läuft bereits so lange so, dass wir den Blick für die Realität verloren haben und glauben, die Erde sei im Grunde bloß von Menschen bevölkert, die uns – dem reichsten Land der Welt – nur Gutes wollen. Norwegen ist eine plappernde, strohdumme Blondine, die sich in irgendeinem Hinterhof in der Bronx verlaufen hat und sich jetzt darüber entrüstet, wie brutal ihr Leibwächter mit den Leuten umspringt, die sie überfallen wollten.«
Harry wählte Rakels Nummer. Neben der von Søs war Rakels Nummer die einzige, die er auswendig wusste. Als er noch jung und unerfahren gewesen war, hatte er geglaubt, ein schlechtes Gedächtnis sei ein Handicap für einen Ermittler. Mittlerweile wusste er es besser.
»Und dieser Leibwächter ist George Bush und die USA?«, fragte der Moderator. »Ja, Lyndon B. Johnson hat einmal gesagt, die USA haben sich diese Rolle nicht ausgesucht, sondern ganz einfach eingesehen, dass es sonst niemanden gibt, der sie übernehmen könnte, und damit hat er recht. Unser Leibwächter ist ein frisch bekehrter Methodist, ein Kerl mit Vaterkomplex, einem Alkoholproblem, begrenzter Intelligenz und so wenig Rückgrat, dass er nicht einmal seinen eigenen Militärdienst anständig zu Ende gebracht hat. Kurz gesagt, ein Mann, über dessen heutige Wiederwahl wir uns freuen sollten.«
»Ich gehe davon aus, dass Sie das ironisch meinen?«
»Überhaupt nicht. Ein derart schwacher Präsident hört auf seine Berater, und die sind nirgendwo besser als im Weißen Haus. Auch wenn man durch diese lächerliche Fernsehserie über das Oval Office den Eindruck bekommt, die Demokraten hätten das Monopol für Intelligenz, findet man die schärfsten Denker in Wirklichkeit im äußersten rechten Flügel der Republikaner. Norwegens Sicherheit ist in den besten Händen.«
»Eine Freundin von einer Freundin von mir hat Sex mit dir gehabt. «
»Ach wirklich?«, fragte Harry.
»Nicht mit dir«, sagte Rakel. »Ich rede mit dem anderen bei dir im Zimmer. Mit diesem Støp.«
»Sorry.« Harry drehte das Radio leiser.
»Nach einem Vortrag in Trondheim. Er hat sie in sein Zimmer eingeladen. Sie war durchaus interessiert, hat ihn aber darauf hingewiesen, dass sie eine amputierte Brust hatte. Er hat sich daraufhin ein bisschen Bedenkzeit erbeten und ist zurück in die Bar gegangen, dann aber doch wiedergekommen und mit ihr nach oben verschwunden.«
»Hm, ich hoffe, es hat den Erwartungen entsprochen?«
»Nichts entspricht den Erwartungen.«
»Nein«, pflichtete Harry ihr bei und fragte sich, worüber sie eigentlich gerade redeten.
»Wie sieht es mit heute Abend aus?«, fragte Rakel.
»Acht Uhr im Palace Grill ist gut. Aber was soll denn dieser Unsinn, dass man da nicht reservieren kann?«
»Ich denke, das soll dem Ganzen einen etwas exklusiveren Touch geben.«
Sie verabredeten sich in der Bar nebenan. Nachdem sie aufgelegt hatten, blieb Harry nachdenklich sitzen. Sie hatte glücklich geklungen. Unbeschwert. Gutgelaunt. Er fragte sich, ob er sich für sie freuen konnte. Was empfand er dabei, dass die Frau, die er so über alles geliebt hatte, jetzt mit einem anderen Mann glücklich war? Rakel und er hatten ihre Zeit gehabt, und auch er hatte seine Chancen bekommen. Und sie vertan. Warum sollte er also nicht glücklich darüber sein, dass es ihr gutging? Warum nicht endlich den Gedanken begraben, dass alles auch so ganz anders hätte laufen können? Warum konnte er in seinem Leben nicht endlich einen Schritt weiterkommen? Er nahm sich selbst das Versprechen ab, sich noch ein bisschen mehr Mühe zu geben.
