Himmel, der nirgendwo endet
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Für Sie wiederentdeckt: Marlen Haushofer, literarischer ''Geheimtipp'' aus Österreich.
Himmel,der nirgendwo endet von MarlenHaushofer
LESEPROBE
Hinter dem Roßstall liegt der Stein. Er ist sehr groß. Metareicht nur bis zu seiner Mitte. Er ist alt und rund, und keiner weiß, woher ergekommen ist. Vielleicht ist er einmal vom Waldrand heruntergerollt. KeinMensch kümmert sich um ihn. Wenn das Heu vom Wagen auf den Heuboden gereichtwird, ist er manchmal im Weg, und ein jähzorniger Holzknecht tritt nach ihm undverstaucht sich die Zehe. Der Stein scheint es nicht zu spüren, aber Metafreut sich darüber. Jeder soll sich die Zehe verstauchen, der ihren Stein zutreten wagt.
Meta besucht ihn fast jeden Tag. Sie streichelt ihn undlegt die Wange an sein graues Gesicht. Ihre Schürze zerrt an ihr und hängt aufeiner Seite fast bis zum Boden, weil die Tasche vollgestopft ist mit Steinchen,Schneckenhäusern, Fichtenzapfen und Hobelscharten, wichtigen Dingen, die sienicht aus den Augen lassen will. Manchmal löst sie ein Stück Moos vom Stein unduntersucht, was es da zu sehen gibt. Es sieht aus, als löse das Moos den Steinlangsam auf, zumindest seine Haut, denn unter dem Moos ist er nicht glatt,sondern bröslig und locker. Winzige längliche Dinge liegen unter dem Moos, diewie hohle Körner aussehen, leere Panzer von Käfern, Ameiseneier undTausendfüßler. Vor den Tausendfüßlern hat Meta Angst, weil sie sich aufschreckliche Weise krümmen und Buckel machen oder, auf dem Rücken liegend, mitdünnen Beinen zappeln. Meta dreht sie mit einem Grashalm um, weil sie dasGezappel nicht sehen kann. Lauter Ungeheuer und Drachen, die eine böse Feekleingezaubert hat. Daneben liegen winzige leere Schneckenhäuser, die sofortzerbrechen, wenn man sie anfaßt. Vielleicht haben die Tausendfüßler ihre zartenBewohner aufgefressen. Mit klopfendem Herzen und angehaltenem Atem starrt Metaauf die fremde kleine Welt und legt vorsichtig das Moosstückchen wieder darauf.So, jetzt ist es besser.
Wenn es geregnet hat, blüht das Moos in ganz kleinenSternblüten. Meta hat sie schon gekostet, sie sind so klein, daß sie nach garnichts schmecken. Wenn das Moos blüht, ist der alte Stein sehr schön, aber Metavergißt nie, daß unter den weißen Polstern die verzauberten Ungeheuer hausen.Sie versucht, nicht daran zu denken, aber es gelingt ihr nicht. Dabei hat sieein schlechtes Gewissen und weiß nicht, warum. Sie kann noch so vieleTausendfüßler umdrehen, das schlechte Gewissen bleibt. Sicher kommt es daher,daß sie die Ungeheuer nicht gern haben kann.
Niemals erklettert Meta den Stein. Kein anderer Stein istvor ihren Füßen sicher, aber diesen einen darf sie nicht betreten, er ist einlebendiger Stein. Vielleicht leben die anderen Steine auch, aber dieser ist einalter großer Freund, und es gehört sich nicht, auf einem Freundherumzutrampeln. Sie möchte ihn um keinen Preis verstimmen. So tut sie alles,um ihm Freude zu machen. In heißen Zeiten holt sie Wasser vom Brunnen undrettet sein Moos vor dem Verdorren. Sie streichelt ihn und putzt ihn, wenn ihnein Vogel beschmutzt hat. Der Stein fühlt sich immer warm an, und wenn sie dasOhr an ihn legt, hört sie ganz zartes Knistern. Dann redet er und ist wohligund zufrieden. Sie glaubt auch nicht, daß er sich nicht bewegen kann. Wenn manihn genau betrachtet, sieht man, daß er jeden Tag ein bißchen anders dasteht.Und wer weiß, was er tut, wenn die Menschen schlafen. Sie traut ihm alles zu.Er ist von allen Freunden der beste, und er ist gar nicht zimperlich. Metakann ihn so fest drücken, wie sie will, er macht sich dann ganz hart, undheimlich, tief in seinem grauen Leib, lacht er dazu.
