Hitlers vergessene Kinderarmee
Als sie in Schnelllehrgängen zu Soldaten geschliffen wurden, waren die Hitlerjungen gerade mal 16 Jahre alt. Im Frühjahr 1945 sollte sich dann ihr Schicksal erfüllen: rekrutiert von der Waffen-SS und verheizt in einem längst verlorenen Krieg Acht Zeitzeugen-Geschichten, die unter die Haut gehen.
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Produktinformationen zu „Hitlers vergessene Kinderarmee “
Als sie in Schnelllehrgängen zu Soldaten geschliffen wurden, waren die Hitlerjungen gerade mal 16 Jahre alt. Im Frühjahr 1945 sollte sich dann ihr Schicksal erfüllen: rekrutiert von der Waffen-SS und verheizt in einem längst verlorenen Krieg Acht Zeitzeugen-Geschichten, die unter die Haut gehen.
Klappentext zu „Hitlers vergessene Kinderarmee “
Im Frühjahr 1945 wirkten sie als Statisten im letzten Kapitel des untergehenden Nazi-Reiches mit. Sie waren Teil einer «Kinderarmee», Hitlers letztem Aufgebot. In einem «Reichsausbildungslager» (RAL) der Hitlerjugend im südmährischen Bad Luhatschowitz waren die 16- und 17-jährigen in Schnelllehrgängen zu Soldaten geschliffen worden, zusammen mit über 1000 Gleichaltrigen. Anschließend kassierte die Waffen-SS die Kindersoldaten und verheizte sie in einem Krieg, der zu diesem Zeitpunkt längst verloren war. Im September 1944 ordnete die NS-Führung, ihr nahes Ende vor Augen, die «Erfassung aller zwischen 16 bis 66 Jahren» an. Erzogen treu im Glauben an Führer und Vaterland, folgten Tausende diesem Aufruf. In Wahrheit waren diese Kinder jedoch weder «wehrfähig», geschweige denn «Männer». Acht ihrer Geschichten werden hier erzählt. Zu «Ich war Hitlers letztes Aufgebot»: «Das Verdienst dieses ehrlichen Buches liegt darin, dass es die ganze Komplexität dessen offenbart, was Krieg bedeutet. Es ist sorgfältig, spannend und sachlich erzählt und historisch gut recherchiert.» Welt am Sonntag
«Der Text hat mich berührt.» Günter Grass
Lese-Probe zu „Hitlers vergessene Kinderarmee “
Hitlers vergessene Kinderarm von Günter Lucks und Harald Stutt Vorwort
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Kindersoldaten sind nach der Definition von UNICEF, Terre des hommes und Amnesty International «alle Kämpfer und deren Helfer, die unter 18 Jahre alt sind». Deutschland setzte im 2. Weltkrieg, besonders am Ende, massiv auf den Einsatz von Kindersoldaten. In ihrer Lage der militärischen Ausweglosigkeit war die NS-Führung bereit, die Jugend und damit Deutschlands Zukunft auf dem Schlachtfeld zu opfern.
Der deutsche Publizist Günter Gaus (und nicht der ehemalige Kanzler Helmut Kohl, der ihn in anderem Zusammenhang übernahm) prägte einst den schönen Satz von der «Gnade der späten Geburt». Und beschrieb damit das Glück seiner Generation, des Jahrgangs 1929, zu spät geboren zu sein, um noch im Dienste der NS-Herrscher im Krieg verheizt worden zu sein. Übersehen wurde dabei, dass diese Gnade nur einem Teil dieser Generation zuteil wurde. Denn schätzungsweise 60 000 Jugendliche im Alter zwischen 15 und 17 Jahren, der von 1927 bis 1929 geborenen Jungen also, fielen allein in den Kämpfen der letzten Kriegswochen. Überwiegend waren sie von Herbst 1944 bis Kriegsende Mai 1945 einberufen worden.
Die Militarisierung der Jüngsten begann im nationalsozialistischen Deutschland früh, wurde aber erst mit der Ausrufung des «totalen Krieges» nach der Niederlage von Stalingrad Anfang 1943 für die Jugend zum tödlichen Ernst. Bis zu 200 000 Jungen der Jahrgänge 1926 und 1927 - der damals 15- und 16-Jährigen also, später kam noch der Jahrgang 1928 hinzu - wurden im Reich als Luftwaffen- und Marinehelfer eingesetzt, einer früheren Idee des Reichsluftfahrtministeriums aus dem Jahr 1942 folgend. Vor allem als Luftwaffenhelfer (LWH) sollten sie die deutschen Städte vor den alliierten Bombenattacken schützen, weil die zuvor in den Fliegerabwehrstellungen dienenden Männer an der Front gebraucht wurden. Der Einsatz der Schüler und Teilzeit- Kanoniere erfolgte überwiegend in unmittelbarer Umgebung ihrer Schulstandorte oder Heimatorte, nur teilweise wurden sie kaserniert, überwiegend konnten sie zu Hause wohnen. Sie waren allerdings keine Soldaten, wurden auch nicht vereidigt, trugen aber Uniformen.
Doch schon bald wurden auch reguläre Verbände jugendlicher Kämpfer gebildet. Nach einer Idee des Reichsjugendführers Artur Axmann, der dem «Führer» zum Geburtstag eine militärische Einheit aus Hitlerjungen «schenken» wollte, wurde im Juli 1943 auf Freiwilligen- Basis die Panzerdivision «Hitlerjugend» aufgestellt. Anderen Quellen zufolge geht der Plan, eine nur aus Jugendlichen zusammengesetzte SS-Division zu bilden, auf eine Idee des SS-Gruppenführers Gottlob Berger zurück, die sein Chef, Reichsführer SS Heinrich Himmler, begeistert aufgriff. Dabei soll Himmler von Zustand und Motivation der deutschen Jugend gar nicht viel gehalten haben. In einem internen Schreiben an Martin Bormann, den Chef der Reichskanzlei, beschwerte sich Himmler über die «körperliche Verfassung» der Jugend, die «im Durchschnitt schlechter als vor dem Krieg» sei. Himmler: «Die körperliche und rassische Auslese ließ von vorne herein einen nicht unerheblichen Prozentsatz (40 Prozent) für die Werbung ausscheiden.»
