Held außer Betrieb
Stories und Essays 1946 - 1992
Rezensionen und biographischen Episoden beweist der Dirty Old Man einmal mehr, dass er unter der misanthropischen Oberfläche, abseits vom Dreck der Straße und der Obszönitäten, immer ein leidenschaftlicher Liebender war. 'Held außer Betrieb' ist nach 'Das...
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Produktinformationen zu „Held außer Betrieb “
Klappentext zu „Held außer Betrieb “
Rezensionen und biographischen Episoden beweist der Dirty Old Man einmal mehr, dass er unter der misanthropischen Oberfläche, abseits vom Dreck der Straße und der Obszönitäten, immer ein leidenschaftlicher Liebender war. 'Held außer Betrieb' ist nach 'Das weingetränkte Notizbuch' und 'Noch mehr Aufzeichnungen eines Dirty Old Man' der dritte große Nachlassband des umstrittensten Skandalautors der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts.
Lese-Probe zu „Held außer Betrieb “
Held außer Betrieb von Charles BukowskiHinter der Vernunft
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Chelaski (Center Fielder, .285 AB-246 H-70) fühlte sich ein wenig ... ein wenig ... anders auf dem Spielfeld. Es gibt Tage, an denen das so ist. Es läuft nicht rund. Selbst die Sonne sah jetzt ein wenig krank aus, das Grün der Umzäunung zu grün, der Himmel viel zu hoch, und das Leder seines Fanghandschuhs zu ... ledrig.
Er ging ein paar Schritte vor und schlug mit der Faust in den Handschuh, um alles zurechtzurütteln. Hatte er Kopfweh, oder was? Er spürte Potential, als wäre er kurz davor zu schreien, in die Luft zu springen oder sonst was zu tun, was daneben war.
Chelaski hatte ein bisschen Angst und sah hinüber zu Donovan (Left Fielder, .296 AB-230 H-68), aber Donovan schien ganz bei sich zu sein. Er musterte Donovan eingehend, als könnte ihm das Kraft geben. Donovans Gesicht war sehr braun, und zum ersten Mal fiel ihm sein Bierbauch auf. So ein Wanst, und so unbefangen. Auch Donovans Beine wirkten massig, wie Baumstämme, und noch verunsicherter als vorher sah Chelaski wieder geradeaus.
Was war los?
Der Batter schlug, und es war ein Outfield-Ball ... für Donovan. Donovan trat ein paar Schritte vor, schwang lässig die Arme und fing den Ball. Chelaski hatte den Ball auf seiner langen, weiten Flugbahn durch Sonne und Himmel beobachtet. Ein durchaus angenehmer Anblick, aber irgendwie witzlos, von allem losgelöst. Der Nächste schlug einen Single ins Infield, um den er sich nicht zu kümmern brauchte. Einer aus.
Einer vor. Wie stand das Inning? Er drehte sich zur Anzeige um und sah das Publikum. Sein Blick konzentrierte sich nicht darauf. Sie waren bloß Bewegungen, Kleider und Geräuschkulisse.
Was wollten sie sehen?
Er fragte es sich nochmals: Was wollten sie sehen?
Plötzlich hatte er eine Scheißangst, und er wusste nicht, warum. Sein Atem ging schwer, Speichel lief ihm aus dem Mund; ihm war schwindlig, flau.
Donovan ... stand da. Er blickte noch einmal zum Publikum und sah sie alle, alles an ihnen, alle zusammen und jeden für sich. Brillen, Krawatten; Frauen in Röcken, Männer in Hosen; Lippenstift ... und Glut an etwas, das in Mündern steckte ... Zigaretten. Und alle gluckten seltsam einvernehmlich zusammen.
Und dann kam's ... ein Ball ins Outfield ... für ihn. Ein leichter. Er war nervös. Er musterte den Ball grimmig, und der schien förmlich in der Luft stehenzubleiben. Der Ball schwebte, die Zuschauer brüllten, die Sonne schien, und der Himmel war blau. Und Donovan sah zu, und Donovans Augen beobachteten Chelaski. War Donovan gegen ihn? Was wollte Donovan wirklich?
Der Ball landete in seinem Handschuh. Er passte genau, und Chelaski spürte die Wucht und die angenehme Stoßkraft des Fangs. Er warf den Ball zum zweiten Base und hielt den Runner am ersten. Chelaski staunte über den guten Wurf; es sah aus, als hätte ihm der Ball gehorcht. Seine Angst legte sich ein wenig; keiner merkte was.