Die morgendliche Dienstbesprechung war rasch überstanden. Gunnar Hagen – Kriminaloberkommissar und Dezernatsleiter – ging die aktuellen Fälle einzeln durch. Es lag nicht viel an, denn zurzeit hatten sie keinen Mordfall auf dem Tisch, und nur solche Fälle hielten die Abteilung wirklich in Atem. Thomas Helle von der Vermisstenstelle der Kriminalwache war auch anwesend. Er berichtete von einer Frau, die jetzt schon ein Jahr lang vermisst wurde. Keine Spur von einem Gewaltverbrechen, keine Hinweise auf einen möglichen Täter und keine Spur von ihr. Die Hausfrau und Mutter war zuletzt gesehen worden, als sie ihre Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, morgens in den Kindergarten gebracht hatte. Ihr Ehemann und ihr gesamter Bekanntenkreis hatten ein Alibi, von ihnen kam definitiv niemand als Täter in Frage. Man einigte sich darauf, dass das Dezernat für Gewaltverbrechen den Fall unter die Lupe nehmen sollte.
Magnus Skarre richtete einen Gruß von Ståle Aune aus – dem Psychologen, der immer wieder für das Dezernat arbeitete. Er hatte ihn im Ullevål-Krankenhaus besucht. Harry spürte einen Anflug von schlechtem Gewissen. Ståle Aune war nicht nur sein Berater bei gewissen Kriminalfällen, sondern auch seine persönliche Stütze im Kampf gegen den Alkohol, und außerdem der einzige Mensch, den er annähernd als seinen Freund bezeichnen konnte. Es lag schon eine Woche zurück, dass Aune mit unklarer Diagnose eingeliefert worden war. Trotzdem war es Harry noch nicht gelungen, seinen Widerwillen gegen Krankenhäuser zu überwinden. Mittwoch, dachte er. Oder Donnerstag.
»Wir haben eine neue Kommissarin«, verkündete Gunnar Hagen.
»Katrine Bratt.«
Eine junge Frau in der ersten Reihe erhob sich unaufgefordert, allerdings ohne zu lächeln. Sie war sehr hübsch. Hübsch, aber sie betont es nicht, dachte Harry. Dünne, fast strähnige Haare hingen leblos um das ebenmäßige, blasse Gesicht mit dem ernsten, eher müden Ausdruck, der Harry schon bei anderen bildschönen Frauen aufgefallen war. Sie waren es schon so gewohnt, angestarrt zu werden, dass sie sich längst nicht mehr darum kümmerten. Katrine Bratt trug ein blaues Kostüm, das ihre Weiblichkeit betonte, aber die dicken, schwarzen Strümpfe unter dem Rock und die praktischen Stiefeletten widerlegten jeden Verdacht, sie könnte diese Wirkung kalkuliert haben. Statt sich wieder zu setzen, blieb sie stehen und ließ ihren Blick über die Anwesenden schweifen, als hätte sie sich erhoben, um die anderen zu betrachten, und nicht umgekehrt. Harry schätzte, dass sie sich ihre Kleidung und ihr Auftreten an diesem ersten Tag gut überlegt hatte.
»Katrine war vier Jahre bei der Kriminalpolizei in Bergen, wo sie hauptsächlich mit Sittlichkeitsverbrechen zu tun hatte, aber sie hat auch eine Zeit im dortigen Dezernat für Gewaltverbrechen gearbeitet«, fuhr Hagen fort und blickte dabei auf einen Zettel, auf dem Harry einen Lebenslauf vermutete. »Juraexamen an der Uni Bergen, 1999, Polizeihochschule und jetzt also Kommissarin bei uns. Sie hat vorläufig keine Kinder, ist aber verheiratet.«
Eine der beiden schmalen Augenbrauen von Katrine Bratt hob sich kaum merkbar. Hagen musste das gesehen oder sonst irgendwie bemerkt haben, dass der letzte Teil der Information überflüssig gewesen war, denn er fügte rasch hinzu: »… sollte sich jemand dafür interessieren.«
Das drückende Schweigen, das darauf folgte, sagte Hagen vermutlich, dass er mit seiner letzten Bemerkung alles nur noch schlimmer gemacht hatte. Er räusperte sich zweimal kräftig und verkündete dann, dass sich all jene, die sich noch nicht für die Weihnachtsfeier angemeldet hätten, das noch bis Mittwoch tun könnten.