Zudem machte es diese Generation, obwohl sie im Nationalsozialismus aufgewachsen, sozialisiert und durch ihn indoktriniert worden war, den Werbern schwer. So beklagte Himmler die «geistige Haltung (sei) schlecht. Unverkennbare Einflüsse durch das Elternhaus, Kirche usw. machen sich bemerkbar ...» So kam es immer wieder vor, dass «die Gemusterten weinten und sich andererseits freuten, wenn sie nicht kV (kriegsverwendungsfähig) geschrieben werden konnten.»
Die im Juli 1943 aus 16- bis 18-jährigen Hitlerjungen gebildete «Jugendarmee» wurde zunächst in Belgien stationiert und später in 12. SS-Panzer-Division «Hitlerjugend» umbenannt. Im Juni 1944 wurde die Division in Caen in der Normandie in ihre «Feuertaufe» geschickt. Die von den Alliierten «Babydivision» genannte Truppe erlitt schon nach kurzer Zeit mit 4000 Toten enorme Verluste. Als sie im Herbst 1944 kämpfend auf das Reichsgebiet zurückwich, hatte sich ihre Mannschaftsstärke bereits halbiert. Für den Historiker Peter Lieb war das der «am stärksten nationalsozialistisch indoktrinierte Verband der gesamten deutschen Streitkräfte».
Nach den schweren Verlusten des Jahres 1944 forcierte die NS-Führung die Bemühungen, den Jahrgang 1928, also die 16-Jährigen, für den Dienst in Waffen-SS und Wehrmacht zu gewinnen - immer noch auf der Basis von Freiwilligkeit. Doch der Druck auf die jungen Menschen war enorm, regelmäßig traten NSDAP-Funktionäre und Offiziere der Wehrmacht und der SS vor den Jugendlichen auf. Vor teilweise bizarrem Hintergrund: So berichtete Adolf Roos aus dem unterfränkischen Esselbach, in der Turnhalle der Kreisstadt Marktheidenfeld, in der sich der 15-Jährige im Juni 1944 anwerben ließ, habe ein überdimensionales Transparent mit folgendem Spruch gehangen: «Stalin jetzt wird's ranzig - es kommt der Jahrgang 28!» Ob durch solch plumpe Parolen oder durch den erhöhten Anwerbedruck - tatsächlich schaffte es die NS-Führung, dass sich bis Herbst 1944 70 Prozent des Jahrgangs 1928 freiwillig zum Kriegsdienst meldeten.
Am 25. September 1944 folgte der Erlass Hitlers zur Bildung des Volkssturms, das Prinzip Freiwilligkeit wurde aufgegeben. Die nunmehr 16-jährigen Jugendlichen des Jahrgangs 1928 galten ab sofort als «letzte Blutreserve», wie es in einem internen Schreiben der Partei-Kanzlei hieß. Ziel war es, aus diesem Jahrgang bis Ende März 1945 300 000 Kämpfer für Waffen-SS und Wehrmacht zu gewinnen. Hitler sagte am 8. Oktober 1944: «Die Jugend unserer nationalsozialistischen Bewegung hat an der Front und in der Heimat erfüllt, was die Nation von ihr erwartet. Vorbildlich haben eure Kriegsfreiwilligen in den Divisionen ‹Hitlerjugend›, ‹Großdeutschland›, in den Volksgrenadierdivisionen und als Einzelkämpfer in allen Wehrmachtsteilen ihre Treue, ihre Härte und ihren unerschütterlichen Siegeswillen durch die Tat bewiesen ...»
1945, das drohende Ende vor Augen, ging die NS-Führung noch einen Schritt weiter. Selbst die 14- und 15-Jährigen wurden bei HJ-Kampftrupps und den Panzerabwehr-Kommandos verheizt. In einem Aufruf des Reichsjugendführers Artur Axmann heißt es: «Ich weiß, dass der Jahrgang 1929 dem Jahrgang 1928 in seiner Entschlossenheit, für die Freiheit und eine glückliche Zukunft zu kämpfen, in nichts nachstehen wird. Der Feind steht in der Heimat und bedroht unmittelbar unser Leben. Bevor wir uns vernichten oder knechten lassen, wollen wir zäh und beharrlich bis zum endlichen Siege kämpfen.»
Anlässlich der Aufnahme des Geburtenjahrgangs 1935 in die Hitlerjugend erklärte Axmann am 26. März 1945: «Der Sinn der diesjährigen Verpflichtung liegt darin, die Jugend Adolf Hitlers muss das Zentrum des nationalen Widerstandes sein. Leidenschaftlich bekennt die Jugend, wir kapitulieren nie. Dieser Vernichtungskrieg lässt keine bürgerlichen Maßstäbe mehr zu ...» Mit der irrsinnigen Konsequenz, dass zwischen 1939 und 1945 an den Fronten des Krieges über eineinhalb Millionen junge Deutsche der Jahrgänge 1920 bis 1929, die das 19. Lebensjahr noch nicht erreicht hatten, ihr Leben ließen.