Der nächste Mann war aus, kurz vorm ersten Base, und Chelaski machte sich auf den langen Weg zum Dugout. Das Laufen tat gut. Er kam an mehreren gegnerischen Spielern vorbei, aber sie sahen ihn nicht an. Das störte ihn ein wenig, und dieses Gefühl bildete ein Knötchen in ihm, als er Donovans Stiernacken in den Dugout folgte. Dort angelangt, kam sich Chelaski irgendwie nackt oder ertappt vor oder so etwas, und in dem Bemühen, so zu tun, als wäre alles in Ordnung mit ihm, ging er zu Hull hinüber und grinste ihn an.
»Willst du einen Kuss? Dann denkst du nicht mehr dran«, sagte er zu Hull.
Hull hatte einen Schnitt von 182 Schlägen und war zugunsten von Jamison, dem Studenten, auf die Bank verfrachtet worden. Hull sah Chelaski an. Er guckte ihn an, als hätte er ihn noch nie gesehen. Er antwortete nicht mal; er stand auf und ging zum Wasserspender. Chelaski verdrückte sich schnell ans Geländer, mit dem Rücken zur Bank.
Corpenson erreichte durch einen Hit das erste Base. Donovan erreichte das zweite und lief mit hochschnellenden Knien die First Base Line hinunter, so dass man seine knallbunten Socken sah.
Chelaski ging zur Platte. Der Umpire war da, der Catcher, der Pitcher, die Fielder, das Publikum. Alles wartete, alles wartete. Draußen überfiel vielleicht gerade jemand eine Bank, oder eine vollbesetzte Straßenbahn kam um die Ecke, aber hier war es anders: geregelt, vorgesehen ... nicht wie da draußen - die Straßenbahn, der Bankraub. Hier war alles ... anders, festgelegt, vorherbestimmt.
Er holte aus und verfehlte den ersten Pitch, und es gab Geschrei. Der Catcher rief etwas und warf den Ball zurück. Ein Vogel sauste durch die Luft, auf und ab, wollte schnell irgendwohin. Chelaski spuckte aus und sah auf den Rotzfleck am Boden. Der Boden war staubtrocken. Ball Nummer eins.
Der nächste kam von außen, wie es ihm lag. Schnell und wie von selbst schwang er den Schläger, und das Publikum schrie. Es war ein langer Ball, hoch über den Kopf des Centerfielders hinweg. Chelaski sah zu, wie er von der Wand beim Fahnenmast abprallte. Die Zuschauer brüllten lauter denn je; so laut hatte er sie in der ganzen Spielzeit noch nicht brüllen gehört. Dann schrie ihn Jamison an, der als nächster Batter bereitstand.
»Lauf! Lauf! Lauf!«, schrie er.
Chelaski drehte sich um und musterte Jamison. Weit aufgerissene Augen, aus denen Blitze schossen, heiß und gehetzt. Sein Gesicht war verzerrt, die Lippen vorgestülpt, und besonders die geschwollenen Adern an seinem roten Hals fielen Chelaski auf.
»Lauf! Lauf! Lauf!«, schrie Jamison.
Von der Tribüne kam ein Sitzkissen geflogen. Dann noch eins. Die Zuschauer waren so laut, dass er Jamison nicht mehr hören konnte. Der Vogel von vorhin kam im Wippflug zurück, nur noch ein bisschen schneller. Der Centerfielder hatte den Ball gefangen und zurückgeworfen. Der Lärm war fast unerträglich. Chelaski wurde von einem Sitzkissen getroffen und sah ins Publikum. Viele Leute sprangen auf und fuchtelten mit den Armen. Kissen, Mützen, Flaschen, alles kam geflogen. Ganz kurz erblickte er ein Mädchen in einem grünen Rock. Ihr Gesicht, ihre Bluse, ihre Jacke bekam er nicht mit. Er sah einen grünen Rock und eine Falte in einem grünen Rock, die wie ein Schatten tanzte. Dann traf ihn das nächste Sitzkissen. Hart, stechend, warm. Einen Moment lang war er wütend.
