Teufelshorn / Holzhammer ermittelt Bd.2
Ein Alpen-Krimi. Originalausgabe
Schwerer Unfall bei der Bergtour: ein Funktionär des Skiverbandes kommt zu Tode. Besonders brisant: bei der Tour sollte unter den Teilnehmern – allesamt Lokalgrößen – ein Streit beigelegt werden. War es gar kein Unfall? Hauptwachtmeister Holzhammer ermittelt.
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Produktinformationen zu „Teufelshorn / Holzhammer ermittelt Bd.2 “
Schwerer Unfall bei der Bergtour: ein Funktionär des Skiverbandes kommt zu Tode. Besonders brisant: bei der Tour sollte unter den Teilnehmern – allesamt Lokalgrößen – ein Streit beigelegt werden. War es gar kein Unfall? Hauptwachtmeister Holzhammer ermittelt.
Klappentext zu „Teufelshorn / Holzhammer ermittelt Bd.2 “
Auf Berg- und Talfahrt mit Hauptwachtmeister HolzhammerBei einer Bergtour am Teufelshorn verunglückt ein Funktionär des örtlichen Ski-Verbands tödlich. Abgründe tun sich auf, denn die Teilnehmer, allesamt Lokalgrößen, wollten auf der Wanderung einen Streit beilegen: Der Verband plant, von seinem Trainingsgebiet am Götschen zum Jenner zu wechseln - eine Entscheidung von kommunalpolitischer Sprengkraft, die manch einen die Karriere kosten dürfte. Und so kommt schnell der Verdacht auf, dass es sich um Mord handeln könnte. Zeit für Hauptwachtmeister Franz Holzhammer, die Ermittlungen aufzunehmen!
Auf Berg- und Talfahrt mit Hauptwachtmeister Holzhammer!
Bei einer Bergtour am Teufelshorn verunglückt ein Funktionär des örtlichen Ski-Verbands tödlich. Abgründe tun sich auf, denn die Teilnehmer, allesamt Lokalgrößen, wollten auf der Wanderung einen Streit beilegen: Der Verband plant, von seinem Trainingsgebiet am Götschen zum Jenner zu wechseln - eine Entscheidung von kommunalpolitischer Sprengkraft, die manch einen die Karriere kosten dürfte. Und so kommt schnell der Verdacht auf, dass es sich um Mord handeln könnte. Zeit für Hauptwachtmeister Franz Holzhammer, die Ermittlungen aufzunehmen!
Bei einer Bergtour am Teufelshorn verunglückt ein Funktionär des örtlichen Ski-Verbands tödlich. Abgründe tun sich auf, denn die Teilnehmer, allesamt Lokalgrößen, wollten auf der Wanderung einen Streit beilegen: Der Verband plant, von seinem Trainingsgebiet am Götschen zum Jenner zu wechseln - eine Entscheidung von kommunalpolitischer Sprengkraft, die manch einen die Karriere kosten dürfte. Und so kommt schnell der Verdacht auf, dass es sich um Mord handeln könnte. Zeit für Hauptwachtmeister Franz Holzhammer, die Ermittlungen aufzunehmen!
Lese-Probe zu „Teufelshorn / Holzhammer ermittelt Bd.2 “
Teufelshorn von Fredrika Gers 1
Kurz nach dem Steilaufschwung betrug die Sicht vielleicht noch 10 Meter. Nur Max konnte den großen alten Steinbock sehen, der mitten auf dem Weg stand und ihn aus diesen rätselhaften hellen Augen mit den länglichen Pupillen ruhig ansah. Das Tier wog gut doppelt so viel wie er und machte keine Anstalten, zur Seite zu gehen. Hinter Max gab es einen Stau.
Die achtköpfige Gruppe war am frühen Morgen bei Sonnenschein von der Wasseralm aufgebrochen. Da hatten sie auf der anderen Seite des Königssees noch den Watzmann im Morgenrot aufragen sehen. Später hatte sich der herbstliche Tau in den Tälern erwärmt und war dampfend zu ihnen aufgestiegen. Inzwischen hüllte dichter Nebel die Teufelshörner ein wie Schlagsahne ein Stück Zwetschgendatschi.
Vom See aus hätte man diese Schicht als Wolken bezeichnet. Wer mittendrin war, sprach immer von Nebel. Oder man sprach gar nicht, sondern konzentrierte sich darauf, die roten Punkte und spärlichen Steindauben, die den Weg markierten, nicht aus den Augen zu verlieren.
Doch über die Wegfindung machten diese Bergsteiger sich am allerwenigsten Sorgen, denn an ihrer Spitze ging Max Saumtrager, ein versierter Gebietskenner. Trotzdem wurde wenig gesprochen beim Aufstieg. Obwohl die Gruppe bei diesen wenig einladenden Verhältnissen unterwegs war, handelte es sich nämlich keineswegs um eine freundschaftlich verbundene Bergsportgemeinschaft. Im Gegenteil: Hier waren zwei feindliche Lager unterwegs - mindestens. Und dann gab es vielleicht auch noch den einen oder die andere, für den die Überschreitung der Teufelshörner eben doch kein Spaziergang war.
... mehr
Tatsächlich war die ganze Tour als eine Art Konklave gedacht. Der gestrige Abend auf der Hütte hatte dazu dienen sollen, sich auszusprechen und eine für alle akzeptable Regelung zu finden. Doch dann waren die Fetzen geflogen. Die beiden Seilbahnbetreiber waren sich fast an die Gurgel gegangen und hatten von ihren jeweiligen Bürgermeistern getrennt werden müssen. Über diese Szene würde man sich später allerdings ausschweigen.
«Was ist los?», rief eine Männerstimme. In der wassergesättigten Luft klang es dumpf und fern.
«Stoabock. Steht direkt vor mir!», rief Max zurück. Nur rund 3 Meter trennten ihn von dem beeindruckenden Gehörn des selbstbewussten Vierbeiners. Näher heran würde er auf keinen Fall gehen, und den Weg zu verlassen war in diesem Nebel auch keine Option.
«Sag eam, parken verboten», rief jemand von ganz hinten, wahrscheinlich der langjährige Bürgermeister von Schönau am Königssee. Er war nicht mehr der Jüngste und bildete daher den Schluss. Dies war einer der wenigen Punkte, die man später mit Sicherheit würde feststellen können.
Erstaunlicherweise schritt der Steinbock nach dieser amtlichen Anweisung unwillig ein paar Meter zur Seite. Die Gruppe konnte passieren und erreichte wenige Minuten später den Gipfel des Großen Teufelshorns. Der spitzte tatsächlich ein paar Meter durch die Wolken, und sie genossen die umfassende Aussicht. Es sah sogar aus, als würde der Nebel sich noch weiter zurückziehen. Fast konnte man schon drüben den niedrigeren Gipfel des Kleinen Teufelshorns erahnen. Doch zunächst ging es auf Schrofen und losem Schutt hinab in den Sattel zwischen den Hörnern und damit zurück in den Nebel. Genau auf diesem Flachstück ballte sich besonders dicke Watte. Niemand würde später sagen können, in welcher Reihenfolge sie den Sattel durchquert hatten. Man achtete zwar darauf, den Vordermann nicht zu verlieren - aber wer das nun war ...
Die schwierigsten Stellen kamen erst auf der anderen Seite, beim Aufstieg auf das zweite, das Kleine Teufelshorn. Man musste sich etwas rechts halten und durch eine steile Rinne hinauf. Hier ließ Max zwei geübte Teilnehmer vorgehen, den anderen würde er bei Bedarf etwas Hilfestellung leisten. Während er zusah, wie die beiden Einheimischen in der Rinne nach oben verschwanden, hörte er mit halbem Ohr hinter sich Steine poltern. Möglicherweise auch gezischte Wortfetzen, einen kurzen Aufschrei? Da wollte er sich später nicht festlegen.
Hauptwachtmeister Franz Holzhammer saß stillvergnügt auf der Veranda seiner Gartenhütte, die er im letzten Jahr endlich fertig gebaut hatte. Auf dem Tisch vor ihm befanden sich ein Thinkpad mit 17-Zoll-Bildschirm sowie ein Weißbier. Nicht nur die Anwesenheit dieser beiden Gegenstände trug zu seinem Seelenfrieden bei, sondern auch gewisse Abwesenheiten - insbesondere die seiner lieben Frau Marie, die mit der katholischen Frauengruppe irgendwo Wohltätigkeit verbreitete. Sie würde erst am Nachmittag zurück sein, bis dahin vollkommene Ruhe herrschen. Später erwarteten sie Sohn Andi und Tochter Heidrun zu Kaffee und Kuchen. Beide waren schon erwachsen, immerhin zählte Holzhammer inzwischen siebenundvierzig Lenze. Familie war ja ganz wunderbar, aber aus diesen ruhigen Momenten schöpfte Franz Holzhammer Kraft für das Zusammensein mit den Liebsten. Und für die Arbeit.