Stühle wurden gerückt, und Harry war bereits auf dem Flur, als er hinter sich eine Stimme hörte:
»Ich gehör dann wohl dir.«
Harry drehte sich um und blickte in Katrine Bratts Gesicht. Unwillkürlich fragte er sich, wie hübsch sie wohl wäre, wenn sie es darauf anlegen würde.
»Oder du mir«, sagte sie und zeigte eine Reihe weißer Zähne, doch ihr Lächeln erreichte ihre Augen nicht. »Je nachdem.« Ihr moderater Bergener Dialekt ließ Harry vermuten, dass sie aus Fana, Kalfaret oder einer anderen bürgerlichen Gegend stammte. Er ging weiter, und sie holte ihn mit ein paar schnellen Schritten ein: »Scheint so, als hätte der Kriminaloberkommissar dich nicht informiert.«
Sie sprach Hagens Amtstitel übertrieben deutlich aus.
»Aber du sollst mich in den nächsten Tagen hier ein bisschen einweisen. Bis ich alleine laufen kann. Was meinst du, kriegst du das hin?«
Harry musste lächeln. Sein erster Eindruck von ihr war positiv, aber man musste mit allem rechnen. Harry war immer bereit, seinen Mitmenschen eine Chance einzuräumen, auf der Schwarzen Liste zu landen.
»Ich weiß nicht«, meinte er und blieb vor der Kaffeemaschine stehen. »Lass uns mal hiermit anfangen.«
»Ich trinke keinen Kaffee.«
»Egal. Die ist selbsterklärend. Wie auch das meiste andere hier. Was hältst du von dieser Vermisstensache?«
Er drückte auf den Knopf für »Americano«, eine Brühe, die etwa so amerikanisch war wie der Kaffee auf den norwegischen Fähren. »Was soll ich davon halten?«
»Glaubst du, sie lebt noch?« Harry versuchte sich möglichst neutral auszudrücken, damit sie nicht spürte, dass er sie auf die Probe stellte.
»Hältst du mich für blöd?«, fragte sie und sah mit unverhohlenem Abscheu zu, wie die Maschine hustend ein schwarzes Gebräu in den weißen Plastikbecher spuckte. »Hast du nicht zugehört? Der Kriminaloberkommissar hat doch gesagt, dass ich vier Jahre bei der Sitte gearbeitet habe.«
»Hm«, machte Harry. »Tot?«
»Wie ein eingelegter Hering«, sagte Katrine Bratt.
Harry nahm den weißen Becher. Plötzlich hatte er das Gefühl, er könnte gerade eine Kollegin bekommen haben, die er schätzen konnte.
…
»Wie lässt sich Ihrer Meinung nach die Skepsis erklären, die man hierzulande George Bush entgegenbringt, Arve Støp?« »Wir sind ein überbehütetes Land, das im Grunde nie in irgendeinem Krieg gekämpft hat. Das haben wir immer schön den anderen überlassen. England, der Sowjetunion und den USA, ja, eigentlich verstecken wir uns seit den Kriegen Napoleons hinter dem Rücken unserer großen Brüder. Norwegens Sicherheit baut auf der Gewissheit auf, dass die anderen schon einschreiten werden, wenn es darauf ankommt. Das läuft bereits so lange so, dass wir den Blick für die Realität verloren haben und glauben, die Erde sei im Grunde bloß von Menschen bevölkert, die uns – dem reichsten Land der Welt – nur Gutes wollen. Norwegen ist eine plappernde, strohdumme Blondine, die sich in irgendeinem Hinterhof in der Bronx verlaufen hat und sich jetzt darüber entrüstet, wie brutal ihr Leibwächter mit den Leuten umspringt, die sie überfallen wollten.«
Harry wählte Rakels Nummer. Neben der von Søs war Rakels Nummer die einzige, die er auswendig wusste. Als er noch jung und unerfahren gewesen war, hatte er geglaubt, ein schlechtes Gedächtnis sei ein Handicap für einen Ermittler. Mittlerweile wusste er es besser.