In diesem Buch schildern acht Betroffene ihre Erlebnisse als Kämpfer in «Hitlers vergessener Kinderarmee», in Gefangenschaft und in der Nachkriegszeit. Es ist die letzte, noch lebende und lange Zeit vergessene Generation von Kriegsteilnehmern, gedacht als Kanonenfutter und Auffüllreserve der Waffen-SS, die jetzt ihr Schweigen bricht.
Bemerkenswert ist, dass ausgerechnet jene Generation, die als «letzte Blutreserve» des Nazi-Reiches dem Untergang geweiht zu sein schien - die Jahrgänge 1928 und 1929 also -, später zu den maßgeblichen Trägern des deutschen Nachkriegsgeistes wurde. Walter Kempowski, Heiner Müller, Christa Wolf, Günter Gaus, Karlheinz Böhm, Hardy Krüger, Oswalt Kolle, der Entertainer Harald Juhnke, die Kirchentagsikone Dorothee Sölle, ja im erweiterten Sinne auch die Literaten Günter Grass und Martin Walser (beide Jahrgang 1927) - sie alle und noch mehr gehörten dieser «verlorenen Generation» an. Und prägten doch das vom Ungeist der NS-Ideologie sich befreiende Nachkriegsdeutschland maßgeblich.
Ein Schuh am Dorfteich
Auf Spurensuche in Tschechien und Österreich
Es gibt eine Region, da wirkt die Alpenrepublik Österreich so platt wie die Tafel eines riesigen Tisches. Das Weinviertel Niederösterreichs im nordöstlichen Winkel des Landes wird geprägt von den Niederungen der Flüsse Thaya, March, Donau und ähnelt über weite Strecken den waldlosen Tiefebenen der Magdeburger Börde oder Nordwestsachsens. Ihren Namen verdankt die Region der Tatsache, dass sich hier Mitteleuropas größtes Weinanbaugebiet befindet. Weniger bekannt sein dürfte, dass unter dem fruchtbaren Lössboden Mitteleuropas größte Erdölvorkommen schlummern, die hier seit der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts abgebaut werden.
Das Dreiländereck zwischen Tschechien, der Slowakei und Österreich ist eine von den Verkehrs-, Waren- und Touristenströmen bislang nur wenig frequentierte Region an der Peripherie der EU. In den 70er Jahren und im Schatten des Eisernen Vorhangs war es der vielleicht entlegenste Winkel der freien Welt. Gleich oberhalb der Kellergasse am Dorfrand der Grenzgemeinde Katzelsdorf begann der Ostblock - in Gestalt der mit Stacheldraht, beleuchteten Grenzstreifen und auf langen Holzbeinen thronenden Wachtürmen gesicherten Staatsgrenze zur damals kommunistisch regierten Tschechoslowakei. Kellergassen heißen Wege in den Dörfern des Weinviertels, in denen sich ein unterirdischer Weinkeller an den anderen reiht - für Ortsfremde sehen sie aus wie normale Wohnhäuser, auch wenn die kleinen Fensteröffnungen neben den Holztoren eher an Garageneinfahrten erinnern.
Für den hier aufgewachsenen Gerhard Hofmeister war hinter Katzelsdorf schlicht die Welt zu Ende. Das Land hinter dem Stacheldraht schien so fern und unerreichbar wie der Mond. Manchmal warfen die Buben Dinge über den «Eisernen Vorhang», die man nicht mehr brauchte - ein paar alte Schuhe, einen kaputten Fußball oder die Mütze des Jungen, der stets geärgert wurde. Doch vor solchen Streichen warnten die Erwachsenen im Dorf stets, denn hinter der Grenze, da herrschte eine unbekannte, etwas unheimliche, ganz sicher aber unberechenbare Macht, vor der selbst die Eltern einen mit Angst gemischten Respekt pflegten. Dafür konnten sich die Kinder sicher sein, dass die Dinge, die über den Grenzzaun flogen, auf Nimmerwiedersehen verschwanden, ihr irdisches Dasein sich de facto auflöste. Ab und zu wagten die Buben einen Blick in diese fremde Welt, mit dem Fernglas beobachteten sie die tschechischen Soldaten auf den Hochständen, die nur unwesentlich älter waren als sie selbst. Oder die tschechischen Bauern auf ihren rückständig aussehenden Traktoren, die ihre Felder bestellten. Als Mutprobe galt, ein paar Schritte hinter die Grenzpfähle in Richtung Zaun zu laufen - und schnell wieder zurück.
An einem milden Maitag des Jahres 1980 beobachtete der damals zwölfjährige Gerhard mit seinem zweieinhalb Jahre jüngeren Bruder Michael Arbeiter bei Ausschachtungsarbeiten an der «Lacke». Kleine Auffangteiche für das alljährliche Abfischen sollten so entstehen. Denn die «Lacke », das ist ein fußballfeldgroßer Dorfteich, der von einem zweiten ebenfalls fußballfeldgroßen Dorfteich nur durch einen schmalen Damm getrennt wird. Beim alljährlichen Abfischen im Herbst wird die «Lacke» durch Aufbrechen des Damms einfach abgelassen, die Fische können dann mit Köchern «geerntet» werden.
Als die Arbeiten in der Mittagszeit ruhten, spielten die Kinder in der freigelegten Grube - und stießen im morastigen Untergrund auf einen schwarzen Schuh, einem groben Arbeitsschuh ähnlich. Die Schuhspitze ragte etwas aus der Erde. Die Neugier packte sie, wer träumt in diesem Alter nicht von Schätzen, ungelösten Kriminalfällen, verschwiegenen Räuberverstecken?
