Hotel Nirgendwo
Roman
Ivana Bodrozic erzählt davon, wie Krieg zur Normalität wird. Ihr Debüt ist die Geschichte eines jungen Mädchens, das während des Krieges in Kroatien heranwächst, aber nie die Hoffnung verliert. Mit neun Jahren, 1991, muss sie aus Vukovar flüchten. Schon...
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Produktinformationen zu „Hotel Nirgendwo “
Klappentext zu „Hotel Nirgendwo “
Ivana Bodrozic erzählt davon, wie Krieg zur Normalität wird. Ihr Debüt ist die Geschichte eines jungen Mädchens, das während des Krieges in Kroatien heranwächst, aber nie die Hoffnung verliert. Mit neun Jahren, 1991, muss sie aus Vukovar flüchten. Schon bald ist ihr Vater verschwunden, täglich hofft sie auf eine Nachricht von ihm. Im Lager schließt sie neue Freundschaften und erlebt das, was Pubertät ausmacht. Das Buch ist ein großes Dokument der Selbstbehauptung, voller Witz und Leichtigkeit, ohne falsche Sentimentalität. Mit den Augen von Ivana Bodrozic betrachtet, erscheint die Realität des Krieges in einem neuen Licht.
Lese-Probe zu „Hotel Nirgendwo “
Hotel Nirgendwo von Ivana BodrozicÜbersetzt von Marica Bodrozic
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Auf dem Hauptbahnhof von Zagreb wartete ein Onkel auf uns. Wir fuhren durch die Stadt, die im Herbstlicht zu leuchten schien. Das Haus des Onkels war weit vom Zentrum entfernt, und mir kam es so vor, als hätten wir die Stadt längst wieder verlassen, aber dann erfuhr ich, dass das alles Zagreb war. Die Stadt war also so groß. Unsere Verwandten lebten in einer kleinen Zweizimmerwohnung im Souterrain. Uns brachten sie im oberen Stockwerk unter, wo alles leer stand. Ich schlief in der Regel unten bei meinen Cousinen, nur dann nicht, wenn wir uns gestritten hatten. Anfangs hatten wir es sehr schön miteinander. Mein Bruder und ich wurden von allen umgarnt, und in der neuen Schule mussten wir fast nie lernen. Ich bekam ohnehin immer Einsen.
An einem Nachmittag, meine Cousine und ich waren gerade auf dem Weg nach Hause und liefen auf einer Kiesstraße, hörten wir plötzlich das Heulen der Sirene, es war ein Luftalarm. Ich fing an zu schreien und zu weinen. Wir bekamen Panik und rannten in das nächstbeste Nachbarhaus. Es ist damals nichts weiter passiert, doch es hatte eine neue Zeitrechnung begonnen.
In der Wohnung unserer Verwandten wurde es immer enger. Als ich einmal das Badezimmer benutzen wollte, hinderte meine ältere Cousine mich daran, bat kurz um Verzeihung und sagte dann: »Das hier ist mein Haus, ich gehe da zuerst rein.« Und schon am nächsten Morgen, als wir gerade beim Frühstück saßen, sagte ihre jüngere Schwester zu meiner Mama: »Du isst uns noch das ganze Brot weg!« Am Anfang hatten sie ständig Kuchen gebacken, später nur noch zu besonderen Anlässen und dann gar nicht mehr. Dabei hatten wir ohnehin niemals den Kühlschrank aufgemacht, ohne sie vorher um Erlaubnis zu fragen. Manchmal, wenn wir uns schlafen legten, drangen ihre Stimmen aus der Küche zu uns, und wir konnten genau verstehen, was sie miteinander sprachen. Vater meldete sich in der Regel alle drei Tage bei uns, aber nun waren schon ganze acht Tage ins Land gezogen, ohne dass wir etwas aus Vukovar gehört hätten. An den Samstagen trafen wir uns mit Željka und ihrer Mutter auf dem großen Marktplatz im Zentrum der Stadt. Wir umarmten und küssten einander, als hätten wir uns seit Jahren nicht mehr gesehen. Die beiden lebten wie wir
bei Verwandten. Željkas und mein Vater waren zusammen in Vukovar geblieben. Wir versuchten uns immer wieder die Rückkehr in unsere Stadt auszumalen. Dann gingen wir einen Börek oder ein Eis essen. Auf dem Nachhauseweg schwiegen wir überwiegend.
Am Anfang waren die Leute aus Zagreb einfach die besseren Menschen für uns. Sie waren schöner angezogen, sie promenierten auf breiter angelegten Straßen und großen Plätzen, sie fuhren mit der Straßenbahn und machten dabei auch noch einen völlig gelassenen Eindruck, als würden sie nichts Besonderes tun. Sie besaßen Toaster und Spülmaschinen, und in ihren Zimmerecken waren jede Menge Spinnweben. So sahen wir sie. Bald fuhren auch wir mit der Straßenbahn, kostenlos, mit einem gelben Kärtchen. Wir prägten uns die Strecken einiger städtischer Linien ein. Ich konnte den ganzen Tag lang herumfahren und dabei Salzstangen essen. Wir mussten ständig in irgendwelchen Amtszimmern vorstellig werden, zum Roten Kreuz und zur Caritas gehen, um unsere Lebensmittel abzuholen.
Ich fand das alles sehr schön. Einmal bekamen wir von der Caritas eine Tasche voll mit Süßigkeiten und schleppten sie nach rnomerc zur Straßenbahn, die rappelvoll war. Eine fein hergerichtete Dame, die in unserer Nähe stand, sagte laut zu ihrer Freundin, die ganzen Flüchtlinge seien an dem Gedränge in der Tram schuld. »Sie fahren nur hin und her, den ganzen Tag lang geht das so, immer nur hin und her.«
Ich sah zu ihr hin und lächelte sie an, denn ich wusste ja, dass wir Vertriebene waren und keine Flüchtlinge, so wie die Menschen aus Bosnien. Nach zwei, drei Monaten Aufenthalt in Zagreb wurden ein paar Dinge schließlich für uns alle alltäglich. Es kam der Herbst, und die regnerischen Tage häuften sich. Langsam, aber sicher hörte das Ganze auf, für uns unterhaltsam zu sein. Die dreihundert Mark, die Mama mitgenommen hatte, waren inzwischen offenbar ausgegeben. Immer weniger Menschen kamen aus Vukovar heraus, die uns Nachrichten von unseren Verwandten überbrachten. Dann hörten wir eines Tages, die Alten seien umgebracht worden.
So nannten wir Papas Eltern. Abgeschlachtet. Das war das Wort. Ich hörte es sehr deutlich, während ich mich hinter dem Elektroherd versteckte, der zwischen Flur und Küche stand. Ich denke, die Erwachsenen wussten, dass ich dort war, taten aber so, als hätten sie mich nicht gesehen, und ich tat so, als hätte ich sie nicht gehört. Dann wurden alle wieder sehr nett zueinander, und ich vergaß den Vorfall. Mama verschwand immer öfter im Bad und kam mit geschwollenen Augen heraus. Papa hatte schon eine ganze Weile kein Lebenszeichen von sich gegeben. In dieser Zeit beteten meine kleinere Cousine und ich ständig zu Gott. Wir knieten vor der Couch nieder und beteten, für alles, was uns einfiel, und zwar so lautstark, dass uns niemand, der sich in unserer Nähe befand, überhören konnte. Wir beteten für den Frieden, für die kroatische Garde, für die Stadt Petrinja, für Cäsar und Kleopatra. Dann machten wir einen Unsinn nach dem anderen und lachten uns krumm, da passten wir aber auf, dass uns niemand dabei beobachten konnte. Die Erwachsenen lobten uns für unsere Gebete, und ich erzählte allen, dass ich später Nonne werden wollte. Wir gingen sogar so weit, eine heilige Messe durchzuspielen.
Eines Tages platzte während einer unserer Séancen der Postbote herein. Er hatte einen Brief von Papa in der Hand. Er schrieb, dass es ihm gutgehe und dass er nicht verwundet sei, dass wir ihm sehr fehlten und wir uns alle bald wiedersehen würden. Die Erwachsenen befanden, dies sei ein gutes Zeichen, und wenn irgendjemand die Männer aus dieser Hölle befreien könne, so seien es unschuldig betende Kinder wie wir. Wir waren stolz auf uns. Ein paar Tage später verguckte ich mich in Luka. Er war meine erste Liebe, obwohl er in eine höhere Schulklasse ging. Ich gab damals die Sache mit der Nonne auf, aber noch lange danach betete ich ergeben zu Gott.
*
Ich kam nach der zweiten Pause nach Hause. Mama saß im Dunkeln und war auf dem Stuhl zusammengesunken. In den Abendnachrichten sagten sie nichts, aber nach der Wetterprognose ließen sie das Lied Meine Rose von Prljavo Kazalište laufen. Sie wusste sofort, was das bedeutete. Die Stadt war gefallen. Die Slowenen ließen die Meldung über Teletext laufen. Aber unsere kroatischen Medien schwiegen. Vielleicht wusste man nicht, was man den Menschen eigentlich sagen sollte. Für uns scheint nun alles vorbei zu sein. Die Stadt ist gefallen, wer sich gerettet hat, der ist davongekommen. Was mit den anderen passiert, das weiß Gott allein. Meine Tante kommt und umarmt Mama. Sie sagt zu ihr, dass das nicht wahr sei, dass sie bestimmt lügen und dass die Slowenen kein Stück besser als die Serben seien. Vukovar ist gefallen, und das beunruhigt mich, weil ich nicht genau weiß, was das eigentlich bedeutet, und es kommt mir dumm vor, ausgerechnet jetzt danach zu fragen. Mama schickt mich ins Bett, und sie alle bleiben noch lange wach.
In den frühen Morgenstunden weckt uns das Läuten des Telefons. »Ich lebe, ich bin gesund, wir sehen uns bald.« Das befindet, wann wir uns sehen würden, von wo aus er uns anruft. Glücksübermannt springen wir auf den Betten herum. Wir umarmen uns. Wir küssen uns. An diesem Tag gingen mein Bruder und ich nicht in die Schule. Wir zogen uns an und machten uns zusammen mit Mama auf den Weg in die Stadt. Von dem Geld, das wir noch hatten, kauften wir etwas Fleisch und ein paar Kuchenstücke in der Konditorei. Mama und meine Tante räumten den ganzen Nachmittag auf. Und am Abend fingen wir mit dem Warten an. Ich las ihnen aus ihren Tassen den Kaffeesatz und rannte jedes Mal zum Fenster, wenn ich ein Auto zu hören glaubte. Obwohl es schon weit nach Mitternacht war, wurden wir nicht ins Bett geschickt. Wir nahmen an, dass Papa in Vinkovci war, dachten, dass dort Chaos und Unordnung ausgebrochen waren, vielleicht, so spekulierten wir, mussten alle durchsucht und irgendwie kategorisiert werden, möglicherweise musste man Fahrgelegenheiten finden und all solche Dinge. Schließlich gingen wir drei nach oben, Mama machte am Fenster eine Kerze an und blieb noch lange auf. Am nächsten Tag mussten wir zur Schule. Lidija, die mit mir in einer Klasse war, erzählte, ihr Vater hätte sich erst vorgestern herausgekämpft. Sie sagte, mein Vater sei bestimmt gefangen genommen worden. Ich rief nach dem Lehrer. Ich wollte nicht mehr neben ihr sitzen.
© Paul Zsolnay Verlag, Wien
Auf dem Hauptbahnhof von Zagreb wartete ein Onkel auf uns. Wir fuhren durch die Stadt, die im Herbstlicht zu leuchten schien. Das Haus des Onkels war weit vom Zentrum entfernt, und mir kam es so vor, als hätten wir die Stadt längst wieder verlassen, aber dann erfuhr ich, dass das alles Zagreb war. Die Stadt war also so groß. Unsere Verwandten lebten in einer kleinen Zweizimmerwohnung im Souterrain. Uns brachten sie im oberen Stockwerk unter, wo alles leer stand. Ich schlief in der Regel unten bei meinen Cousinen, nur dann nicht, wenn wir uns gestritten hatten. Anfangs hatten wir es sehr schön miteinander. Mein Bruder und ich wurden von allen umgarnt, und in der neuen Schule mussten wir fast nie lernen. Ich bekam ohnehin immer Einsen.
An einem Nachmittag, meine Cousine und ich waren gerade auf dem Weg nach Hause und liefen auf einer Kiesstraße, hörten wir plötzlich das Heulen der Sirene, es war ein Luftalarm. Ich fing an zu schreien und zu weinen. Wir bekamen Panik und rannten in das nächstbeste Nachbarhaus. Es ist damals nichts weiter passiert, doch es hatte eine neue Zeitrechnung begonnen.
In der Wohnung unserer Verwandten wurde es immer enger. Als ich einmal das Badezimmer benutzen wollte, hinderte meine ältere Cousine mich daran, bat kurz um Verzeihung und sagte dann: »Das hier ist mein Haus, ich gehe da zuerst rein.« Und schon am nächsten Morgen, als wir gerade beim Frühstück saßen, sagte ihre jüngere Schwester zu meiner Mama: »Du isst uns noch das ganze Brot weg!« Am Anfang hatten sie ständig Kuchen gebacken, später nur noch zu besonderen Anlässen und dann gar nicht mehr. Dabei hatten wir ohnehin niemals den Kühlschrank aufgemacht, ohne sie vorher um Erlaubnis zu fragen. Manchmal, wenn wir uns schlafen legten, drangen ihre Stimmen aus der Küche zu uns, und wir konnten genau verstehen, was sie miteinander sprachen. Vater meldete sich in der Regel alle drei Tage bei uns, aber nun waren schon ganze acht Tage ins Land gezogen, ohne dass wir etwas aus Vukovar gehört hätten. An den Samstagen trafen wir uns mit Željka und ihrer Mutter auf dem großen Marktplatz im Zentrum der Stadt. Wir umarmten und küssten einander, als hätten wir uns seit Jahren nicht mehr gesehen. Die beiden lebten wie wir
bei Verwandten. Željkas und mein Vater waren zusammen in Vukovar geblieben. Wir versuchten uns immer wieder die Rückkehr in unsere Stadt auszumalen. Dann gingen wir einen Börek oder ein Eis essen. Auf dem Nachhauseweg schwiegen wir überwiegend.
Am Anfang waren die Leute aus Zagreb einfach die besseren Menschen für uns. Sie waren schöner angezogen, sie promenierten auf breiter angelegten Straßen und großen Plätzen, sie fuhren mit der Straßenbahn und machten dabei auch noch einen völlig gelassenen Eindruck, als würden sie nichts Besonderes tun. Sie besaßen Toaster und Spülmaschinen, und in ihren Zimmerecken waren jede Menge Spinnweben. So sahen wir sie. Bald fuhren auch wir mit der Straßenbahn, kostenlos, mit einem gelben Kärtchen. Wir prägten uns die Strecken einiger städtischer Linien ein. Ich konnte den ganzen Tag lang herumfahren und dabei Salzstangen essen. Wir mussten ständig in irgendwelchen Amtszimmern vorstellig werden, zum Roten Kreuz und zur Caritas gehen, um unsere Lebensmittel abzuholen.
Ich fand das alles sehr schön. Einmal bekamen wir von der Caritas eine Tasche voll mit Süßigkeiten und schleppten sie nach rnomerc zur Straßenbahn, die rappelvoll war. Eine fein hergerichtete Dame, die in unserer Nähe stand, sagte laut zu ihrer Freundin, die ganzen Flüchtlinge seien an dem Gedränge in der Tram schuld. »Sie fahren nur hin und her, den ganzen Tag lang geht das so, immer nur hin und her.«
Ich sah zu ihr hin und lächelte sie an, denn ich wusste ja, dass wir Vertriebene waren und keine Flüchtlinge, so wie die Menschen aus Bosnien. Nach zwei, drei Monaten Aufenthalt in Zagreb wurden ein paar Dinge schließlich für uns alle alltäglich. Es kam der Herbst, und die regnerischen Tage häuften sich. Langsam, aber sicher hörte das Ganze auf, für uns unterhaltsam zu sein. Die dreihundert Mark, die Mama mitgenommen hatte, waren inzwischen offenbar ausgegeben. Immer weniger Menschen kamen aus Vukovar heraus, die uns Nachrichten von unseren Verwandten überbrachten. Dann hörten wir eines Tages, die Alten seien umgebracht worden.
So nannten wir Papas Eltern. Abgeschlachtet. Das war das Wort. Ich hörte es sehr deutlich, während ich mich hinter dem Elektroherd versteckte, der zwischen Flur und Küche stand. Ich denke, die Erwachsenen wussten, dass ich dort war, taten aber so, als hätten sie mich nicht gesehen, und ich tat so, als hätte ich sie nicht gehört. Dann wurden alle wieder sehr nett zueinander, und ich vergaß den Vorfall. Mama verschwand immer öfter im Bad und kam mit geschwollenen Augen heraus. Papa hatte schon eine ganze Weile kein Lebenszeichen von sich gegeben. In dieser Zeit beteten meine kleinere Cousine und ich ständig zu Gott. Wir knieten vor der Couch nieder und beteten, für alles, was uns einfiel, und zwar so lautstark, dass uns niemand, der sich in unserer Nähe befand, überhören konnte. Wir beteten für den Frieden, für die kroatische Garde, für die Stadt Petrinja, für Cäsar und Kleopatra. Dann machten wir einen Unsinn nach dem anderen und lachten uns krumm, da passten wir aber auf, dass uns niemand dabei beobachten konnte. Die Erwachsenen lobten uns für unsere Gebete, und ich erzählte allen, dass ich später Nonne werden wollte. Wir gingen sogar so weit, eine heilige Messe durchzuspielen.
Eines Tages platzte während einer unserer Séancen der Postbote herein. Er hatte einen Brief von Papa in der Hand. Er schrieb, dass es ihm gutgehe und dass er nicht verwundet sei, dass wir ihm sehr fehlten und wir uns alle bald wiedersehen würden. Die Erwachsenen befanden, dies sei ein gutes Zeichen, und wenn irgendjemand die Männer aus dieser Hölle befreien könne, so seien es unschuldig betende Kinder wie wir. Wir waren stolz auf uns. Ein paar Tage später verguckte ich mich in Luka. Er war meine erste Liebe, obwohl er in eine höhere Schulklasse ging. Ich gab damals die Sache mit der Nonne auf, aber noch lange danach betete ich ergeben zu Gott.
*
Ich kam nach der zweiten Pause nach Hause. Mama saß im Dunkeln und war auf dem Stuhl zusammengesunken. In den Abendnachrichten sagten sie nichts, aber nach der Wetterprognose ließen sie das Lied Meine Rose von Prljavo Kazalište laufen. Sie wusste sofort, was das bedeutete. Die Stadt war gefallen. Die Slowenen ließen die Meldung über Teletext laufen. Aber unsere kroatischen Medien schwiegen. Vielleicht wusste man nicht, was man den Menschen eigentlich sagen sollte. Für uns scheint nun alles vorbei zu sein. Die Stadt ist gefallen, wer sich gerettet hat, der ist davongekommen. Was mit den anderen passiert, das weiß Gott allein. Meine Tante kommt und umarmt Mama. Sie sagt zu ihr, dass das nicht wahr sei, dass sie bestimmt lügen und dass die Slowenen kein Stück besser als die Serben seien. Vukovar ist gefallen, und das beunruhigt mich, weil ich nicht genau weiß, was das eigentlich bedeutet, und es kommt mir dumm vor, ausgerechnet jetzt danach zu fragen. Mama schickt mich ins Bett, und sie alle bleiben noch lange wach.
In den frühen Morgenstunden weckt uns das Läuten des Telefons. »Ich lebe, ich bin gesund, wir sehen uns bald.« Das befindet, wann wir uns sehen würden, von wo aus er uns anruft. Glücksübermannt springen wir auf den Betten herum. Wir umarmen uns. Wir küssen uns. An diesem Tag gingen mein Bruder und ich nicht in die Schule. Wir zogen uns an und machten uns zusammen mit Mama auf den Weg in die Stadt. Von dem Geld, das wir noch hatten, kauften wir etwas Fleisch und ein paar Kuchenstücke in der Konditorei. Mama und meine Tante räumten den ganzen Nachmittag auf. Und am Abend fingen wir mit dem Warten an. Ich las ihnen aus ihren Tassen den Kaffeesatz und rannte jedes Mal zum Fenster, wenn ich ein Auto zu hören glaubte. Obwohl es schon weit nach Mitternacht war, wurden wir nicht ins Bett geschickt. Wir nahmen an, dass Papa in Vinkovci war, dachten, dass dort Chaos und Unordnung ausgebrochen waren, vielleicht, so spekulierten wir, mussten alle durchsucht und irgendwie kategorisiert werden, möglicherweise musste man Fahrgelegenheiten finden und all solche Dinge. Schließlich gingen wir drei nach oben, Mama machte am Fenster eine Kerze an und blieb noch lange auf. Am nächsten Tag mussten wir zur Schule. Lidija, die mit mir in einer Klasse war, erzählte, ihr Vater hätte sich erst vorgestern herausgekämpft. Sie sagte, mein Vater sei bestimmt gefangen genommen worden. Ich rief nach dem Lehrer. Ich wollte nicht mehr neben ihr sitzen.
© Paul Zsolnay Verlag, Wien
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Autoren-Porträt von Ivana Bodrozic
Ivana Bodrozic, geboren 1982 in Vukovar/Kroatien. Ihre Lyrik wurde in internationalen Literaturmagazinen und Anthologien abgedruckt. Für ihr Romandebüt erhielt sie mehrere Preise, u.a. den Kiklop-Preis (2010).
Bibliographische Angaben
- Autor: Ivana Bodrozic
- 2012, 220 Seiten, Maße: 13,3 x 20,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Marica Bodrozic
- Übersetzer: Marica Bodrozic
- Verlag: Paul Zsolnay Verlag
- ISBN-10: 3552055614
- ISBN-13: 9783552055612
Rezension zu „Hotel Nirgendwo “
"Über ein Kind, das in unfassbaren Umständen aufwächst und dabei trotzdem erwachsen wird ... Die Lektüre dieses Romans hat mich tief bewegt." Janne Teller"Mit ihrem Roman hat Ivana Bodrozic einer ganzen Epoche Kroatiens ihr Zeichen aufgedrückt. Das ist das Höchste, was ein Autor erreichen, das ist der größte Sinn, den Literatur haben kann." Miljenko Jergovic
"Die erste Liebe, die erste Trennung, im Bombenhagel? Nein, so plakativ behandelt die 1982 geborene Autorin ihr Thema nicht. Auf sehr beiläufige, aber nicht minder berührende Weise erzählt sie die Geschichte eines kroatischen Mädchens, vielleicht wie sie selbst eines war, das nur in die Ferien fahren wollte - und nicht mehr aus ihnen zurückkommt, weil die Welt über Nacht eine andere geworden ist." Jutta Sommerbauer, Die Presse, 26. 02. 2012
"Ein unaufdringlich eindringlicher Roman über die Selbstbehauptung eines Mädchens unter traumatisierenden Bedingungen." Johan Dehoust, Kultur-Spiegel, 27.02.2012
"Ein fesselndes Buch über den Drang zu überleben und zu leben - ein erstaunliches und beeindruckendes literarisches Debüt." Margarete von Schwarzkopf, NDR, 28.02.2012
"Bodrozic hat in einer einfachen Sprache den adäquaten Ausdruck eines Mädchens gefunden, dessen Entwicklung vom Kind zum Teenager wir Leser begleiten. (...) Hier findet kein bemühtes Psychologisieren statt, man wird mit keiner gekünstelten naiv-klugen Kinderperspektive gequält. Ein bemerkenswertes Debüt." Regula Freuler, NZZ am Sonntag, 04.03.2012
"Ein Dokument der Zeitgeschichte, und zugleich durch den sachlichen Blick der Heldin, die nie sentimentale, sondern durch Witz und jugendliche Coolness anrührende Beschreibung des demütigenden Flüchtlingsdaseins. (...) Ivana Bodrozic fasst das Schwere in leichte Worte, ohne dessen Bedeutung zu schmälern." Barbara von Becker, Frankfurter Rundschau, 21.03.2012"Bodrozic stellt die Protagonistin nicht als bemitleidenswertes junges Opfer dar, ihr Schmerz wegen des in Vukovar gebliebenen und
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verschwundenen Vaters ist kein mit Ethnokitsch aufgeladener Erinnerungsballast. Ihre Protagonistin bewahrt urban arroganten Humor." Doris Akrap, taz, 10.04.2012
"In eindringlicher, kindlich-poetischer Sprache erzählt die 1982 in Vukovar geborene Ivana Bodrozic in ihrem berührenden Romandebüt aus der Perspektive ihrer heranwachsenden Heldin, was es heißt, mit neun Jahren die Heimat und den Vater zu verlieren und sechs Jahre lang mit der Mutter und dem älteren Bruder in einem neun Quadratmeter großen Zimmer zu hausen." Sabine Berking, FAZ, 25.05.2012
"Ein Buch, welches das Private im besten Sinn politisch zu machen versteht, ein Dokument souveräner Menschlichkeit, voller Witz und Leichtigkeit." Andreas Breitenstein, Neue Zürcher Zeitung, 12.06.2012
"In eindringlicher, kindlich-poetischer Sprache erzählt die 1982 in Vukovar geborene Ivana Bodrozic in ihrem berührenden Romandebüt aus der Perspektive ihrer heranwachsenden Heldin, was es heißt, mit neun Jahren die Heimat und den Vater zu verlieren und sechs Jahre lang mit der Mutter und dem älteren Bruder in einem neun Quadratmeter großen Zimmer zu hausen." Sabine Berking, FAZ, 25.05.2012
"Ein Buch, welches das Private im besten Sinn politisch zu machen versteht, ein Dokument souveräner Menschlichkeit, voller Witz und Leichtigkeit." Andreas Breitenstein, Neue Zürcher Zeitung, 12.06.2012
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