Der Wurf kam zum zweiten Baseman, der ihn zum Ausmachen an den ersten weitergab. Der Lärm war ein Vulkanausbruch, lähmend, zum Verrücktwerden. Jamison packte Chelaski am Arm und zog ihn von der Batter's Box weg. In Jamisons Gesicht fielen ihm rote und weiße Flecke auf, und es sah dick aus, als wären etliche Hautschichten dazugekommen.
Chelaski ging in dem anhaltenden Getöse zum Dugout. Die Mannschaft postierte sich, Hull nahm seine Stelle im Outfield ein.
Es war kalt im Dugout, kalt und dunkel. Er sah den Wassereimer mit dem drübergehängten Handtuch. Auf dem Weg dahin sah er, wie jemand auf der Bank nervös die Hände bewegte, jemand anders die Beine übereinanderschlug.
Dann stand Chelaski vor dem Manager, Hastings. Er sah Hastings nicht an, sah nur auf das Hemd unter dem V des Kragens.
Dann hob er den Kopf. Er sah, dass Hastings etwas sagen wollte, die Worte aber nicht herausbrachte.
Chelaski drehte sich rasch um und lief zur Umkleide hinunter. Dort angekommen, sah er sich einen Moment lang die grünen Spinde an.
Draußen tobte das Publikum immer noch, und ein paar Reporter befanden sich schon auf dem Weg zu Chelaski, um ihn zu fragen, was los war.
Liebe, Liebe, Liebe
Ich höre meinen Vater baden. Er planscht und spritzt ungeheuer, spuckt Wasser, schlägt mit den Ellbogen gegen die Wannenwand.
»Ist dir aufgefallen, dass ich den ganzen Tag die Zähne drin hatte, Mutti?«
»Nein, wusste ich nicht.«
»Sie fühlen sich an wie meine eigenen, als hätte ich sie schon immer gehabt.«
»Bald kannst du sicher auch wieder Nüsse und alles essen. «
»Nüsse. Ha!«
Mein Vater geht die Einfahrt entlang, bleibt stehen, bückt sich und sagt zu meiner Mutter, die noch im Haus ist:
»Die Möhre hier lebt immer noch.«
»Ich weiß. Oh, was ist das denn ... dein Ärmel ...«
»Bitte?«
»Du hast da einen Riss. Unterm Arm. Guck mal unter die Achsel ...«
Ich finde eine Nachricht auf meinem Bett. In der dicken Krakelschrift meines Vaters auf die Rückseite eines Kuverts geschrieben:
1/2 Flasche Whiskey 2,00
1 Flasche Whiskey 3,65
1/2 Flasche Gin 1,90
2 Ginger Ale 0,30
Wäsche & Putzen 3,25
Unterwäsche 8,25
1 Hemd 4,00
Kost und Logis 10,00
33,35
Mein Vater läuft durch den Flur. Er trägt Lederschlappen, die am Boden aufklatschen. Er geht ins Bad. »Mensch, wieso ist denn der ganze Boden nass? Hast du das ganze Wasser verschüttet? «
»Welches Wasser?«
Er macht die Tür auf und kommt in mein Zimmer. »Hast du das ganze Wasser im Bad verschüttet?«
»Ja«, sage ich. »Ich hab's mit beiden Händen geschöpft und durch die Gegend geschmissen.«
Er fängt an zu schreien ...
Mein Bruder George erzählt von seinen Kriegserlebnissen: »Es gab Fallschirmjägeralarm, und ich dachte, mein Gott, die Japsen kommen. Aber dann sagte ich mir, ich hab meine C-Ration, meine 45er, meine Dum-Dums, ich hab eine Flasche Stateside - ich bin startklar. Ich geh zum Flugplatz, schnapp mir eine C-47 und schau, dass ich hier rauskomme ...«
Mein Bruder George bleibt die ganze Nacht weg und ruft mich am Morgen an: »Chuck, Chuck, mich hat es schwer erwischt. Ich habe ein dicke Narbe über dem rechten Auge. Ich habe ein Veilchen. Bin ganz voll Blut. Meine Jacke ist hinüber. Ich hab mit einem Mann gesoffen, der lauter Narben im Mund hat, weil er sich immer Nadeln reinsteckt. Er sagt, Schmerzen sind bloß eine Frage der Selbstbeherrschung. Filmriss, ich weiß nicht, was gewesen ist. Ich bin in Hollywood. Was für ein Tag ist heute?«
Wir sitzen am Esstisch, ohne George. Meine Mutter hat ihren weiten Morgenmantel an und schiebt sich eine Kartoffel in den Mund.