Die Hütte, die er im letzten Jahr mit Andi zusammen gebaut hatte, war sein Ein und Alles. Die Nachbarn und auch seine Frau sagten Saufhütte dazu, aber für ihn war die Holzkonstruktion einfach ein Ort des Friedens. Nur die Sitzgelegenheit ließ noch zu wünschen übrig. Der Gartenstuhl, den er von der Terrasse vor dem Wohnzimmer entführt hatte, war etwas zu hoch für seine 1,65 Meter, um wirklich bequem zu sein. Die Sitzfläche hingegen war zu schmal. Deshalb hatte er vor einigen Tagen eine bequeme Saunaliege im Internet bestellt. Aber die war noch nicht da.
Holzhammer hörte ein Brummen, und dann flog auch schon der rote Hubschrauber über das friedliche Gartenhüttenidyll hinweg. «Da ist etwas passiert», sagte er zu seinem Weißbier. Mehr Gedanken machte er sich nicht, schließlich flog der Hubschrauber in der Hauptsaison fast täglich. Außerdem beanspruchte das Schachspiel auf seinem Computer seine ganze Aufmerksamkeit. Er duellierte sich mit einem recht versierten Ami, der soeben seine Dame bedrohte. Das Spiel zog sich schon ziemlich lange hin, auf beiden Seiten wurde erbittert gekämpft - doch dann war Holzhammer schachmatt. Das machte ihm nichts aus, er spielte ja, um seine grauen Zellen auf Trab zu halten - nicht um des Sieges willen. Fair gratulierte er dem amerikanischen Rentner im sonnigen Florida. Englisch war auch kein Problem, schließlich hatten die Amis bis vor ein paar Jahren auf dem Obersalzberg gesessen. Und im Hotel Berchtesgadener Hof, das sie in General Walker umgetauft hatten. Jeder ältere Berchtesgadener konnte sich daher auf Englisch zumindest halbwegs verständigen. Theoretisch. Denn nicht jeder machte freiwillig davon Gebrauch.
Holzhammer betrachtete den Garten und beschloss, vor der Rückkehr beziehungsweise Ankunft seiner Familie noch schnell das Gras zu mähen. Bei dem Gedanken blitzten seine Augen, denn seit ein paar Wochen machte ihm das einen Riesenspaß: Der Rasen war neuerdings perfekt gepflegt, was allein sein Verdienst war - nur eben auf eine etwas andere Weise, als seine Frau sich das wohl ausmalte.
Ein Technikfreak wie er quälte sich heutzutage nicht mehr stundenlang mit einer laut ratternden Maschine kreuz und quer über den Rasen, um die Halme zu kürzen. An einem ruhigen dienstfreien Vormittag, während Marie ihren geliebten Dienst im Supermarkt tat - mit vielen netten Gesprächen an der Kasse - , hatte er einen feinen Draht rund um den Rasen verlegt und sorgfältig mit einigen Zentimetern Erde bedeckt. Und dann hatte er den kleinen runden Mähroboter zum ersten Mal laufen lassen. Das Ding funktionierte prima, man durfte das Gras nur nicht zu hoch werden lassen. Und es brauchte auch ein bisschen länger, da es nicht so systematisch vorging wie sein menschlicher Besitzer, sondern manchmal ziemlich depperte Routen einschlug.
Daher beaufsichtigte Holzhammer seinen kleinen Freund bei einem Weißbier und zeigte ihm von Zeit zu Zeit geduldig die Ecken, die er noch nicht gefunden hatte. Und bevor seine umtriebige Frau zurückkehrte, sammelte Holzhammer sein Helferlein wieder ein, stöpselte es sorgsam an die Ladestation in der Hütte und schob einen großen Korb mit Holzscheiten davor. Gut, es war ein bisschen kindisch, und irgendwann würde er Marie wohl einweihen müssen. Aber im Moment bereitete es ihm noch allzu sehr das stille Vergnügen, sich auf diese Weise ein Alibi zu verschaffen. Wenn Marie fragte, was er denn so gemacht habe, während sie am Wochenende in Angelegenheiten wichtiger Wohltätigkeit unterwegs war, dann brauchte er nur auf das frisch gemähte Gras zu zeigen.
Holzhammer holte also seinen kleinen Freund aus der Hütte und setzte ihn liebevoll auf den Rasen. Doch er kam nicht dazu, ihn loslaufen zu lassen, denn das Handy klingelte: Dr. Klaus Fischer. Sein ungeliebter Chef. Damit hatte sich der ruhige Samstag definitiv erledigt.
«Ich weiß wirklich nicht, warum wir heute unbedingt auf den Grünstein müssen», maulte Matthias.
«Weil er da ist», antwortete Christine mit einem leichten Grinsen. Das hatte Edmund Hillary auf die Frage hin gesagt, warum er als erster Mensch den Mount Everest besteigen wolle. Der Grünstein maß allerdings nur 1304 Meter, weshalb die überwiegende Mehrheit der Touristen ihn ohne künstlichen Sauerstoff anging.
Matthias war kein großer Wanderer, obwohl er in Berchtesgaden aufgewachsen war. Christine, die erst seit einem Jahr hier lebte und eigentlich ein echtes Nordlicht war, hatte in dieser Zeit mehr Gipfel erklommen als Matthias in den letzten zwanzig Jahren. Bereits fertig angezogen, stand sie in ärmelloser Bluse und leichter Berghose im Wohnzimmer. Sie wusste, dass ihr Hintern in der elastischen Hose gut zur Geltung kam und Matthias solchen Reizen nicht abgeneigt war - ein kleiner Ansporn zumindest. Ihre widerspenstigen Haare hatte sie mit einem Baumwolltuch gebändigt, sodass sie fast schon wie eine Einheimische aussah. Außerdem war der Grünstein ihrer beider Hausberg. Und trotz des Maulens ging Matthias natürlich mit.
In seiner Jugend hatte er den Grünstein zeitweise täglich bestiegen. Zu Trainingszwecken, zusammen mit einem Fußballspezi. Aber mit dem Training war es schon lange vorbei, auf seine 1,94 Meter verteilten sich inzwischen über 95 Kilo. Warum sollte er auf einen Berg gehen, auf dem nichts wartete außer der Aussicht, wieder hinuntergehen zu müssen? Da sah er überhaupt keinen Grund. Und auch an diesem schönen Samstag Ende September lief wieder mal die Sportschau im Fernseher. Aber schließlich liebte er Christine. Jeden Zentimeter ihrer zierlichen Figur, von den fusseligen Haaren bis zu den Füßchen Größe 36. Ihr entscheidendes Argument war jedoch gewesen, dass die Grünsteinhütte noch geöffnet hatte.
Anderthalb Stunden später saßen sie auf der Bank neben dem Gipfelkreuz und blickten auf ein 360-Grad-Panorama, das vom Hohen Göll über den Jenner mit der Seilbahn bis zum Kahlersberg reichte und vom Watzmann über den Hochkalter bis zur Reiteralm. Viele der umliegenden Berge hatte Christine im letzten Jahr bestiegen und sich stolz ins Gipfelbuch eingetragen. Der ein oder andere stand noch auf ihrer Wunschliste. Sie fasste die Gipfel nacheinander ins Auge und versuchte, sich an die genaue Höhe zu erinnern. Als Ärztin und Liebhaberin der Naturwissenschaften war sie ein Fan exakter Angaben. Nicht umsonst hieß sie mit vollem Namen Dr. Dr. Christine Müller-Halberstadt.
Das Kalkgestein, das in den Berchtesgadener Bergen vorherrschend war, hieß mit vollem Namen Ramsaudolomit. Und es hieß tatsächlich nach der Gemeinde Ramsau im inneren Landkreis. Ein Gestein aus lauter einzelnen Trümmern, die mehr oder weniger fest zusammenklebten. An der Oberfläche meist weniger, denn seit Jahrtausenden beschäftigten sich Regen und Frost damit, das Ganze wieder in seine Bestandteile aufzulösen. Mit einigem Erfolg, wie man zum Beispiel an der 300 Meter dicken Schuttschicht im Wimbachgries sehen konnte. Eines fernen Tages würde der Watzmann in Trümmern liegen - wie vor einem Jahr Christines Ehe. Die war brüchig geworden, ohne dass sie es gemerkt hatte.
Christine machte Fotos, teils von der Landschaft, teils von den Touristen. Interessant war vor allem, in welch unterschiedlicher Verfassung die bunt gekleideten Trendsportler den Grünstein-Klettersteig verließen, der aus Richtung Königssee heraufkam und direkt auf dem Gipfel endete. Einige glücklich schwitzend, andere völlig ausgepumpt und froh, es hinter sich zu haben. Sie selbst waren auf dem Normalweg von Hinterbrand aufgestiegen.
«So ein schöner Tag, bist du nicht froh, dass du mitgekommen bist?», fragte Christine.
«Ja, sehr schön», sagte Matthias, ohne eine Miene zu verziehen. Er stand auf und griff nach seinen Stöcken.
Christine war klar, was das bedeutete: Als Buddhist hatte Matthias zwar mehrere Leben und insofern alle Zeit der Welt - aber jetzt hatte er vor allem eins, nämlich Durst.
In diesem Moment war ein Knattern zu vernehmen, und die Touristen wandten die Köpfe. Auf der Bank nebenan fiel eine Flasche Sprudel um, Apfelschorle düngte den Boden. Dann sah man auch schon aus Richtung Berchtesgaden den roten Rettungshubschrauber Christoph 14 anfliegen, der im Tal bestens bekannt war. Er hielt auf den glitzernden Königssee zu und überflog ihn, ständig höher steigend, in ganzer Länge. Dann verschwand er nach links hinter den Abbrüchen des Feuerpalvens.
«Da ist etwas passiert», sagte Christine automatisch. Den Satz sagten ihre Patienten immer, wenn der rote Hubschrauber von den Panoramafenstern der Reha-Klinik aus zu sehen war.
«Hoffentlich hat es nicht unsere geballte Prominenz getroffen », meinte Matthias.
«Was für Prominenz?»
«Heute ist doch das Wochenende, an dem sie sich am Berg zusammenraufen wollen. Die Großkopferten von Bischofswiesen und der Schönau. Sie sind zur Wasseralm - alle, die mit dem Götschen und dem Jenner zu tun haben, und wahrscheinlich noch ein paar weitere Wichtigtuer dazu. Und der Chef vom DSV-Stützpunkt natürlich.»
«Und worum geht's da?», fragte Christine. Sie kannte die Wasseralm. Es war die wohl urigste Hütte in den Berchtesgadenern. Als sie im Sommer oben gewesen war, hatte der Wirt sie in die gesamte Komfortausstattung eingewiesen: «Der Wellnessbereich ist dahinten», hatte er gesagt und dabei auf die Wiese am Bach gezeigt.
«Es geht darum, dass der Skiverband vom Götschen zum Jenner umziehen will, weil es da bessere Trainingsmöglichkeiten gibt», erklärte Matthias. «Beziehungsweise weil die Bischofswieser nicht mitziehen, was den Ausbau betrifft. Und die Schönauer sind natürlich ganz heiß drauf. Du kennst ja den Hias.» Der Hias war Matthias' Cousin. Und Bürgermeister der Schönau.
«Ja, der tut wirklich viel für die Gemeinde, oder? Er scheint auch ziemlich beliebt zu sein.»
«Schon, sonst hätten sie ihn wohl nicht schon zum vierten Mal wiedergewählt. Er setzt sich wirklich ein. Mal fährt er wegen der Olympiade nach Kanada, dann wieder wegen dem Pfarrer nach Polen. Kennst du die Story? Die hatten doch so einen beliebten polnischen Pfarrer in der Schönau. Und irgendwann wollten die Polen den wiederhaben. Da hat der Hias den halben Gemeinderat ins Auto gepackt, und sie sind ab nach Kattowitz, um mit dem Bischof zu reden. Natürlich hatten sie Berchtesgadener Tracht dabei, ist ja Ehrensache. Aber zum Bischof rein sind sie in zivil. Und während sie dadrinnen um den Pfarrer verhandelten, wurde ihnen draußen die Tracht aus dem Auto geklaut. Gamsbart, Lederhose, graublaue Joppe, alles. Ihre Mission war erfolgreich. Aber den Spott nach ihrer Rückkehr kannst du dir vorstellen.»
Die Grünsteinhütte stand auf einem terrassenartigen Flachstück, 80 Höhenmeter unter dem Gipfel. Zum Königssee hin brach das Gelände abrupt ab. Eine einfache Holzbrüstung schützte die Gäste vor dem Absturz. Die zehn Biertische waren fast komplett besetzt. Der Schweiß, der beim Bergsteigen floss, musste durch isotonische Flüssigkeit in Form von Weißbier ersetzt werden.
Genau das machte für Christine die Faszination des Bergsteigens aus: nicht das Weißbier, sondern dass man sich die Belohnung so hart erarbeiten musste. Ein Bergsteiger vergoss an einem Tag mehr salzigen Schweiß als ein Modelleisenbahner in einem Jahr. Vor allem aber floss der Schweiß nicht allein aufgrund der Anstrengung. Es war meist auch ein gewisses Maß an Nervenkitzel dabei, das sich je nach persönlicher Vorliebe beliebig steigern ließ.
Für Christine barg ein einziger Bergtag den geistigen Erholungswert eines dreiwöchigen Urlaubs am Strand. Es gab ihr unendlich viel, Murmeltiere beim Spielen zu beobachten oder im trockenen Mattenrasen ein Edelweiß zu entdecken. Dabei vergaß sie allen Ärger, der im Tal wartete - die langwierigen Berichte, die sie zu schreiben hatte, schwierige Patienten und den immer wieder aufflammenden Ärger mit der Klinikleitung.
Noch vor zwei Jahren hatte sie die alten Bergfilme mit Luis Trenker nur als Lachnummern betrachtet, den klassischen Spruch «auffi muas i!» als Heimatromantik abgetan. Doch inzwischen wusste sie genau, was jeder Bergsteiger damit meinte. Und was auch Edmund Hillary gemeint hatte, als er sagte, er wolle auf den Everest, «weil er da ist». Und manchmal war sie traurig, dass sie dieses Hobby erst so spät entdeckt hatte. Christine beneidete die jungen Einheimischen, die mit den Bergen aufgewachsen waren. Oft wurde sie von munter plaudernden Mädels überholt, in einem Tempo, bei dem sie selbst keinen zusammenhängenden Satz mehr herausgebracht hätte. So fit würde sie nie werden, mit über vierzig war sie da ohnehin im Hintertreffen. Außerdem hatte sie einfach zu spät angefangen.
Seltsam, dass Matthias von diesem Bergvirus so gar nicht befallen war. Stattdessen kamen immer mehr Flachländer in die Berge. Was sich an schönen Tagen an den modernen Klettersteigen abspielte, musste man gesehen haben, um es glauben zu können. Modernst ausgerüstete Touristen standen sich buchstäblich auf den Zehen, in einer endlosen, oftmals stockenden Kette bewegten sie sich am Stahlseil dem Gipfel zu - anstehen nach dem Abenteuer. Und so manch einer merkte auf halbem Wege plötzlich, dass er doch nicht so schwindelfrei war wie gedacht. Oder ein Partner ging nur zum Gefallen des anderen mit, obwohl ihm die Sache von vornherein nicht geheuer war. Irgendwann befiel den unfreiwilligen Teilnehmer eine panische Lähmung, und er konnte keinen Schritt mehr vor oder zurück. Dann musste die Bergwacht ausrücken und den nicht mehr so Abenteuerlustigen von der Steilwand pflücken.
Glücklich, wer dann im Alpenverein und somit gegen Bergungskosten versichert war. Sonst war man mit mindestens tausend Euro dabei. Mit Hubschraubereinsatz kam leicht das Dreifache zusammen. Das wussten die Bergsteiger natürlich, und neulich hatten sogar welche versucht, diese Zeche zu prellen. Christine hatte Matthias die Geschichte vorgelesen: Nach einer Bergung von der Watzmann-Südwand hatten sie sich glatt geweigert, ihre Personalien anzugeben. Natürlich waren sie damit nicht durchgekommen.