Ein eiskalter Schauer bemächtigte sich ihrer, als sie die Schuhspitze nach oben klappten und sich ihnen ein Zehenknochen entgegenstreckte. Beim weiteren Graben stießen sie auf einen zweiten Schuh. Beim Versuch, diesen aus der Erde zu ziehen, entdeckten sie einen mächtigen Knochen, der im Schuh mündete, umhüllt von vermoderten, schmutzig grauen Stofffetzen. Viel Phantasie war nicht nötig, um sich auszumalen, dass es sich nur um menschliche Gebeine handeln konnte. Als Michael auf eine Schädeldecke stieß, gab es keinen Zweifel mehr daran, dass hier ein toter Mensch lag. Gerhard Hofmeister war sich in diesem Moment sicher, einem Kriminalfall auf die Spur gekommen zu sein. In seiner Phantasie sah er bereits die künftigen Schlagzeilen: «Mord in Katzelsdorf». Die Kinder fanden in unmittelbarer Umgebung der menschlichen Überreste einen schmutzigen, aber noch intakten Füller, eine Silbermünze im Wert von fünf Reichsmark aus dem Jahr 1940, darauf abgebildet die Potsdamer Garnisonkirche. Weiter eine verrostete Mundharmonika und eine blecherne Erkennungsmarke. Die damals neunjährige Hedwig Kreuzwegerer, die mit ihrem Fahrrad die Stelle passierte, erinnert sich auch an einen Goldzahn, der im Kiefer des Schädels steckte.
Sie alarmierten die Bauarbeiter. Und ab sofort ruhten die Baggerarbeiten. Die Kinder wurden umgehend von der Grabungsstelle ferngehalten. Katzelsdorf, die Gemeinde im Schatten des Eisernen Vorhangs an der Peripherie der freien Welt, hatte für Tage ein Dorfgespräch. Und ganz allmählich kehrten bei den älteren Katzelsdorfern die Erinnerungen an eine Zeit zurück, über die zuvor im Dorf wenig oder gar nicht gesprochen worden war. Die Spuren, auf die die Buben da gestoßen waren, führten über 35 Jahre in die letzten Tage des 2. Weltkriegs zurück. Denn das beschauliche Niederösterreich, das den Krieg bis zum April 1945 relativ unbeschadet im «toten Winkel» der großen europäischen Tragödie überstanden hatte, war damals für zwei Wochen zu einem heftig umkämpften Schauplatz im Todeskampf des untergehenden «Dritten Reiches» geworden.
Gepackt von Schauder und Neugier, begann Gerhard Hofmeister zu forschen. Denn das, was er mit seinem Fund angestoßen hatte, war nicht zu vergleichen mit dem langweiligen Pauken historischer Jahreszahlen im Geschichtsunterricht der Volksschule. Das war Geschichte, ausgeschmückt mit Geschichten, Schicksalen und Tragödien. Augenzeugen erzählten ihm, dass der junge Mann, dessen Gebeine die Jungen gefunden hatten, im April 1945, also kurz vor Ende des Krieges, in Katzelsdorf erschossen worden war. Mit einem Schuss in die Stirn, wie die Jungen anhand des Schädels bereits rekonstruiert hatten. Damals hatten in der Region heftige Kämpfe mit der Roten Armee getobt, die, mit großer Geschwindigkeit einer Feuerwalze gleich aus der südöstlich angrenzenden Slowakei kommend, Niederösterreich überrollte.
Es waren jedoch nicht Sowjetsoldaten, die das Leben dieses jungen Deutschen ausgelöscht hatten. Er war zusammen mit zwei weiteren Kameraden erschossen worden, weil er, die Sinnlosigkeit dieses Krieges vor Augen, auf seine innere Stimme gehört hatte. Und die hatte wohl einfach nur Heimweh und war kriegsmüde. Für die letzten Fanatiker in Hitlers Armee war dieser Mann ein Deserteur. Heute weiß Gerhard Hofmeister, dass der junge Mann, dessen Soldatenmarke sie am Hals fanden, Reinhold Götze hieß und aus Dresden stammte. Noch zu Zeiten der Teilung Europas nahm Hofmeister zu der in der damaligen DDR lebenden Witwe des erschossenen Soldaten Kontakt auf. Die alte Frau, die längst wieder verheiratet war, war gerührt, endlich über das Schicksal ihres als verschollen geltenden einstigen Lebensgefährten Auskunft zu erhalten. Erst jüngst hat Gerhard Hofmeister erfahren, dass ein weiterer der am Dorfteich erschossenen Soldaten Albrecht Manys hieß und am Tag seiner Hinrichtung 18 Jahre jung war.
Katzelsdorf, Anfang April 1945. Noch war es ruhig in Niederösterreich. Nur aus der Ferne, aus den Westkarpaten, die am östlichen Horizont das slowakische Kernland säumen, war ein tiefes Grollen zu hören, einem Gewitter ähnlich. Mit jedem Tag schwoll dieses Grollen an, gelegentlich unterbrochen von Stunden oder gar Tagen der Ruhe, bevor es umso heftiger wieder einsetzte und davon kündete, dass das unvermeidliche Ende des «1000-jährigen Reiches» bevorstand. Der Krieg sollte da nur noch einen Monat dauern. Am 7. April hatten die sowjetischen Truppen bei Hohenau, heute direkt im tschechisch-slowakisch-österreichischen Ländereck gelegen, die March überquert. Eine Woche später fiel Hohenau. Ein Triumph für die sowjetischen Strategen, denn vor ihnen lag das an Bergen und Wäldern arme Weinviertel, kaum ein natürliches Hindernis blockierte den Weg nach Wien, Prag oder Pilsen. Gleichzeitig eine schier unlösbare Aufgabe für die Verteidiger, die sich in dieser baum- und hügellosen Landschaft der sowjetischen Walze entgegenstellten. Es war die Zeit, in der sich der Hauptstoß der Roten Armee in Mitteleuropa von der Oder kommend auf Berlin konzentrierte. Hier in Niederösterreich, einem Nebenkriegsschauplatz, schickten die bereits arg dezimierten deutschen und verbündeten Verbände auch Kindersoldaten in die Schlacht, 15- bis 16-jährige Knaben, die man eben noch in Schnelllehrgängen im mährischen Bad Luhatschowitz das Einmaleins des Kriegshandwerks gelehrt hatte - schießen, ducken, laufen. Das hatte sie aber längst ...
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Kindersoldaten sind nach der Definition von UNICEF, Terre des hommes und Amnesty International «alle Kämpfer und deren Helfer, die unter 18 Jahre alt sind». Deutschland setzte im 2. Weltkrieg, besonders am Ende, massiv auf den Einsatz von Kindersoldaten. In ihrer Lage der militärischen Ausweglosigkeit war die NS-Führung bereit, die Jugend und damit Deutschlands Zukunft auf dem Schlachtfeld zu opfern.
Der deutsche Publizist Günter Gaus (und nicht der ehemalige Kanzler Helmut Kohl, der ihn in anderem Zusammenhang übernahm) prägte einst den schönen Satz von der «Gnade der späten Geburt». Und beschrieb damit das Glück seiner Generation, des Jahrgangs 1929, zu spät geboren zu sein, um noch im Dienste der NS-Herrscher im Krieg verheizt worden zu sein. Übersehen wurde dabei, dass diese Gnade nur einem Teil dieser Generation zuteil wurde. Denn schätzungsweise 60 000 Jugendliche im Alter zwischen 15 und 17 Jahren, der von 1927 bis 1929 geborenen Jungen also, fielen allein in den Kämpfen der letzten Kriegswochen. Überwiegend waren sie von Herbst 1944 bis Kriegsende Mai 1945 einberufen worden.
Die Militarisierung der Jüngsten begann im nationalsozialistischen Deutschland früh, wurde aber erst mit der Ausrufung des «totalen Krieges» nach der Niederlage von Stalingrad Anfang 1943 für die Jugend zum tödlichen Ernst. Bis zu 200 000 Jungen der Jahrgänge 1926 und 1927 - der damals 15- und 16-Jährigen also, später kam noch der Jahrgang 1928 hinzu - wurden im Reich als Luftwaffen- und Marinehelfer eingesetzt, einer früheren Idee des Reichsluftfahrtministeriums aus dem Jahr 1942 folgend. Vor allem als Luftwaffenhelfer (LWH) sollten sie die deutschen Städte vor den alliierten Bombenattacken schützen, weil die zuvor in den Fliegerabwehrstellungen dienenden Männer an der Front gebraucht wurden. Der Einsatz der Schüler und Teilzeit- Kanoniere erfolgte überwiegend in unmittelbarer Umgebung ihrer Schulstandorte oder Heimatorte, nur teilweise wurden sie kaserniert, überwiegend konnten sie zu Hause wohnen. Sie waren allerdings keine Soldaten, wurden auch nicht vereidigt, trugen aber Uniformen.
Doch schon bald wurden auch reguläre Verbände jugendlicher Kämpfer gebildet. Nach einer Idee des Reichsjugendführers Artur Axmann, der dem «Führer» zum Geburtstag eine militärische Einheit aus Hitlerjungen «schenken» wollte, wurde im Juli 1943 auf Freiwilligen- Basis die Panzerdivision «Hitlerjugend» aufgestellt. Anderen Quellen zufolge geht der Plan, eine nur aus Jugendlichen zusammengesetzte SS-Division zu bilden, auf eine Idee des SS-Gruppenführers Gottlob Berger zurück, die sein Chef, Reichsführer SS Heinrich Himmler, begeistert aufgriff. Dabei soll Himmler von Zustand und Motivation der deutschen Jugend gar nicht viel gehalten haben. In einem internen Schreiben an Martin Bormann, den Chef der Reichskanzlei, beschwerte sich Himmler über die «körperliche Verfassung» der Jugend, die «im Durchschnitt schlechter als vor dem Krieg» sei. Himmler: «Die körperliche und rassische Auslese ließ von vorne herein einen nicht unerheblichen Prozentsatz (40 Prozent) für die Werbung ausscheiden.»
Zudem machte es diese Generation, obwohl sie im Nationalsozialismus aufgewachsen, sozialisiert und durch ihn indoktriniert worden war, den Werbern schwer. So beklagte Himmler die «geistige Haltung (sei) schlecht. Unverkennbare Einflüsse durch das Elternhaus, Kirche usw. machen sich bemerkbar ...» So kam es immer wieder vor, dass «die Gemusterten weinten und sich andererseits freuten, wenn sie nicht kV (kriegsverwendungsfähig) geschrieben werden konnten.»
Die im Juli 1943 aus 16- bis 18-jährigen Hitlerjungen gebildete «Jugendarmee» wurde zunächst in Belgien stationiert und später in 12. SS-Panzer-Division «Hitlerjugend» umbenannt. Im Juni 1944 wurde die Division in Caen in der Normandie in ihre «Feuertaufe» geschickt. Die von den Alliierten «Babydivision» genannte Truppe erlitt schon nach kurzer Zeit mit 4000 Toten enorme Verluste. Als sie im Herbst 1944 kämpfend auf das Reichsgebiet zurückwich, hatte sich ihre Mannschaftsstärke bereits halbiert. Für den Historiker Peter Lieb war das der «am stärksten nationalsozialistisch indoktrinierte Verband der gesamten deutschen Streitkräfte».
Nach den schweren Verlusten des Jahres 1944 forcierte die NS-Führung die Bemühungen, den Jahrgang 1928, also die 16-Jährigen, für den Dienst in Waffen-SS und Wehrmacht zu gewinnen - immer noch auf der Basis von Freiwilligkeit. Doch der Druck auf die jungen Menschen war enorm, regelmäßig traten NSDAP-Funktionäre und Offiziere der Wehrmacht und der SS vor den Jugendlichen auf. Vor teilweise bizarrem Hintergrund: So berichtete Adolf Roos aus dem unterfränkischen Esselbach, in der Turnhalle der Kreisstadt Marktheidenfeld, in der sich der 15-Jährige im Juni 1944 anwerben ließ, habe ein überdimensionales Transparent mit folgendem Spruch gehangen: «Stalin jetzt wird's ranzig - es kommt der Jahrgang 28!» Ob durch solch plumpe Parolen oder durch den erhöhten Anwerbedruck - tatsächlich schaffte es die NS-Führung, dass sich bis Herbst 1944 70 Prozent des Jahrgangs 1928 freiwillig zum Kriegsdienst meldeten.
Am 25. September 1944 folgte der Erlass Hitlers zur Bildung des Volkssturms, das Prinzip Freiwilligkeit wurde aufgegeben. Die nunmehr 16-jährigen Jugendlichen des Jahrgangs 1928 galten ab sofort als «letzte Blutreserve», wie es in einem internen Schreiben der Partei-Kanzlei hieß. Ziel war es, aus diesem Jahrgang bis Ende März 1945 300 000 Kämpfer für Waffen-SS und Wehrmacht zu gewinnen. Hitler sagte am 8. Oktober 1944: «Die Jugend unserer nationalsozialistischen Bewegung hat an der Front und in der Heimat erfüllt, was die Nation von ihr erwartet. Vorbildlich haben eure Kriegsfreiwilligen in den Divisionen ‹Hitlerjugend›, ‹Großdeutschland›, in den Volksgrenadierdivisionen und als Einzelkämpfer in allen Wehrmachtsteilen ihre Treue, ihre Härte und ihren unerschütterlichen Siegeswillen durch die Tat bewiesen ...»
1945, das drohende Ende vor Augen, ging die NS-Führung noch einen Schritt weiter. Selbst die 14- und 15-Jährigen wurden bei HJ-Kampftrupps und den Panzerabwehr-Kommandos verheizt. In einem Aufruf des Reichsjugendführers Artur Axmann heißt es: «Ich weiß, dass der Jahrgang 1929 dem Jahrgang 1928 in seiner Entschlossenheit, für die Freiheit und eine glückliche Zukunft zu kämpfen, in nichts nachstehen wird. Der Feind steht in der Heimat und bedroht unmittelbar unser Leben. Bevor wir uns vernichten oder knechten lassen, wollen wir zäh und beharrlich bis zum endlichen Siege kämpfen.»
Anlässlich der Aufnahme des Geburtenjahrgangs 1935 in die Hitlerjugend erklärte Axmann am 26. März 1945: «Der Sinn der diesjährigen Verpflichtung liegt darin, die Jugend Adolf Hitlers muss das Zentrum des nationalen Widerstandes sein. Leidenschaftlich bekennt die Jugend, wir kapitulieren nie. Dieser Vernichtungskrieg lässt keine bürgerlichen Maßstäbe mehr zu ...» Mit der irrsinnigen Konsequenz, dass zwischen 1939 und 1945 an den Fronten des Krieges über eineinhalb Millionen junge Deutsche der Jahrgänge 1920 bis 1929, die das 19. Lebensjahr noch nicht erreicht hatten, ihr Leben ließen.
In diesem Buch schildern acht Betroffene ihre Erlebnisse als Kämpfer in «Hitlers vergessener Kinderarmee», in Gefangenschaft und in der Nachkriegszeit. Es ist die letzte, noch lebende und lange Zeit vergessene Generation von Kriegsteilnehmern, gedacht als Kanonenfutter und Auffüllreserve der Waffen-SS, die jetzt ihr Schweigen bricht.
Bemerkenswert ist, dass ausgerechnet jene Generation, die als «letzte Blutreserve» des Nazi-Reiches dem Untergang geweiht zu sein schien - die Jahrgänge 1928 und 1929 also -, später zu den maßgeblichen Trägern des deutschen Nachkriegsgeistes wurde. Walter Kempowski, Heiner Müller, Christa Wolf, Günter Gaus, Karlheinz Böhm, Hardy Krüger, Oswalt Kolle, der Entertainer Harald Juhnke, die Kirchentagsikone Dorothee Sölle, ja im erweiterten Sinne auch die Literaten Günter Grass und Martin Walser (beide Jahrgang 1927) - sie alle und noch mehr gehörten dieser «verlorenen Generation» an. Und prägten doch das vom Ungeist der NS-Ideologie sich befreiende Nachkriegsdeutschland maßgeblich.
Ein Schuh am Dorfteich
Auf Spurensuche in Tschechien und Österreich
Es gibt eine Region, da wirkt die Alpenrepublik Österreich so platt wie die Tafel eines riesigen Tisches. Das Weinviertel Niederösterreichs im nordöstlichen Winkel des Landes wird geprägt von den Niederungen der Flüsse Thaya, March, Donau und ähnelt über weite Strecken den waldlosen Tiefebenen der Magdeburger Börde oder Nordwestsachsens. Ihren Namen verdankt die Region der Tatsache, dass sich hier Mitteleuropas größtes Weinanbaugebiet befindet. Weniger bekannt sein dürfte, dass unter dem fruchtbaren Lössboden Mitteleuropas größte Erdölvorkommen schlummern, die hier seit der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts abgebaut werden.
Das Dreiländereck zwischen Tschechien, der Slowakei und Österreich ist eine von den Verkehrs-, Waren- und Touristenströmen bislang nur wenig frequentierte Region an der Peripherie der EU. In den 70er Jahren und im Schatten des Eisernen Vorhangs war es der vielleicht entlegenste Winkel der freien Welt. Gleich oberhalb der Kellergasse am Dorfrand der Grenzgemeinde Katzelsdorf begann der Ostblock - in Gestalt der mit Stacheldraht, beleuchteten Grenzstreifen und auf langen Holzbeinen thronenden Wachtürmen gesicherten Staatsgrenze zur damals kommunistisch regierten Tschechoslowakei. Kellergassen heißen Wege in den Dörfern des Weinviertels, in denen sich ein unterirdischer Weinkeller an den anderen reiht - für Ortsfremde sehen sie aus wie normale Wohnhäuser, auch wenn die kleinen Fensteröffnungen neben den Holztoren eher an Garageneinfahrten erinnern.
Für den hier aufgewachsenen Gerhard Hofmeister war hinter Katzelsdorf schlicht die Welt zu Ende. Das Land hinter dem Stacheldraht schien so fern und unerreichbar wie der Mond. Manchmal warfen die Buben Dinge über den «Eisernen Vorhang», die man nicht mehr brauchte - ein paar alte Schuhe, einen kaputten Fußball oder die Mütze des Jungen, der stets geärgert wurde. Doch vor solchen Streichen warnten die Erwachsenen im Dorf stets, denn hinter der Grenze, da herrschte eine unbekannte, etwas unheimliche, ganz sicher aber unberechenbare Macht, vor der selbst die Eltern einen mit Angst gemischten Respekt pflegten. Dafür konnten sich die Kinder sicher sein, dass die Dinge, die über den Grenzzaun flogen, auf Nimmerwiedersehen verschwanden, ihr irdisches Dasein sich de facto auflöste. Ab und zu wagten die Buben einen Blick in diese fremde Welt, mit dem Fernglas beobachteten sie die tschechischen Soldaten auf den Hochständen, die nur unwesentlich älter waren als sie selbst. Oder die tschechischen Bauern auf ihren rückständig aussehenden Traktoren, die ihre Felder bestellten. Als Mutprobe galt, ein paar Schritte hinter die Grenzpfähle in Richtung Zaun zu laufen - und schnell wieder zurück.
An einem milden Maitag des Jahres 1980 beobachtete der damals zwölfjährige Gerhard mit seinem zweieinhalb Jahre jüngeren Bruder Michael Arbeiter bei Ausschachtungsarbeiten an der «Lacke». Kleine Auffangteiche für das alljährliche Abfischen sollten so entstehen. Denn die «Lacke », das ist ein fußballfeldgroßer Dorfteich, der von einem zweiten ebenfalls fußballfeldgroßen Dorfteich nur durch einen schmalen Damm getrennt wird. Beim alljährlichen Abfischen im Herbst wird die «Lacke» durch Aufbrechen des Damms einfach abgelassen, die Fische können dann mit Köchern «geerntet» werden.
Als die Arbeiten in der Mittagszeit ruhten, spielten die Kinder in der freigelegten Grube - und stießen im morastigen Untergrund auf einen schwarzen Schuh, einem groben Arbeitsschuh ähnlich. Die Schuhspitze ragte etwas aus der Erde. Die Neugier packte sie, wer träumt in diesem Alter nicht von Schätzen, ungelösten Kriminalfällen, verschwiegenen Räuberverstecken?
Ein eiskalter Schauer bemächtigte sich ihrer, als sie die Schuhspitze nach oben klappten und sich ihnen ein Zehenknochen entgegenstreckte. Beim weiteren Graben stießen sie auf einen zweiten Schuh. Beim Versuch, diesen aus der Erde zu ziehen, entdeckten sie einen mächtigen Knochen, der im Schuh mündete, umhüllt von vermoderten, schmutzig grauen Stofffetzen. Viel Phantasie war nicht nötig, um sich auszumalen, dass es sich nur um menschliche Gebeine handeln konnte. Als Michael auf eine Schädeldecke stieß, gab es keinen Zweifel mehr daran, dass hier ein toter Mensch lag. Gerhard Hofmeister war sich in diesem Moment sicher, einem Kriminalfall auf die Spur gekommen zu sein. In seiner Phantasie sah er bereits die künftigen Schlagzeilen: «Mord in Katzelsdorf». Die Kinder fanden in unmittelbarer Umgebung der menschlichen Überreste einen schmutzigen, aber noch intakten Füller, eine Silbermünze im Wert von fünf Reichsmark aus dem Jahr 1940, darauf abgebildet die Potsdamer Garnisonkirche. Weiter eine verrostete Mundharmonika und eine blecherne Erkennungsmarke. Die damals neunjährige Hedwig Kreuzwegerer, die mit ihrem Fahrrad die Stelle passierte, erinnert sich auch an einen Goldzahn, der im Kiefer des Schädels steckte.
Sie alarmierten die Bauarbeiter. Und ab sofort ruhten die Baggerarbeiten. Die Kinder wurden umgehend von der Grabungsstelle ferngehalten. Katzelsdorf, die Gemeinde im Schatten des Eisernen Vorhangs an der Peripherie der freien Welt, hatte für Tage ein Dorfgespräch. Und ganz allmählich kehrten bei den älteren Katzelsdorfern die Erinnerungen an eine Zeit zurück, über die zuvor im Dorf wenig oder gar nicht gesprochen worden war. Die Spuren, auf die die Buben da gestoßen waren, führten über 35 Jahre in die letzten Tage des 2. Weltkriegs zurück. Denn das beschauliche Niederösterreich, das den Krieg bis zum April 1945 relativ unbeschadet im «toten Winkel» der großen europäischen Tragödie überstanden hatte, war damals für zwei Wochen zu einem heftig umkämpften Schauplatz im Todeskampf des untergehenden «Dritten Reiches» geworden.