Zwei Holzknechte lehnen an der Streuhütte und prüfen mitden Daumen ihre frisch gedengelten Sensen. Die Sonne zieht blaue Blitze aus demMetall. Die Männer sind alt und sehen sehr vornehm aus, wie die Könige in denMärchen. Sie sind lang und hager und bewegen sich lässig. Auch ihreausgewaschenen Leinenhosen sind schön und vornehm. Meta starrt die beiden ganzhingerissen an. Endlich beugt sich der eine tief zu ihr herab und sagt: » ImAugust bringen wir dir Himbeeren. « Gleich darauf sind sie verschwunden. EchteHolzknechte sind das bestimmt nicht gewesen. Meta weiß schon jetzt, daß sienie wiederkommen und auch keine Himbeeren bringen werden. Sie ist ein bißchentraurig darüber, aber einen Augenblick später entdeckt sie den Stein unter derDachtraufe und gerät in neues Entzücken. Vom ewigen Wassergeriesel ist erausgehöhlt wie eine Schale, und sein weißgrauer Leib ist mit rosaroten Aderndurchzogen. Rund um ihn wuchern blaublühende Taubnesseln, gebeugt von dersummenden pelzigen Hummelschar.
Die alte Mühle am Bach. Den Kopf an Vaters Beine gelehnt,steht Meta in der grünen Dämmerung, weit fort von Sonnenschein undVogelliedern. Der Mann mit der weißen Schürze ist der Müller. Sein Gesicht ist flachund weißlich vom Mehlstaub. Aber vielleicht ist es gar kein Mehlstaub. Er redetmit leiser Stimme und hüstelt dazwischen. Meta fürchtet sich vor der Mühle undder Kälte, die vom Bach heraufkriecht. Der Müller sieht aus, als wäre er schonlange gestorben. Der einzige Trost in dieser kalten Wasserwelt ist Vaters warmeHand. Sie fühlt sich an wie Holz, wie sonnengetränktes Holz. Solange sie dieseHand nicht losläßt, kann der Müller sie nicht verzaubern und ihr nichts Bösestun. Sie muß sich bemühen, freundlich an den Müller zu denken. Aber wird ersich täuschen lassen? Liest er nicht unter den falschen freundlichen Gedanken,daß sie alles über ihn weiß? Jetzt tut er etwas Schreckliches mit seinem Mund.Sie mag gar nicht hinschauen, bestimmt hat er grüne Zähne. Dann streckt er diemehlige Hand aus und legt sie auf Metas Kopf. Kälte sickert in ihr Haar undrieselt den Rücken entlang. Krampfhaft umklammert sie Vaters Hand. Der lachtund redet, als merkte er gar nichts. Aber Vater ist schlau; er wiegt den Müllerin Sicherheit, bestimmt hat er gleich durchschaut, mit wem er es zu tun hat.
Mindestens ein Jahr dauert es, ehe sie loskommen und wiederauf der Straße stehen und die Sonne die Kälte von Metas Kopf wischt. Metamöchte schreien vor Freude, sie leben, sie leben, der tote Müller hat sie nichtverzaubern können, weil Vater so gescheit ist und weil seine Hände so warmsind. (...)
© List Verlag
Marlen Haushofer wurde 1920 im oberösterreichischen Frauenstein geboren. 1946 veröffentlichte sie ihren ersten Text. Sie zählt heute mit Ingeborg Bachmann zu den Vorläuferinnen der modernen Frauenliteratur. Marlen Haushofer wurde mit zahlreichen Literaturpreisen geehrt. Sie starb 1970 in Wien.
- Autor: Marlen Haushofer
- 2005, 224 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548605729
- ISBN-13: 9783548605722
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