Ich beschütze dich
Plötzlich stand er vor ihrer Tür. Sie beschloss, ihn bei sich zu behalten. Für immer.
Ein junger Mann steht unerwartet vor Sonias Tür. Er möchte sich etwas von ihrem Mann ausleihen. Vom ersten Moment an...
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Produktinformationen zu „Ich beschütze dich “
Plötzlich stand er vor ihrer Tür. Sie beschloss, ihn bei sich zu behalten. Für immer.
Ein junger Mann steht unerwartet vor Sonias Tür. Er möchte sich etwas von ihrem Mann ausleihen. Vom ersten Moment an übt Jez eine verstörende Wirkung auf Sonia aus, und sie spürt, dass sie von einem dunklen Sog erfasst wird, der stärker ist als sie selbst. Jez rührt an ihren tiefsten Obsessionen und Sonia ist bereit, bis zum Äußersten zu gehen.
Klappentext zu „Ich beschütze dich “
Plötzlich stand er vor ihrer Tür. Sie beschloss, ihn bei sich zu behalten. Für immer.Sonia liebt das alte Haus an der Themse, in dem sie schon ihre Kindheit verbracht hat und in dem sie jetzt mit ihrem Mann Greg lebt. Doch eines Tages geschieht etwas, das ihren geordneten Alltag in den Grundfesten erschüttert - denn es steht ein junger Mann vor ihrer Tür, der sich eine seltene Schallplatte von Greg ausleihen möchte. Vom ersten Moment an übt Jez eine verstörende Wirkung auf Sonia aus, und sie spürt, dass sie von einem dunklen Sog erfasst wird, der stärker ist als sie selbst. Noch kann sie nicht ahnen, dass sich ihr Leben von diesem Moment an unaufhaltsam auf einen Abgrund zubewegt. Denn Jez rührt an die tiefsten Obsessionen ihrer Seele - und Sonia ist bereit, zum Äußersten zu gehen, damit sie endlich ihren Frieden findet ...
Lese-Probe zu „Ich beschütze dich “
Ich beschütze dich von Penny Hancock Kapitel Eins
Freitag
Sonia
... mehr
Er kommt zu mir, als das Geplapper der Schulkinder auf dem Fußweg verklungen ist. Später werden Leute auf dem Weg in den Pub in die entgegengesetzte Richtung strömen. Der Wasserbus wird zum letzten Mal an diesem Abend Richtung Westen in die Stadt fahren, die Ketten rasseln und den Schiffsanleger ächzen lassen. Aber im Moment ist es still, beinahe, als würden der Fluss und ich warten.
Er kommt zu der Tür in der Hofmauer.
»Ich will nicht stören«, sagt er und windet sich verlegen. Er hat so einen anmutigen Körper, weiß jedoch noch nicht, was er damit anstellen soll. »Aber auf der Party hat Ihr Mann was von einer Platte erzählt.«
Ich starre an ihm vorbei. Anfang Februar, das Licht am Himmel schwindet. Ich rieche Bierhefe in der Brise, die den Fluss heraufweht. Den bitteren Duft der Pomeranzen, die in der Küche zu Marmelade zerkochen. Neben dem Blubbern aus dem Kochtopf hinter mir höre ich Cat Stevens im Radio »Wild World« singen. Die Zeit überschlägt und verheddert sich in meinem Kopf.
Ich richte den Blick auf sein Gesicht.
»Komm rein«, sage ich. »Kein Problem. Um welche ging es noch mal?«
»Um eine von Tim Buckley. Sie ist nicht mehr zu bekommen, nicht mal übers Internet. Er hat gesagt, er hätte das Album. Wissen Sie noch? Ich nehme die Platte schnell auf und bringe sie dann wieder zurück.«
»Kein Thema.« Ich rede, als wäre ich so alt wie er. »Cool!« Innerlich zucke ich zusammen. Ich kann Kits Kommentar dazu fast hören. »Mein Gott, Mum, tu nicht so, als wärst du sechzehn. Das ist arm.«
Er betritt den Hof durch die Tür in der Mauer. Der Blauregen zeichnet sich als schwarzes Stahlgekritzel ab, wie Stacheldraht, der sich über Gefängnismauern schlingt. Er folgt mir durch den Hof und über die Schwelle in den Flur. Unter den Duft der Pomeranzen mischt sich der Geruch des Bohnerwachses, den Judy benutzt. Er kommt in die Küche. Geht zum Fenster, blickt auf den Fluss. Dann dreht er sich um und sieht mich an. Zugegeben, mir huscht der Gedanke durch den Kopf, er könnte hergekommen sein, weil er mich attraktiv findet. Junge Männer und ältere Frauen, so was hört man immer wieder. Aber ich reiße mich zusammen.
»Ich wollte mir gerade ein Gläschen einschenken«, sage ich und drehe die Flamme unter der Marmelade kleiner, die heftig brodelt und sicher schon gelieren würde. »Trink doch was mit.«
Eigentlich trinke ich vor sechs nie etwas, trotzdem halte ich leichthin Flaschen hoch, Wodka - ich weiß ja, dass Teenager Wodka lieben -, Gregs Bier, sogar eine Flasche Rotwein, die wir vor Jahren zurückgelegt haben, damit der Wein reift und wir ihn an Kits einundzwanzigstem Geburtstag öffnen können.
Er zuckt mit den Schultern. »Warum nicht«, sagt er. »Wenn Sie sowieso was aufmachen.«
»Was würdest du denn gerne trinken?«, hake ich nach. »Komm, sag schon.«
»Dann Rotwein.«
Jungen in seinem Alter reden durchaus mit einem, sie müssen nur etwas auftauen. Das weiß ich von Kits Freunden, die jahrelang bei uns rein- und rausspaziert sind, bevor Kit ausgezogen ist. Diese Jungs bestanden nur aus Pickeln und Haaren vor den Augen und großen Füßen. Abgesehen von dem Bitte und Danke, das ihre Eltern ihnen eingetrichtert hatten, blieben sie stumm. Man musste sie etwas aufziehen und über Bands reden, damit sie den Mund aufmachten. Jez ist anders. Bei Jez muss ich mich nicht anstrengen. Er ist unkompliziert. Für einen Teenager gibt er sich ziemlich unbefangen. Bestimmt, weil er in Frankreich lebt. Oder weil wir das Gefühl haben, wir würden uns kennen, obwohl wir vorher kaum ein paar Worte gewechselt haben.
Er wendet sich vom Fenster ab, setzt sich an den Küchentisch und stützt einen Fuß auf das andere lange Bein, so dass mir die riesige Sohle seines Turnschuhs beinahe ins Gesicht starrt. Diese Jungen heutzutage, diese Kindmänner, gab es so noch nicht, als ich jung war. Seit damals haben sie sich entwickelt. Mit ihren gut durchmischten Genen haben sie sich der modernen Welt besser angepasst. Sie sind größer und kräftiger. Weicher. Sanfter.
»Das Haus ist echt krass. Direkt am Fluss. Ich würde es nicht verkaufen.«
Er trinkt das halbe Glas mit einem Schluck aus. »Aber es ist bestimmt eine Menge wert.«
»Ach, ich weiß gar nicht, was das Haus wert ist«, sage ich. »Es gehörte meinen Eltern. Sie haben hier viele Jahre gewohnt, beinahe ihre ganze Ehe über. Ich habe es geerbt, als mein Vater gestorben ist.«
»Cool.« Nach einem weiteren Schluck ist sein Glas leer. Ich schenke ihm nach.
»So würde ich auch gern wohnen«, sagt er. »An der Themse, rechts ein Pub, um die Ecke der Markt. Sie haben hier alles. Musikläden. Clubs. Warum wollen Sie umziehen?«
»Ich gehe nirgendwohin«, versichere ich ihm.
»Aber Ihr Mann hat auf der Party ...«
»Ich werde das Flusshaus nie verlassen!«
Das kommt schroffer, als ich wollte. Doch diese Dinge höre ich nicht gerne. Greg findet, dass wir umziehen sollten, das stimmt, aber wir sind uns nicht einig. »Niemals. Das könnte ich gar nicht«, sage ich sanfter.
Er nickt.
»Ich wollte aus dieser Gegend auch nicht weg. Aber Mum meinte, London wäre schlecht für mein Asthma, Greenwich besonders. Das war mit ein Grund, warum wir nach Paris gezogen sind.«
Dunkle Haarsträhnen fallen ihm über ein Auge. Er wirft sie zurück und sieht mich unter langen, perfekt geformten schwarzen Augenbrauen her an. Mir fällt sein geschmeidiger Hals mit dem flachen Adamsapfel auf. Die dreieckige Vertiefung am Übergang von der Kehle zum Brustbein. Auf seiner Haut liegt ein Schimmer, den ich gerne berühren würde. Körperlich ist er erwachsen, aber alles an ihm ist strahlend und neu.
Ich möchte ihm erzählen, dass ich im Flusshaus bleiben muss, um Seb nahe zu sein. Irgendwo in den Wogen des Flusses, in den täglichen Gezeiten ist er immer noch da, ein Aufblitzen von buntem Öl auf der Oberfläche. Ein Kräuseln, eine Luftblase, ein Rauschen bringen ihn zurück. Das habe ich noch nie jemandem erzählt. Nur wenige Menschen würden es verstehen, und um das Klischee zu bemühen: Seit damals ist viel Wasser die Themse runtergeflossen. Ein ganzes Leben. Ich bin sicher, dass Jez es verstehen würde. Aber ich lasse den Augenblick verstreichen. Etwas hält mich davon ab, es ihm zu erzählen. Es ist viel zu nah, als dass ich es scharf sehen könnte. Stattdessen sage ich: »In Paris zu wohnen ist bestimmt aufregend.«
»Es ist ganz nett. Aber mir fehlen meine Kumpel und die Band. Bald komme ich sowieso zurück. Hab mir Oberstufen- Colleges angesehen. Wo man Musik belegen kann.«
»Hat deine Tante schon erzählt.«
»Helen?«
»Ja.«
Ich bin etwas irritiert, dass er sie Helen nennt. Das klingt so vertraut. Wie albern. Niemand sagt mehr »Tante«. Was habe ich denn erwartet?
»Hast du schon eine Schule gefunden, an der du dich bewerben willst?«
Wie er das Gesicht verzieht, zeigt mir, dass er keine Lust hat auf diese Art von Gespräch, in dem Erwachsene fragen, was er mal werden will. Für solches Gerede ist er zu ungestüm. Trotzdem denke ich: Ich könnte dir helfen. Theater, Musik, das ist meine Welt.
»Alle sagen immer ›oh, Paris‹, aber eine Stadt ohne Freunde ist Mist. Ich mag London lieber. Irgendwie kann es keiner begreifen, wenn ich das sage.«
»Ich verstehe das«, sage ich.
Die Marmelade auf dem Herd geliert bereits. Ich sollte den Trichter holen und sie in Gläser füllen, aber ich muss auf meinem Stuhl bleiben, in seinem Blickfeld.
»Wenn du willst, kannst du rauflaufen und dir das Album holen«, sage ich. »Es ist im Musikzimmer, oben neben der Treppe.«
»In dem Zimmer mit dem Keyboard?«
Ach richtig. Mir fällt ein, dass er schon einmal hier war, vor ein oder zwei Jahren mit Helen und Barney. Das war im Sommer. Seine Stimme eine Oktave höher, die Wangen gerötet. Mit einem Mädchen, das ihm nicht von der Seite wich. Alicia. Damals habe ich ihn kaum wahrgenommen.
Er rührt sich nicht.
»Machen Sie immer noch was mit Schauspielern und so?«, fragt er. »Echt irre.«
»Was?«
Als er grinst, wird sein Mund breiter, als ich erwartet hätte. Ich muss mich an der Stuhlkante festklammern, um die Fassung zu wahren.
»Irre. Cool. Dass Sie so viele Schauspieler kennenlernen. Die ganzen Leute aus dem Fernsehen. Was machen Sie noch mal?«
Ich bilde Stimmen aus, antworte ich. Er will wissen, was das bedeutet, was man dabei macht. Ich versuche zu erklären, wie die Stimme eine Bedeutung unterstreichen kann, wenn Worte nicht ausreichen. Im Gegenzug kann sie dem widersprechen, was tatsächlich gesagt wird. Das ist natürlich für Schauspieler nützlich, aber auch im normalen Leben.
Während ich rede, hört er auf eine sonderbare Art zu, die mich verwirrt. Er hört so zu wie Seb früher, die Augen halb geschlossen, auf den Lippen ein leises Lächeln. Um sein Interesse nicht zu zeigen.
Die Weinflasche haben wir beinahe geleert. Die Marmelade ist im Topf sicher schon erstarrt.
»Sie kennen bestimmt ein paar berühmte Leute. Auch Rockstars? Gitarristen?«
»Rockstars eigentlich nicht. Aber ein paar Leute, die ... nützlich sind. Die immer nach frischen Talenten suchen.«
Er beugt sich vor, die Augen weit aufgerissen und strahlend.
Das also treibt ihn an.
»Ich will später mal in einer richtigen Band Gitarre spielen «, sagt er. »Das ist das Größte für mich.«
»Wenn du die Platte holst, kannst du eine von Gregs Gitarren mit runterbringen. Da oben steht eine nette Sammlung.«
»Eigentlich muss ich los«, sagt er.
Natürlich muss er gehen. Er ist ein fünfzehnjähriger Junge. Auf dem Weg zu seiner Freundin, bevor er morgen Vormittag in St. Pancras den Zug nach Paris nimmt.
»Ich soll sie im Fußgängertunnel unter der Themse treffen, genau in der Mitte zwischen Nord- und Südlondon.«
»Du sollst? Sagt sie das?«
»Na ja.« Als er mich ansieht, ist er plötzlich doch nur ein verlegener Teenager.
»Wir haben die Gehwegplatten gezählt, um die Mitte zu finden«, sagt er. »Eigentlich wollten wir die weißen Kacheln zählen, aber es waren zu viele.«
»Wie alt ist sie?«, frage ich.
»Alicia? Sie ist fünfzehn.«
Fünfzehn. Also hat sie keine Ahnung, dass es nie wieder so sein wird wie jetzt.
»Ich gehe rauf und hole die Platte.« Er stolpert leicht. Der Wein ist ihm direkt zu Kopf gestiegen. Kit würde sagen, der kann wohl nichts vertragen.
»Trink noch ein Glas. Ich schenke dir nach, während du oben bist. Geh ruhig. Geh nach oben.«
Während ich ihn hinauflaufen höre, immer zwei Stufen auf einmal, öffne ich eine zweite Flasche. Eine billige dieses Mal, aber das wird Jez nicht auffallen. Ich fülle sein Glas und gebe einen Schuss Whisky dazu. Über dem Fluss weht eine Wolke weiter, und ein letzter Sonnenstrahl gleitet über den Tisch. Eine Sekunde lang sind die Gläser, die Flaschen und die Obst- schale in ein warmes, bernsteinfarbenes Licht getaucht.