Gepackt von Schauder und Neugier, begann Gerhard Hofmeister zu forschen. Denn das, was er mit seinem Fund angestoßen hatte, war nicht zu vergleichen mit dem langweiligen Pauken historischer Jahreszahlen im Geschichtsunterricht der Volksschule. Das war Geschichte, ausgeschmückt mit Geschichten, Schicksalen und Tragödien. Augenzeugen erzählten ihm, dass der junge Mann, dessen Gebeine die Jungen gefunden hatten, im April 1945, also kurz vor Ende des Krieges, in Katzelsdorf erschossen worden war. Mit einem Schuss in die Stirn, wie die Jungen anhand des Schädels bereits rekonstruiert hatten. Damals hatten in der Region heftige Kämpfe mit der Roten Armee getobt, die, mit großer Geschwindigkeit einer Feuerwalze gleich aus der südöstlich angrenzenden Slowakei kommend, Niederösterreich überrollte.
Es waren jedoch nicht Sowjetsoldaten, die das Leben dieses jungen Deutschen ausgelöscht hatten. Er war zusammen mit zwei weiteren Kameraden erschossen worden, weil er, die Sinnlosigkeit dieses Krieges vor Augen, auf seine innere Stimme gehört hatte. Und die hatte wohl einfach nur Heimweh und war kriegsmüde. Für die letzten Fanatiker in Hitlers Armee war dieser Mann ein Deserteur. Heute weiß Gerhard Hofmeister, dass der junge Mann, dessen Soldatenmarke sie am Hals fanden, Reinhold Götze hieß und aus Dresden stammte. Noch zu Zeiten der Teilung Europas nahm Hofmeister zu der in der damaligen DDR lebenden Witwe des erschossenen Soldaten Kontakt auf. Die alte Frau, die längst wieder verheiratet war, war gerührt, endlich über das Schicksal ihres als verschollen geltenden einstigen Lebensgefährten Auskunft zu erhalten. Erst jüngst hat Gerhard Hofmeister erfahren, dass ein weiterer der am Dorfteich erschossenen Soldaten Albrecht Manys hieß und am Tag seiner Hinrichtung 18 Jahre jung war.
Katzelsdorf, Anfang April 1945. Noch war es ruhig in Niederösterreich. Nur aus der Ferne, aus den Westkarpaten, die am östlichen Horizont das slowakische Kernland säumen, war ein tiefes Grollen zu hören, einem Gewitter ähnlich. Mit jedem Tag schwoll dieses Grollen an, gelegentlich unterbrochen von Stunden oder gar Tagen der Ruhe, bevor es umso heftiger wieder einsetzte und davon kündete, dass das unvermeidliche Ende des «1000-jährigen Reiches» bevorstand. Der Krieg sollte da nur noch einen Monat dauern. Am 7. April hatten die sowjetischen Truppen bei Hohenau, heute direkt im tschechisch-slowakisch-österreichischen Ländereck gelegen, die March überquert. Eine Woche später fiel Hohenau. Ein Triumph für die sowjetischen Strategen, denn vor ihnen lag das an Bergen und Wäldern arme Weinviertel, kaum ein natürliches Hindernis blockierte den Weg nach Wien, Prag oder Pilsen. Gleichzeitig eine schier unlösbare Aufgabe für die Verteidiger, die sich in dieser baum- und hügellosen Landschaft der sowjetischen Walze entgegenstellten. Es war die Zeit, in der sich der Hauptstoß der Roten Armee in Mitteleuropa von der Oder kommend auf Berlin konzentrierte. Hier in Niederösterreich, einem Nebenkriegsschauplatz, schickten die bereits arg dezimierten deutschen und verbündeten Verbände auch Kindersoldaten in die Schlacht, 15- bis 16-jährige Knaben, die man eben noch in Schnelllehrgängen im mährischen Bad Luhatschowitz das Einmaleins des Kriegshandwerks gelehrt hatte - schießen, ducken, laufen. Das hatte sie aber längst ...
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Autoren-Porträt von Harald Stutte, Günter Lucks
Harald Stutte, Jahrgang 1964, studierte Politikwissenschaft und Geschichte. Er arbeitet als Redakteur im Medienverlag RedaktionsNetzwerk Deutschland. Texte von ihm sind in diversen überregionalen Zeitungen wie der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", der "Süddeutschen Zeitung" oder der "Welt am Sonntag" erschienen. Geboren in Leipzig, lebt er seit 1985 in Hamburg. Günter Lucks, Jahrgang 1928, war nach der Ausbildung bis 1955 bei der Post tätig. Danach arbeitete er im graphischen Gewerbe, ab 1962 bis zur Rente im Axel Springer Verlag. Dort war er lange Jahre Betriebsrat. Eine Einladung der Bundeswehr in Gründung, ihr als Offizier beizutreten, hatte er abgelehnt. Er lebte in Hamburg, wo er im Dezember 2022 starb.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Harald Stutte , Günter Lucks
- 2014, Neuauflage, Nachdruck, 288 Seiten, 16 Schwarz-Weiß-Abbildungen, mit Abbildungen, Maße: 12,4 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499630257
- ISBN-13: 9783499630255
- Erscheinungsdatum: 23.01.2014
Rezension zu „Hitlers vergessene Kinderarmee “
Sorgfältig, spannend und sachlich erzählt und historisch gut recherchiert. Welt am Sonntag
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