»Und dieser Leibwächter ist George Bush und die USA?«, fragte der Moderator. »Ja, Lyndon B. Johnson hat einmal gesagt, die USA haben sich diese Rolle nicht ausgesucht, sondern ganz einfach eingesehen, dass es sonst niemanden gibt, der sie übernehmen könnte, und damit hat er recht. Unser Leibwächter ist ein frisch bekehrter Methodist, ein Kerl mit Vaterkomplex, einem Alkoholproblem, begrenzter Intelligenz und so wenig Rückgrat, dass er nicht einmal seinen eigenen Militärdienst anständig zu Ende gebracht hat. Kurz gesagt, ein Mann, über dessen heutige Wiederwahl wir uns freuen sollten.«
»Ich gehe davon aus, dass Sie das ironisch meinen?«
»Überhaupt nicht. Ein derart schwacher Präsident hört auf seine Berater, und die sind nirgendwo besser als im Weißen Haus. Auch wenn man durch diese lächerliche Fernsehserie über das Oval Office den Eindruck bekommt, die Demokraten hätten das Monopol für Intelligenz, findet man die schärfsten Denker in Wirklichkeit im äußersten rechten Flügel der Republikaner. Norwegens Sicherheit ist in den besten Händen.«
»Eine Freundin von einer Freundin von mir hat Sex mit dir gehabt. «
»Ach wirklich?«, fragte Harry.
»Nicht mit dir«, sagte Rakel. »Ich rede mit dem anderen bei dir im Zimmer. Mit diesem Støp.«
»Sorry.« Harry drehte das Radio leiser.
»Nach einem Vortrag in Trondheim. Er hat sie in sein Zimmer eingeladen. Sie war durchaus interessiert, hat ihn aber darauf hingewiesen, dass sie eine amputierte Brust hatte. Er hat sich daraufhin ein bisschen Bedenkzeit erbeten und ist zurück in die Bar gegangen, dann aber doch wiedergekommen und mit ihr nach oben verschwunden.«
»Hm, ich hoffe, es hat den Erwartungen entsprochen?«
»Nichts entspricht den Erwartungen.«
»Nein«, pflichtete Harry ihr bei und fragte sich, worüber sie eigentlich gerade redeten.
»Wie sieht es mit heute Abend aus?«, fragte Rakel.
»Acht Uhr im Palace Grill ist gut. Aber was soll denn dieser Unsinn, dass man da nicht reservieren kann?«
»Ich denke, das soll dem Ganzen einen etwas exklusiveren Touch geben.«
Sie verabredeten sich in der Bar nebenan. Nachdem sie aufgelegt hatten, blieb Harry nachdenklich sitzen. Sie hatte glücklich geklungen. Unbeschwert. Gutgelaunt. Er fragte sich, ob er sich für sie freuen konnte. Was empfand er dabei, dass die Frau, die er so über alles geliebt hatte, jetzt mit einem anderen Mann glücklich war? Rakel und er hatten ihre Zeit gehabt, und auch er hatte seine Chancen bekommen. Und sie vertan. Warum sollte er also nicht glücklich darüber sein, dass es ihr gutging? Warum nicht endlich den Gedanken begraben, dass alles auch so ganz anders hätte laufen können? Warum konnte er in seinem Leben nicht endlich einen Schritt weiterkommen? Er nahm sich selbst das Versprechen ab, sich noch ein bisschen mehr Mühe zu geben.
Die morgendliche Dienstbesprechung war rasch überstanden. Gunnar Hagen – Kriminaloberkommissar und Dezernatsleiter – ging die aktuellen Fälle einzeln durch. Es lag nicht viel an, denn zurzeit hatten sie keinen Mordfall auf dem Tisch, und nur solche Fälle hielten die Abteilung wirklich in Atem. Thomas Helle von der Vermisstenstelle der Kriminalwache war auch anwesend. Er berichtete von einer Frau, die jetzt schon ein Jahr lang vermisst wurde. Keine Spur von einem Gewaltverbrechen, keine Hinweise auf einen möglichen Täter und keine Spur von ihr. Die Hausfrau und Mutter war zuletzt gesehen worden, als sie ihre Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, morgens in den Kindergarten gebracht hatte. Ihr Ehemann und ihr gesamter Bekanntenkreis hatten ein Alibi, von ihnen kam definitiv niemand als Täter in Frage. Man einigte sich darauf, dass das Dezernat für Gewaltverbrechen den Fall unter die Lupe nehmen sollte.
Magnus Skarre richtete einen Gruß von Ståle Aune aus – dem Psychologen, der immer wieder für das Dezernat arbeitete. Er hatte ihn im Ullevål-Krankenhaus besucht. Harry spürte einen Anflug von schlechtem Gewissen. Ståle Aune war nicht nur sein Berater bei gewissen Kriminalfällen, sondern auch seine persönliche Stütze im Kampf gegen den Alkohol, und außerdem der einzige Mensch, den er annähernd als seinen Freund bezeichnen konnte. Es lag schon eine Woche zurück, dass Aune mit unklarer Diagnose eingeliefert worden war. Trotzdem war es Harry noch nicht gelungen, seinen Widerwillen gegen Krankenhäuser zu überwinden. Mittwoch, dachte er. Oder Donnerstag.
»Wir haben eine neue Kommissarin«, verkündete Gunnar Hagen.
»Katrine Bratt.«
Eine junge Frau in der ersten Reihe erhob sich unaufgefordert, allerdings ohne zu lächeln. Sie war sehr hübsch. Hübsch, aber sie betont es nicht, dachte Harry. Dünne, fast strähnige Haare hingen leblos um das ebenmäßige, blasse Gesicht mit dem ernsten, eher müden Ausdruck, der Harry schon bei anderen bildschönen Frauen aufgefallen war. Sie waren es schon so gewohnt, angestarrt zu werden, dass sie sich längst nicht mehr darum kümmerten. Katrine Bratt trug ein blaues Kostüm, das ihre Weiblichkeit betonte, aber die dicken, schwarzen Strümpfe unter dem Rock und die praktischen Stiefeletten widerlegten jeden Verdacht, sie könnte diese Wirkung kalkuliert haben. Statt sich wieder zu setzen, blieb sie stehen und ließ ihren Blick über die Anwesenden schweifen, als hätte sie sich erhoben, um die anderen zu betrachten, und nicht umgekehrt. Harry schätzte, dass sie sich ihre Kleidung und ihr Auftreten an diesem ersten Tag gut überlegt hatte.
»Katrine war vier Jahre bei der Kriminalpolizei in Bergen, wo sie hauptsächlich mit Sittlichkeitsverbrechen zu tun hatte, aber sie hat auch eine Zeit im dortigen Dezernat für Gewaltverbrechen gearbeitet«, fuhr Hagen fort und blickte dabei auf einen Zettel, auf dem Harry einen Lebenslauf vermutete. »Juraexamen an der Uni Bergen, 1999, Polizeihochschule und jetzt also Kommissarin bei uns. Sie hat vorläufig keine Kinder, ist aber verheiratet.«
Eine der beiden schmalen Augenbrauen von Katrine Bratt hob sich kaum merkbar. Hagen musste das gesehen oder sonst irgendwie bemerkt haben, dass der letzte Teil der Information überflüssig gewesen war, denn er fügte rasch hinzu: »… sollte sich jemand dafür interessieren.«
Das drückende Schweigen, das darauf folgte, sagte Hagen vermutlich, dass er mit seiner letzten Bemerkung alles nur noch schlimmer gemacht hatte. Er räusperte sich zweimal kräftig und verkündete dann, dass sich all jene, die sich noch nicht für die Weihnachtsfeier angemeldet hätten, das noch bis Mittwoch tun könnten.
Stühle wurden gerückt, und Harry war bereits auf dem Flur, als er hinter sich eine Stimme hörte:
»Ich gehör dann wohl dir.«
Harry drehte sich um und blickte in Katrine Bratts Gesicht. Unwillkürlich fragte er sich, wie hübsch sie wohl wäre, wenn sie es darauf anlegen würde.
»Oder du mir«, sagte sie und zeigte eine Reihe weißer Zähne, doch ihr Lächeln erreichte ihre Augen nicht. »Je nachdem.« Ihr moderater Bergener Dialekt ließ Harry vermuten, dass sie aus Fana, Kalfaret oder einer anderen bürgerlichen Gegend stammte. Er ging weiter, und sie holte ihn mit ein paar schnellen Schritten ein: »Scheint so, als hätte der Kriminaloberkommissar dich nicht informiert.«
Sie sprach Hagens Amtstitel übertrieben deutlich aus.
»Aber du sollst mich in den nächsten Tagen hier ein bisschen einweisen. Bis ich alleine laufen kann. Was meinst du, kriegst du das hin?«
Harry musste lächeln. Sein erster Eindruck von ihr war positiv, aber man musste mit allem rechnen. Harry war immer bereit, seinen Mitmenschen eine Chance einzuräumen, auf der Schwarzen Liste zu landen.
»Ich weiß nicht«, meinte er und blieb vor der Kaffeemaschine stehen. »Lass uns mal hiermit anfangen.«
»Ich trinke keinen Kaffee.«
»Egal. Die ist selbsterklärend. Wie auch das meiste andere hier. Was hältst du von dieser Vermisstensache?«
Er drückte auf den Knopf für »Americano«, eine Brühe, die etwa so amerikanisch war wie der Kaffee auf den norwegischen Fähren. »Was soll ich davon halten?«
»Glaubst du, sie lebt noch?« Harry versuchte sich möglichst neutral auszudrücken, damit sie nicht spürte, dass er sie auf die Probe stellte.
»Hältst du mich für blöd?«, fragte sie und sah mit unverhohlenem Abscheu zu, wie die Maschine hustend ein schwarzes Gebräu in den weißen Plastikbecher spuckte. »Hast du nicht zugehört? Der Kriminaloberkommissar hat doch gesagt, dass ich vier Jahre bei der Sitte gearbeitet habe.«
»Hm«, machte Harry. »Tot?«
»Wie ein eingelegter Hering«, sagte Katrine Bratt.
Harry nahm den weißen Becher. Plötzlich hatte er das Gefühl, er könnte gerade eine Kollegin bekommen haben, die er schätzen konnte.
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Autoren-Porträt von Jo Nesbø
Nesbø, JoJo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Er gehört zu den renommiertesten und erfolgreichsten Krimiautoren weltweit. Jo Nesbø lebt in Oslo.Frauenlob, Günther
Günther Frauenlob studierte Geografie und ist seit 1993 als freier Übersetzer tätig. Er übersetzt erzählende Literatur und Sachbücher aus dem Norwegischen und Dänischen, zu den von ihm ins Deutsche übertragenen Autoren gehören Jo Nesbø, Lars Mytting, Thomas Enger und Arnhild Lauveng. Er ist Mitglied im Verband deutschsprachiger Übersetzer literarischer und wissenschaftlicher Werke, VdÜ, und lebt in Waldkirch.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jo Nesbø
- 2009, 18. Aufl., 512 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Frauenlob, Günther
- Übersetzer: Günther Frauenlob
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548281230
- ISBN-13: 9783548281230
Rezension zu „Harry Hole Band 7: Schneemann “
»Der vielleicht beste Krimi des Jahres, eine spektakuläre Symphonie des Schreckens und des Bösen.« tz »Mein derzeitiger Lieblingskrimi.« Jörg Thadeusz, Berliner Zeitung
Kommentare zu "Harry Hole Band 7: Schneemann"
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