»Chucky, deine Wangen sind so hohl. Ich möchte, dass du Pausbacken bekommst, Hamsterbacken. Es ist schlimm, wie du aussiehst. Dabei hast du so ein schönes Profil.«
»Das stimmt«, sagt mein Vater.
»Zugenommen hast du ja schon«, sagt meine Mutter. »Wenn du nur aufhören würdest zu trinken ... Warum guckst du immer auf den Teller? Warum siehst du die Leute nicht an? Sieh mich an ... Möchtest du noch Kartoffeln?«
»Nein.«
»Noch Fleisch?«
»Nein.«
»Noch Sellerie?«
»Nein.«
»Möchtest du noch Kaffee?«
»Nein.«
»Erbsen?«
»Nein.«
»Ein Stück Brot vielleicht?«
»Nein. NEIN, verdammt nochmal! Wenn ich was will, dann sag ich's schon!«
»Was ist denn mit dir los?«, brüllt mein Vater. Er wirft seine Serviette über den Tisch, stößt seinen Stuhl zurück und läuft mit klatschenden Schlappen ins Wohnzimmer.
»Chucky«, sagt meine Mutter, »du ahnst ja nicht, wie weh du uns tust. Du hast keine Ahnung, wie wir uns um dich bemühen. Dein Vater liebt dich. Du kommst hierher. Du verleitest George zum Alkoholtrinken. Du bist fünfundzwanzig. Noch ist Zeit. Dein Vater möchte dir das Autofahren beibringen. Du sagst nein. Einen Leseausweis für die Bibliothek, eine Kinokarte willst du auch nicht. Nur immer trinken, trinken, trinken und auf den Teller gucken. Hast du
noch Geld?«
»Nein.«
»Was willst du machen?«
»Chucky, ich bin deine Mutter, antworte mir.«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Chelaski (Center Fielder, .285 AB-246 H-70) fühlte sich ein wenig ... ein wenig ... anders auf dem Spielfeld. Es gibt Tage, an denen das so ist. Es läuft nicht rund. Selbst die Sonne sah jetzt ein wenig krank aus, das Grün der Umzäunung zu grün, der Himmel viel zu hoch, und das Leder seines Fanghandschuhs zu ... ledrig.
Er ging ein paar Schritte vor und schlug mit der Faust in den Handschuh, um alles zurechtzurütteln. Hatte er Kopfweh, oder was? Er spürte Potential, als wäre er kurz davor zu schreien, in die Luft zu springen oder sonst was zu tun, was daneben war.
Chelaski hatte ein bisschen Angst und sah hinüber zu Donovan (Left Fielder, .296 AB-230 H-68), aber Donovan schien ganz bei sich zu sein. Er musterte Donovan eingehend, als könnte ihm das Kraft geben. Donovans Gesicht war sehr braun, und zum ersten Mal fiel ihm sein Bierbauch auf. So ein Wanst, und so unbefangen. Auch Donovans Beine wirkten massig, wie Baumstämme, und noch verunsicherter als vorher sah Chelaski wieder geradeaus.
Was war los?
Der Batter schlug, und es war ein Outfield-Ball ... für Donovan. Donovan trat ein paar Schritte vor, schwang lässig die Arme und fing den Ball. Chelaski hatte den Ball auf seiner langen, weiten Flugbahn durch Sonne und Himmel beobachtet. Ein durchaus angenehmer Anblick, aber irgendwie witzlos, von allem losgelöst. Der Nächste schlug einen Single ins Infield, um den er sich nicht zu kümmern brauchte. Einer aus.
Einer vor. Wie stand das Inning? Er drehte sich zur Anzeige um und sah das Publikum. Sein Blick konzentrierte sich nicht darauf. Sie waren bloß Bewegungen, Kleider und Geräuschkulisse.
Was wollten sie sehen?
Er fragte es sich nochmals: Was wollten sie sehen?
Plötzlich hatte er eine Scheißangst, und er wusste nicht, warum. Sein Atem ging schwer, Speichel lief ihm aus dem Mund; ihm war schwindlig, flau.