Wieder fällt mir die Marmelade ein, aber ich rühre mich nicht.
Als das Telefon klingelt, nehme ich ab, ohne nachzudenken. Es ist Greg. Er kommt sofort zur Sache.
»Ich habe mit Burnett Shaws geredet.«
»Mit wem?«
»Der Maklerfirma. Sie sollen das Haus schätzen. Das ist ganz unverbindlich. Aber ich will mal eine Zahl hören, was Ungefähres, dann weiß ich eher, was ich mir hier draußen ansehen kann.«
Ich bringe kein Wort heraus. Jez ist mit Gregs akustischer Gitarre zurück in die Küche gekommen. Beim Hinsetzen schlägt er sie gegen den Tisch, und sie hallt nach.
»Was war das?«, fragt Greg. »Ist jemand bei dir?«
»Nein, niemand. Hör zu, ich will darüber jetzt nicht reden. Du weißt, wie ich dazu stehe. Du kannst doch nicht über meinen Kopf hinweg Entscheidungen treffen.«
»Wenn wir mal vernünftig darüber reden könnten, müsste ich das auch nicht.«
Ich beiße mir auf die Lippe. Mir Unvernunft vorzuwerfen ist immer Gregs letzte Waffe.
Bevor ich widersprechen kann, hat er das Gespräch schon beendet.
»Die Platte konnte ich nicht finden«, sagt Jez. »Aber ich habe diese Gitarre entdeckt. Darf ich sie mal kurz ausprobieren? « Seine Stimme lockert die Anspannung, die Greg in mir ausgelöst hat.
»Natürlich. Natürlich darfst du das.« In dem Moment erscheint mir das einfach nur richtig.
Die nächste Stunde ist für mich die schönste an diesem Abend. Bevor der Alkohol ihn so weit gebracht hat, dass er nicht mehr gehen könnte - selbst wenn er wollte. Wir sitzen zusammen und reden, und er spielt. Er erzählt mir von Tim Buckley. Musik zu machen sei für ihn das Gleiche gewesen »wie zu reden«.
»Mir geht es genauso«, sagt Jez. »Sie bringen den Leuten bei, wie sie sich mit ihrer Stimme ausdrücken können. Aus dem gleichen Grund spiele ich Gitarre.«
Er ist gut. Ich wusste, dass er gut sein würde. Er spielt etwas Klassisches, vielleicht von John Williams, etwas, das sprudelt und perlt wie Wasser. Die Gitarre ist eine Verlängerung seines Körpers, die Musik strömt aus seiner Seele. Seine Finger scheinen sich kaum zu bewegen, wenn er die Saiten zupft. Das schwarze Haar hängt ihm ins Gesicht. Als der Alkohol Wirkung zeigt und er nicht mehr spielen kann, stellt er die Gitarre auf den Boden, mit dem Griffbrett an seinen Oberschenkel gelehnt.
Er sagt mir noch einmal, wie sehr ihm mein Haus gefällt. Der Fluss direkt da draußen. Die Gerüche! Das Licht. Die Geräusche. Hören Sie! Und wir sitzen da und erraten die Klänge, die für mich längst selbstverständlich sind. Das unregelmäßige Schlagen der Wellen gegen die Ufermauer, das Rasseln und dumpfe Pochen vom alten Kohlenanleger, das Wummern von Hubschraubern. Stadtmusik nennt Jez das.
»So ein Leben wünsche ich mir auch«, sagt er. »Musik, Wein, ein Haus an der Themse.«
Mittlerweile bin ich auch etwas betrunken. Dieser Abend soll nie zu Ende gehen.
»Es ist okay, Seb. Du musst nicht gehen.«
»Jez«, sagt er.
»Was?«
»Ich heiße Jez, nicht Seb.«
Es ist schon spät, als er schließlich aufsteht und beinahe hinfällt. Er hält sich am Stuhl fest.
»Soll ich bleiben und Ihnen Gesellschaft leisten?«, lallt er, und ich erröte beinahe.
»Ich glaube«, sage ich mit meiner Mutterstimme, »du brauchst eher etwas Schlaf.«
Er ist schon halb weggetreten, bevor ich ihn richtig in das alte Eisenbett im Musikzimmer verfrachtet habe. Als ich ihn hinlege, fallen mir seine Socken auf. Am rechten großen Zeh ist ein Loch, und ich muss an ein Nähutensil von meiner Mutter denken, ein pilzförmiges Ding, mit dem sie abends dasaß und unsere Socken stopfte, und ich frage mich, ob es irgendwo auf der Welt wohl noch einen Stopfpilz gibt. Was für ein seltsamer Gedanke, während ich ihm die Socken von den Füßen rolle und die Arme aus seinem Kapuzenpulli ziehe.
Ich überlege, ob ich ihm die Jeans ausziehen soll, die so locker auf seinem schmalen Becken sitzt, unter den Muskeln, die wie ein goldenes Dreieck auf die Knöpfe am Hosenschlitz zulaufen. Wenn er wach wird, hätte er es bequemer. Aber ich will ihn nicht in Verlegenheit bringen, also lasse ich ihm die Hose an. Im Badezimmer fülle ich ein Glas mit Wasser und stelle es auf den Nachttisch. Wenn er früher aufwacht als erwartet, weiß er so, dass ich für ihn sorge.
Bevor ich das Zimmer verlasse, beuge ich mich hinunter und fahre mit meiner Nase sanft an seinem Kopf entlang. Er riecht leicht nach Shampoo. Als ich an seinem Hals an komme, nehme ich seinen eigenen männlichen Duft nach Zedern und Salz wahr. In einem Ohrläppchen trägt er ein kleines, schwarzes Horn. Seine Haare ergießen sich in Locken auf sein Schlüsselbein. Ich streiche sie sanft zurück, damit ich die Nase gegen die weiche, blasse Stelle hinter seinem Ohr drücken kann. Dort halte ich inne.
Auf dem Hals unter dem Haaransatz prangt unverkennbar ein kleiner Bluterguss. Ein Knutschfleck, würde Kit sagen. Von der dunklen Mitte breiten sich blutige Einsprengsel aus. Alicia? Sie hat sein Fleisch in ihren Mund gesogen, bis die Kapillaren platzten und bluteten. Eine rote Wunde unter seiner makellosen Haut. Und plötzlich starre ich auf eine rot verfärbte Kerbe von einem Seil, das seine Zähne in eine andere milchweiße Kehle gegraben hat. Minutenlang kann ich den Blick nicht abwenden.
Schließlich beuge ich mich tiefer und drücke einen sanften Kuss auf den blutunterlaufenen Fleck. »Alles ist gut«, flüstere ich. »Ich beschütze dich, das verspreche ich dir.«
Dann decke ich ihn zu, stecke das Oberbett an der Seite leicht fest und gehe leise hinaus.
Kapitel Zwei
Samstag
Sonia
Wenn man an der Themse wohnt, gewöhnt man sich an ihre Geräusche und Geheimnisse. An die Rettungsboote, die beim Herauf- und Herunterrasen Kielwasserspuren durch den Fluss ziehen. Man gewöhnt sich an die Leichen, die aus seiner Tiefe gezogen werden. Daran, dass er immer in eine Richtung fließt, ohne Wiederkehr, obwohl er sich an jedem Tag zweimal füllt und leert. Verlässt man den Fluss, ist man abgeschnitten vom Wesen der Dinge.
Mit Greg und Kit auf dem Land zu leben war verlorene Zeit. Ich habe mich nach der Stadt gesehnt, nach ihrem Schmutz und der Anonymität. Fern von London bin ich nachts oft wach geworden und war überzeugt davon, der Fluss wäre immer noch ganz nah. Selbst nach vielen Jahren dort hat es immer eine Weile gedauert, bis ich mich zurechtgefunden hatte. Bis mir klar wurde, dass ich eine erwachsene Frau mit Mann und Kind war und die Stadt weit weg war. Dann ruckte die Realität an ihren Platz, und unendliche Traurigkeit überkam mich.
Als wir vor fünf Jahren in das Flusshaus zurückgekehrt sind, waren die Möbel mit Staublaken abgedeckt. Meine Mutter legt Wert darauf, Dinge zu erhalten. Ihre Sommerkleidung bewahrt sie im Winter in Koffern auf, sauber zusammengelegt zwischen Schichten aus Seidenpapier. Von ihr habe ich auch die Tradition übernommen, Marmelade zu kochen und Früchte einzulegen. Aber ich hatte immer das Gefühl, dass die Laken weniger ihre Möbel vor dem Staub schützen sollten, als vielmehr ihren unterschwelligen Widerwillen zeigten, mir das Haus zu überlassen.
Es war wie ein Segen, dass ich nach dem Willen meines Vaters das Haus erbte. Doch jeder Segen hat seinen Preis. Meine Mutter braucht mich jetzt in ihrer Nähe, um ihr etwas zu holen und zu tragen, um zuzuhören und Geduld zu haben. Aber in ihrem Haus wollte sie mich nie haben, woran sie mich geflissentlich immer wieder erinnert.
Am nächsten Morgen wache ich auf, bevor es richtig hell geworden ist. Vom Fluss tönt das Putt Putt Putt einer Barkasse herüber. Ich würde gerne liegen bleiben und dieses Gefühl genießen. Eine Art Erfülltsein. Ein Vollständigsein. Wie in der Nacht, nachdem du ein Kind zur Welt gebracht hast, und du es einfach nur ansiehst. Wie der Augenblick, wenn ihr beide erkennt, dass ihr das Gleiche füreinander empfindet. Nur noch kostbarer dadurch, dass du jetzt weißt, wie selten solche Momente sind.
Auf dem Fußweg erklingen Schritte, als die ersten Standinhaber zum Markt eilen. Weiches, graues Licht sickert um die Ränder der Vorhänge. Ich gehe zum Fenster und ziehe sie zurück. In Canary Wharf ragen die Häuser blass in die Höhe, ihre Glasfassaden reflektieren den Perlmutthimmel, der über Blackwell mit der aufgehenden Sonne in einen pfirsichfarbenen Schimmer übergeht. Es ist eisig kalt draußen.
Der Fluss verströmt einen stechenden Geruch, den durchdringenden Gestank nach öligem Matsch, der bei Ebbe herrscht. Er wird seine Beute präsentieren. Seine neue Lieferung wird offen verstreut am Ufer liegen: Kisten, Autoreifen, Fahrradräder. Das übliche Treibgut kenne ich, aber es gibt auch immer etwas Unerwartetes. Heute früh habe ich allerdings keine Zeit, Strandgut zu sammeln. Ich ziehe meinen Kimono über und sehe nach ihm.
Sein Gesicht wirkt im Morgenlicht des Musikzimmers blasser, und für einen Sekundenbruchteil überfällt mich die Angst, ich könnte es übertrieben haben. Er hat etwas von Asthma gesagt. Ich habe mal gelesen, Alkohol könne einen Anfall auslösen. Als ich mich über ihn beuge, spüre ich erleichtert seinen Atem auf meiner Wange.
Er rührt sich nicht, und ich hebe eine seiner Hände hoch. Betrachte die schlanken Finger mit Nägeln, die lang genug sind, um die Gitarrensaiten zu zupfen. Mit einem ist er irgendwo hängen geblieben, er ist leicht eingerissen. Rosafarbene Haut überzieht seine Fingerkuppen, wie bei einem Kind. Auf dem Handrücken wachsen keine dicken, dunklen Haare, nur ein paar filigrane Goldhärchen, die das Licht einfangen. Eine kräftige, blaue Vene zieht sich über seinen Unterarm. Ich fahre mit einem Finger darüber und beobachte, wie das Blut sich durch den Druck staut und sich anschließend wieder verteilt. Seb hatte genau die gleiche Vene, die am deutlichsten hervortrat, wenn er sich anstrengte, wenn er etwa die Fangleine packte, die er um einen Anleger geworfen hatte. Wenn er sich auf den Pfahlsteg hievte. Oder wenn er mit eisernem Griff meine Handgelenke packte.
Ich lasse Jez' Arm sinken und betrachte sein Gesicht. Den etwas dunkleren Hautton muss er von seinem franco-algerischen Vater geerbt haben. Das Kinn kantig, leicht vorspringend, die Bartstoppeln ganz weich, ganz flaumig, eine zarte Schicht schwarzer Stippen unter der Haut. Als ich mit den Lippen darüberstreiche, kann ich sie kaum spüren. Ich bin wieder bei Seb. Die Nase an seinem Hals vergraben rieche ich zum ersten Mal die Mischung aus Rauch und Männer- schweiß. Durch sein Hemd spüre ich die Kuppen und Täler seines Körpers.
Nachdem ich mich von ihm vollgesogen habe, muss ich weitermachen wie immer. Meine Mutter wartet wie jeden Samstagmorgen auf meinen Besuch und würde sich beschweren, wenn ich ihn ausließe. Wenn ich jetzt sofort gehe, bin ich zurück, bevor Jez aufwacht. Er schläft tief und fest, und wenn ich Teenager halbwegs kenne, wird sich daran den Großteil des Vormittags über nichts ändern. Ich sehe ihm noch kurz dabei zu, wie er sich umdreht. Dann schlüpfe ich widerwillig hinaus.
Draußen scheint die Morgensonne hell, obwohl die Luft so kalt ist, dass sie mir beim Atmen in der Kehle brennt. Auf den Wänden am Fußweg glitzert Frost, und unter meinen Füßen spüre ich knirschendes Eis. Überreste der Flut, die letzte Nacht offenbar so hoch gestiegen ist, dass sie den Fußweg erreicht hat.
Noch vor einer Woche lag Schnee. Durch den Zaun der Seniorenwohnanlage habe ich zufällig einen Tuff Schneeglöckchen gesehen, die in einem kleinen Kreis aus Gras wuchsen, von dem der Schnee geschmolzen war. Das strahlende Weiß ihrer gesenkten Köpfchen vor dem unverhofften Grün verschlug mir den Atem, und ich lief schnell nach Hause, um meinen Fotoapparat zu holen. Bis ich wieder draußen war, reichte das Licht nicht mehr, und am nächsten Tag war der Schnee zu Matsch geworden. Ich hatte Angst, der Verlust dieses Bildes würde an mir nagen. Vor so etwas muss ich mich in Acht nehmen. Vor Dingen, die ich bedauere, die sich in mich graben und mich auffressen.
Das Altersheim meiner Mutter liegt zehn Busminuten entfernt. Sie ist dort eingezogen, als das Flusshaus zu viel für sie wurde, als ihr Verstand Aussetzer bekam und ihr Körper sie langsam im Stich ließ. Während ich eilig über den weichen Teppich im Flur laufe, versuche ich, nicht die Küchendüfte aus den einzelnen Wohnungen einzuatmen. Max, der hier auch seine Mutter besucht und zu so etwas wie einem Freund geworden ist, kommt aus Nummer 10. Fröhlich winkend wünscht er mir einen guten Morgen, also winke ich zurück. Manchmal frage ich mich, ob Max mich für einen Single hält und mich gerne näher kennenlernen würde. Ein Flirt könnte schon Spaß machen, aber ich habe Greg. Meinen Ehemann. Was auch immer dieses Wort bedeutet.
»Ich habe dir deine Zeitung und Gin mitgebracht.« In der Tüte, die ich meiner Mutter gebe, liegen außerdem die Slipeinlagen, die ich für sie kaufe. Aus Taktgefühl erwähnen wir beide sie niemals.
Ich drücke kurz die Lippen auf ihr flaumweißes Haar. Es macht mich betroffen, dass ich mich hinunterbeugen muss, um meine eigene Mutter zu küssen, die früher so tatkräftig war und mich um einen halben Kopf überragt hat. Sie begrüßt mich nicht, als ich ihre Wohnung betrete, sondern wendet mir den Rücken zu und fragt mich, ob ich einen Kaffee trinken möchte. Dann fängt sie von den anderen Bewohnern an.
»Im Aufenthaltsraum gibt es jetzt einen Filmclub. Aber was die aussuchen. Nur Mist.«
»Schlag doch selbst mal was vor.«
»Darauf würden die nicht hören. Das merkt man schon beim Fernsehen. Die würden sich lieber Turniertanzen als einen anständigen Film ansehen.«
»Was ist mit Oliver? Er macht doch einen netten Eindruck. «
»Ach, dieser alte Langweiler ist viel zu weibisch.«
Ich glaube, mit einem neuen Mann in ihrem Leben könnte meine Mutter nachsichtiger werden. Wir würden vielleicht mehr miteinander reden, wie ich es mir bei anderen Müttern und Töchtern vorstelle.
Ich setze mich in einen ihrer Chintzsessel vor den Balkontüren und lasse mir von der Sonne den Schoß wärmen und die gefrorenen Lippen auftauen. Mutter müht sich bis zur Anrichte vor, wo sie Tassen, Untertassen und eine Kaffeemaschine bereitgestellt hat, eine verschrumpelte Hand auf der Rückenlehne des Sofas, mit der anderen stützt sie sich an der Wand ab.
»Es ist noch früh. Du hast bestimmt nicht gefrühstückt. Ich habe Kaffee, aber mehr kann ich dir nicht anbieten. Außer Grape Nuts, aber ich weiß ja, dass du das nicht leiden kannst.«
»Ich brauche nichts, danke. Ich hole mir was auf dem Heimweg.«
»Dein Vater hat mich ja auf Grape Nuts gebracht. Er meinte, man sollte es vor dem Essen mindestens eine halbe Stunde in Milch durchweichen lassen.«
»Ja, ich weiß.«
»Wenn ich einen anständigen Kühlschrank hätte, so wie im Flusshaus, könnte ich mich mit Kuchen eindecken. So kann ich dir nur ein Garibaldi anbieten. Mehr nicht.«
Zeit für ein anderes Thema.
»Neue Tabletten, Mutter?«
Auf dem Tablett mit ihren Medikamenten steht ein silbernes Tablettendöschen, das ich noch nie gesehen habe.
»Die hat mir der Doktor zum Schlafen gegeben«, sagt sie.
»Das Co-Codamol wirkt ganz gut gegen die Schmerzen, aber die Nächte sind schlimm.«
»Ja, hast du schon gesagt.«
»Du weißt ja nicht, wie es ist, so früh morgens aufzuwachen und nicht wieder einschlafen zu können.«
Natürlich weiß ich es. Die endlosen Nächte, wenn sich die Seele nicht beruhigen lässt. Sie sind zurückgekehrt, seit Kit ausgezogen ist und Greg so oft verreist. Ich liege wach und mache mir Sorgen. Um dich, Mutter, darum, wie ich mit deinem Verfall fertigwerden soll, wo unsere Beziehung von so wenig Liebe getragen wird. Ich mache mir Sorgen um Kit da draußen in der großen, weiten Welt. Und ich bekomme richtig Angst, wenn ich mir vorstelle, dass du Greg gewinnen lässt und er mir das Flusshaus wegnimmt.
Mit dem Rücken zu mir schenkt meine Mutter Kaffee ein. Ich spüre, wie sie die Schultern anspannt. Ihre weiße Dauerwelle wippt leicht. Ich zucke zusammen. Keine Frage, was jetzt kommt.
»Ich kann nicht schlafen, weil ich mir Sorgen um das Flusshaus mache. Die Fenster müssen erneuert werden. Das Dach. Und dann dein Stimmtraining.«
»Was meinst du damit?«
»Es kann Greg doch nicht recht sein, dass du im Haus Termine machst.«
»Natürlich ist es ihm recht. Er hat mir geholfen, alles einzurichten! Das weißt du doch.«
»Was hätte dein Vater nur gesagt? Dieses Kommen und Gehen Tag und Nacht. Das ist doch keine Art zu arbeiten, dass man die Leute bei sich zu Hause herumschnüffeln lässt.«
»Ich habe durch die schlechte Wirtschaftslage schon ein paar Schüler verloren. Vielleicht leidet das Geschäft noch mehr.«
Sie kommt zurück, mit einem Porzellanteller so unsicher in einer Hand, dass die Kekse beinahe herunterrutschen. Als ich aufstehe, um sie zu retten, weicht meine Mutter verärgert aus. Ich setze mich wieder.
»Warum willst du dann unbedingt bleiben? Obwohl alle anderen sich verändern wollen? Warum machst du immer Probleme, Sonia? Greg glaubt, das Haus wäre ... was war es noch, ein paar Millionen? Nein. Unmöglich! Ach je. Ich komme mit den Nullen durcheinander. Auf jeden Fall ist es eine Goldgrube! Aber du willst ja unbedingt bleiben!«
»Du hast mit Greg gesprochen?« Ich merke selbst, wie scharf ich klinge.
»Ab und zu ruft er an. Wir unterhalten uns. Das weißt du doch. Das Flusshaus hängt mir wie ein Mühlstein um den Hals. Es ist an der Zeit, dass etwas geschieht. Er versteht das. Nur du stellst dich quer, Sonia.«
Mittlerweile bin ich kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. Ich stehe auf und sage, ich müsste mal. In ihrem Badezimmer kralle ich mich am Rand des Waschbeckens fest, zähle bis zehn und versuche, meine Wut unter Kontrolle zu bekommen. Sie weiß, wie mich dieses Thema aufregt. Trotzdem fängt sie immer wieder davon an! Ich denke an die vielen Dinge, die ich für sie mache. Die kleinen Opfer, die ich ständig bringe, damit sie zufrieden ist, und trotzdem kann sie mich nicht da lassen, wo ich sein muss. Jetzt, da Jez friedlich im Musikzimmer liegt, verletzt mich das noch mehr. Ihretwegen habe ich darauf verzichtet, bei ihm zu sein. Was, wenn er geht, bevor ich zurückkomme? Wenn ich ihn verloren habe, weil ich sie mit Gin und ihrer Zeitung besänftigen wollte?
Wieder in ihrem Wohnzimmer entschuldige ich mich und sage, dass ich an diesem Morgen nur zwanzig Minuten bleiben kann. Zum Glück scheint meine Mutter das Thema Flusshaus vergessen zu haben. Sie reicht mir einen Kaffee und verbringt den Rest meines Besuchs mit Erinnerungen an die Gesangslehrerin, die sie als Mädchen einmal im Klassenzimmer mit einem Stück Kreide beworfen hat. Sie erinnert sich noch an die Farbe des Lippenstifts, den die Lehrerin getragen hat. Sogar an den Choral, den sie an diesem Morgen gesungen haben.
»Ich bitte nicht um Überfluss», stimmt sie mit brüchiger Stimme an. Ihre blassblauen Augen werden feucht, als sie in die Vergangenheit abdriftet. »Und Schätze dieser Erden, lass mir, so viel ich haben muss, nach deiner Gnade werden ...«
Dieses Abgleiten in frühere Zeiten soll ja im Alter normal sein, denke ich, als ich endlich wieder den Flur hinuntereile. Komisch ist nur, dass es mir in letzter Zeit, seit Kit ausgezogen ist, auch schon passiert.
Erinnerungen schleichen sich an. Sie reiben sich an mir wie eine Katze, die einem um die Beine streicht und schnurrend keine Ruhe gibt. Aus heiterem Himmel heraus überkommt es mich. Manchmal ein Gefühl der Nostalgie, öfter eine bestürzende Welle aus Schuld, Scham und Bedauern. Ich wünschte, ich könnte mit meiner Mutter darüber reden, aber in ihren Reaktionen schwingen immer Kritik und Vorwürfe mit. Es gibt so viele Orte, an die ich mich mit ihr nicht wage.
Greg und sogar Kit, die jetzt so alt ist wie ich, als ich das Haus zum ersten Mal verlassen habe, sagen, die Vergangenheit sei vorbei. Man macht weiter. Lange habe ich es auch so gesehen. Immerhin habe ich studiert und als Schauspielerin gearbeitet. Ich habe Greg geheiratet, eine Tochter bekommen und mich selbstständig gemacht. Die Vergangenheit war ausgelöscht. Manchmal macht es mich richtig benommen, wie viele Jahre verstrichen sind.
Aber seit Kurzem weiß ich, dass Zeit nicht vergeht, sondern alles irgendwie zurückkehrt. So wie der Fluss in Greenwich eine Schleife beschreibt, erscheinen weit zurückliegende Jahre näher als andere, die gerade vergangen sind, und vergessene Augenblicke drängen sich in die Gegenwart. Zum Beispiel ist es ein Schock, ein wunderbarer Schock, dass ich mich heute Morgen beim Aufwachen genauso gefühlt habe wie mit dreizehn, als Seb und ich uns zum ersten Mal geküsst haben. Eine Offenbarung, dass ich die Sehnsucht von damals - seine Wimpern an meinen Fingern zu spüren, meine Zunge auf seinen Lippen - immer noch in mir trage. Die Zeit ist von mir abgefallen wie ein Staublaken, das zu Boden gleitet, und hat enthüllt, was sich schon immer darunter verbarg.
Kapitel Drei
Samstag
Sonia
Im Bus überkommt mich eine Erinnerung, als wir an dem Starbucks vorbeifahren, in dem früher unser Süßwarenladen war.
Ein Sommertag. Mitten in einer Hitzewelle. Ich war dreizehn. Wo war meine Mutter an diesem Tag? Sie muss schon als Lehrerin gearbeitet haben, denn ich fühlte mich freier, als wenn sie zu Hause war.
Ich spüre noch, wie mir der Baumwollstoff meines Sommerkleids leicht über die Oberschenkel strich, als ich vom Laden über den Fußweg nach Hause ging. Ich saugte an einem Orangeneis am Stiel. Mit meinen Flipflops blieb ich an den Pflastersteinen hängen, die von den Getränken und dem verkleckerten Eis der anderen Leute ganz klebrig waren. Vom Fluss stieg ein durchdringender, metallischer Geruch auf, gemischt mit Teer und Alkohol. In dieser Gegend hing immer der Geruch von Bier in der Luft, aus den Pubs und den leeren Flaschen von den Leuten, die auf der Ufermauer gesessen und getrunken hatten. Es herrschte Ebbe. Verträumt ging ich an der Anlegestelle in der Nähe unseres Hauses die steile Steintreppe hinunter und lutschte dabei an meinem Eis. Die Wasserpflanzen, die die Stufen oft rutschig machten, waren eingetrocknet. Unten angekommen schleuderte ich die Flipflops von den Füßen und stellte mich ans Ufer. Das Wasser schwappte kühl über meine Füße. Zwischen meinen Zehen quoll Matsch hervor. Ich krallte sie um die kleinen, runden, harten Dinger, die im Schlamm vergraben waren.
»Sonia! Soniiiaaa!«
Aufgeschreckt aus meiner Trance blickte ich auf. Auf dem Fluss balancierten Seb und sein Freund Mark auf dem Rand eines alten, verankerten Lastkahns, nackt bis auf ihre Unterhosen, die schwer vom Wasser schlabberten. Mark gab Seb einen ordentlichen Schubs.
»He, Sonia, Hiiilfe!«, schrie Seb. In gespielter Angst ruderte er mit den Armen, kippte seitlich ins Wasser und verschwand in der Tiefe. Mark brach vor Lachen fast zusammen. Als Seb nach einer Weile nicht nach oben gekommen war, sprang Mark hinterher. Jetzt waren beide in der braunen Brühe untergetaucht, die vor lauter Schmodder kaum die Sonne widerspiegelte. Sekunden verstrichen. Minuten. Nichts durchbrach die kompakte Oberfläche. Mein Herz hämmerte, mein Mund wurde trocken, das Eis klebte an meiner Zunge.
Endlich ein Platschen. Ein Kopf. Mark. Er kletterte auf den Lastkahn und verschwand im Bug.
Immer noch kein Seb.
Ich watete ins Wasser, starrte auf den unbewegten Fluss. Die Anlegestellen runter Richtung Blackwell flirrten vor Hitze. Alles wurde still.
Eine vorüberfahrende Motorbarkasse sandte mir Wellen entgegen, die vor meine Schienbeine schwappten, bevor wieder Stille eintrat. Mein Herz hörte auf zu schlagen. Ich bekam keine Luft. Die Welt war stehen geblieben.
Dann endlich ein Wuuusch!
Kurz vor mir tauchte Seb auf, tropfend vor Öl und Flussschmodder. Er wankte auf mich zu, packte mich am Arm und zog mich näher. Erst wehrte ich mich. Ließ den Rest von meinem Eis fallen, grub ihm meine Nägel in die Schultern. Er lachte. Ich wollte ihn treten, aber ich hatte keine Chance, er war viel stärker als ich. Bald reichte mir das Wasser bis an die Oberschenkel, mein Kleid klebte an der Haut. Er zog noch einmal, und ich verlor das Gleichgewicht. Nach der Hitze war das kühle Wasser eine Wohltat. Wild um mich spritzend verfolgte ich ihn, und er zog mich auf: »Oooh, du machst mir ja Angst.«
Mark kam herüber. Beide sprangen auf mich und drückten mir den Kopf unter Wasser. Seb packte meine Beine. Ich schlug um mich, versuchte vergeblich, sie an den Haaren zu reißen, und biss Mark fest in den Arm. Mit einem Schrei ließ er mich los, und ich sog tief die muffige Luft ein, als mein Gesicht wieder im Sonnenschein badete.
Das nasse Kleid, das im kalten, trüben Wasser gegen meine Haut klatschte. Sebs starke Hände an meinen Knöcheln. Über uns die pralle Sonne.
»Zeit für ein Bier!«, rief Seb und ließ mich los. Er und Mark kraulten los, aber zu den Lastkähnen statt zum Ufer. Ich folgte ihnen und versuchte, kein Flusswasser in den Mund zu bekommen. Angeblich enthielt es Gifte, die einen lähmen konnten. Das Wasser fühlte sich dickflüssig an und klebte auf meiner Haut. Unter der stinkenden Oberfläche war nichts zu erkennen. Da drin kann man Fotos entwickeln, sagten die Leute. Es war kaum noch Wasser, eher eine Chemiebrühe. Beim Schwimmen spürte ich, wie etwas meine Beine streifte. Die kribblige Berührung einer Plastiktüte, einen Knuff von etwas Großem, Schleimigem. Ich versuchte, gar nicht daran zu denken, was mich noch berühren, was an mir lecken könnte. Oder mich sogar fressen.
In der Mitte des Flusses fuhr ein Wasserbus vorbei, dessen Fahrgäste fröhlich winkten. Die Anlegestellen an der Isle of Dogs lagen unter einer dicken, grauen Dunstglocke. An den Lastkähnen versuchte ich mich nach oben zu ziehen, wie die Jungs es getan hatten, aber ich rutschte an der Algenschicht am Rand ab. Ich zog mir Splitter in die Hände und brach mir die Nägel ab, als ich mich an der Seitenwand festkrallen wollte.
»Schwächling!«, rief Mark. »Echt armselig, was, Seb?«
»Lass sie ihn Ruhe«, sagte Seb, und mir ging das Herz auf. Nahe beim Heck fand ich einen Reifen an der Schiffswand, in den ich den Fuß stemmen konnte, um an Bord zu klettern. Die Jungs hatten aus einem alten Fischernetz eine Tasche gebastelt, sie an ein Seil gebunden und darin Bierdosen und Chipstüten mitgebracht. Die Bierdosen hatten sie im Netz ins kühlende Wasser gehängt. Wir legten uns auf den heißen Holzboden, wo uns von draußen niemand sehen konnte, und ließen von der Sonne unsere nasse Kleidung trocknen. Es machte leise Klopf Klopf Klopf, wenn die Kähne zusammenstießen. Dann fuhr ein Polizeiboot vorbei und schlug solche Wellen, dass die Kähne schwankten, knarrten und erschreckend heftig aneinanderknallten und wir herumgeworfen wurden wie in einem Sturm.
Als sie wieder still lagen, gab es nichts außer der Sonne, dem brennend heißen Holz und uns. »Mach mal so«, sagte Seb zu mir und formte mit den Lippen ein O.
Ich tat, was er wollte. Er nahm einen Schluck Bier, beugte sich über mich, presste seine Lippen auf meine und ließ die Flüssigkeit langsam in meinen Mund sickern. Sie schmeckte nach Blech und fühlte sich im Vergleich zu ihm kühl an. Mir wurde komisch, als würden meine Beine in der Sonne schmel
Aus dem Englischen von Eva Kemper
© der deutschsprachigen Erstveröffentlichung 2013 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Er kommt zu mir, als das Geplapper der Schulkinder auf dem Fußweg verklungen ist. Später werden Leute auf dem Weg in den Pub in die entgegengesetzte Richtung strömen. Der Wasserbus wird zum letzten Mal an diesem Abend Richtung Westen in die Stadt fahren, die Ketten rasseln und den Schiffsanleger ächzen lassen. Aber im Moment ist es still, beinahe, als würden der Fluss und ich warten.
Er kommt zu der Tür in der Hofmauer.
»Ich will nicht stören«, sagt er und windet sich verlegen. Er hat so einen anmutigen Körper, weiß jedoch noch nicht, was er damit anstellen soll. »Aber auf der Party hat Ihr Mann was von einer Platte erzählt.«
Ich starre an ihm vorbei. Anfang Februar, das Licht am Himmel schwindet. Ich rieche Bierhefe in der Brise, die den Fluss heraufweht. Den bitteren Duft der Pomeranzen, die in der Küche zu Marmelade zerkochen. Neben dem Blubbern aus dem Kochtopf hinter mir höre ich Cat Stevens im Radio »Wild World« singen. Die Zeit überschlägt und verheddert sich in meinem Kopf.
Ich richte den Blick auf sein Gesicht.
»Komm rein«, sage ich. »Kein Problem. Um welche ging es noch mal?«
»Um eine von Tim Buckley. Sie ist nicht mehr zu bekommen, nicht mal übers Internet. Er hat gesagt, er hätte das Album. Wissen Sie noch? Ich nehme die Platte schnell auf und bringe sie dann wieder zurück.«
»Kein Thema.« Ich rede, als wäre ich so alt wie er. »Cool!« Innerlich zucke ich zusammen. Ich kann Kits Kommentar dazu fast hören. »Mein Gott, Mum, tu nicht so, als wärst du sechzehn. Das ist arm.«
Er betritt den Hof durch die Tür in der Mauer. Der Blauregen zeichnet sich als schwarzes Stahlgekritzel ab, wie Stacheldraht, der sich über Gefängnismauern schlingt. Er folgt mir durch den Hof und über die Schwelle in den Flur. Unter den Duft der Pomeranzen mischt sich der Geruch des Bohnerwachses, den Judy benutzt. Er kommt in die Küche. Geht zum Fenster, blickt auf den Fluss. Dann dreht er sich um und sieht mich an. Zugegeben, mir huscht der Gedanke durch den Kopf, er könnte hergekommen sein, weil er mich attraktiv findet. Junge Männer und ältere Frauen, so was hört man immer wieder. Aber ich reiße mich zusammen.
»Ich wollte mir gerade ein Gläschen einschenken«, sage ich und drehe die Flamme unter der Marmelade kleiner, die heftig brodelt und sicher schon gelieren würde. »Trink doch was mit.«
Eigentlich trinke ich vor sechs nie etwas, trotzdem halte ich leichthin Flaschen hoch, Wodka - ich weiß ja, dass Teenager Wodka lieben -, Gregs Bier, sogar eine Flasche Rotwein, die wir vor Jahren zurückgelegt haben, damit der Wein reift und wir ihn an Kits einundzwanzigstem Geburtstag öffnen können.
Er zuckt mit den Schultern. »Warum nicht«, sagt er. »Wenn Sie sowieso was aufmachen.«
»Was würdest du denn gerne trinken?«, hake ich nach. »Komm, sag schon.«
»Dann Rotwein.«
Jungen in seinem Alter reden durchaus mit einem, sie müssen nur etwas auftauen. Das weiß ich von Kits Freunden, die jahrelang bei uns rein- und rausspaziert sind, bevor Kit ausgezogen ist. Diese Jungs bestanden nur aus Pickeln und Haaren vor den Augen und großen Füßen. Abgesehen von dem Bitte und Danke, das ihre Eltern ihnen eingetrichtert hatten, blieben sie stumm. Man musste sie etwas aufziehen und über Bands reden, damit sie den Mund aufmachten. Jez ist anders. Bei Jez muss ich mich nicht anstrengen. Er ist unkompliziert. Für einen Teenager gibt er sich ziemlich unbefangen. Bestimmt, weil er in Frankreich lebt. Oder weil wir das Gefühl haben, wir würden uns kennen, obwohl wir vorher kaum ein paar Worte gewechselt haben.
Er wendet sich vom Fenster ab, setzt sich an den Küchentisch und stützt einen Fuß auf das andere lange Bein, so dass mir die riesige Sohle seines Turnschuhs beinahe ins Gesicht starrt. Diese Jungen heutzutage, diese Kindmänner, gab es so noch nicht, als ich jung war. Seit damals haben sie sich entwickelt. Mit ihren gut durchmischten Genen haben sie sich der modernen Welt besser angepasst. Sie sind größer und kräftiger. Weicher. Sanfter.
»Das Haus ist echt krass. Direkt am Fluss. Ich würde es nicht verkaufen.«
Er trinkt das halbe Glas mit einem Schluck aus. »Aber es ist bestimmt eine Menge wert.«
»Ach, ich weiß gar nicht, was das Haus wert ist«, sage ich. »Es gehörte meinen Eltern. Sie haben hier viele Jahre gewohnt, beinahe ihre ganze Ehe über. Ich habe es geerbt, als mein Vater gestorben ist.«
»Cool.« Nach einem weiteren Schluck ist sein Glas leer. Ich schenke ihm nach.
»So würde ich auch gern wohnen«, sagt er. »An der Themse, rechts ein Pub, um die Ecke der Markt. Sie haben hier alles. Musikläden. Clubs. Warum wollen Sie umziehen?«
»Ich gehe nirgendwohin«, versichere ich ihm.
»Aber Ihr Mann hat auf der Party ...«
»Ich werde das Flusshaus nie verlassen!«
Das kommt schroffer, als ich wollte. Doch diese Dinge höre ich nicht gerne. Greg findet, dass wir umziehen sollten, das stimmt, aber wir sind uns nicht einig. »Niemals. Das könnte ich gar nicht«, sage ich sanfter.
Er nickt.
»Ich wollte aus dieser Gegend auch nicht weg. Aber Mum meinte, London wäre schlecht für mein Asthma, Greenwich besonders. Das war mit ein Grund, warum wir nach Paris gezogen sind.«
Dunkle Haarsträhnen fallen ihm über ein Auge. Er wirft sie zurück und sieht mich unter langen, perfekt geformten schwarzen Augenbrauen her an. Mir fällt sein geschmeidiger Hals mit dem flachen Adamsapfel auf. Die dreieckige Vertiefung am Übergang von der Kehle zum Brustbein. Auf seiner Haut liegt ein Schimmer, den ich gerne berühren würde. Körperlich ist er erwachsen, aber alles an ihm ist strahlend und neu.
Ich möchte ihm erzählen, dass ich im Flusshaus bleiben muss, um Seb nahe zu sein. Irgendwo in den Wogen des Flusses, in den täglichen Gezeiten ist er immer noch da, ein Aufblitzen von buntem Öl auf der Oberfläche. Ein Kräuseln, eine Luftblase, ein Rauschen bringen ihn zurück. Das habe ich noch nie jemandem erzählt. Nur wenige Menschen würden es verstehen, und um das Klischee zu bemühen: Seit damals ist viel Wasser die Themse runtergeflossen. Ein ganzes Leben. Ich bin sicher, dass Jez es verstehen würde. Aber ich lasse den Augenblick verstreichen. Etwas hält mich davon ab, es ihm zu erzählen. Es ist viel zu nah, als dass ich es scharf sehen könnte. Stattdessen sage ich: »In Paris zu wohnen ist bestimmt aufregend.«
»Es ist ganz nett. Aber mir fehlen meine Kumpel und die Band. Bald komme ich sowieso zurück. Hab mir Oberstufen- Colleges angesehen. Wo man Musik belegen kann.«
»Hat deine Tante schon erzählt.«
»Helen?«
»Ja.«
Ich bin etwas irritiert, dass er sie Helen nennt. Das klingt so vertraut. Wie albern. Niemand sagt mehr »Tante«. Was habe ich denn erwartet?
»Hast du schon eine Schule gefunden, an der du dich bewerben willst?«
Wie er das Gesicht verzieht, zeigt mir, dass er keine Lust hat auf diese Art von Gespräch, in dem Erwachsene fragen, was er mal werden will. Für solches Gerede ist er zu ungestüm. Trotzdem denke ich: Ich könnte dir helfen. Theater, Musik, das ist meine Welt.
»Alle sagen immer ›oh, Paris‹, aber eine Stadt ohne Freunde ist Mist. Ich mag London lieber. Irgendwie kann es keiner begreifen, wenn ich das sage.«
»Ich verstehe das«, sage ich.
Die Marmelade auf dem Herd geliert bereits. Ich sollte den Trichter holen und sie in Gläser füllen, aber ich muss auf meinem Stuhl bleiben, in seinem Blickfeld.
»Wenn du willst, kannst du rauflaufen und dir das Album holen«, sage ich. »Es ist im Musikzimmer, oben neben der Treppe.«
»In dem Zimmer mit dem Keyboard?«
Ach richtig. Mir fällt ein, dass er schon einmal hier war, vor ein oder zwei Jahren mit Helen und Barney. Das war im Sommer. Seine Stimme eine Oktave höher, die Wangen gerötet. Mit einem Mädchen, das ihm nicht von der Seite wich. Alicia. Damals habe ich ihn kaum wahrgenommen.
Er rührt sich nicht.
»Machen Sie immer noch was mit Schauspielern und so?«, fragt er. »Echt irre.«
»Was?«
Als er grinst, wird sein Mund breiter, als ich erwartet hätte. Ich muss mich an der Stuhlkante festklammern, um die Fassung zu wahren.
»Irre. Cool. Dass Sie so viele Schauspieler kennenlernen. Die ganzen Leute aus dem Fernsehen. Was machen Sie noch mal?«
Ich bilde Stimmen aus, antworte ich. Er will wissen, was das bedeutet, was man dabei macht. Ich versuche zu erklären, wie die Stimme eine Bedeutung unterstreichen kann, wenn Worte nicht ausreichen. Im Gegenzug kann sie dem widersprechen, was tatsächlich gesagt wird. Das ist natürlich für Schauspieler nützlich, aber auch im normalen Leben.
Während ich rede, hört er auf eine sonderbare Art zu, die mich verwirrt. Er hört so zu wie Seb früher, die Augen halb geschlossen, auf den Lippen ein leises Lächeln. Um sein Interesse nicht zu zeigen.
Die Weinflasche haben wir beinahe geleert. Die Marmelade ist im Topf sicher schon erstarrt.
»Sie kennen bestimmt ein paar berühmte Leute. Auch Rockstars? Gitarristen?«
»Rockstars eigentlich nicht. Aber ein paar Leute, die ... nützlich sind. Die immer nach frischen Talenten suchen.«
Er beugt sich vor, die Augen weit aufgerissen und strahlend.
Das also treibt ihn an.
»Ich will später mal in einer richtigen Band Gitarre spielen «, sagt er. »Das ist das Größte für mich.«
»Wenn du die Platte holst, kannst du eine von Gregs Gitarren mit runterbringen. Da oben steht eine nette Sammlung.«
»Eigentlich muss ich los«, sagt er.
Natürlich muss er gehen. Er ist ein fünfzehnjähriger Junge. Auf dem Weg zu seiner Freundin, bevor er morgen Vormittag in St. Pancras den Zug nach Paris nimmt.
»Ich soll sie im Fußgängertunnel unter der Themse treffen, genau in der Mitte zwischen Nord- und Südlondon.«
»Du sollst? Sagt sie das?«
»Na ja.« Als er mich ansieht, ist er plötzlich doch nur ein verlegener Teenager.
»Wir haben die Gehwegplatten gezählt, um die Mitte zu finden«, sagt er. »Eigentlich wollten wir die weißen Kacheln zählen, aber es waren zu viele.«
»Wie alt ist sie?«, frage ich.
»Alicia? Sie ist fünfzehn.«
Fünfzehn. Also hat sie keine Ahnung, dass es nie wieder so sein wird wie jetzt.
»Ich gehe rauf und hole die Platte.« Er stolpert leicht. Der Wein ist ihm direkt zu Kopf gestiegen. Kit würde sagen, der kann wohl nichts vertragen.
»Trink noch ein Glas. Ich schenke dir nach, während du oben bist. Geh ruhig. Geh nach oben.«
Während ich ihn hinauflaufen höre, immer zwei Stufen auf einmal, öffne ich eine zweite Flasche. Eine billige dieses Mal, aber das wird Jez nicht auffallen. Ich fülle sein Glas und gebe einen Schuss Whisky dazu. Über dem Fluss weht eine Wolke weiter, und ein letzter Sonnenstrahl gleitet über den Tisch. Eine Sekunde lang sind die Gläser, die Flaschen und die Obst- schale in ein warmes, bernsteinfarbenes Licht getaucht.
Wieder fällt mir die Marmelade ein, aber ich rühre mich nicht.
Als das Telefon klingelt, nehme ich ab, ohne nachzudenken. Es ist Greg. Er kommt sofort zur Sache.
»Ich habe mit Burnett Shaws geredet.«
»Mit wem?«
»Der Maklerfirma. Sie sollen das Haus schätzen. Das ist ganz unverbindlich. Aber ich will mal eine Zahl hören, was Ungefähres, dann weiß ich eher, was ich mir hier draußen ansehen kann.«
Ich bringe kein Wort heraus. Jez ist mit Gregs akustischer Gitarre zurück in die Küche gekommen. Beim Hinsetzen schlägt er sie gegen den Tisch, und sie hallt nach.
»Was war das?«, fragt Greg. »Ist jemand bei dir?«
»Nein, niemand. Hör zu, ich will darüber jetzt nicht reden. Du weißt, wie ich dazu stehe. Du kannst doch nicht über meinen Kopf hinweg Entscheidungen treffen.«
»Wenn wir mal vernünftig darüber reden könnten, müsste ich das auch nicht.«
Ich beiße mir auf die Lippe. Mir Unvernunft vorzuwerfen ist immer Gregs letzte Waffe.
Bevor ich widersprechen kann, hat er das Gespräch schon beendet.
»Die Platte konnte ich nicht finden«, sagt Jez. »Aber ich habe diese Gitarre entdeckt. Darf ich sie mal kurz ausprobieren? « Seine Stimme lockert die Anspannung, die Greg in mir ausgelöst hat.
»Natürlich. Natürlich darfst du das.« In dem Moment erscheint mir das einfach nur richtig.
Die nächste Stunde ist für mich die schönste an diesem Abend. Bevor der Alkohol ihn so weit gebracht hat, dass er nicht mehr gehen könnte - selbst wenn er wollte. Wir sitzen zusammen und reden, und er spielt. Er erzählt mir von Tim Buckley. Musik zu machen sei für ihn das Gleiche gewesen »wie zu reden«.
»Mir geht es genauso«, sagt Jez. »Sie bringen den Leuten bei, wie sie sich mit ihrer Stimme ausdrücken können. Aus dem gleichen Grund spiele ich Gitarre.«
Er ist gut. Ich wusste, dass er gut sein würde. Er spielt etwas Klassisches, vielleicht von John Williams, etwas, das sprudelt und perlt wie Wasser. Die Gitarre ist eine Verlängerung seines Körpers, die Musik strömt aus seiner Seele. Seine Finger scheinen sich kaum zu bewegen, wenn er die Saiten zupft. Das schwarze Haar hängt ihm ins Gesicht. Als der Alkohol Wirkung zeigt und er nicht mehr spielen kann, stellt er die Gitarre auf den Boden, mit dem Griffbrett an seinen Oberschenkel gelehnt.
Er sagt mir noch einmal, wie sehr ihm mein Haus gefällt. Der Fluss direkt da draußen. Die Gerüche! Das Licht. Die Geräusche. Hören Sie! Und wir sitzen da und erraten die Klänge, die für mich längst selbstverständlich sind. Das unregelmäßige Schlagen der Wellen gegen die Ufermauer, das Rasseln und dumpfe Pochen vom alten Kohlenanleger, das Wummern von Hubschraubern. Stadtmusik nennt Jez das.
»So ein Leben wünsche ich mir auch«, sagt er. »Musik, Wein, ein Haus an der Themse.«
Mittlerweile bin ich auch etwas betrunken. Dieser Abend soll nie zu Ende gehen.
»Es ist okay, Seb. Du musst nicht gehen.«
»Jez«, sagt er.
»Was?«
»Ich heiße Jez, nicht Seb.«
Es ist schon spät, als er schließlich aufsteht und beinahe hinfällt. Er hält sich am Stuhl fest.
»Soll ich bleiben und Ihnen Gesellschaft leisten?«, lallt er, und ich erröte beinahe.
»Ich glaube«, sage ich mit meiner Mutterstimme, »du brauchst eher etwas Schlaf.«
Er ist schon halb weggetreten, bevor ich ihn richtig in das alte Eisenbett im Musikzimmer verfrachtet habe. Als ich ihn hinlege, fallen mir seine Socken auf. Am rechten großen Zeh ist ein Loch, und ich muss an ein Nähutensil von meiner Mutter denken, ein pilzförmiges Ding, mit dem sie abends dasaß und unsere Socken stopfte, und ich frage mich, ob es irgendwo auf der Welt wohl noch einen Stopfpilz gibt. Was für ein seltsamer Gedanke, während ich ihm die Socken von den Füßen rolle und die Arme aus seinem Kapuzenpulli ziehe.
Ich überlege, ob ich ihm die Jeans ausziehen soll, die so locker auf seinem schmalen Becken sitzt, unter den Muskeln, die wie ein goldenes Dreieck auf die Knöpfe am Hosenschlitz zulaufen. Wenn er wach wird, hätte er es bequemer. Aber ich will ihn nicht in Verlegenheit bringen, also lasse ich ihm die Hose an. Im Badezimmer fülle ich ein Glas mit Wasser und stelle es auf den Nachttisch. Wenn er früher aufwacht als erwartet, weiß er so, dass ich für ihn sorge.
Bevor ich das Zimmer verlasse, beuge ich mich hinunter und fahre mit meiner Nase sanft an seinem Kopf entlang. Er riecht leicht nach Shampoo. Als ich an seinem Hals an komme, nehme ich seinen eigenen männlichen Duft nach Zedern und Salz wahr. In einem Ohrläppchen trägt er ein kleines, schwarzes Horn. Seine Haare ergießen sich in Locken auf sein Schlüsselbein. Ich streiche sie sanft zurück, damit ich die Nase gegen die weiche, blasse Stelle hinter seinem Ohr drücken kann. Dort halte ich inne.
Auf dem Hals unter dem Haaransatz prangt unverkennbar ein kleiner Bluterguss. Ein Knutschfleck, würde Kit sagen. Von der dunklen Mitte breiten sich blutige Einsprengsel aus. Alicia? Sie hat sein Fleisch in ihren Mund gesogen, bis die Kapillaren platzten und bluteten. Eine rote Wunde unter seiner makellosen Haut. Und plötzlich starre ich auf eine rot verfärbte Kerbe von einem Seil, das seine Zähne in eine andere milchweiße Kehle gegraben hat. Minutenlang kann ich den Blick nicht abwenden.
Schließlich beuge ich mich tiefer und drücke einen sanften Kuss auf den blutunterlaufenen Fleck. »Alles ist gut«, flüstere ich. »Ich beschütze dich, das verspreche ich dir.«
Dann decke ich ihn zu, stecke das Oberbett an der Seite leicht fest und gehe leise hinaus.
Kapitel Zwei
Samstag
Sonia
Wenn man an der Themse wohnt, gewöhnt man sich an ihre Geräusche und Geheimnisse. An die Rettungsboote, die beim Herauf- und Herunterrasen Kielwasserspuren durch den Fluss ziehen. Man gewöhnt sich an die Leichen, die aus seiner Tiefe gezogen werden. Daran, dass er immer in eine Richtung fließt, ohne Wiederkehr, obwohl er sich an jedem Tag zweimal füllt und leert. Verlässt man den Fluss, ist man abgeschnitten vom Wesen der Dinge.
Mit Greg und Kit auf dem Land zu leben war verlorene Zeit. Ich habe mich nach der Stadt gesehnt, nach ihrem Schmutz und der Anonymität. Fern von London bin ich nachts oft wach geworden und war überzeugt davon, der Fluss wäre immer noch ganz nah. Selbst nach vielen Jahren dort hat es immer eine Weile gedauert, bis ich mich zurechtgefunden hatte. Bis mir klar wurde, dass ich eine erwachsene Frau mit Mann und Kind war und die Stadt weit weg war. Dann ruckte die Realität an ihren Platz, und unendliche Traurigkeit überkam mich.
Als wir vor fünf Jahren in das Flusshaus zurückgekehrt sind, waren die Möbel mit Staublaken abgedeckt. Meine Mutter legt Wert darauf, Dinge zu erhalten. Ihre Sommerkleidung bewahrt sie im Winter in Koffern auf, sauber zusammengelegt zwischen Schichten aus Seidenpapier. Von ihr habe ich auch die Tradition übernommen, Marmelade zu kochen und Früchte einzulegen. Aber ich hatte immer das Gefühl, dass die Laken weniger ihre Möbel vor dem Staub schützen sollten, als vielmehr ihren unterschwelligen Widerwillen zeigten, mir das Haus zu überlassen.
Es war wie ein Segen, dass ich nach dem Willen meines Vaters das Haus erbte. Doch jeder Segen hat seinen Preis. Meine Mutter braucht mich jetzt in ihrer Nähe, um ihr etwas zu holen und zu tragen, um zuzuhören und Geduld zu haben. Aber in ihrem Haus wollte sie mich nie haben, woran sie mich geflissentlich immer wieder erinnert.
Am nächsten Morgen wache ich auf, bevor es richtig hell geworden ist. Vom Fluss tönt das Putt Putt Putt einer Barkasse herüber. Ich würde gerne liegen bleiben und dieses Gefühl genießen. Eine Art Erfülltsein. Ein Vollständigsein. Wie in der Nacht, nachdem du ein Kind zur Welt gebracht hast, und du es einfach nur ansiehst. Wie der Augenblick, wenn ihr beide erkennt, dass ihr das Gleiche füreinander empfindet. Nur noch kostbarer dadurch, dass du jetzt weißt, wie selten solche Momente sind.
Auf dem Fußweg erklingen Schritte, als die ersten Standinhaber zum Markt eilen. Weiches, graues Licht sickert um die Ränder der Vorhänge. Ich gehe zum Fenster und ziehe sie zurück. In Canary Wharf ragen die Häuser blass in die Höhe, ihre Glasfassaden reflektieren den Perlmutthimmel, der über Blackwell mit der aufgehenden Sonne in einen pfirsichfarbenen Schimmer übergeht. Es ist eisig kalt draußen.
Der Fluss verströmt einen stechenden Geruch, den durchdringenden Gestank nach öligem Matsch, der bei Ebbe herrscht. Er wird seine Beute präsentieren. Seine neue Lieferung wird offen verstreut am Ufer liegen: Kisten, Autoreifen, Fahrradräder. Das übliche Treibgut kenne ich, aber es gibt auch immer etwas Unerwartetes. Heute früh habe ich allerdings keine Zeit, Strandgut zu sammeln. Ich ziehe meinen Kimono über und sehe nach ihm.
Sein Gesicht wirkt im Morgenlicht des Musikzimmers blasser, und für einen Sekundenbruchteil überfällt mich die Angst, ich könnte es übertrieben haben. Er hat etwas von Asthma gesagt. Ich habe mal gelesen, Alkohol könne einen Anfall auslösen. Als ich mich über ihn beuge, spüre ich erleichtert seinen Atem auf meiner Wange.
Er rührt sich nicht, und ich hebe eine seiner Hände hoch. Betrachte die schlanken Finger mit Nägeln, die lang genug sind, um die Gitarrensaiten zu zupfen. Mit einem ist er irgendwo hängen geblieben, er ist leicht eingerissen. Rosafarbene Haut überzieht seine Fingerkuppen, wie bei einem Kind. Auf dem Handrücken wachsen keine dicken, dunklen Haare, nur ein paar filigrane Goldhärchen, die das Licht einfangen. Eine kräftige, blaue Vene zieht sich über seinen Unterarm. Ich fahre mit einem Finger darüber und beobachte, wie das Blut sich durch den Druck staut und sich anschließend wieder verteilt. Seb hatte genau die gleiche Vene, die am deutlichsten hervortrat, wenn er sich anstrengte, wenn er etwa die Fangleine packte, die er um einen Anleger geworfen hatte. Wenn er sich auf den Pfahlsteg hievte. Oder wenn er mit eisernem Griff meine Handgelenke packte.
Ich lasse Jez' Arm sinken und betrachte sein Gesicht. Den etwas dunkleren Hautton muss er von seinem franco-algerischen Vater geerbt haben. Das Kinn kantig, leicht vorspringend, die Bartstoppeln ganz weich, ganz flaumig, eine zarte Schicht schwarzer Stippen unter der Haut. Als ich mit den Lippen darüberstreiche, kann ich sie kaum spüren. Ich bin wieder bei Seb. Die Nase an seinem Hals vergraben rieche ich zum ersten Mal die Mischung aus Rauch und Männer- schweiß. Durch sein Hemd spüre ich die Kuppen und Täler seines Körpers.
Nachdem ich mich von ihm vollgesogen habe, muss ich weitermachen wie immer. Meine Mutter wartet wie jeden Samstagmorgen auf meinen Besuch und würde sich beschweren, wenn ich ihn ausließe. Wenn ich jetzt sofort gehe, bin ich zurück, bevor Jez aufwacht. Er schläft tief und fest, und wenn ich Teenager halbwegs kenne, wird sich daran den Großteil des Vormittags über nichts ändern. Ich sehe ihm noch kurz dabei zu, wie er sich umdreht. Dann schlüpfe ich widerwillig hinaus.
Draußen scheint die Morgensonne hell, obwohl die Luft so kalt ist, dass sie mir beim Atmen in der Kehle brennt. Auf den Wänden am Fußweg glitzert Frost, und unter meinen Füßen spüre ich knirschendes Eis. Überreste der Flut, die letzte Nacht offenbar so hoch gestiegen ist, dass sie den Fußweg erreicht hat.
Noch vor einer Woche lag Schnee. Durch den Zaun der Seniorenwohnanlage habe ich zufällig einen Tuff Schneeglöckchen gesehen, die in einem kleinen Kreis aus Gras wuchsen, von dem der Schnee geschmolzen war. Das strahlende Weiß ihrer gesenkten Köpfchen vor dem unverhofften Grün verschlug mir den Atem, und ich lief schnell nach Hause, um meinen Fotoapparat zu holen. Bis ich wieder draußen war, reichte das Licht nicht mehr, und am nächsten Tag war der Schnee zu Matsch geworden. Ich hatte Angst, der Verlust dieses Bildes würde an mir nagen. Vor so etwas muss ich mich in Acht nehmen. Vor Dingen, die ich bedauere, die sich in mich graben und mich auffressen.
Das Altersheim meiner Mutter liegt zehn Busminuten entfernt. Sie ist dort eingezogen, als das Flusshaus zu viel für sie wurde, als ihr Verstand Aussetzer bekam und ihr Körper sie langsam im Stich ließ. Während ich eilig über den weichen Teppich im Flur laufe, versuche ich, nicht die Küchendüfte aus den einzelnen Wohnungen einzuatmen. Max, der hier auch seine Mutter besucht und zu so etwas wie einem Freund geworden ist, kommt aus Nummer 10. Fröhlich winkend wünscht er mir einen guten Morgen, also winke ich zurück. Manchmal frage ich mich, ob Max mich für einen Single hält und mich gerne näher kennenlernen würde. Ein Flirt könnte schon Spaß machen, aber ich habe Greg. Meinen Ehemann. Was auch immer dieses Wort bedeutet.
»Ich habe dir deine Zeitung und Gin mitgebracht.« In der Tüte, die ich meiner Mutter gebe, liegen außerdem die Slipeinlagen, die ich für sie kaufe. Aus Taktgefühl erwähnen wir beide sie niemals.
Ich drücke kurz die Lippen auf ihr flaumweißes Haar. Es macht mich betroffen, dass ich mich hinunterbeugen muss, um meine eigene Mutter zu küssen, die früher so tatkräftig war und mich um einen halben Kopf überragt hat. Sie begrüßt mich nicht, als ich ihre Wohnung betrete, sondern wendet mir den Rücken zu und fragt mich, ob ich einen Kaffee trinken möchte. Dann fängt sie von den anderen Bewohnern an.
»Im Aufenthaltsraum gibt es jetzt einen Filmclub. Aber was die aussuchen. Nur Mist.«
»Schlag doch selbst mal was vor.«
»Darauf würden die nicht hören. Das merkt man schon beim Fernsehen. Die würden sich lieber Turniertanzen als einen anständigen Film ansehen.«
»Was ist mit Oliver? Er macht doch einen netten Eindruck. «
»Ach, dieser alte Langweiler ist viel zu weibisch.«
Ich glaube, mit einem neuen Mann in ihrem Leben könnte meine Mutter nachsichtiger werden. Wir würden vielleicht mehr miteinander reden, wie ich es mir bei anderen Müttern und Töchtern vorstelle.
Ich setze mich in einen ihrer Chintzsessel vor den Balkontüren und lasse mir von der Sonne den Schoß wärmen und die gefrorenen Lippen auftauen. Mutter müht sich bis zur Anrichte vor, wo sie Tassen, Untertassen und eine Kaffeemaschine bereitgestellt hat, eine verschrumpelte Hand auf der Rückenlehne des Sofas, mit der anderen stützt sie sich an der Wand ab.
»Es ist noch früh. Du hast bestimmt nicht gefrühstückt. Ich habe Kaffee, aber mehr kann ich dir nicht anbieten. Außer Grape Nuts, aber ich weiß ja, dass du das nicht leiden kannst.«
»Ich brauche nichts, danke. Ich hole mir was auf dem Heimweg.«
»Dein Vater hat mich ja auf Grape Nuts gebracht. Er meinte, man sollte es vor dem Essen mindestens eine halbe Stunde in Milch durchweichen lassen.«
»Ja, ich weiß.«
»Wenn ich einen anständigen Kühlschrank hätte, so wie im Flusshaus, könnte ich mich mit Kuchen eindecken. So kann ich dir nur ein Garibaldi anbieten. Mehr nicht.«
Zeit für ein anderes Thema.
»Neue Tabletten, Mutter?«
Auf dem Tablett mit ihren Medikamenten steht ein silbernes Tablettendöschen, das ich noch nie gesehen habe.
»Die hat mir der Doktor zum Schlafen gegeben«, sagt sie.
»Das Co-Codamol wirkt ganz gut gegen die Schmerzen, aber die Nächte sind schlimm.«
»Ja, hast du schon gesagt.«
»Du weißt ja nicht, wie es ist, so früh morgens aufzuwachen und nicht wieder einschlafen zu können.«
Natürlich weiß ich es. Die endlosen Nächte, wenn sich die Seele nicht beruhigen lässt. Sie sind zurückgekehrt, seit Kit ausgezogen ist und Greg so oft verreist. Ich liege wach und mache mir Sorgen. Um dich, Mutter, darum, wie ich mit deinem Verfall fertigwerden soll, wo unsere Beziehung von so wenig Liebe getragen wird. Ich mache mir Sorgen um Kit da draußen in der großen, weiten Welt. Und ich bekomme richtig Angst, wenn ich mir vorstelle, dass du Greg gewinnen lässt und er mir das Flusshaus wegnimmt.
Mit dem Rücken zu mir schenkt meine Mutter Kaffee ein. Ich spüre, wie sie die Schultern anspannt. Ihre weiße Dauerwelle wippt leicht. Ich zucke zusammen. Keine Frage, was jetzt kommt.
»Ich kann nicht schlafen, weil ich mir Sorgen um das Flusshaus mache. Die Fenster müssen erneuert werden. Das Dach. Und dann dein Stimmtraining.«
»Was meinst du damit?«
»Es kann Greg doch nicht recht sein, dass du im Haus Termine machst.«
»Natürlich ist es ihm recht. Er hat mir geholfen, alles einzurichten! Das weißt du doch.«
»Was hätte dein Vater nur gesagt? Dieses Kommen und Gehen Tag und Nacht. Das ist doch keine Art zu arbeiten, dass man die Leute bei sich zu Hause herumschnüffeln lässt.«
»Ich habe durch die schlechte Wirtschaftslage schon ein paar Schüler verloren. Vielleicht leidet das Geschäft noch mehr.«
Sie kommt zurück, mit einem Porzellanteller so unsicher in einer Hand, dass die Kekse beinahe herunterrutschen. Als ich aufstehe, um sie zu retten, weicht meine Mutter verärgert aus. Ich setze mich wieder.
»Warum willst du dann unbedingt bleiben? Obwohl alle anderen sich verändern wollen? Warum machst du immer Probleme, Sonia? Greg glaubt, das Haus wäre ... was war es noch, ein paar Millionen? Nein. Unmöglich! Ach je. Ich komme mit den Nullen durcheinander. Auf jeden Fall ist es eine Goldgrube! Aber du willst ja unbedingt bleiben!«
»Du hast mit Greg gesprochen?« Ich merke selbst, wie scharf ich klinge.
»Ab und zu ruft er an. Wir unterhalten uns. Das weißt du doch. Das Flusshaus hängt mir wie ein Mühlstein um den Hals. Es ist an der Zeit, dass etwas geschieht. Er versteht das. Nur du stellst dich quer, Sonia.«
Mittlerweile bin ich kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. Ich stehe auf und sage, ich müsste mal. In ihrem Badezimmer kralle ich mich am Rand des Waschbeckens fest, zähle bis zehn und versuche, meine Wut unter Kontrolle zu bekommen. Sie weiß, wie mich dieses Thema aufregt. Trotzdem fängt sie immer wieder davon an! Ich denke an die vielen Dinge, die ich für sie mache. Die kleinen Opfer, die ich ständig bringe, damit sie zufrieden ist, und trotzdem kann sie mich nicht da lassen, wo ich sein muss. Jetzt, da Jez friedlich im Musikzimmer liegt, verletzt mich das noch mehr. Ihretwegen habe ich darauf verzichtet, bei ihm zu sein. Was, wenn er geht, bevor ich zurückkomme? Wenn ich ihn verloren habe, weil ich sie mit Gin und ihrer Zeitung besänftigen wollte?
Wieder in ihrem Wohnzimmer entschuldige ich mich und sage, dass ich an diesem Morgen nur zwanzig Minuten bleiben kann. Zum Glück scheint meine Mutter das Thema Flusshaus vergessen zu haben. Sie reicht mir einen Kaffee und verbringt den Rest meines Besuchs mit Erinnerungen an die Gesangslehrerin, die sie als Mädchen einmal im Klassenzimmer mit einem Stück Kreide beworfen hat. Sie erinnert sich noch an die Farbe des Lippenstifts, den die Lehrerin getragen hat. Sogar an den Choral, den sie an diesem Morgen gesungen haben.
»Ich bitte nicht um Überfluss», stimmt sie mit brüchiger Stimme an. Ihre blassblauen Augen werden feucht, als sie in die Vergangenheit abdriftet. »Und Schätze dieser Erden, lass mir, so viel ich haben muss, nach deiner Gnade werden ...«
Dieses Abgleiten in frühere Zeiten soll ja im Alter normal sein, denke ich, als ich endlich wieder den Flur hinuntereile. Komisch ist nur, dass es mir in letzter Zeit, seit Kit ausgezogen ist, auch schon passiert.
Erinnerungen schleichen sich an. Sie reiben sich an mir wie eine Katze, die einem um die Beine streicht und schnurrend keine Ruhe gibt. Aus heiterem Himmel heraus überkommt es mich. Manchmal ein Gefühl der Nostalgie, öfter eine bestürzende Welle aus Schuld, Scham und Bedauern. Ich wünschte, ich könnte mit meiner Mutter darüber reden, aber in ihren Reaktionen schwingen immer Kritik und Vorwürfe mit. Es gibt so viele Orte, an die ich mich mit ihr nicht wage.
Greg und sogar Kit, die jetzt so alt ist wie ich, als ich das Haus zum ersten Mal verlassen habe, sagen, die Vergangenheit sei vorbei. Man macht weiter. Lange habe ich es auch so gesehen. Immerhin habe ich studiert und als Schauspielerin gearbeitet. Ich habe Greg geheiratet, eine Tochter bekommen und mich selbstständig gemacht. Die Vergangenheit war ausgelöscht. Manchmal macht es mich richtig benommen, wie viele Jahre verstrichen sind.
Aber seit Kurzem weiß ich, dass Zeit nicht vergeht, sondern alles irgendwie zurückkehrt. So wie der Fluss in Greenwich eine Schleife beschreibt, erscheinen weit zurückliegende Jahre näher als andere, die gerade vergangen sind, und vergessene Augenblicke drängen sich in die Gegenwart. Zum Beispiel ist es ein Schock, ein wunderbarer Schock, dass ich mich heute Morgen beim Aufwachen genauso gefühlt habe wie mit dreizehn, als Seb und ich uns zum ersten Mal geküsst haben. Eine Offenbarung, dass ich die Sehnsucht von damals - seine Wimpern an meinen Fingern zu spüren, meine Zunge auf seinen Lippen - immer noch in mir trage. Die Zeit ist von mir abgefallen wie ein Staublaken, das zu Boden gleitet, und hat enthüllt, was sich schon immer darunter verbarg.
Kapitel Drei
Samstag
Sonia
Im Bus überkommt mich eine Erinnerung, als wir an dem Starbucks vorbeifahren, in dem früher unser Süßwarenladen war.
Ein Sommertag. Mitten in einer Hitzewelle. Ich war dreizehn. Wo war meine Mutter an diesem Tag? Sie muss schon als Lehrerin gearbeitet haben, denn ich fühlte mich freier, als wenn sie zu Hause war.
Ich spüre noch, wie mir der Baumwollstoff meines Sommerkleids leicht über die Oberschenkel strich, als ich vom Laden über den Fußweg nach Hause ging. Ich saugte an einem Orangeneis am Stiel. Mit meinen Flipflops blieb ich an den Pflastersteinen hängen, die von den Getränken und dem verkleckerten Eis der anderen Leute ganz klebrig waren. Vom Fluss stieg ein durchdringender, metallischer Geruch auf, gemischt mit Teer und Alkohol. In dieser Gegend hing immer der Geruch von Bier in der Luft, aus den Pubs und den leeren Flaschen von den Leuten, die auf der Ufermauer gesessen und getrunken hatten. Es herrschte Ebbe. Verträumt ging ich an der Anlegestelle in der Nähe unseres Hauses die steile Steintreppe hinunter und lutschte dabei an meinem Eis. Die Wasserpflanzen, die die Stufen oft rutschig machten, waren eingetrocknet. Unten angekommen schleuderte ich die Flipflops von den Füßen und stellte mich ans Ufer. Das Wasser schwappte kühl über meine Füße. Zwischen meinen Zehen quoll Matsch hervor. Ich krallte sie um die kleinen, runden, harten Dinger, die im Schlamm vergraben waren.
»Sonia! Soniiiaaa!«
Aufgeschreckt aus meiner Trance blickte ich auf. Auf dem Fluss balancierten Seb und sein Freund Mark auf dem Rand eines alten, verankerten Lastkahns, nackt bis auf ihre Unterhosen, die schwer vom Wasser schlabberten. Mark gab Seb einen ordentlichen Schubs.
»He, Sonia, Hiiilfe!«, schrie Seb. In gespielter Angst ruderte er mit den Armen, kippte seitlich ins Wasser und verschwand in der Tiefe. Mark brach vor Lachen fast zusammen. Als Seb nach einer Weile nicht nach oben gekommen war, sprang Mark hinterher. Jetzt waren beide in der braunen Brühe untergetaucht, die vor lauter Schmodder kaum die Sonne widerspiegelte. Sekunden verstrichen. Minuten. Nichts durchbrach die kompakte Oberfläche. Mein Herz hämmerte, mein Mund wurde trocken, das Eis klebte an meiner Zunge.
Endlich ein Platschen. Ein Kopf. Mark. Er kletterte auf den Lastkahn und verschwand im Bug.
Immer noch kein Seb.
Ich watete ins Wasser, starrte auf den unbewegten Fluss. Die Anlegestellen runter Richtung Blackwell flirrten vor Hitze. Alles wurde still.
Eine vorüberfahrende Motorbarkasse sandte mir Wellen entgegen, die vor meine Schienbeine schwappten, bevor wieder Stille eintrat. Mein Herz hörte auf zu schlagen. Ich bekam keine Luft. Die Welt war stehen geblieben.
Dann endlich ein Wuuusch!
Kurz vor mir tauchte Seb auf, tropfend vor Öl und Flussschmodder. Er wankte auf mich zu, packte mich am Arm und zog mich näher. Erst wehrte ich mich. Ließ den Rest von meinem Eis fallen, grub ihm meine Nägel in die Schultern. Er lachte. Ich wollte ihn treten, aber ich hatte keine Chance, er war viel stärker als ich. Bald reichte mir das Wasser bis an die Oberschenkel, mein Kleid klebte an der Haut. Er zog noch einmal, und ich verlor das Gleichgewicht. Nach der Hitze war das kühle Wasser eine Wohltat. Wild um mich spritzend verfolgte ich ihn, und er zog mich auf: »Oooh, du machst mir ja Angst.«
Mark kam herüber. Beide sprangen auf mich und drückten mir den Kopf unter Wasser. Seb packte meine Beine. Ich schlug um mich, versuchte vergeblich, sie an den Haaren zu reißen, und biss Mark fest in den Arm. Mit einem Schrei ließ er mich los, und ich sog tief die muffige Luft ein, als mein Gesicht wieder im Sonnenschein badete.
Das nasse Kleid, das im kalten, trüben Wasser gegen meine Haut klatschte. Sebs starke Hände an meinen Knöcheln. Über uns die pralle Sonne.
»Zeit für ein Bier!«, rief Seb und ließ mich los. Er und Mark kraulten los, aber zu den Lastkähnen statt zum Ufer. Ich folgte ihnen und versuchte, kein Flusswasser in den Mund zu bekommen. Angeblich enthielt es Gifte, die einen lähmen konnten. Das Wasser fühlte sich dickflüssig an und klebte auf meiner Haut. Unter der stinkenden Oberfläche war nichts zu erkennen. Da drin kann man Fotos entwickeln, sagten die Leute. Es war kaum noch Wasser, eher eine Chemiebrühe. Beim Schwimmen spürte ich, wie etwas meine Beine streifte. Die kribblige Berührung einer Plastiktüte, einen Knuff von etwas Großem, Schleimigem. Ich versuchte, gar nicht daran zu denken, was mich noch berühren, was an mir lecken könnte. Oder mich sogar fressen.
In der Mitte des Flusses fuhr ein Wasserbus vorbei, dessen Fahrgäste fröhlich winkten. Die Anlegestellen an der Isle of Dogs lagen unter einer dicken, grauen Dunstglocke. An den Lastkähnen versuchte ich mich nach oben zu ziehen, wie die Jungs es getan hatten, aber ich rutschte an der Algenschicht am Rand ab. Ich zog mir Splitter in die Hände und brach mir die Nägel ab, als ich mich an der Seitenwand festkrallen wollte.
»Schwächling!«, rief Mark. »Echt armselig, was, Seb?«
»Lass sie ihn Ruhe«, sagte Seb, und mir ging das Herz auf. Nahe beim Heck fand ich einen Reifen an der Schiffswand, in den ich den Fuß stemmen konnte, um an Bord zu klettern. Die Jungs hatten aus einem alten Fischernetz eine Tasche gebastelt, sie an ein Seil gebunden und darin Bierdosen und Chipstüten mitgebracht. Die Bierdosen hatten sie im Netz ins kühlende Wasser gehängt. Wir legten uns auf den heißen Holzboden, wo uns von draußen niemand sehen konnte, und ließen von der Sonne unsere nasse Kleidung trocknen. Es machte leise Klopf Klopf Klopf, wenn die Kähne zusammenstießen. Dann fuhr ein Polizeiboot vorbei und schlug solche Wellen, dass die Kähne schwankten, knarrten und erschreckend heftig aneinanderknallten und wir herumgeworfen wurden wie in einem Sturm.
Als sie wieder still lagen, gab es nichts außer der Sonne, dem brennend heißen Holz und uns. »Mach mal so«, sagte Seb zu mir und formte mit den Lippen ein O.
Ich tat, was er wollte. Er nahm einen Schluck Bier, beugte sich über mich, presste seine Lippen auf meine und ließ die Flüssigkeit langsam in meinen Mund sickern. Sie schmeckte nach Blech und fühlte sich im Vergleich zu ihm kühl an. Mir wurde komisch, als würden meine Beine in der Sonne schmel
Aus dem Englischen von Eva Kemper
© der deutschsprachigen Erstveröffentlichung 2013 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Penny Hancock
After several years in London, Penny Hancock now lives in Cambridge with her husband and three children. She is a part-time primary school teacher at a speech and language school and has travelled extensively as a language teacher.Eva Kemper studierte in Düsseldorf Literaturübersetzen und wohnt und arbeitet in Hattingen/Ruhr. Zu ihren Übersetzungen aus dem Englischen gehören u. a. Werke von Peter Carey, Sara Gruen und Junot Díaz.
Autoren-Interview mit Penny Hancock
Sie sind in Südlondon aufgewachsen und leben heute mit Ihrem Mann und ihren drei Kindern in Cambridge, wo Sie als Lehrerin arbeiten. Wie sind Sie zum Schreiben gekommen?Penny Hancock: Schon als kleines Mädchen habe ich leidenschaftlich gern geschrieben. Ich füllte ganze Hefte mit Geschichten über Ponys, Abenteuer und überstandene Katastrophen. Danach schrieb ich bis ins Erwachsenenalter weiterhin Romane und Kurzgeschichten, aber ich war mir im Klaren darüber, dass die Aussichten, vom Schreiben leben zu können, äußerst gering sind. Daher wurde ich Lehrerin in der Hoffnung, Kinder (und neuerdings auch Erwachsene) mit meiner Leidenschaft fürs Geschichtenerfinden anstecken zu können - und nebenbei schrieb ich weiter.
„Ich beschütze dich" ist Ihr erster Roman. In Besprechungen des Buches wird immer wieder hervorgehoben, dass es sich um eine wirklich originelle Geschichte handelt. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
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Penny Hancock: Als ich gerade an einem Roman übers Erwachsenwerden und die erste Liebe schrieb, wurde ich in einem Kurs über Kreatives Schreiben aufgefordert, mir einen Plot für einen Kriminalroman auszudenken. Da ich keine gewöhnliche Krimigeschichte über einen Mörder und einen Detektiv schreiben wollte, dachte ich darüber nach, ob ich nicht hier meinen bisher erfolglosen Versuch umsetzen könnte, über die erste Liebe zu schreiben: Im Bestreben, eine leidenschaftliche Jugendliebe wieder aufleben zu lassen, nimmt eine Frau einen Teenager buchstäblich gefangen. Auf den ersten Blick schien das ein vorgefertigter Einfall zu sein - John Fowles hatte etwas Ähnliches bereits in „Der Sammler" umgesetzt, wo es um einen Mann geht, der ein junges Mädchen „in seine Sammlung steckt" - aber soweit ich wusste, hatte es noch niemand anders herum beschrieben. Zudem fiel mir auf, dass Frauen in einem bestimmten Alter häufig wie besessen von ihrer ersten Liebe sind, und deshalb nahm ich an, dass sich viele Frauen damit identifizieren könnten. Was ich nicht ahnte war, dass auch Männern diese Idee gefallen würde!
Sonia, die Hauptfigur Ihres Buches, wird gern mit Annie Wilkes aus Stephen Kings „Misery" verglichen. Aber als Sie Ihren Psychothriller schrieben, kannten Sie weder den Roman „Misery" noch die Verfilmung. Die Grundkonstellation - eine Frau hält einen Mann in ihrem Haus gefangen - legt zwar einen Vergleich nahe, doch weitere Übereinstimmungen gibt es kaum. Wie würden Sie Sonia charakterisieren und wie unterscheidet sie sich von Annie Wilkes?
Penny Hancock: Die meisten Thriller versetzen den Leser in die Perspektive des Opfers , um ihm den Impuls, der Gefahr zu entkommen, aufzuzwingen. Darauf zielt auch Stephen King in „Misery". Ich jedoch wollte, dass sich meine Leser mit Sonia, der Täterin, identifizieren. Ich wollte, dass die Leser Verständnis für ihre Besessenheit aufbringen und ihre verhängnisvolle Entwicklung zur Verbrecherin nachvollziehen können. Im Grunde ist Sonia eine liebevolle, leidenschaftliche und sehr attraktive Frau, die aufgrund einer Reihe von Ereignissen, für die sie selbst nichts kann, bedenklich aus dem Gleichgewicht geraten ist. Es ist eher ein Übermaß an Leidenschaft und Gefühlen, das sie dazu treibt, sich so zu verhalten, wie sie es tut, als ein Mangel an Empathie. Sie handelt in guter Absicht, aber sie ist verblendet - sie bildet sich ein, Jez zu „beschützen" (obgleich man natürlich niemanden beschützen kann, indem man ihn gefangen hält!). Ich las „Misery" erst, nachdem ich „Ich beschütze dich" geschrieben hatte, und war verwundert, wie unansehnlich und gefühllos Stephen King die Widersacherin in seinem Buch ausgestaltet hatte. Er beschreibt sie wie einen Holzklotz - komplett von der Umwelt abgeschottet - und ohne menschliche Gefühle. Eine großartige Horrorgestalt, wirklich angsteinflößend und nicht die Spur sympathisch! Sie und Sonia sind also sehr unterschiedlich und ticken völlig anders, obgleich sie ein ähnliches Verbrechen begehen.
Die Handlung ist in einem Londoner Haus am Themseufer angesiedelt. Wie gut kennen Sie die Gegend, die Sie in Ihrem Buch beschreiben, und was verbindet Sie mit ihr?
Penny Hancock: Es kommt mir vor, als würde ich das Themseufer in Greenwich in- und auswendig kennen, da ich während der Arbeit an meinem Buch dort sehr sorgfältig recherchiert habe. Was ich an diesem Flussabschnitt so spannend finde, ist, dass er sich ständig im Wandel, in Umbau und Veränderung, befindet. Kürzlich kehrte ich zu dem Flusspfad zurück, an dem der Roman spielt, und es gab schon wieder neue Läden, Büros und Restaurants, die noch nicht existiert hatten, als ich mit meinem Roman begonnen hatte. Ich wuchs in dieser Ecke auf, aber der Ort meiner Kindheit ist heute nicht mehr wiederzuerkennen. Die Kais und Speicher, die alten Lastkähne, der Schlamm und der Dreck - alles ist verschwunden. So kommt es, dass ich mir zwar einbilde, die Gegend wie meine Westentasche zu kennen, dass sie aber andererseits voller Überraschungen für mich steckt. Nur der Fluss bleibt als etwas Unveränderliches, Brütendes und Furchteinflößendes bestehen, er flutet heran und ebbt wieder ab, schwemmt Sachen an Land und spült andere mit sich fort.
Die Themse ist in Ihrem Thriller so wichtig, dass sie den Stellenwert einer eigenständigen Romanfigur einnimmt. Können Sie etwas mehr darüber erzählen, welche Rolle der Fluss spielt?
Penny Hancock: Ich habe den Roman an diesen Abschnitt der Themse versetzt, weil ich eine nostalgische Stimmung heraufbeschwören wollte. Ich wuchs ganz in der Nähe auf und weil ich heute in einer ländlichen Gegend ohne Gewässer lebe, vermisse ich den Fluss. Doch kaum hatte ich begonnen zu schreiben, nahm die Themse ein Eigenleben an. Die Gezeiten, die wechselnde Farbe ihrer Oberfläche, die Eigenschaft, im einen Moment düster und aufgewühlt, im anderen glatt und reglos zu sein, all das floss in den Roman ein, und ich nahm wahr, dass sie sich wie eine Person verhielt. Manchmal stand sie Sonia bei und trieb sie an, dann wieder bedrohte sie sie, manchmal spiegelte sie auch ihre Stimmungen, dann wieder verspottete und verhöhnte sie sie. Die Themse ist wie ein Lebewesen, das man verehren sollte. Sie ist mit ihren starken Strömungen überdies unglaublich gefährlich - wenn man an bestimmten Stellen des Flusslaufs hineinfiele, hätte man keine Chance - daher ruft sie auch ein Gefühl der Bedrohung hervor. Und sie spielt eine Schlüsselrolle bei der Erklärung für Sonias seelische Verfassung. Als die Handlung ihren Höhepunkt erreicht, ist Sonia dem Fluss vollkommen ausgeliefert - ihr Schicksal hängt davon ab, wie schnell und wie hoch die Flut steigen wird.
Die Ereignisse umfassen einen Zeitraum von etwa fünf Tagen und werden überwiegend aus Sonjas Sicht geschildert. Warum haben Sie sich dafür entschieden, gelegentlich die Erzählperspektive zu wechseln und die Geschichte aus Helens Warte weiterzuerzählen, die eine enge Freundin Sonjas ist?
Penny Hancock: Ursprünglich schrieb ich den ganzen Roman aus Sonias Perspektive, aber eine Lektorin wies mich darauf hin, dass dies ihn zu stark verdichte. Sie war der Meinung, der Leser sollte die Möglichkeit erhalten, aus der zwanghaften Sichtweise von Sonias Bericht herauszutreten. Helen kam mir vor wie der ideale Gegenpart, da sie zugleich Sonias Freundin und Jez´ Tante ist. Jez verschwindet, während er sich bei Helen zu Besuch aufhält. Helen wird von ihrer Schwester, Jez´ Mutter, dafür verantwortlich gemacht und ist von den Ereignissen traumatisiert. Ich wollte herausfinden, was mit einer Familie passiert, aus der ein Kind verschwindet. Ich stellte mir vor, dass in dieser belastenden Situation sicher unausgesprochene Dinge zutage kommen und die Beziehungen in ihren Grundfesten erschüttert würden.
Helen sucht bei ihrer alten Freundin Sonia Trost. Diese Freundschaft, die eigentlich viel zu eng ist, um Geborgenheit zu vermitteln, bot eine Fülle von Anknüpfungsmomenten, um Spannung zu entwickeln und den Interessenkonflikt zwischen den Frauen zu verdeutlichen. Helen klammert sich auf ihrer Suche nach Hilfe immer stärker an Sonia und merkt nicht, dass ihre ehemalige Freundin in Wahrheit verantwortlich für Jez´ Verschwinden ist. Währenddessen fühlt sich Sonia von Helens Ansprüchen in die Enge getrieben. Derart unter Druck gesetzt, greift sie zu extremen Mitteln...
Welche Rolle spielt die Erotik in der Beziehung zwischen Sonja und dem fünfzehnjährigen Jez?
Penny Hancock: Eine äußerst wichtige Rolle, da Sonia Jez mit ihrer ersten Liebe vergleicht, über die sie nie hinweggekommen ist - und zwar in dem Sinn, dass sie sich seither erotisch nicht weiterentwickelt hat. Sie beschwört fortwährend die Bilder einer für sie perfekten Liebe herauf, die sie zu einer Zeit erlebte, als ihr Liebhaber auf dem Höhepunkt seiner körperlichen Blüte stand. Dabei ist sie nicht in imstande zu merken, dass Seb sie für seine Machtspiele einsetzte und fast schon missbrauchte. Diese Erfahrung verfolgt sie und prägt ihr künftiges Verständnis von sexuellen Beziehungen. Sie kann keine reife Verbindung zu erwachsenen Männern eingehen - in der Beziehung zu ihrem Ehemann Greg ist sie frigide. Sie verzehrt sich nach den Gefühlen, die sie für den jungen Seb empfand, und versucht, sie durch Jez wieder aufleben zu lassen. Aber wie schon ihre Beziehung zu Seb, ist auch die zu Jez einseitig. Sie begehrt Jez, aber sie kann das nur zum Ausdruck bringen, wenn er schläft, und ist sich nicht darüber im Klaren, was in ihr vorgeht.
Auch wenn Jez hin und wieder arglos mit Sonia flirtet, reagiert sie darauf nie wie eine Erwachsene, indem sie seine Aufmerksamkeit zwar erwidert, ihm aber als Minderjährigem eine klare Grenze zieht. Das bringt Jez furchtbar durcheinander, weil er nicht herausfinden kann, was sie von ihm will.
Können Sie schon verraten, worum es in Ihrem nächsten Buch gehen und ob es wieder in Greenwich an der Themse spielen wird?
Penny Hancock: Es ist wieder ein Psychothriller, doch diesmal ein ganz anderer.
Er spielt in Deptford, einem Londoner Stadtteil mit einer faszinierenden Geschichte, der flussaufwärts gleich neben Greenwich liegt. Früher war Deptford mit seinen Werften ein florierendes Viertel, aber jetzt ist es einer der heruntergekommensten Stadtteile Londons. Für meinen Roman, in dem die Beziehung zwischen einer erfolgreichen Karrierefrau und ihrer Hausangestellten, einer Migrantin, ausgelotet wird, bot sich dieser Schauplatz an. Denn der Kontrast zwischen der bitteren Armut im heutigen Deptford und dem extremen Reichtum am gegenüberliegenden Flussufer in Canary Wharf erschien mir dafür sehr passend.
Die Geschichte setzt mit einem Leichenfund im Fluss ein, aber dann arbeitet sie erst einmal nach und nach die Beziehung der beiden Frauen und ihre gegensätzlichen Lebensziele heraus.
Mich hat es interessiert zu erkunden, welches Kräftespiel zwischen zwei Frauen in einem Haushalt herrscht, von denen eine das Sagen hat und die andere abhängig ist. In letzter Konsequenz mündet die Beziehung in Paranoia, Besessenheit und Mord - was natürlich eine Erklärung für die Leiche im Fluss zu Beginn des Romans ist.
Penny Hancock: Als ich gerade an einem Roman übers Erwachsenwerden und die erste Liebe schrieb, wurde ich in einem Kurs über Kreatives Schreiben aufgefordert, mir einen Plot für einen Kriminalroman auszudenken. Da ich keine gewöhnliche Krimigeschichte über einen Mörder und einen Detektiv schreiben wollte, dachte ich darüber nach, ob ich nicht hier meinen bisher erfolglosen Versuch umsetzen könnte, über die erste Liebe zu schreiben: Im Bestreben, eine leidenschaftliche Jugendliebe wieder aufleben zu lassen, nimmt eine Frau einen Teenager buchstäblich gefangen. Auf den ersten Blick schien das ein vorgefertigter Einfall zu sein - John Fowles hatte etwas Ähnliches bereits in „Der Sammler" umgesetzt, wo es um einen Mann geht, der ein junges Mädchen „in seine Sammlung steckt" - aber soweit ich wusste, hatte es noch niemand anders herum beschrieben. Zudem fiel mir auf, dass Frauen in einem bestimmten Alter häufig wie besessen von ihrer ersten Liebe sind, und deshalb nahm ich an, dass sich viele Frauen damit identifizieren könnten. Was ich nicht ahnte war, dass auch Männern diese Idee gefallen würde!
Sonia, die Hauptfigur Ihres Buches, wird gern mit Annie Wilkes aus Stephen Kings „Misery" verglichen. Aber als Sie Ihren Psychothriller schrieben, kannten Sie weder den Roman „Misery" noch die Verfilmung. Die Grundkonstellation - eine Frau hält einen Mann in ihrem Haus gefangen - legt zwar einen Vergleich nahe, doch weitere Übereinstimmungen gibt es kaum. Wie würden Sie Sonia charakterisieren und wie unterscheidet sie sich von Annie Wilkes?
Penny Hancock: Die meisten Thriller versetzen den Leser in die Perspektive des Opfers , um ihm den Impuls, der Gefahr zu entkommen, aufzuzwingen. Darauf zielt auch Stephen King in „Misery". Ich jedoch wollte, dass sich meine Leser mit Sonia, der Täterin, identifizieren. Ich wollte, dass die Leser Verständnis für ihre Besessenheit aufbringen und ihre verhängnisvolle Entwicklung zur Verbrecherin nachvollziehen können. Im Grunde ist Sonia eine liebevolle, leidenschaftliche und sehr attraktive Frau, die aufgrund einer Reihe von Ereignissen, für die sie selbst nichts kann, bedenklich aus dem Gleichgewicht geraten ist. Es ist eher ein Übermaß an Leidenschaft und Gefühlen, das sie dazu treibt, sich so zu verhalten, wie sie es tut, als ein Mangel an Empathie. Sie handelt in guter Absicht, aber sie ist verblendet - sie bildet sich ein, Jez zu „beschützen" (obgleich man natürlich niemanden beschützen kann, indem man ihn gefangen hält!). Ich las „Misery" erst, nachdem ich „Ich beschütze dich" geschrieben hatte, und war verwundert, wie unansehnlich und gefühllos Stephen King die Widersacherin in seinem Buch ausgestaltet hatte. Er beschreibt sie wie einen Holzklotz - komplett von der Umwelt abgeschottet - und ohne menschliche Gefühle. Eine großartige Horrorgestalt, wirklich angsteinflößend und nicht die Spur sympathisch! Sie und Sonia sind also sehr unterschiedlich und ticken völlig anders, obgleich sie ein ähnliches Verbrechen begehen.
Die Handlung ist in einem Londoner Haus am Themseufer angesiedelt. Wie gut kennen Sie die Gegend, die Sie in Ihrem Buch beschreiben, und was verbindet Sie mit ihr?
Penny Hancock: Es kommt mir vor, als würde ich das Themseufer in Greenwich in- und auswendig kennen, da ich während der Arbeit an meinem Buch dort sehr sorgfältig recherchiert habe. Was ich an diesem Flussabschnitt so spannend finde, ist, dass er sich ständig im Wandel, in Umbau und Veränderung, befindet. Kürzlich kehrte ich zu dem Flusspfad zurück, an dem der Roman spielt, und es gab schon wieder neue Läden, Büros und Restaurants, die noch nicht existiert hatten, als ich mit meinem Roman begonnen hatte. Ich wuchs in dieser Ecke auf, aber der Ort meiner Kindheit ist heute nicht mehr wiederzuerkennen. Die Kais und Speicher, die alten Lastkähne, der Schlamm und der Dreck - alles ist verschwunden. So kommt es, dass ich mir zwar einbilde, die Gegend wie meine Westentasche zu kennen, dass sie aber andererseits voller Überraschungen für mich steckt. Nur der Fluss bleibt als etwas Unveränderliches, Brütendes und Furchteinflößendes bestehen, er flutet heran und ebbt wieder ab, schwemmt Sachen an Land und spült andere mit sich fort.
Die Themse ist in Ihrem Thriller so wichtig, dass sie den Stellenwert einer eigenständigen Romanfigur einnimmt. Können Sie etwas mehr darüber erzählen, welche Rolle der Fluss spielt?
Penny Hancock: Ich habe den Roman an diesen Abschnitt der Themse versetzt, weil ich eine nostalgische Stimmung heraufbeschwören wollte. Ich wuchs ganz in der Nähe auf und weil ich heute in einer ländlichen Gegend ohne Gewässer lebe, vermisse ich den Fluss. Doch kaum hatte ich begonnen zu schreiben, nahm die Themse ein Eigenleben an. Die Gezeiten, die wechselnde Farbe ihrer Oberfläche, die Eigenschaft, im einen Moment düster und aufgewühlt, im anderen glatt und reglos zu sein, all das floss in den Roman ein, und ich nahm wahr, dass sie sich wie eine Person verhielt. Manchmal stand sie Sonia bei und trieb sie an, dann wieder bedrohte sie sie, manchmal spiegelte sie auch ihre Stimmungen, dann wieder verspottete und verhöhnte sie sie. Die Themse ist wie ein Lebewesen, das man verehren sollte. Sie ist mit ihren starken Strömungen überdies unglaublich gefährlich - wenn man an bestimmten Stellen des Flusslaufs hineinfiele, hätte man keine Chance - daher ruft sie auch ein Gefühl der Bedrohung hervor. Und sie spielt eine Schlüsselrolle bei der Erklärung für Sonias seelische Verfassung. Als die Handlung ihren Höhepunkt erreicht, ist Sonia dem Fluss vollkommen ausgeliefert - ihr Schicksal hängt davon ab, wie schnell und wie hoch die Flut steigen wird.
Die Ereignisse umfassen einen Zeitraum von etwa fünf Tagen und werden überwiegend aus Sonjas Sicht geschildert. Warum haben Sie sich dafür entschieden, gelegentlich die Erzählperspektive zu wechseln und die Geschichte aus Helens Warte weiterzuerzählen, die eine enge Freundin Sonjas ist?
Penny Hancock: Ursprünglich schrieb ich den ganzen Roman aus Sonias Perspektive, aber eine Lektorin wies mich darauf hin, dass dies ihn zu stark verdichte. Sie war der Meinung, der Leser sollte die Möglichkeit erhalten, aus der zwanghaften Sichtweise von Sonias Bericht herauszutreten. Helen kam mir vor wie der ideale Gegenpart, da sie zugleich Sonias Freundin und Jez´ Tante ist. Jez verschwindet, während er sich bei Helen zu Besuch aufhält. Helen wird von ihrer Schwester, Jez´ Mutter, dafür verantwortlich gemacht und ist von den Ereignissen traumatisiert. Ich wollte herausfinden, was mit einer Familie passiert, aus der ein Kind verschwindet. Ich stellte mir vor, dass in dieser belastenden Situation sicher unausgesprochene Dinge zutage kommen und die Beziehungen in ihren Grundfesten erschüttert würden.
Helen sucht bei ihrer alten Freundin Sonia Trost. Diese Freundschaft, die eigentlich viel zu eng ist, um Geborgenheit zu vermitteln, bot eine Fülle von Anknüpfungsmomenten, um Spannung zu entwickeln und den Interessenkonflikt zwischen den Frauen zu verdeutlichen. Helen klammert sich auf ihrer Suche nach Hilfe immer stärker an Sonia und merkt nicht, dass ihre ehemalige Freundin in Wahrheit verantwortlich für Jez´ Verschwinden ist. Währenddessen fühlt sich Sonia von Helens Ansprüchen in die Enge getrieben. Derart unter Druck gesetzt, greift sie zu extremen Mitteln...
Welche Rolle spielt die Erotik in der Beziehung zwischen Sonja und dem fünfzehnjährigen Jez?
Penny Hancock: Eine äußerst wichtige Rolle, da Sonia Jez mit ihrer ersten Liebe vergleicht, über die sie nie hinweggekommen ist - und zwar in dem Sinn, dass sie sich seither erotisch nicht weiterentwickelt hat. Sie beschwört fortwährend die Bilder einer für sie perfekten Liebe herauf, die sie zu einer Zeit erlebte, als ihr Liebhaber auf dem Höhepunkt seiner körperlichen Blüte stand. Dabei ist sie nicht in imstande zu merken, dass Seb sie für seine Machtspiele einsetzte und fast schon missbrauchte. Diese Erfahrung verfolgt sie und prägt ihr künftiges Verständnis von sexuellen Beziehungen. Sie kann keine reife Verbindung zu erwachsenen Männern eingehen - in der Beziehung zu ihrem Ehemann Greg ist sie frigide. Sie verzehrt sich nach den Gefühlen, die sie für den jungen Seb empfand, und versucht, sie durch Jez wieder aufleben zu lassen. Aber wie schon ihre Beziehung zu Seb, ist auch die zu Jez einseitig. Sie begehrt Jez, aber sie kann das nur zum Ausdruck bringen, wenn er schläft, und ist sich nicht darüber im Klaren, was in ihr vorgeht.
Auch wenn Jez hin und wieder arglos mit Sonia flirtet, reagiert sie darauf nie wie eine Erwachsene, indem sie seine Aufmerksamkeit zwar erwidert, ihm aber als Minderjährigem eine klare Grenze zieht. Das bringt Jez furchtbar durcheinander, weil er nicht herausfinden kann, was sie von ihm will.
Können Sie schon verraten, worum es in Ihrem nächsten Buch gehen und ob es wieder in Greenwich an der Themse spielen wird?
Penny Hancock: Es ist wieder ein Psychothriller, doch diesmal ein ganz anderer.
Er spielt in Deptford, einem Londoner Stadtteil mit einer faszinierenden Geschichte, der flussaufwärts gleich neben Greenwich liegt. Früher war Deptford mit seinen Werften ein florierendes Viertel, aber jetzt ist es einer der heruntergekommensten Stadtteile Londons. Für meinen Roman, in dem die Beziehung zwischen einer erfolgreichen Karrierefrau und ihrer Hausangestellten, einer Migrantin, ausgelotet wird, bot sich dieser Schauplatz an. Denn der Kontrast zwischen der bitteren Armut im heutigen Deptford und dem extremen Reichtum am gegenüberliegenden Flussufer in Canary Wharf erschien mir dafür sehr passend.
Die Geschichte setzt mit einem Leichenfund im Fluss ein, aber dann arbeitet sie erst einmal nach und nach die Beziehung der beiden Frauen und ihre gegensätzlichen Lebensziele heraus.
Mich hat es interessiert zu erkunden, welches Kräftespiel zwischen zwei Frauen in einem Haushalt herrscht, von denen eine das Sagen hat und die andere abhängig ist. In letzter Konsequenz mündet die Beziehung in Paranoia, Besessenheit und Mord - was natürlich eine Erklärung für die Leiche im Fluss zu Beginn des Romans ist.
© Elke Kreil, Goldmann Verlag
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Bibliographische Angaben
- Autor: Penny Hancock
- 2013, 1, 384 Seiten, Maße: 13,6 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Eva Kemper
- Übersetzer: Eva Kemper
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442313155
- ISBN-13: 9783442313150
- