Homer & Langley
Roman
Ein großes kleines Meisterwerk von Doctorow, berührend und witzig, das auf Anhieb die New York Times-Bestsellerliste eroberte.
Die Brüder Homer & Langley hat es tatsächlich gegeben. Als Söhne einer New Yorker Patrizier-Familie wurden sie im letzten...
Die Brüder Homer & Langley hat es tatsächlich gegeben. Als Söhne einer New Yorker Patrizier-Familie wurden sie im letzten...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Homer & Langley “
Klappentext zu „Homer & Langley “
Ein großes kleines Meisterwerk von Doctorow, berührend und witzig, das auf Anhieb die New York Times-Bestsellerliste eroberte.Die Brüder Homer & Langley hat es tatsächlich gegeben. Als Söhne einer New Yorker Patrizier-Familie wurden sie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts geboren und lebten zeitlebens zusammen in ihrem New Yorker Elternhaus an der Fifth Avenue. Sie waren bekannt für ihre Sammelleidenschaft, die dazu führte, dass sie sogar ein Automobil der Firma Ford in ihrem Esszimmer unterbrachten. Zwei exzentrische Einsiedler, die sich nach und nach aus der Welt zurückzogen. Doch vorher kommt die Welt zu ihnen ins Haus mit einer Vielzahl wunderbarer Figuren und Begebenheiten.
Lese-Probe zu „Homer & Langley “
Homer & Langley von E. L. Doctorow... mehr
Ich bin Homer, der blinde Bruder. Ich habe mein Augenlicht nicht auf einmal verloren, es war, wie im Kino, ein langsames Ausblenden. Als man mir sagte, was da vor sich ging, wollte ich es messen, ich war damals noch keine zwanzig und voller Wissensdrang. In jenem Winter stellte ich mich an den See im Central Park, wo alle Schlittschuh liefen, und prüfte jeden Tag, was ich sehen konnte und was nicht. Zuerst verschwanden die Häuser am Central Park West, wurden immer dunkler, als lösten sie sich im dunklen Himmel auf, bis ich sie nicht mehr erkennen konnte, und dann verloren die Bäume allmählich ihre Konturen, und dann, gegen Ende der Jahreszeit, es mag im späten Februar dieses ausgesprochen kalten Winters gewesen sein, sah ich schließlich nur noch die phantomhaften Umrisse der Schlittschuhläufer auf einer Eisfläche an mir vorüberziehen, und dann wurde das weiße Eis, dieses letzte Leuchten, grau und dann gänzlich schwarz, und dann war mein Augenlicht vollkommen verschwunden, aber das Wuusch-wusch der Kufen auf dem Eis konnte ich deutlich hören, ein sehr befriedigendes Geräusch, leise und doch entschlossen, ein tieferer Ton, als man von Schlittschuhkufen erwarten würde, vielleicht weil sie den volltönenden Bass des Wassers unter dem Eis ausgelotet hatten, wuusch-wusch, wuusch-wusch. So hörte ich einen Schlittschuhläufer schnell irgendwohin eilen und dann die Drehung mit einem langen Skawuusch, wenn er wirbelnd zum Stillstand kam, und dann lachte auch ich vor Freude über sein Geschick, plötzlich schlagartig anzuhalten, er lief wuusch-wusch vor sich hin und dann auf einmal skawuusch.
Traurig war ich natürlich auch, aber zum Glück war ich damals noch ganz jung und kam mir überhaupt nicht behindert vor, sondern wechselte im Geiste zu meinen anderen Fähigkeiten wie meinem außerordentlichen Gehör, das ich zu einer nahezu visuellen Schärfe ausbildete. Langley sagte, ich hätte Ohren wie eine Fledermaus, und unterzog diese Behauptung einer Prüfung, weil er alles gern auf den Prüfstand stellte. Unser Haus war mir natürlich vertraut, alle vier Stockwerke, ich konnte mich mühelos in jedem Zimmer und die Treppen hinauf- und hinunterbewegen, da ich aus dem Gedächtnis wusste, wo alles war. Ich kannte den Salon, das Studierzimmer unseres Vaters, das Boudoir unserer Mutter, das Speisezimmer mit seinen achtzehn Stühlen und dem langen Walnusstisch, die Anrichte des Butlers und die Küchen, das Empfangszimmer, die Schlafzimmer, ich erinnerte mich, wie viele läuferbelegte Stufen zwischen den Stockwerken waren, ich brauchte mich nicht einmal am Geländer festzuhalten, und wenn mir jemand zugesehen hätte, der mich nicht kannte, hätte er nicht gemerkt, dass meine Augen tot waren. Aber Langley meinte, mein Gehör werde erst richtig auf die Probe gestellt, wenn keine Erinnerungen im Spiel seien, darum verrückte er die Möbel ein wenig, führte mich ins Musikzimmer, wo er zuvor den Flügel in eine andere Ecke geschoben und den japanischen Wandschirm mit den Reihern im Wasser mitten in den Raum gestellt hatte, und obendrein drehte er mich an der Tür so lange herum, bis mein Orientierungssinn völlig geschwunden war, und ich musste lachen, denn ob man's glaubt oder nicht, ich ging zielstrebig um den Paravent herum und setzte mich ans Klavier, als ob ich wüsste, wo Langley es hingestellt hatte, und ich wusste es tatsächlich, ich konnte Flächen hören, und ich sagte zu Langley, Eine blinde Fledermaus pfeift, so machen die das, aber ich musste gar nicht erst pfeifen, stimmt's? Er war wirklich verblüfft, Langley ist zwei Jahre älter als ich, und ich habe ihm immer gern imponiert, egal wie. Damals war er schon Student im ersten Studienjahr an der Columbia University. Wie machst du das?, fragte er. Das ist wissenschaftlich interessant. Ich sagte: Ich spüre, wo Formen die Luft verdrängen, oder ich spüre die von Gegenständen ausgehende Wärme, du kannst mich herumdrehen, bis mir schwindelig wird, aber ich weiß immer noch, wo die Luft von etwas Festem ausgefüllt ist.
Es gab auch andere Kompensationen. Ich wurde von Hauslehrern unterrichtet, und dann war ich natürlich am West End Konservatorium gut untergebracht, wo ich schon studierte, als ich noch sehen konnte. Meine Begabung als Pianist machte die Blindheit gesellschaftlich akzeptabel. Als ich älter wurde, sprach man von meiner ritterlichen Art, und die Mädchen mochten mich auf jeden Fall. Wenn New Yorker Eltern aus unseren gesellschaftlichen Kreisen damals sicherstellen wollten, dass ihre Tochter einen passenden Mann heiratete, bläuten sie ihr offenbar von Geburt an ein, sich vor den Männern in Acht zu nehmen und ihnen nicht recht zu trauen. Das war lange vor dem Ersten Weltkrieg, als die Zeit der Flapper-Girls und der rauchenden und Martinis trinkenden Frauen noch in unvorstellbarer Zukunft lag. Daher war ein gut aussehender, blinder junger Mann aus ehrbarer Familie besonders begehrt, denn er konnte nichts Ungehöriges tun, nicht einmal im Verborgenen. Seine Hilflosigkeit war von großem Reiz für Frauen, die von Geburt an selbst zur Hilflosigkeit erzogen waren. So fühlten sie sich stark und überlegen, durften ihr Mitgefühl hervorkehren, meine Blindheit konnte so manches bewirken. Eine Frau durfte aus sich herausgehen, sich ihren unterdrückten Gefühlen hingeben, was sie bei einem normalen Mann nicht ohne Gefahr tun konnte. Ich kleidete mich sehr sorgfältig, rasierte mich mit dem Rasiermesser, ohne mich je zu schneiden, und der Friseur ließ mein Haar nach meiner Anweisung ein wenig länger wachsen, als man es damals trug, und wenn ich dann bei einer geselligen Zusammenkunft am Klavier saß und zum Beispiel die Appassionata oder die Revolutionsetüde spielte, wehte mir das Haar um den Kopf - ich hatte damals viel Haar, dickes, braunes Haar, das in der Mitte gescheitelt war und an den Seiten glatt herunterfiel. Eine regelrechte Franz-Liszt-Mähne. Und wenn ich mit einer befreundeten jungen Dame auf einem Sofa saß und niemand in der Nähe war, küsste sie mich bisweilen, berührte mein Gesicht und küsste mich, und da ich blind war, konnte ich ihr scheinbar absichtslos die Hand auf den Schenkel legen, und dann stieß sie wohl einen leisen Schrei aus, ließ meine Hand aber dort liegen aus Furcht, mich in Verlegenheit zu bringen.
Ich würde meinen, für einen Mann, der nie verheiratet war, brachte ich den Frauen ein ungewöhnliches Feingefühl entgegen, ja, ich wusste sie sehr zu würdigen und darf freimütig gestehen, dass ich zu der hier beschriebenen Zeit das eine oder andere sexuelle Erlebnis hatte, dieser Zeit, als ich, noch keine zwanzig Jahre alt, das Leben eines gut aussehenden blinden jungen Mannes in New York führte, als unsere Eltern noch lebten und viele Soireen gaben und die Spitzen der New Yorker Gesellschaft in unserem Haus empfingen, einer monumentalen Reverenz an den spätviktorianischen Stil, ein Haus, das von modernen Neuerungen unberührt blieb - wie etwa den Einrichtungsplänen von Elsie de Wolfe, einer Freundin unserer Familie, die, nachdem mein Vater ihr nicht gestattete, das gesamte Haus modisch umzugestalten, nie wieder einen Fuß über unsere Schwelle setzte - und das ich immer behaglich, gediegen und verlässlich fand mit seinen großen Polstermöbeln und quastengeschmückten Empire-Stühlen und schweren Vorhängen vor den Gardinen an den bodenlangen Fenstern und mittelalterlichen, an vergoldeten Stangen hängenden Gobelins und Bücherschränken mit gewölbten Glastüren, seinen dicken Perserteppichen und Stehlampen mit troddelbesetzten Schirmen und dazu passenden Chinoiserie-Amphoren, in die man fast hineinkriechen konnte ... das alles war sehr eklektisch, legte gewissermaßen Zeugnis ab von den Reisen unserer Eltern und hätte auf Außenstehende ohne Weiteres wie ein wirres Durcheinander wirken können, doch uns erschien es normal und richtig, und es war unser Vermächtnis, Langleys und meins, dieses Leben mit ausgesprochen leblosen Dingen und der Notwendigkeit, um sie herumzugehen.
Unsere Eltern reisten jedes Jahr für einen Monat ins Ausland, stachen auf irgendeinem Ozeandampfer in See und winkten an der Reling, wenn ein riesiges Passagierschiff mit drei oder vier Schornsteinen - die Carmania? die Mauretania? die Neuresthania? - vom Pier ablegte. Dort oben wirkten sie ganz klein, so klein, wie ich mich an der Hand des Kindermädchens fühlte, das meine fest umklammerte, und das Tuten der Schiffssirene hallte in meinen Füßen wider, und die Möwen flatterten umher, als wollten sie dieses Ereignis feiern, als ginge dort etwas wahrhaft Großartiges vonstatten. Ich fragte mich immer, was aus den Patientinnen meines Vaters werden sollte, solange er fort war, denn er war ein berühmter Frauenarzt, und ich machte mir Sorgen, sie könnten krank werden und womöglich sterben, während sie auf seine Rückkehr warteten.
Meine Eltern liefen noch in England oder Italien oder Griechenland oder Ägypten oder sonst wo herum, da kündigte sich bereits ihre Rückkehr an durch Gegenstände, die in Kisten von der Railway Express Company an unserer Hintertür angeliefert wurden: antike islamische Kacheln und seltene Bücher und ein marmorner Wasserbrunnen und Büsten von Römern ohne Nase oder mit fehlenden Ohren und antike Schränke mit Fäkaliengeruch.
Und dann, endlich, waren mit großem Hurra Mutter und Vater selbst wieder da, nachdem ich sie fast schon vergessen hatte, sie stiegen vor unserem Haus aus dem Taxi und trugen die Schätze im Arm, die ihnen nicht vorausgeeilt waren. Als Eltern waren sie nicht gänzlich pflichtvergessen, denn sie brachten Langley und mir immer etwas mit, Geschenke, die jedes Jungenherz höher schlagen lassen, eine altertümliche Spielzeugeisenbahn zum Beispiel, die zu zerbrechlich war, um damit zu spielen, oder eine vergoldete Haarbürste.
Auch wir reisten, mein Bruder und ich, in unserer Jugend fuhren wir ständig ins Sommerlager. Unseres lag auf einer Hochebene mit Wäldern und Feldern an der Küste von Maine, einer guten Gegend, um der Natur zu huldigen. Je mehr unser Land unter Rauchwolken aus den Fabriken verschwand, je mehr Kohle aus den Bergwerken emporratterte, je mehr unsere mächtigen Lokomotiven durch die Nacht donnerten und riesige Erntemaschinen sich durchs Getreide fraßen und schwarze Autos auf den Straßen herumfuhren, hupten und ineinanderkrachten, desto mehr verehrten die Amerikaner die Natur. Meist wurde diese Anbetung den Kindern übertragen. Also hausten wir in primitiven Hütten in Maine, Jungen und Mädchen getrennt in benachbarten Lagern.
Ich stand damals in der Blüte meiner Sinne. Meine Beine waren gelenkig, meine Arme stark und muskulös, und ich konnte die Welt mit der ganzen unbefangenen Freude eines Vierzehnjährigen betrachten. Auf einer Meeresklippe unweit des Sommerlagers war eine Wiese mit üppigen wilden Brombeersträuchern, dort pflückten wir eines Nachmittags in Scharen die reifen Beeren, bissen durch die Haut in das feuchte, warme Fruchtfleisch und wetteiferten dabei mit den Hummelschwärmen, die wir von einem Strauch zum anderen jagten, während wir uns Beeren in den Mund stopften, bis uns der Saft übers Kinn rann. Mücken schwebten in dichten Schwaden durch die Luft, sie wogten auf und ab, dehnten und verdichteten sich wie astronomische Erscheinungen. Und die Sonne schien uns auf den Kopf, und hinter uns am Fuße der Klippe standen die schwarz-silbernen Felsen, die geduldig die Wellen empfingen und brachen, und dann kam das glitzernde, in Sonnenflittern aufstrahlende Meer, und all das lag vor meinen klaren Augen, während ich mich triumphierend diesem Mädchen zuwandte, mit dem ich mich zusammengetan hatte, Eleanor hieß sie, und ich breitete die Arme aus und verbeugte mich, als sei ich der Zauberer, der das alles für sie geschaffen hatte. Und irgendwie blieben wir, als alle weiterzogen, verschwörerisch hinter einem Dickicht von Brombeersträuchern zurück, bis wir die anderen nicht mehr hörten, und so waren wir ohne Aufsicht, was gegen die Lagerregeln verstieß, und kamen uns unglaublich erwachsen vor, doch auf dem Rückweg waren wir in Gedanken versunken und hielten Händchen, ohne es überhaupt zu merken.
Gibt es eine reinere Liebe als diese, wenn man nicht einmal weiß, was das ist? Meine Eleanor hatte eine feuchte, warme Hand, dunkles Haar und dunkle Augen. Dass sie gut einen Kopf größer war als ich, brachte weder sie noch mich in Verlegenheit. Ich erinnere mich an ihr Lispeln, wie ihre Zungenspitze zwischen den Zähnen stecken blieb, wenn sie ein S aussprach. Sie war keins dieser gesellschaftlich versierten, selbstsicheren Mädchen, die es im Sommerlager zuhauf gab. Sie trug die Einheitstracht aus grünem Hemd und grauer Pluderhose wie alle anderen auch, aber sie war so etwas wie eine Einzelgängerin, und in meinen Augen wirkte sie vornehm, bezaubernd, nachdenklich und von ähnlicher Sehnsucht erfüllt wie ich - wonach, hätten wir beide nicht sagen können. Dies war meine erste erklärte Zuneigung, und sie war derart ernsthaft, dass selbst Langley, der mit seiner Altersgruppe in einer anderen Hütte wohnte, mich nicht damit hänselte. Ich flocht eine Kordel für Eleanor und bastelte ihr ein kleines Kanu aus Birkenrinde.
Doch ach, jetzt bin ich in eine traurige Geschichte geraten. Das Jungenlager war von dem der Mädchen durch eine Baumgruppe getrennt, durch die sich so ein hoher Maschendrahtzaun zog, mit dem man sonst Tiere fernhält, darum war es ein gewagter Streich, wenn die älteren Jungen nachts über diesen Zaun stiegen oder darunter hindurchkrochen und sich jeder Autorität widersetzten, indem sie schreiend durch das Mädchenlager rannten, den nachjagenden Betreuern entschlüpften und an die Türen der Hütten schlugen, um drinnen ein freudiges Kreischen auszulösen. Eleanor und ich aber durchbrachen den Zaun, damit wir uns treffen konnten, wenn alles schlief, um unter den Sternen umherzuwandern und über das Leben zu philosophieren. Und so geschah es, dass wir in einer warmen Augustnacht etwa eine Meile die Landstraße hinuntergegangen waren und plötzlich vor einem Ferienheim standen, das wie unser Lager der Rückkehr zur Natur diente. Es war aber ein Ferienheim für Erwachsene, für Eltern. Von einem flackernden Licht in der ansonsten dunklen Villa angezogen, schlichen wir uns auf Zehenspitzen auf die Veranda und sahen im Fenster etwas Schockierendes, das man in späteren Zeiten als Pornofilm bezeichnet hätte. Die unsittliche Darbietung vollzog sich auf einer tragbaren Leinwand, die einem großen Fensterrollo glich. Im Gegenlicht erkannten wir das Schattenbild der Zuschauer, aufmerksame Erwachsene, die sich auf ihren Sesseln und Sofas nach vorn beugten. Ich erinnere mich an das Geräusch des Projektors, der sich unweit des offenen Fensters befand und surrte wie ein Feld voller Heuschrecken. Die Frau auf der Leinwand, nackt bis auf ein Paar hochhackige Schuhe, lag rücklings auf einem Tisch, und der Mann, gleichfalls nackt, stand vor ihr und hielt ihre Beine unter den Knien fest, sodass sie sich darbot, um sein Glied aufzunehmen, das er den Zuschauern zunächst eigens in der ganzen ungeheuren Größe vorführte. Der Mann war hässlich, glatzköpfig und dürr, das einzig Besondere an ihm war dieses jedes Maß übersteigende Merkmal. Während er wieder und wieder in die Frau hineinstieß, zog sie sich an den Haaren, wobei ihre Beine krampfartig nach oben zuckten, die Schuhspitzen stachen in rascher Folge in die Luft, als würde die Frau von elektrischen Stromstößen geschüttelt. Ich war gebannt - entsetzt, aber auch erregt, und das steigerte sich zu einem widernatürlichen, brechreizähnlichen Gefühl. Heute wundert es mich nicht, dass man bei der Erfindung des bewegten Bildes dessen pornografisches Potenzial sofort verstand.
Schrie meine Freundin leise auf, zupfte sie an meiner Hand, um mich wegzuziehen? Wenn ja, hätte ich es nicht bemerkt. Doch als ich wieder hinlänglich zur Besinnung gekommen war, drehte ich mich um, und sie war nirgends zu sehen. Ich rannte auf demselben Weg zurück, den wir gekommen waren, und sah in dieser mondhellen Nacht, einer Nacht so schwarz-weiß wie der Film, niemanden vor mir auf der Straße. Wir hatten noch einige Sommerwochen vor uns, doch meine Freundin Eleanor sprach nie wieder mit mir oder schaute auch nur in meine Richtung, eine Entscheidung, die ich akzeptierte, da mein Geschlecht mich zum Komplizen des männlichen Darstellers machte. Sie lief zu Recht vor mir davon, denn in dieser Nacht wurde die romantische Liebe in meinem Denken entthront und musste der Vorstellung weichen, Sex sei etwas, das man den Frauen antut, allen Frauen einschließlich der armen, scheuen, hochgewachsenen Eleanor. Das ist eine kindliche Illusion, die einem Vierzehnjährigen schlecht ansteht, aber sie hält sich hartnäckig auch bei erwachsenen Männern, selbst wenn sie Frauen begegnen, die kopulationsgieriger sind als sie selbst.
Natürlich fühlte auch ich mich beim Betrachten des geschmacklosen Filmchens nicht weniger von der Erwachsenenwelt betrogen als meine Eleanor. Damit will ich nicht sagen, meine Mutter und mein Vater hätten dort unter den Zuschauern gesessen - das war nicht der Fall. Ja, als ich mich Langley anvertraute, waren wir uns einig, dass unser Vater und unsere Mutter von dem Menschenschlag ausgenommen waren, der von fl eischlichen Gelüsten heimgesucht wird. Wir waren nicht so kindisch zu glauben, unsere Eltern hätten nur die zwei Mal dem Sex gefrönt, die notwendig waren, um uns zu zeugen. Doch in ihrer Generation gebot es der Anstand, sich nur im Dunkeln der Liebe hinzugeben und ansonsten nie davon zu sprechen oder Notiz zu nehmen. Förmlichkeiten machten das Leben erträglich. Selbst von den intimsten Beziehungen sprach man in förmlichen Begriffen. Unser Vater trug stets einen reinen Kragen und eine Krawatte und einen Anzug mit Weste, ich kann mich schlicht nicht erinnern, ihn je anders gekleidet gesehen zu haben. Sein stahlgraues Haar war kurz geschnitten, und er hatte einen struppigen Schnurrbart und einen Kneifer, ohne sich bewusst zu sein, dass er damit das Aussehen des damaligen Präsidenten nachäffte. Und unsere Mutter mit ihrer ausladenden, nach der damals herrschenden Mode geschnürten Figur, das üppige Haar schneckenförmig hochgesteckt, war eine Gestalt von matronenhafter Fülligkeit. Die Frauen ihrer Generation trugen die Röcke knöchellang. Sie hatten kein Wahlrecht, was meine Mutter ganz und gar nicht störte, obwohl einige ihrer Freundinnen Suffragetten waren. Langley behauptete, die Ehe unserer Eltern sei im Himmel geschlossen worden. Damit meinte er keine große Liebe, sondern dass unsere Mutter und unser Vater ihr Leben in jungen Jahren brav nach den Vorschriften der Bibel ausgerichtet hatten.
In meinem Alter sollte man sich eigentlich an längst vergangene Zeiten erinnern können, auch wenn man nicht mehr weiß, was gestern geschah. Meine Erinnerungen an unsere seit Langem verstorbenen Eltern sind erheblich verblasst, als hätte das stete Zurückweichen in der Zeit sie schrumpfen lassen und sichtbare Einzelheiten verwischt, als hätte die Zeit sich in Raum verwandelt, in Entfernung, und Gestalten aus der Vergangenheit, selbst der eigene Vater und die eigene Mutter, wären zu weit fort, um sie zu erkennen. Sie bleiben in ihrer Zeit gefangen, die hinter dem weltweiten Horizont verschwunden ist. So sind sie mit ihrer Zeit und all deren Belangen zusammen untergegangen. Ich erinnere mich an Mädchen, die ich flüchtig kannte wie diese Eleanor, aber bei meinen Eltern zum Beispiel erinnere ich mich an kein einziges Wort, das einer von beiden je gesagt hätte.
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© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Ich bin Homer, der blinde Bruder. Ich habe mein Augenlicht nicht auf einmal verloren, es war, wie im Kino, ein langsames Ausblenden. Als man mir sagte, was da vor sich ging, wollte ich es messen, ich war damals noch keine zwanzig und voller Wissensdrang. In jenem Winter stellte ich mich an den See im Central Park, wo alle Schlittschuh liefen, und prüfte jeden Tag, was ich sehen konnte und was nicht. Zuerst verschwanden die Häuser am Central Park West, wurden immer dunkler, als lösten sie sich im dunklen Himmel auf, bis ich sie nicht mehr erkennen konnte, und dann verloren die Bäume allmählich ihre Konturen, und dann, gegen Ende der Jahreszeit, es mag im späten Februar dieses ausgesprochen kalten Winters gewesen sein, sah ich schließlich nur noch die phantomhaften Umrisse der Schlittschuhläufer auf einer Eisfläche an mir vorüberziehen, und dann wurde das weiße Eis, dieses letzte Leuchten, grau und dann gänzlich schwarz, und dann war mein Augenlicht vollkommen verschwunden, aber das Wuusch-wusch der Kufen auf dem Eis konnte ich deutlich hören, ein sehr befriedigendes Geräusch, leise und doch entschlossen, ein tieferer Ton, als man von Schlittschuhkufen erwarten würde, vielleicht weil sie den volltönenden Bass des Wassers unter dem Eis ausgelotet hatten, wuusch-wusch, wuusch-wusch. So hörte ich einen Schlittschuhläufer schnell irgendwohin eilen und dann die Drehung mit einem langen Skawuusch, wenn er wirbelnd zum Stillstand kam, und dann lachte auch ich vor Freude über sein Geschick, plötzlich schlagartig anzuhalten, er lief wuusch-wusch vor sich hin und dann auf einmal skawuusch.
Traurig war ich natürlich auch, aber zum Glück war ich damals noch ganz jung und kam mir überhaupt nicht behindert vor, sondern wechselte im Geiste zu meinen anderen Fähigkeiten wie meinem außerordentlichen Gehör, das ich zu einer nahezu visuellen Schärfe ausbildete. Langley sagte, ich hätte Ohren wie eine Fledermaus, und unterzog diese Behauptung einer Prüfung, weil er alles gern auf den Prüfstand stellte. Unser Haus war mir natürlich vertraut, alle vier Stockwerke, ich konnte mich mühelos in jedem Zimmer und die Treppen hinauf- und hinunterbewegen, da ich aus dem Gedächtnis wusste, wo alles war. Ich kannte den Salon, das Studierzimmer unseres Vaters, das Boudoir unserer Mutter, das Speisezimmer mit seinen achtzehn Stühlen und dem langen Walnusstisch, die Anrichte des Butlers und die Küchen, das Empfangszimmer, die Schlafzimmer, ich erinnerte mich, wie viele läuferbelegte Stufen zwischen den Stockwerken waren, ich brauchte mich nicht einmal am Geländer festzuhalten, und wenn mir jemand zugesehen hätte, der mich nicht kannte, hätte er nicht gemerkt, dass meine Augen tot waren. Aber Langley meinte, mein Gehör werde erst richtig auf die Probe gestellt, wenn keine Erinnerungen im Spiel seien, darum verrückte er die Möbel ein wenig, führte mich ins Musikzimmer, wo er zuvor den Flügel in eine andere Ecke geschoben und den japanischen Wandschirm mit den Reihern im Wasser mitten in den Raum gestellt hatte, und obendrein drehte er mich an der Tür so lange herum, bis mein Orientierungssinn völlig geschwunden war, und ich musste lachen, denn ob man's glaubt oder nicht, ich ging zielstrebig um den Paravent herum und setzte mich ans Klavier, als ob ich wüsste, wo Langley es hingestellt hatte, und ich wusste es tatsächlich, ich konnte Flächen hören, und ich sagte zu Langley, Eine blinde Fledermaus pfeift, so machen die das, aber ich musste gar nicht erst pfeifen, stimmt's? Er war wirklich verblüfft, Langley ist zwei Jahre älter als ich, und ich habe ihm immer gern imponiert, egal wie. Damals war er schon Student im ersten Studienjahr an der Columbia University. Wie machst du das?, fragte er. Das ist wissenschaftlich interessant. Ich sagte: Ich spüre, wo Formen die Luft verdrängen, oder ich spüre die von Gegenständen ausgehende Wärme, du kannst mich herumdrehen, bis mir schwindelig wird, aber ich weiß immer noch, wo die Luft von etwas Festem ausgefüllt ist.
Es gab auch andere Kompensationen. Ich wurde von Hauslehrern unterrichtet, und dann war ich natürlich am West End Konservatorium gut untergebracht, wo ich schon studierte, als ich noch sehen konnte. Meine Begabung als Pianist machte die Blindheit gesellschaftlich akzeptabel. Als ich älter wurde, sprach man von meiner ritterlichen Art, und die Mädchen mochten mich auf jeden Fall. Wenn New Yorker Eltern aus unseren gesellschaftlichen Kreisen damals sicherstellen wollten, dass ihre Tochter einen passenden Mann heiratete, bläuten sie ihr offenbar von Geburt an ein, sich vor den Männern in Acht zu nehmen und ihnen nicht recht zu trauen. Das war lange vor dem Ersten Weltkrieg, als die Zeit der Flapper-Girls und der rauchenden und Martinis trinkenden Frauen noch in unvorstellbarer Zukunft lag. Daher war ein gut aussehender, blinder junger Mann aus ehrbarer Familie besonders begehrt, denn er konnte nichts Ungehöriges tun, nicht einmal im Verborgenen. Seine Hilflosigkeit war von großem Reiz für Frauen, die von Geburt an selbst zur Hilflosigkeit erzogen waren. So fühlten sie sich stark und überlegen, durften ihr Mitgefühl hervorkehren, meine Blindheit konnte so manches bewirken. Eine Frau durfte aus sich herausgehen, sich ihren unterdrückten Gefühlen hingeben, was sie bei einem normalen Mann nicht ohne Gefahr tun konnte. Ich kleidete mich sehr sorgfältig, rasierte mich mit dem Rasiermesser, ohne mich je zu schneiden, und der Friseur ließ mein Haar nach meiner Anweisung ein wenig länger wachsen, als man es damals trug, und wenn ich dann bei einer geselligen Zusammenkunft am Klavier saß und zum Beispiel die Appassionata oder die Revolutionsetüde spielte, wehte mir das Haar um den Kopf - ich hatte damals viel Haar, dickes, braunes Haar, das in der Mitte gescheitelt war und an den Seiten glatt herunterfiel. Eine regelrechte Franz-Liszt-Mähne. Und wenn ich mit einer befreundeten jungen Dame auf einem Sofa saß und niemand in der Nähe war, küsste sie mich bisweilen, berührte mein Gesicht und küsste mich, und da ich blind war, konnte ich ihr scheinbar absichtslos die Hand auf den Schenkel legen, und dann stieß sie wohl einen leisen Schrei aus, ließ meine Hand aber dort liegen aus Furcht, mich in Verlegenheit zu bringen.
Ich würde meinen, für einen Mann, der nie verheiratet war, brachte ich den Frauen ein ungewöhnliches Feingefühl entgegen, ja, ich wusste sie sehr zu würdigen und darf freimütig gestehen, dass ich zu der hier beschriebenen Zeit das eine oder andere sexuelle Erlebnis hatte, dieser Zeit, als ich, noch keine zwanzig Jahre alt, das Leben eines gut aussehenden blinden jungen Mannes in New York führte, als unsere Eltern noch lebten und viele Soireen gaben und die Spitzen der New Yorker Gesellschaft in unserem Haus empfingen, einer monumentalen Reverenz an den spätviktorianischen Stil, ein Haus, das von modernen Neuerungen unberührt blieb - wie etwa den Einrichtungsplänen von Elsie de Wolfe, einer Freundin unserer Familie, die, nachdem mein Vater ihr nicht gestattete, das gesamte Haus modisch umzugestalten, nie wieder einen Fuß über unsere Schwelle setzte - und das ich immer behaglich, gediegen und verlässlich fand mit seinen großen Polstermöbeln und quastengeschmückten Empire-Stühlen und schweren Vorhängen vor den Gardinen an den bodenlangen Fenstern und mittelalterlichen, an vergoldeten Stangen hängenden Gobelins und Bücherschränken mit gewölbten Glastüren, seinen dicken Perserteppichen und Stehlampen mit troddelbesetzten Schirmen und dazu passenden Chinoiserie-Amphoren, in die man fast hineinkriechen konnte ... das alles war sehr eklektisch, legte gewissermaßen Zeugnis ab von den Reisen unserer Eltern und hätte auf Außenstehende ohne Weiteres wie ein wirres Durcheinander wirken können, doch uns erschien es normal und richtig, und es war unser Vermächtnis, Langleys und meins, dieses Leben mit ausgesprochen leblosen Dingen und der Notwendigkeit, um sie herumzugehen.
Unsere Eltern reisten jedes Jahr für einen Monat ins Ausland, stachen auf irgendeinem Ozeandampfer in See und winkten an der Reling, wenn ein riesiges Passagierschiff mit drei oder vier Schornsteinen - die Carmania? die Mauretania? die Neuresthania? - vom Pier ablegte. Dort oben wirkten sie ganz klein, so klein, wie ich mich an der Hand des Kindermädchens fühlte, das meine fest umklammerte, und das Tuten der Schiffssirene hallte in meinen Füßen wider, und die Möwen flatterten umher, als wollten sie dieses Ereignis feiern, als ginge dort etwas wahrhaft Großartiges vonstatten. Ich fragte mich immer, was aus den Patientinnen meines Vaters werden sollte, solange er fort war, denn er war ein berühmter Frauenarzt, und ich machte mir Sorgen, sie könnten krank werden und womöglich sterben, während sie auf seine Rückkehr warteten.
Meine Eltern liefen noch in England oder Italien oder Griechenland oder Ägypten oder sonst wo herum, da kündigte sich bereits ihre Rückkehr an durch Gegenstände, die in Kisten von der Railway Express Company an unserer Hintertür angeliefert wurden: antike islamische Kacheln und seltene Bücher und ein marmorner Wasserbrunnen und Büsten von Römern ohne Nase oder mit fehlenden Ohren und antike Schränke mit Fäkaliengeruch.
Und dann, endlich, waren mit großem Hurra Mutter und Vater selbst wieder da, nachdem ich sie fast schon vergessen hatte, sie stiegen vor unserem Haus aus dem Taxi und trugen die Schätze im Arm, die ihnen nicht vorausgeeilt waren. Als Eltern waren sie nicht gänzlich pflichtvergessen, denn sie brachten Langley und mir immer etwas mit, Geschenke, die jedes Jungenherz höher schlagen lassen, eine altertümliche Spielzeugeisenbahn zum Beispiel, die zu zerbrechlich war, um damit zu spielen, oder eine vergoldete Haarbürste.
Auch wir reisten, mein Bruder und ich, in unserer Jugend fuhren wir ständig ins Sommerlager. Unseres lag auf einer Hochebene mit Wäldern und Feldern an der Küste von Maine, einer guten Gegend, um der Natur zu huldigen. Je mehr unser Land unter Rauchwolken aus den Fabriken verschwand, je mehr Kohle aus den Bergwerken emporratterte, je mehr unsere mächtigen Lokomotiven durch die Nacht donnerten und riesige Erntemaschinen sich durchs Getreide fraßen und schwarze Autos auf den Straßen herumfuhren, hupten und ineinanderkrachten, desto mehr verehrten die Amerikaner die Natur. Meist wurde diese Anbetung den Kindern übertragen. Also hausten wir in primitiven Hütten in Maine, Jungen und Mädchen getrennt in benachbarten Lagern.
Ich stand damals in der Blüte meiner Sinne. Meine Beine waren gelenkig, meine Arme stark und muskulös, und ich konnte die Welt mit der ganzen unbefangenen Freude eines Vierzehnjährigen betrachten. Auf einer Meeresklippe unweit des Sommerlagers war eine Wiese mit üppigen wilden Brombeersträuchern, dort pflückten wir eines Nachmittags in Scharen die reifen Beeren, bissen durch die Haut in das feuchte, warme Fruchtfleisch und wetteiferten dabei mit den Hummelschwärmen, die wir von einem Strauch zum anderen jagten, während wir uns Beeren in den Mund stopften, bis uns der Saft übers Kinn rann. Mücken schwebten in dichten Schwaden durch die Luft, sie wogten auf und ab, dehnten und verdichteten sich wie astronomische Erscheinungen. Und die Sonne schien uns auf den Kopf, und hinter uns am Fuße der Klippe standen die schwarz-silbernen Felsen, die geduldig die Wellen empfingen und brachen, und dann kam das glitzernde, in Sonnenflittern aufstrahlende Meer, und all das lag vor meinen klaren Augen, während ich mich triumphierend diesem Mädchen zuwandte, mit dem ich mich zusammengetan hatte, Eleanor hieß sie, und ich breitete die Arme aus und verbeugte mich, als sei ich der Zauberer, der das alles für sie geschaffen hatte. Und irgendwie blieben wir, als alle weiterzogen, verschwörerisch hinter einem Dickicht von Brombeersträuchern zurück, bis wir die anderen nicht mehr hörten, und so waren wir ohne Aufsicht, was gegen die Lagerregeln verstieß, und kamen uns unglaublich erwachsen vor, doch auf dem Rückweg waren wir in Gedanken versunken und hielten Händchen, ohne es überhaupt zu merken.
Gibt es eine reinere Liebe als diese, wenn man nicht einmal weiß, was das ist? Meine Eleanor hatte eine feuchte, warme Hand, dunkles Haar und dunkle Augen. Dass sie gut einen Kopf größer war als ich, brachte weder sie noch mich in Verlegenheit. Ich erinnere mich an ihr Lispeln, wie ihre Zungenspitze zwischen den Zähnen stecken blieb, wenn sie ein S aussprach. Sie war keins dieser gesellschaftlich versierten, selbstsicheren Mädchen, die es im Sommerlager zuhauf gab. Sie trug die Einheitstracht aus grünem Hemd und grauer Pluderhose wie alle anderen auch, aber sie war so etwas wie eine Einzelgängerin, und in meinen Augen wirkte sie vornehm, bezaubernd, nachdenklich und von ähnlicher Sehnsucht erfüllt wie ich - wonach, hätten wir beide nicht sagen können. Dies war meine erste erklärte Zuneigung, und sie war derart ernsthaft, dass selbst Langley, der mit seiner Altersgruppe in einer anderen Hütte wohnte, mich nicht damit hänselte. Ich flocht eine Kordel für Eleanor und bastelte ihr ein kleines Kanu aus Birkenrinde.
Doch ach, jetzt bin ich in eine traurige Geschichte geraten. Das Jungenlager war von dem der Mädchen durch eine Baumgruppe getrennt, durch die sich so ein hoher Maschendrahtzaun zog, mit dem man sonst Tiere fernhält, darum war es ein gewagter Streich, wenn die älteren Jungen nachts über diesen Zaun stiegen oder darunter hindurchkrochen und sich jeder Autorität widersetzten, indem sie schreiend durch das Mädchenlager rannten, den nachjagenden Betreuern entschlüpften und an die Türen der Hütten schlugen, um drinnen ein freudiges Kreischen auszulösen. Eleanor und ich aber durchbrachen den Zaun, damit wir uns treffen konnten, wenn alles schlief, um unter den Sternen umherzuwandern und über das Leben zu philosophieren. Und so geschah es, dass wir in einer warmen Augustnacht etwa eine Meile die Landstraße hinuntergegangen waren und plötzlich vor einem Ferienheim standen, das wie unser Lager der Rückkehr zur Natur diente. Es war aber ein Ferienheim für Erwachsene, für Eltern. Von einem flackernden Licht in der ansonsten dunklen Villa angezogen, schlichen wir uns auf Zehenspitzen auf die Veranda und sahen im Fenster etwas Schockierendes, das man in späteren Zeiten als Pornofilm bezeichnet hätte. Die unsittliche Darbietung vollzog sich auf einer tragbaren Leinwand, die einem großen Fensterrollo glich. Im Gegenlicht erkannten wir das Schattenbild der Zuschauer, aufmerksame Erwachsene, die sich auf ihren Sesseln und Sofas nach vorn beugten. Ich erinnere mich an das Geräusch des Projektors, der sich unweit des offenen Fensters befand und surrte wie ein Feld voller Heuschrecken. Die Frau auf der Leinwand, nackt bis auf ein Paar hochhackige Schuhe, lag rücklings auf einem Tisch, und der Mann, gleichfalls nackt, stand vor ihr und hielt ihre Beine unter den Knien fest, sodass sie sich darbot, um sein Glied aufzunehmen, das er den Zuschauern zunächst eigens in der ganzen ungeheuren Größe vorführte. Der Mann war hässlich, glatzköpfig und dürr, das einzig Besondere an ihm war dieses jedes Maß übersteigende Merkmal. Während er wieder und wieder in die Frau hineinstieß, zog sie sich an den Haaren, wobei ihre Beine krampfartig nach oben zuckten, die Schuhspitzen stachen in rascher Folge in die Luft, als würde die Frau von elektrischen Stromstößen geschüttelt. Ich war gebannt - entsetzt, aber auch erregt, und das steigerte sich zu einem widernatürlichen, brechreizähnlichen Gefühl. Heute wundert es mich nicht, dass man bei der Erfindung des bewegten Bildes dessen pornografisches Potenzial sofort verstand.
Schrie meine Freundin leise auf, zupfte sie an meiner Hand, um mich wegzuziehen? Wenn ja, hätte ich es nicht bemerkt. Doch als ich wieder hinlänglich zur Besinnung gekommen war, drehte ich mich um, und sie war nirgends zu sehen. Ich rannte auf demselben Weg zurück, den wir gekommen waren, und sah in dieser mondhellen Nacht, einer Nacht so schwarz-weiß wie der Film, niemanden vor mir auf der Straße. Wir hatten noch einige Sommerwochen vor uns, doch meine Freundin Eleanor sprach nie wieder mit mir oder schaute auch nur in meine Richtung, eine Entscheidung, die ich akzeptierte, da mein Geschlecht mich zum Komplizen des männlichen Darstellers machte. Sie lief zu Recht vor mir davon, denn in dieser Nacht wurde die romantische Liebe in meinem Denken entthront und musste der Vorstellung weichen, Sex sei etwas, das man den Frauen antut, allen Frauen einschließlich der armen, scheuen, hochgewachsenen Eleanor. Das ist eine kindliche Illusion, die einem Vierzehnjährigen schlecht ansteht, aber sie hält sich hartnäckig auch bei erwachsenen Männern, selbst wenn sie Frauen begegnen, die kopulationsgieriger sind als sie selbst.
Natürlich fühlte auch ich mich beim Betrachten des geschmacklosen Filmchens nicht weniger von der Erwachsenenwelt betrogen als meine Eleanor. Damit will ich nicht sagen, meine Mutter und mein Vater hätten dort unter den Zuschauern gesessen - das war nicht der Fall. Ja, als ich mich Langley anvertraute, waren wir uns einig, dass unser Vater und unsere Mutter von dem Menschenschlag ausgenommen waren, der von fl eischlichen Gelüsten heimgesucht wird. Wir waren nicht so kindisch zu glauben, unsere Eltern hätten nur die zwei Mal dem Sex gefrönt, die notwendig waren, um uns zu zeugen. Doch in ihrer Generation gebot es der Anstand, sich nur im Dunkeln der Liebe hinzugeben und ansonsten nie davon zu sprechen oder Notiz zu nehmen. Förmlichkeiten machten das Leben erträglich. Selbst von den intimsten Beziehungen sprach man in förmlichen Begriffen. Unser Vater trug stets einen reinen Kragen und eine Krawatte und einen Anzug mit Weste, ich kann mich schlicht nicht erinnern, ihn je anders gekleidet gesehen zu haben. Sein stahlgraues Haar war kurz geschnitten, und er hatte einen struppigen Schnurrbart und einen Kneifer, ohne sich bewusst zu sein, dass er damit das Aussehen des damaligen Präsidenten nachäffte. Und unsere Mutter mit ihrer ausladenden, nach der damals herrschenden Mode geschnürten Figur, das üppige Haar schneckenförmig hochgesteckt, war eine Gestalt von matronenhafter Fülligkeit. Die Frauen ihrer Generation trugen die Röcke knöchellang. Sie hatten kein Wahlrecht, was meine Mutter ganz und gar nicht störte, obwohl einige ihrer Freundinnen Suffragetten waren. Langley behauptete, die Ehe unserer Eltern sei im Himmel geschlossen worden. Damit meinte er keine große Liebe, sondern dass unsere Mutter und unser Vater ihr Leben in jungen Jahren brav nach den Vorschriften der Bibel ausgerichtet hatten.
In meinem Alter sollte man sich eigentlich an längst vergangene Zeiten erinnern können, auch wenn man nicht mehr weiß, was gestern geschah. Meine Erinnerungen an unsere seit Langem verstorbenen Eltern sind erheblich verblasst, als hätte das stete Zurückweichen in der Zeit sie schrumpfen lassen und sichtbare Einzelheiten verwischt, als hätte die Zeit sich in Raum verwandelt, in Entfernung, und Gestalten aus der Vergangenheit, selbst der eigene Vater und die eigene Mutter, wären zu weit fort, um sie zu erkennen. Sie bleiben in ihrer Zeit gefangen, die hinter dem weltweiten Horizont verschwunden ist. So sind sie mit ihrer Zeit und all deren Belangen zusammen untergegangen. Ich erinnere mich an Mädchen, die ich flüchtig kannte wie diese Eleanor, aber bei meinen Eltern zum Beispiel erinnere ich mich an kein einziges Wort, das einer von beiden je gesagt hätte.
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Autoren-Porträt von E. L. Doctorow
Doctorow, E.L.E.L. Doctorow, geboren 1931 in New York City. Er erhielt für sein Werk zahlreiche Auszeichnungen.Für 'Der Marsch' (FTV / Bd. 18200), seinen Roman über den amerikanischen Bürgerkrieg, wurde er mit dem Pen/Faulkner Award ausgezeichnet. E.L. Doctorow starb am 21. Juli 2015 in New York.
Bibliographische Angaben
- Autor: E. L. Doctorow
- 2012, 2. Aufl., 224 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Gertraude Krueger
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 359619363X
- ISBN-13: 9783596193639
- Erscheinungsdatum: 05.10.2012
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