Donovan ... stand da. Er blickte noch einmal zum Publikum und sah sie alle, alles an ihnen, alle zusammen und jeden für sich. Brillen, Krawatten; Frauen in Röcken, Männer in Hosen; Lippenstift ... und Glut an etwas, das in Mündern steckte ... Zigaretten. Und alle gluckten seltsam einvernehmlich zusammen.
Und dann kam's ... ein Ball ins Outfield ... für ihn. Ein leichter. Er war nervös. Er musterte den Ball grimmig, und der schien förmlich in der Luft stehenzubleiben. Der Ball schwebte, die Zuschauer brüllten, die Sonne schien, und der Himmel war blau. Und Donovan sah zu, und Donovans Augen beobachteten Chelaski. War Donovan gegen ihn? Was wollte Donovan wirklich?
Der Ball landete in seinem Handschuh. Er passte genau, und Chelaski spürte die Wucht und die angenehme Stoßkraft des Fangs. Er warf den Ball zum zweiten Base und hielt den Runner am ersten. Chelaski staunte über den guten Wurf; es sah aus, als hätte ihm der Ball gehorcht. Seine Angst legte sich ein wenig; keiner merkte was.
Der nächste Mann war aus, kurz vorm ersten Base, und Chelaski machte sich auf den langen Weg zum Dugout. Das Laufen tat gut. Er kam an mehreren gegnerischen Spielern vorbei, aber sie sahen ihn nicht an. Das störte ihn ein wenig, und dieses Gefühl bildete ein Knötchen in ihm, als er Donovans Stiernacken in den Dugout folgte. Dort angelangt, kam sich Chelaski irgendwie nackt oder ertappt vor oder so etwas, und in dem Bemühen, so zu tun, als wäre alles in Ordnung mit ihm, ging er zu Hull hinüber und grinste ihn an.
»Willst du einen Kuss? Dann denkst du nicht mehr dran«, sagte er zu Hull.
Hull hatte einen Schnitt von 182 Schlägen und war zugunsten von Jamison, dem Studenten, auf die Bank verfrachtet worden. Hull sah Chelaski an. Er guckte ihn an, als hätte er ihn noch nie gesehen. Er antwortete nicht mal; er stand auf und ging zum Wasserspender. Chelaski verdrückte sich schnell ans Geländer, mit dem Rücken zur Bank.
Corpenson erreichte durch einen Hit das erste Base. Donovan erreichte das zweite und lief mit hochschnellenden Knien die First Base Line hinunter, so dass man seine knallbunten Socken sah.
Chelaski ging zur Platte. Der Umpire war da, der Catcher, der Pitcher, die Fielder, das Publikum. Alles wartete, alles wartete. Draußen überfiel vielleicht gerade jemand eine Bank, oder eine vollbesetzte Straßenbahn kam um die Ecke, aber hier war es anders: geregelt, vorgesehen ... nicht wie da draußen - die Straßenbahn, der Bankraub. Hier war alles ... anders, festgelegt, vorherbestimmt.
Er holte aus und verfehlte den ersten Pitch, und es gab Geschrei. Der Catcher rief etwas und warf den Ball zurück. Ein Vogel sauste durch die Luft, auf und ab, wollte schnell irgendwohin. Chelaski spuckte aus und sah auf den Rotzfleck am Boden. Der Boden war staubtrocken. Ball Nummer eins.
Der nächste kam von außen, wie es ihm lag. Schnell und wie von selbst schwang er den Schläger, und das Publikum schrie. Es war ein langer Ball, hoch über den Kopf des Centerfielders hinweg. Chelaski sah zu, wie er von der Wand beim Fahnenmast abprallte. Die Zuschauer brüllten lauter denn je; so laut hatte er sie in der ganzen Spielzeit noch nicht brüllen gehört. Dann schrie ihn Jamison an, der als nächster Batter bereitstand.
»Lauf! Lauf! Lauf!«, schrie er.
Chelaski drehte sich um und musterte Jamison. Weit aufgerissene Augen, aus denen Blitze schossen, heiß und gehetzt. Sein Gesicht war verzerrt, die Lippen vorgestülpt, und besonders die geschwollenen Adern an seinem roten Hals fielen Chelaski auf.
»Lauf! Lauf! Lauf!«, schrie Jamison.
Von der Tribüne kam ein Sitzkissen geflogen. Dann noch eins. Die Zuschauer waren so laut, dass er Jamison nicht mehr hören konnte. Der Vogel von vorhin kam im Wippflug zurück, nur noch ein bisschen schneller. Der Centerfielder hatte den Ball gefangen und zurückgeworfen. Der Lärm war fast unerträglich. Chelaski wurde von einem Sitzkissen getroffen und sah ins Publikum. Viele Leute sprangen auf und fuchtelten mit den Armen. Kissen, Mützen, Flaschen, alles kam geflogen. Ganz kurz erblickte er ein Mädchen in einem grünen Rock. Ihr Gesicht, ihre Bluse, ihre Jacke bekam er nicht mit. Er sah einen grünen Rock und eine Falte in einem grünen Rock, die wie ein Schatten tanzte. Dann traf ihn das nächste Sitzkissen. Hart, stechend, warm. Einen Moment lang war er wütend.
Der Wurf kam zum zweiten Baseman, der ihn zum Ausmachen an den ersten weitergab. Der Lärm war ein Vulkanausbruch, lähmend, zum Verrücktwerden. Jamison packte Chelaski am Arm und zog ihn von der Batter's Box weg. In Jamisons Gesicht fielen ihm rote und weiße Flecke auf, und es sah dick aus, als wären etliche Hautschichten dazugekommen.
Chelaski ging in dem anhaltenden Getöse zum Dugout. Die Mannschaft postierte sich, Hull nahm seine Stelle im Outfield ein.
Es war kalt im Dugout, kalt und dunkel. Er sah den Wassereimer mit dem drübergehängten Handtuch. Auf dem Weg dahin sah er, wie jemand auf der Bank nervös die Hände bewegte, jemand anders die Beine übereinanderschlug.
Dann stand Chelaski vor dem Manager, Hastings. Er sah Hastings nicht an, sah nur auf das Hemd unter dem V des Kragens.
Dann hob er den Kopf. Er sah, dass Hastings etwas sagen wollte, die Worte aber nicht herausbrachte.
Chelaski drehte sich rasch um und lief zur Umkleide hinunter. Dort angekommen, sah er sich einen Moment lang die grünen Spinde an.
Draußen tobte das Publikum immer noch, und ein paar Reporter befanden sich schon auf dem Weg zu Chelaski, um ihn zu fragen, was los war.
Liebe, Liebe, Liebe
Ich höre meinen Vater baden. Er planscht und spritzt ungeheuer, spuckt Wasser, schlägt mit den Ellbogen gegen die Wannenwand.
»Ist dir aufgefallen, dass ich den ganzen Tag die Zähne drin hatte, Mutti?«
»Nein, wusste ich nicht.«
»Sie fühlen sich an wie meine eigenen, als hätte ich sie schon immer gehabt.«
»Bald kannst du sicher auch wieder Nüsse und alles essen. «
»Nüsse. Ha!«
Mein Vater geht die Einfahrt entlang, bleibt stehen, bückt sich und sagt zu meiner Mutter, die noch im Haus ist:
»Die Möhre hier lebt immer noch.«
»Ich weiß. Oh, was ist das denn ... dein Ärmel ...«
»Bitte?«
»Du hast da einen Riss. Unterm Arm. Guck mal unter die Achsel ...«
Ich finde eine Nachricht auf meinem Bett. In der dicken Krakelschrift meines Vaters auf die Rückseite eines Kuverts geschrieben:
1/2 Flasche Whiskey 2,00
1 Flasche Whiskey 3,65
1/2 Flasche Gin 1,90
2 Ginger Ale 0,30
Wäsche & Putzen 3,25
Unterwäsche 8,25
1 Hemd 4,00
Kost und Logis 10,00
33,35
Mein Vater läuft durch den Flur. Er trägt Lederschlappen, die am Boden aufklatschen. Er geht ins Bad. »Mensch, wieso ist denn der ganze Boden nass? Hast du das ganze Wasser verschüttet? «
»Welches Wasser?«
Er macht die Tür auf und kommt in mein Zimmer. »Hast du das ganze Wasser im Bad verschüttet?«
»Ja«, sage ich. »Ich hab's mit beiden Händen geschöpft und durch die Gegend geschmissen.«
Er fängt an zu schreien ...
Mein Bruder George erzählt von seinen Kriegserlebnissen: »Es gab Fallschirmjägeralarm, und ich dachte, mein Gott, die Japsen kommen. Aber dann sagte ich mir, ich hab meine C-Ration, meine 45er, meine Dum-Dums, ich hab eine Flasche Stateside - ich bin startklar. Ich geh zum Flugplatz, schnapp mir eine C-47 und schau, dass ich hier rauskomme ...«
Mein Bruder George bleibt die ganze Nacht weg und ruft mich am Morgen an: »Chuck, Chuck, mich hat es schwer erwischt. Ich habe ein dicke Narbe über dem rechten Auge. Ich habe ein Veilchen. Bin ganz voll Blut. Meine Jacke ist hinüber. Ich hab mit einem Mann gesoffen, der lauter Narben im Mund hat, weil er sich immer Nadeln reinsteckt. Er sagt, Schmerzen sind bloß eine Frage der Selbstbeherrschung. Filmriss, ich weiß nicht, was gewesen ist. Ich bin in Hollywood. Was für ein Tag ist heute?«
Wir sitzen am Esstisch, ohne George. Meine Mutter hat ihren weiten Morgenmantel an und schiebt sich eine Kartoffel in den Mund.
»Chucky, deine Wangen sind so hohl. Ich möchte, dass du Pausbacken bekommst, Hamsterbacken. Es ist schlimm, wie du aussiehst. Dabei hast du so ein schönes Profil.«
»Das stimmt«, sagt mein Vater.
»Zugenommen hast du ja schon«, sagt meine Mutter. »Wenn du nur aufhören würdest zu trinken ... Warum guckst du immer auf den Teller? Warum siehst du die Leute nicht an? Sieh mich an ... Möchtest du noch Kartoffeln?«
»Nein.«
»Noch Fleisch?«
»Nein.«
»Noch Sellerie?«
»Nein.«
»Möchtest du noch Kaffee?«
»Nein.«
»Erbsen?«
»Nein.«
»Ein Stück Brot vielleicht?«
»Nein. NEIN, verdammt nochmal! Wenn ich was will, dann sag ich's schon!«
»Was ist denn mit dir los?«, brüllt mein Vater. Er wirft seine Serviette über den Tisch, stößt seinen Stuhl zurück und läuft mit klatschenden Schlappen ins Wohnzimmer.
»Chucky«, sagt meine Mutter, »du ahnst ja nicht, wie weh du uns tust. Du hast keine Ahnung, wie wir uns um dich bemühen. Dein Vater liebt dich. Du kommst hierher. Du verleitest George zum Alkoholtrinken. Du bist fünfundzwanzig. Noch ist Zeit. Dein Vater möchte dir das Autofahren beibringen. Du sagst nein. Einen Leseausweis für die Bibliothek, eine Kinokarte willst du auch nicht. Nur immer trinken, trinken, trinken und auf den Teller gucken. Hast du
noch Geld?«
»Nein.«
»Was willst du machen?«
»Chucky, ich bin deine Mutter, antworte mir.«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Charles Bukowski
Charles Bukowski, geboren am 16. August 1920 in Andernach bei Koblenz, wuchs während der Wirtschaftskrise in Los Angeles auf. Schon als Kind ein Außenseiter, fand er früh Halt bei Alkohol und Literatur. Unzählige schlechtbezahlte Jobs und ein Leben in billigen Absteigen, erste Short Story mit 24, lebensgefährliche Magenblutung mit 35. Erst mit 50 Jahren konnte er vom Schreiben leben, wurde auch in Deutschland Kultautor. Seit seinem Tod am 9. März 1994 wurde weiter aus dem Nachlass veröffentlicht, eine literarische Gesellschaft gegründet und sein alter Hinterhof zum Kulturerbe erklärt. Heute ist Bukowski ein moderner Klassiker. Krutzsch, MalteMalte Krutzsch lebt und arbeitet in der Eifel. Er übersetzte u.a. Werke von Reif Larsen, Bill Clegg, Josh Bazell, Joseph O'Connor und Charles Bukowski.
Bibliographische Angaben
- Autor: Charles Bukowski
- 2014, 1. Auflage, 352 Seiten, Maße: 13,4 x 19,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Krutzsch, Malte
- Übersetzer: Malte Krutzsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596950031
- ISBN-13: 9783596950034
- Erscheinungsdatum: 26.06.2014
Kommentar zu "Held außer Betrieb"