Auf der Grünsteinhüttenterrasse waren inzwischen diverse Klettersteiggeher damit beschäftigt, sich gegenseitig bei der Schilderung ihrer Heldentaten zu übertrumpfen. Es wurde immer lauter. Daher hielten Christine und Matthias sich nicht lange auf. Sie tranken nur ein Radler und machten sich dann an den Abstieg.
Auf dem Weg nach Hinterbrand überholten sie nach und nach eine ganze Schulklasse. Die Kinder trödelten herum, sammelten Stecken auf und warfen sie in den Wald. Matthias erzählte Christine, dass eine Schule aus Kassel in der Schönau ein Schullandheim unterhielt. Die fand es jedoch viel interessanter, dass ihr Lieblingsbuddhist die ganze Zeit versuchte, nicht auf eins der zahlreichen Mitgeschöpfe zu treten, die heute ebenfalls auf Wanderschaft waren - Ameisen zum Beispiel. Dass er das nicht ostentativ, sondern im Gegenteil möglichst unauffällig machte, fand sie besonders liebenswert. Sie wollte ihm gerade einen spontanen Kuss geben, da erblickte sie eine Frau am Wegesrand, die mit schmerzverzerrtem Gesicht ihre Ferse rieb. Christine musste ein bisschen schmunzeln, als sie neben der Frau deren Schuhe im Gras sah: Pumps. Doch Matthias war sofort bei ihr und nestelte ein Pflaster aus seinem Rucksack.
«Ich bin bei dem Schulausflug kurzfristig als Begleitung eingesprungen», sagte die Frau, während Matthias ihre aufgescheuerte Ferse versorgte. «Und dann gleich am ersten Tag so eine Gewalttour.»
Das mit der Gewalttour war natürlich Ansichtssache. Für Christine war der Weg auf den Grünstein inzwischen nur ein Spaziergang. Allerdings wäre sie trotzdem nicht auf die Idee gekommen, die rund 500 Höhenmeter in Pumps zurückzulegen.
In diesem Moment hörte sie Matthias fragen: «Erdkunde unterrichten Sie wohl nicht?»
Die Lehrerin bekannte sich zu Deutsch und Sozialkunde. Gut verpflastert überließen sie die Lädierte ihren Schülern. Sie fuhren noch beim Konditor vorbei und holten Kuchen, den sie in der Nachmittagssonne genüsslich auf ihrem Balkon unter dem Grünstein verzehrten.
Im roten Hubschrauber saßen neben dem Piloten zwei Berchtesgadener Bergwachtler und ein Arzt, ebenfalls geländegängig, mit Bergwachtausbildung. Christoph 14 schwebte auf die Wasseralm zu. Einige Meter darüber begann der Nebel, deshalb würden die Retter von der Alm aus zu Fuß zu den Verunglückten aufsteigen müssen. Natürlich wussten alle, wen sie da retten sollten: Den Notruf hatte der Hias, Bürgermeister der Schönau, immerhin höchstpersönlich abgesetzt, und damit war die Sache klar. Er hatte zwei abgestürzte Personen gemeldet. Der eine, Holger Stranek vom Skiverband, sei von oben weder zu sehen noch zu hören. Der andere, Alois Seiler von der Jennerbahn, sei nur wenige Meter abgerutscht und inzwischen bei Bewusstsein, zu ihm bestand Rufkontakt. Aber er konnte nicht herauf und niemand zu ihm hinunter, weil es zu gefährlich war. Keiner hatte ein Seil dabei, was niemand vorzuwerfen war. Auf eine Tour, die lediglich eine kurze IIer- Stelle aufwies, nahm man nicht unbedingt ein Seil mit. Es sei denn, man hatte auswärtige Gäste im Schlepptau, aber der einzige Auswärtige auf dieser Tour war der Stranek gewesen, und bei dem hatte man wohl aufgrund seiner Tätigkeit eine gewisse Bergerfahrung vorausgesetzt.
Daher entschieden die Retter, sich aufzuteilen. Team 1, bestehend aus dem Arzt und einem Bergwachtler, sollte zu der vermuteten tieferen Absturzstelle im Blockwerk unterhalb der Teufelshörner vordringen. Team 2, allein aus dem zweiten Bergwachtler bestehend, würde zum Gipfel des Großen Teufelshorns aufsteigen und von dort in die Senke des Teufelshornnieder hinab, wo sich das Unglück ereignet hatte.
Es ging schnell, bis Team 1 Holger Stranek fand. Und genauso schnell stellten die beiden Männer fest, dass hier jede Hilfe zu spät kam. Etwas anderes wäre auch ein Wunder gewesen, nach 200 Meter Absturz. Am Ende des langen Stürzens, Schlitterns und wieder Stürzens war Holger Stranek mit dem Kopf auf einen Felsblock geschlagen. Sein Schädel war so weit eingedrückt, dass eine Bratpfanne als Hut gepasst hätte. Also ließen sie ihn zunächst liegen und stiegen ihrem Kollegen hinterher.
Oben, im Sattel des Teufelshornnieder, hatten sich derweil die Teilnehmer der Bergtour versammelt, die den zweiten Gipfel, den des Kleinen Teufelshorns, noch nicht erreicht hatten. Wer schon drüben war, mochte bei dem dichten Nebel nicht zurücksteigen, man war froh, dass das schwierigste Stück überstanden war - vor allem jetzt. Denn so ein Unfall sorgte ja erst recht für weiche Knie.
Als Team 2 bei der Gruppe ankam, machte der Bergwachtler nicht viele Worte. Er baute schnell eine Sicherung an einem Felsköpfel, ließ sich die paar Meter zu dem Verunglückten ab und legte diesem den Rettungsgurt um. Damit war ein wichtiger Schritt geschafft, Alois Seiler war nicht mehr in unmittelbarer Gefahr.
Jetzt war die Frage: auffi oder obi. Abwärts waren es 200 Meter, nach oben nur 5. Per Flaschenzug konnte zwar einer allein eine hilflose Person hochziehen, aber das würde für die hilflose Person ziemlich unangenehm werden. Doch es waren ja genug Leute da, einige auch mit Sicherungsmitteln vertraut, zum Beispiel Max Saumtrager, der Inhaber des Bergsportgeschäfts. Der Retter war gerade dabei, zwei Helfer zu rekrutieren, als auch schon seine beiden Kameraden vom Großen Teufelshorn herabkamen.
Damit war es kein Problem mehr, Seiler halbwegs schonend hinaufzubugsieren. Der Arzt stellte fest, dass ihm außer ein paar Rippenbrüchen und diversen Schürfwunden wohl nichts fehlte, und machte einen Kopfverband. Dann wurde Seiler auf eine Trage gelegt und bis zur Wasseralm hinabgetragen, wobei die Wanderer wechselweise mithalfen. Per Zuruf verständigte man sich mit den beiden Teilnehmern, die bereits drüben am Kleinen Teufelshorn waren. Sie stiegen von dort über den Grat und die sanften Wiesen des Schlossangers selbständig ab.
An der Wasseralm wurde die Trage in den Hubschrauber gehievt, der Arzt flog mit. Die Bergung des Toten musste warten. Die beiden Bergwachtler begleiteten die inzwischen wieder zusammengetroffene Wandergruppe hinab zur Saletalm, nochmals ein Weg von zweieinhalb Stunden, der schweigsam zurückgelegt wurde.
Der Einsatzleiter unten im Tal verständigte die Polizei. Eine obligatorische Maßnahme, da es einen Toten gegeben hatte.
Der diensthabende junge Wachtmeister hatte die Meldung aufgenommen und dann direkt den Dienststellenleiter angerufen, Kriminaloberrat Dr. Klaus Fischer. Er war der unfreiwillige Leiter der Polizeiinspektion Berchtesgaden, die extra zur Kriminalstation aufgewertet worden war, um ihn hierher abschieben zu können. Und Dr. Fischer tat, was er meistens tat, er schob ebenfalls etwas ab, nämlich die Arbeit. Und zwar an seine etwas renitente rechte Hand.
Holzhammer freute sich darauf, seinem kleinen Freund beim Mähen zuzusehen, während er selbst sich am zweiten Weißbier des Tages labte. Entsprechend war er über die Störung alles andere als begeistert. Vor allem als er merkte, worauf die Sache hinauslief.
«Ich will eine Obduktion», sagte Fischer am anderen Ende. «Und um die beim Staatsanwalt durchzukriegen, brauche ich Fleisch. Also geh los und nimm die Aussagen auf. Und zwar vollständig. Und die Spusi geht aufs Teufelshorn, sobald der Nebel weg ist.»
«Wozu denn des, bitt schön?», fragte Holzhammer. Bei Bergunfällen schickte man nicht die Spurensicherung. Seinem Chef bekam die Landluft wohl nicht. Sonst ließ er sich in der Dienststelle kaum blicken, und jetzt machte er plötzlich auf CSI.
Aber Fischer blieb stur, Holzhammer hatte keine Chance. Also trug er seinen Mähroboter wieder in die Hütte, versteckte ihn liebevoll vor Marie und machte sich dienstbereit. Er zog die Uniform an, denn er musste immerhin zu zwei Bürgermeistern und einer trauernden Witwe. Das Diktiergerät lag im Auto. Die Adressen fast aller Teilnehmer waren ihm bekannt, einer lag eh im Krankenhaus, und Max Saumtrager würde er höchstwahrscheinlich in seinem Laden antreffen.
Er beschloss, als Erstes den Besuch bei der Witwe hinter sich zu bringen. So etwas war immer furchtbar. Hoffentlich würde sie halbwegs gefasst sein. Er war noch nie bei den Straneks daheim gewesen, die lebten ja noch nicht lange im Landkreis und verkehrten auch in anderen Kreisen als er.
Das Gartentor war offen, ein Plattenweg führte durch gepflegte Rabatten. Links und rechts der modernen Haustür standen zwei riesige amphorenförmige Pflanzkübel, aus denen exotisch aussehendes Grünzeug wucherte. Der Türklopfer war aus Messing und stellte einen aufgerichteten Bären dar, der einen Fisch im Maul trug. Die verschiedenen Deko- Elemente passten weder zueinander noch zu Berchtesgaden. Aber bitte, über Geschmack ließ sich nicht streiten.
Mit, wie er hoffte, pietätvoller Sanftheit betätigte Holzhammer den Bären. Er würde die Witwe nicht lange belästigen. Nur ein paar kurze Fragen fürs Protokoll, damit Fischer zufrieden war. Nach wenigen Augenblicken hörte er Schritte herannahen. Die Tür wurde geöffnet, und er stand vor einer großen, schlanken Frau in Schwarz.
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Tatsächlich war die ganze Tour als eine Art Konklave gedacht. Der gestrige Abend auf der Hütte hatte dazu dienen sollen, sich auszusprechen und eine für alle akzeptable Regelung zu finden. Doch dann waren die Fetzen geflogen. Die beiden Seilbahnbetreiber waren sich fast an die Gurgel gegangen und hatten von ihren jeweiligen Bürgermeistern getrennt werden müssen. Über diese Szene würde man sich später allerdings ausschweigen.
«Was ist los?», rief eine Männerstimme. In der wassergesättigten Luft klang es dumpf und fern.
«Stoabock. Steht direkt vor mir!», rief Max zurück. Nur rund 3 Meter trennten ihn von dem beeindruckenden Gehörn des selbstbewussten Vierbeiners. Näher heran würde er auf keinen Fall gehen, und den Weg zu verlassen war in diesem Nebel auch keine Option.
«Sag eam, parken verboten», rief jemand von ganz hinten, wahrscheinlich der langjährige Bürgermeister von Schönau am Königssee. Er war nicht mehr der Jüngste und bildete daher den Schluss. Dies war einer der wenigen Punkte, die man später mit Sicherheit würde feststellen können.
Erstaunlicherweise schritt der Steinbock nach dieser amtlichen Anweisung unwillig ein paar Meter zur Seite. Die Gruppe konnte passieren und erreichte wenige Minuten später den Gipfel des Großen Teufelshorns. Der spitzte tatsächlich ein paar Meter durch die Wolken, und sie genossen die umfassende Aussicht. Es sah sogar aus, als würde der Nebel sich noch weiter zurückziehen. Fast konnte man schon drüben den niedrigeren Gipfel des Kleinen Teufelshorns erahnen. Doch zunächst ging es auf Schrofen und losem Schutt hinab in den Sattel zwischen den Hörnern und damit zurück in den Nebel. Genau auf diesem Flachstück ballte sich besonders dicke Watte. Niemand würde später sagen können, in welcher Reihenfolge sie den Sattel durchquert hatten. Man achtete zwar darauf, den Vordermann nicht zu verlieren - aber wer das nun war ...
Die schwierigsten Stellen kamen erst auf der anderen Seite, beim Aufstieg auf das zweite, das Kleine Teufelshorn. Man musste sich etwas rechts halten und durch eine steile Rinne hinauf. Hier ließ Max zwei geübte Teilnehmer vorgehen, den anderen würde er bei Bedarf etwas Hilfestellung leisten. Während er zusah, wie die beiden Einheimischen in der Rinne nach oben verschwanden, hörte er mit halbem Ohr hinter sich Steine poltern. Möglicherweise auch gezischte Wortfetzen, einen kurzen Aufschrei? Da wollte er sich später nicht festlegen.
Hauptwachtmeister Franz Holzhammer saß stillvergnügt auf der Veranda seiner Gartenhütte, die er im letzten Jahr endlich fertig gebaut hatte. Auf dem Tisch vor ihm befanden sich ein Thinkpad mit 17-Zoll-Bildschirm sowie ein Weißbier. Nicht nur die Anwesenheit dieser beiden Gegenstände trug zu seinem Seelenfrieden bei, sondern auch gewisse Abwesenheiten - insbesondere die seiner lieben Frau Marie, die mit der katholischen Frauengruppe irgendwo Wohltätigkeit verbreitete. Sie würde erst am Nachmittag zurück sein, bis dahin vollkommene Ruhe herrschen. Später erwarteten sie Sohn Andi und Tochter Heidrun zu Kaffee und Kuchen. Beide waren schon erwachsen, immerhin zählte Holzhammer inzwischen siebenundvierzig Lenze. Familie war ja ganz wunderbar, aber aus diesen ruhigen Momenten schöpfte Franz Holzhammer Kraft für das Zusammensein mit den Liebsten. Und für die Arbeit.
Die Hütte, die er im letzten Jahr mit Andi zusammen gebaut hatte, war sein Ein und Alles. Die Nachbarn und auch seine Frau sagten Saufhütte dazu, aber für ihn war die Holzkonstruktion einfach ein Ort des Friedens. Nur die Sitzgelegenheit ließ noch zu wünschen übrig. Der Gartenstuhl, den er von der Terrasse vor dem Wohnzimmer entführt hatte, war etwas zu hoch für seine 1,65 Meter, um wirklich bequem zu sein. Die Sitzfläche hingegen war zu schmal. Deshalb hatte er vor einigen Tagen eine bequeme Saunaliege im Internet bestellt. Aber die war noch nicht da.
Holzhammer hörte ein Brummen, und dann flog auch schon der rote Hubschrauber über das friedliche Gartenhüttenidyll hinweg. «Da ist etwas passiert», sagte er zu seinem Weißbier. Mehr Gedanken machte er sich nicht, schließlich flog der Hubschrauber in der Hauptsaison fast täglich. Außerdem beanspruchte das Schachspiel auf seinem Computer seine ganze Aufmerksamkeit. Er duellierte sich mit einem recht versierten Ami, der soeben seine Dame bedrohte. Das Spiel zog sich schon ziemlich lange hin, auf beiden Seiten wurde erbittert gekämpft - doch dann war Holzhammer schachmatt. Das machte ihm nichts aus, er spielte ja, um seine grauen Zellen auf Trab zu halten - nicht um des Sieges willen. Fair gratulierte er dem amerikanischen Rentner im sonnigen Florida. Englisch war auch kein Problem, schließlich hatten die Amis bis vor ein paar Jahren auf dem Obersalzberg gesessen. Und im Hotel Berchtesgadener Hof, das sie in General Walker umgetauft hatten. Jeder ältere Berchtesgadener konnte sich daher auf Englisch zumindest halbwegs verständigen. Theoretisch. Denn nicht jeder machte freiwillig davon Gebrauch.
Holzhammer betrachtete den Garten und beschloss, vor der Rückkehr beziehungsweise Ankunft seiner Familie noch schnell das Gras zu mähen. Bei dem Gedanken blitzten seine Augen, denn seit ein paar Wochen machte ihm das einen Riesenspaß: Der Rasen war neuerdings perfekt gepflegt, was allein sein Verdienst war - nur eben auf eine etwas andere Weise, als seine Frau sich das wohl ausmalte.
Ein Technikfreak wie er quälte sich heutzutage nicht mehr stundenlang mit einer laut ratternden Maschine kreuz und quer über den Rasen, um die Halme zu kürzen. An einem ruhigen dienstfreien Vormittag, während Marie ihren geliebten Dienst im Supermarkt tat - mit vielen netten Gesprächen an der Kasse - , hatte er einen feinen Draht rund um den Rasen verlegt und sorgfältig mit einigen Zentimetern Erde bedeckt. Und dann hatte er den kleinen runden Mähroboter zum ersten Mal laufen lassen. Das Ding funktionierte prima, man durfte das Gras nur nicht zu hoch werden lassen. Und es brauchte auch ein bisschen länger, da es nicht so systematisch vorging wie sein menschlicher Besitzer, sondern manchmal ziemlich depperte Routen einschlug.
Daher beaufsichtigte Holzhammer seinen kleinen Freund bei einem Weißbier und zeigte ihm von Zeit zu Zeit geduldig die Ecken, die er noch nicht gefunden hatte. Und bevor seine umtriebige Frau zurückkehrte, sammelte Holzhammer sein Helferlein wieder ein, stöpselte es sorgsam an die Ladestation in der Hütte und schob einen großen Korb mit Holzscheiten davor. Gut, es war ein bisschen kindisch, und irgendwann würde er Marie wohl einweihen müssen. Aber im Moment bereitete es ihm noch allzu sehr das stille Vergnügen, sich auf diese Weise ein Alibi zu verschaffen. Wenn Marie fragte, was er denn so gemacht habe, während sie am Wochenende in Angelegenheiten wichtiger Wohltätigkeit unterwegs war, dann brauchte er nur auf das frisch gemähte Gras zu zeigen.
Holzhammer holte also seinen kleinen Freund aus der Hütte und setzte ihn liebevoll auf den Rasen. Doch er kam nicht dazu, ihn loslaufen zu lassen, denn das Handy klingelte: Dr. Klaus Fischer. Sein ungeliebter Chef. Damit hatte sich der ruhige Samstag definitiv erledigt.
«Ich weiß wirklich nicht, warum wir heute unbedingt auf den Grünstein müssen», maulte Matthias.
«Weil er da ist», antwortete Christine mit einem leichten Grinsen. Das hatte Edmund Hillary auf die Frage hin gesagt, warum er als erster Mensch den Mount Everest besteigen wolle. Der Grünstein maß allerdings nur 1304 Meter, weshalb die überwiegende Mehrheit der Touristen ihn ohne künstlichen Sauerstoff anging.
Matthias war kein großer Wanderer, obwohl er in Berchtesgaden aufgewachsen war. Christine, die erst seit einem Jahr hier lebte und eigentlich ein echtes Nordlicht war, hatte in dieser Zeit mehr Gipfel erklommen als Matthias in den letzten zwanzig Jahren. Bereits fertig angezogen, stand sie in ärmelloser Bluse und leichter Berghose im Wohnzimmer. Sie wusste, dass ihr Hintern in der elastischen Hose gut zur Geltung kam und Matthias solchen Reizen nicht abgeneigt war - ein kleiner Ansporn zumindest. Ihre widerspenstigen Haare hatte sie mit einem Baumwolltuch gebändigt, sodass sie fast schon wie eine Einheimische aussah. Außerdem war der Grünstein ihrer beider Hausberg. Und trotz des Maulens ging Matthias natürlich mit.
In seiner Jugend hatte er den Grünstein zeitweise täglich bestiegen. Zu Trainingszwecken, zusammen mit einem Fußballspezi. Aber mit dem Training war es schon lange vorbei, auf seine 1,94 Meter verteilten sich inzwischen über 95 Kilo. Warum sollte er auf einen Berg gehen, auf dem nichts wartete außer der Aussicht, wieder hinuntergehen zu müssen? Da sah er überhaupt keinen Grund. Und auch an diesem schönen Samstag Ende September lief wieder mal die Sportschau im Fernseher. Aber schließlich liebte er Christine. Jeden Zentimeter ihrer zierlichen Figur, von den fusseligen Haaren bis zu den Füßchen Größe 36. Ihr entscheidendes Argument war jedoch gewesen, dass die Grünsteinhütte noch geöffnet hatte.
Anderthalb Stunden später saßen sie auf der Bank neben dem Gipfelkreuz und blickten auf ein 360-Grad-Panorama, das vom Hohen Göll über den Jenner mit der Seilbahn bis zum Kahlersberg reichte und vom Watzmann über den Hochkalter bis zur Reiteralm. Viele der umliegenden Berge hatte Christine im letzten Jahr bestiegen und sich stolz ins Gipfelbuch eingetragen. Der ein oder andere stand noch auf ihrer Wunschliste. Sie fasste die Gipfel nacheinander ins Auge und versuchte, sich an die genaue Höhe zu erinnern. Als Ärztin und Liebhaberin der Naturwissenschaften war sie ein Fan exakter Angaben. Nicht umsonst hieß sie mit vollem Namen Dr. Dr. Christine Müller-Halberstadt.
Das Kalkgestein, das in den Berchtesgadener Bergen vorherrschend war, hieß mit vollem Namen Ramsaudolomit. Und es hieß tatsächlich nach der Gemeinde Ramsau im inneren Landkreis. Ein Gestein aus lauter einzelnen Trümmern, die mehr oder weniger fest zusammenklebten. An der Oberfläche meist weniger, denn seit Jahrtausenden beschäftigten sich Regen und Frost damit, das Ganze wieder in seine Bestandteile aufzulösen. Mit einigem Erfolg, wie man zum Beispiel an der 300 Meter dicken Schuttschicht im Wimbachgries sehen konnte. Eines fernen Tages würde der Watzmann in Trümmern liegen - wie vor einem Jahr Christines Ehe. Die war brüchig geworden, ohne dass sie es gemerkt hatte.
Christine machte Fotos, teils von der Landschaft, teils von den Touristen. Interessant war vor allem, in welch unterschiedlicher Verfassung die bunt gekleideten Trendsportler den Grünstein-Klettersteig verließen, der aus Richtung Königssee heraufkam und direkt auf dem Gipfel endete. Einige glücklich schwitzend, andere völlig ausgepumpt und froh, es hinter sich zu haben. Sie selbst waren auf dem Normalweg von Hinterbrand aufgestiegen.
«So ein schöner Tag, bist du nicht froh, dass du mitgekommen bist?», fragte Christine.
«Ja, sehr schön», sagte Matthias, ohne eine Miene zu verziehen. Er stand auf und griff nach seinen Stöcken.
Christine war klar, was das bedeutete: Als Buddhist hatte Matthias zwar mehrere Leben und insofern alle Zeit der Welt - aber jetzt hatte er vor allem eins, nämlich Durst.
In diesem Moment war ein Knattern zu vernehmen, und die Touristen wandten die Köpfe. Auf der Bank nebenan fiel eine Flasche Sprudel um, Apfelschorle düngte den Boden. Dann sah man auch schon aus Richtung Berchtesgaden den roten Rettungshubschrauber Christoph 14 anfliegen, der im Tal bestens bekannt war. Er hielt auf den glitzernden Königssee zu und überflog ihn, ständig höher steigend, in ganzer Länge. Dann verschwand er nach links hinter den Abbrüchen des Feuerpalvens.
«Da ist etwas passiert», sagte Christine automatisch. Den Satz sagten ihre Patienten immer, wenn der rote Hubschrauber von den Panoramafenstern der Reha-Klinik aus zu sehen war.
«Hoffentlich hat es nicht unsere geballte Prominenz getroffen », meinte Matthias.
«Was für Prominenz?»
«Heute ist doch das Wochenende, an dem sie sich am Berg zusammenraufen wollen. Die Großkopferten von Bischofswiesen und der Schönau. Sie sind zur Wasseralm - alle, die mit dem Götschen und dem Jenner zu tun haben, und wahrscheinlich noch ein paar weitere Wichtigtuer dazu. Und der Chef vom DSV-Stützpunkt natürlich.»
«Und worum geht's da?», fragte Christine. Sie kannte die Wasseralm. Es war die wohl urigste Hütte in den Berchtesgadenern. Als sie im Sommer oben gewesen war, hatte der Wirt sie in die gesamte Komfortausstattung eingewiesen: «Der Wellnessbereich ist dahinten», hatte er gesagt und dabei auf die Wiese am Bach gezeigt.
«Es geht darum, dass der Skiverband vom Götschen zum Jenner umziehen will, weil es da bessere Trainingsmöglichkeiten gibt», erklärte Matthias. «Beziehungsweise weil die Bischofswieser nicht mitziehen, was den Ausbau betrifft. Und die Schönauer sind natürlich ganz heiß drauf. Du kennst ja den Hias.» Der Hias war Matthias' Cousin. Und Bürgermeister der Schönau.
«Ja, der tut wirklich viel für die Gemeinde, oder? Er scheint auch ziemlich beliebt zu sein.»
«Schon, sonst hätten sie ihn wohl nicht schon zum vierten Mal wiedergewählt. Er setzt sich wirklich ein. Mal fährt er wegen der Olympiade nach Kanada, dann wieder wegen dem Pfarrer nach Polen. Kennst du die Story? Die hatten doch so einen beliebten polnischen Pfarrer in der Schönau. Und irgendwann wollten die Polen den wiederhaben. Da hat der Hias den halben Gemeinderat ins Auto gepackt, und sie sind ab nach Kattowitz, um mit dem Bischof zu reden. Natürlich hatten sie Berchtesgadener Tracht dabei, ist ja Ehrensache. Aber zum Bischof rein sind sie in zivil. Und während sie dadrinnen um den Pfarrer verhandelten, wurde ihnen draußen die Tracht aus dem Auto geklaut. Gamsbart, Lederhose, graublaue Joppe, alles. Ihre Mission war erfolgreich. Aber den Spott nach ihrer Rückkehr kannst du dir vorstellen.»
Die Grünsteinhütte stand auf einem terrassenartigen Flachstück, 80 Höhenmeter unter dem Gipfel. Zum Königssee hin brach das Gelände abrupt ab. Eine einfache Holzbrüstung schützte die Gäste vor dem Absturz. Die zehn Biertische waren fast komplett besetzt. Der Schweiß, der beim Bergsteigen floss, musste durch isotonische Flüssigkeit in Form von Weißbier ersetzt werden.
Genau das machte für Christine die Faszination des Bergsteigens aus: nicht das Weißbier, sondern dass man sich die Belohnung so hart erarbeiten musste. Ein Bergsteiger vergoss an einem Tag mehr salzigen Schweiß als ein Modelleisenbahner in einem Jahr. Vor allem aber floss der Schweiß nicht allein aufgrund der Anstrengung. Es war meist auch ein gewisses Maß an Nervenkitzel dabei, das sich je nach persönlicher Vorliebe beliebig steigern ließ.
Für Christine barg ein einziger Bergtag den geistigen Erholungswert eines dreiwöchigen Urlaubs am Strand. Es gab ihr unendlich viel, Murmeltiere beim Spielen zu beobachten oder im trockenen Mattenrasen ein Edelweiß zu entdecken. Dabei vergaß sie allen Ärger, der im Tal wartete - die langwierigen Berichte, die sie zu schreiben hatte, schwierige Patienten und den immer wieder aufflammenden Ärger mit der Klinikleitung.
Noch vor zwei Jahren hatte sie die alten Bergfilme mit Luis Trenker nur als Lachnummern betrachtet, den klassischen Spruch «auffi muas i!» als Heimatromantik abgetan. Doch inzwischen wusste sie genau, was jeder Bergsteiger damit meinte. Und was auch Edmund Hillary gemeint hatte, als er sagte, er wolle auf den Everest, «weil er da ist». Und manchmal war sie traurig, dass sie dieses Hobby erst so spät entdeckt hatte. Christine beneidete die jungen Einheimischen, die mit den Bergen aufgewachsen waren. Oft wurde sie von munter plaudernden Mädels überholt, in einem Tempo, bei dem sie selbst keinen zusammenhängenden Satz mehr herausgebracht hätte. So fit würde sie nie werden, mit über vierzig war sie da ohnehin im Hintertreffen. Außerdem hatte sie einfach zu spät angefangen.
Seltsam, dass Matthias von diesem Bergvirus so gar nicht befallen war. Stattdessen kamen immer mehr Flachländer in die Berge. Was sich an schönen Tagen an den modernen Klettersteigen abspielte, musste man gesehen haben, um es glauben zu können. Modernst ausgerüstete Touristen standen sich buchstäblich auf den Zehen, in einer endlosen, oftmals stockenden Kette bewegten sie sich am Stahlseil dem Gipfel zu - anstehen nach dem Abenteuer. Und so manch einer merkte auf halbem Wege plötzlich, dass er doch nicht so schwindelfrei war wie gedacht. Oder ein Partner ging nur zum Gefallen des anderen mit, obwohl ihm die Sache von vornherein nicht geheuer war. Irgendwann befiel den unfreiwilligen Teilnehmer eine panische Lähmung, und er konnte keinen Schritt mehr vor oder zurück. Dann musste die Bergwacht ausrücken und den nicht mehr so Abenteuerlustigen von der Steilwand pflücken.
Glücklich, wer dann im Alpenverein und somit gegen Bergungskosten versichert war. Sonst war man mit mindestens tausend Euro dabei. Mit Hubschraubereinsatz kam leicht das Dreifache zusammen. Das wussten die Bergsteiger natürlich, und neulich hatten sogar welche versucht, diese Zeche zu prellen. Christine hatte Matthias die Geschichte vorgelesen: Nach einer Bergung von der Watzmann-Südwand hatten sie sich glatt geweigert, ihre Personalien anzugeben. Natürlich waren sie damit nicht durchgekommen.
Auf der Grünsteinhüttenterrasse waren inzwischen diverse Klettersteiggeher damit beschäftigt, sich gegenseitig bei der Schilderung ihrer Heldentaten zu übertrumpfen. Es wurde immer lauter. Daher hielten Christine und Matthias sich nicht lange auf. Sie tranken nur ein Radler und machten sich dann an den Abstieg.
Auf dem Weg nach Hinterbrand überholten sie nach und nach eine ganze Schulklasse. Die Kinder trödelten herum, sammelten Stecken auf und warfen sie in den Wald. Matthias erzählte Christine, dass eine Schule aus Kassel in der Schönau ein Schullandheim unterhielt. Die fand es jedoch viel interessanter, dass ihr Lieblingsbuddhist die ganze Zeit versuchte, nicht auf eins der zahlreichen Mitgeschöpfe zu treten, die heute ebenfalls auf Wanderschaft waren - Ameisen zum Beispiel. Dass er das nicht ostentativ, sondern im Gegenteil möglichst unauffällig machte, fand sie besonders liebenswert. Sie wollte ihm gerade einen spontanen Kuss geben, da erblickte sie eine Frau am Wegesrand, die mit schmerzverzerrtem Gesicht ihre Ferse rieb. Christine musste ein bisschen schmunzeln, als sie neben der Frau deren Schuhe im Gras sah: Pumps. Doch Matthias war sofort bei ihr und nestelte ein Pflaster aus seinem Rucksack.
«Ich bin bei dem Schulausflug kurzfristig als Begleitung eingesprungen», sagte die Frau, während Matthias ihre aufgescheuerte Ferse versorgte. «Und dann gleich am ersten Tag so eine Gewalttour.»
Das mit der Gewalttour war natürlich Ansichtssache. Für Christine war der Weg auf den Grünstein inzwischen nur ein Spaziergang. Allerdings wäre sie trotzdem nicht auf die Idee gekommen, die rund 500 Höhenmeter in Pumps zurückzulegen.
In diesem Moment hörte sie Matthias fragen: «Erdkunde unterrichten Sie wohl nicht?»
Die Lehrerin bekannte sich zu Deutsch und Sozialkunde. Gut verpflastert überließen sie die Lädierte ihren Schülern. Sie fuhren noch beim Konditor vorbei und holten Kuchen, den sie in der Nachmittagssonne genüsslich auf ihrem Balkon unter dem Grünstein verzehrten.
Im roten Hubschrauber saßen neben dem Piloten zwei Berchtesgadener Bergwachtler und ein Arzt, ebenfalls geländegängig, mit Bergwachtausbildung. Christoph 14 schwebte auf die Wasseralm zu. Einige Meter darüber begann der Nebel, deshalb würden die Retter von der Alm aus zu Fuß zu den Verunglückten aufsteigen müssen. Natürlich wussten alle, wen sie da retten sollten: Den Notruf hatte der Hias, Bürgermeister der Schönau, immerhin höchstpersönlich abgesetzt, und damit war die Sache klar. Er hatte zwei abgestürzte Personen gemeldet. Der eine, Holger Stranek vom Skiverband, sei von oben weder zu sehen noch zu hören. Der andere, Alois Seiler von der Jennerbahn, sei nur wenige Meter abgerutscht und inzwischen bei Bewusstsein, zu ihm bestand Rufkontakt. Aber er konnte nicht herauf und niemand zu ihm hinunter, weil es zu gefährlich war. Keiner hatte ein Seil dabei, was niemand vorzuwerfen war. Auf eine Tour, die lediglich eine kurze IIer- Stelle aufwies, nahm man nicht unbedingt ein Seil mit. Es sei denn, man hatte auswärtige Gäste im Schlepptau, aber der einzige Auswärtige auf dieser Tour war der Stranek gewesen, und bei dem hatte man wohl aufgrund seiner Tätigkeit eine gewisse Bergerfahrung vorausgesetzt.
Daher entschieden die Retter, sich aufzuteilen. Team 1, bestehend aus dem Arzt und einem Bergwachtler, sollte zu der vermuteten tieferen Absturzstelle im Blockwerk unterhalb der Teufelshörner vordringen. Team 2, allein aus dem zweiten Bergwachtler bestehend, würde zum Gipfel des Großen Teufelshorns aufsteigen und von dort in die Senke des Teufelshornnieder hinab, wo sich das Unglück ereignet hatte.
Es ging schnell, bis Team 1 Holger Stranek fand. Und genauso schnell stellten die beiden Männer fest, dass hier jede Hilfe zu spät kam. Etwas anderes wäre auch ein Wunder gewesen, nach 200 Meter Absturz. Am Ende des langen Stürzens, Schlitterns und wieder Stürzens war Holger Stranek mit dem Kopf auf einen Felsblock geschlagen. Sein Schädel war so weit eingedrückt, dass eine Bratpfanne als Hut gepasst hätte. Also ließen sie ihn zunächst liegen und stiegen ihrem Kollegen hinterher.
Oben, im Sattel des Teufelshornnieder, hatten sich derweil die Teilnehmer der Bergtour versammelt, die den zweiten Gipfel, den des Kleinen Teufelshorns, noch nicht erreicht hatten. Wer schon drüben war, mochte bei dem dichten Nebel nicht zurücksteigen, man war froh, dass das schwierigste Stück überstanden war - vor allem jetzt. Denn so ein Unfall sorgte ja erst recht für weiche Knie.
Als Team 2 bei der Gruppe ankam, machte der Bergwachtler nicht viele Worte. Er baute schnell eine Sicherung an einem Felsköpfel, ließ sich die paar Meter zu dem Verunglückten ab und legte diesem den Rettungsgurt um. Damit war ein wichtiger Schritt geschafft, Alois Seiler war nicht mehr in unmittelbarer Gefahr.
Jetzt war die Frage: auffi oder obi. Abwärts waren es 200 Meter, nach oben nur 5. Per Flaschenzug konnte zwar einer allein eine hilflose Person hochziehen, aber das würde für die hilflose Person ziemlich unangenehm werden. Doch es waren ja genug Leute da, einige auch mit Sicherungsmitteln vertraut, zum Beispiel Max Saumtrager, der Inhaber des Bergsportgeschäfts. Der Retter war gerade dabei, zwei Helfer zu rekrutieren, als auch schon seine beiden Kameraden vom Großen Teufelshorn herabkamen.
Damit war es kein Problem mehr, Seiler halbwegs schonend hinaufzubugsieren. Der Arzt stellte fest, dass ihm außer ein paar Rippenbrüchen und diversen Schürfwunden wohl nichts fehlte, und machte einen Kopfverband. Dann wurde Seiler auf eine Trage gelegt und bis zur Wasseralm hinabgetragen, wobei die Wanderer wechselweise mithalfen. Per Zuruf verständigte man sich mit den beiden Teilnehmern, die bereits drüben am Kleinen Teufelshorn waren. Sie stiegen von dort über den Grat und die sanften Wiesen des Schlossangers selbständig ab.
An der Wasseralm wurde die Trage in den Hubschrauber gehievt, der Arzt flog mit. Die Bergung des Toten musste warten. Die beiden Bergwachtler begleiteten die inzwischen wieder zusammengetroffene Wandergruppe hinab zur Saletalm, nochmals ein Weg von zweieinhalb Stunden, der schweigsam zurückgelegt wurde.
Der Einsatzleiter unten im Tal verständigte die Polizei. Eine obligatorische Maßnahme, da es einen Toten gegeben hatte.
Der diensthabende junge Wachtmeister hatte die Meldung aufgenommen und dann direkt den Dienststellenleiter angerufen, Kriminaloberrat Dr. Klaus Fischer. Er war der unfreiwillige Leiter der Polizeiinspektion Berchtesgaden, die extra zur Kriminalstation aufgewertet worden war, um ihn hierher abschieben zu können. Und Dr. Fischer tat, was er meistens tat, er schob ebenfalls etwas ab, nämlich die Arbeit. Und zwar an seine etwas renitente rechte Hand.
Holzhammer freute sich darauf, seinem kleinen Freund beim Mähen zuzusehen, während er selbst sich am zweiten Weißbier des Tages labte. Entsprechend war er über die Störung alles andere als begeistert. Vor allem als er merkte, worauf die Sache hinauslief.
«Ich will eine Obduktion», sagte Fischer am anderen Ende. «Und um die beim Staatsanwalt durchzukriegen, brauche ich Fleisch. Also geh los und nimm die Aussagen auf. Und zwar vollständig. Und die Spusi geht aufs Teufelshorn, sobald der Nebel weg ist.»
«Wozu denn des, bitt schön?», fragte Holzhammer. Bei Bergunfällen schickte man nicht die Spurensicherung. Seinem Chef bekam die Landluft wohl nicht. Sonst ließ er sich in der Dienststelle kaum blicken, und jetzt machte er plötzlich auf CSI.
Aber Fischer blieb stur, Holzhammer hatte keine Chance. Also trug er seinen Mähroboter wieder in die Hütte, versteckte ihn liebevoll vor Marie und machte sich dienstbereit. Er zog die Uniform an, denn er musste immerhin zu zwei Bürgermeistern und einer trauernden Witwe. Das Diktiergerät lag im Auto. Die Adressen fast aller Teilnehmer waren ihm bekannt, einer lag eh im Krankenhaus, und Max Saumtrager würde er höchstwahrscheinlich in seinem Laden antreffen.
Er beschloss, als Erstes den Besuch bei der Witwe hinter sich zu bringen. So etwas war immer furchtbar. Hoffentlich würde sie halbwegs gefasst sein. Er war noch nie bei den Straneks daheim gewesen, die lebten ja noch nicht lange im Landkreis und verkehrten auch in anderen Kreisen als er.
Das Gartentor war offen, ein Plattenweg führte durch gepflegte Rabatten. Links und rechts der modernen Haustür standen zwei riesige amphorenförmige Pflanzkübel, aus denen exotisch aussehendes Grünzeug wucherte. Der Türklopfer war aus Messing und stellte einen aufgerichteten Bären dar, der einen Fisch im Maul trug. Die verschiedenen Deko- Elemente passten weder zueinander noch zu Berchtesgaden. Aber bitte, über Geschmack ließ sich nicht streiten.
Mit, wie er hoffte, pietätvoller Sanftheit betätigte Holzhammer den Bären. Er würde die Witwe nicht lange belästigen. Nur ein paar kurze Fragen fürs Protokoll, damit Fischer zufrieden war. Nach wenigen Augenblicken hörte er Schritte herannahen. Die Tür wurde geöffnet, und er stand vor einer großen, schlanken Frau in Schwarz.
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Autoren-Porträt von Fredrika Gers
Fredrika Gers war gebürtige Hamburgerin und schrieb, seit sie schreiben konnte. Sie lernte Bankkaufrau und arbeitete als Schiffsmaklerin. Folgerichtig ging sie anschließend in die Werbung und textete für namhafte Agenturen in Hamburg, Düsseldorf, Frankfurt und München. Nebenher verfasste sie journalistische Beiträge und Romane. Der großen Liebe wegen zog sie im neuen Jahrtausend ins Berchtesgadener Land. Dort entdeckte sie ihre zweite große Liebe: die Berge. Fredrika Gers verstarb im August 2019.
Bibliographische Angaben
- Autor: Fredrika Gers
- 2013, 272 Seiten, 1 farbige Abbildungen, Maße: 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499266873
- ISBN-13: 9783499266874
- Erscheinungsdatum: 22.05.2013
Rezension zu „Teufelshorn / Holzhammer ermittelt Bd.2 “
Auch für Flachland-Tiroler. Ruhr Nachrichten
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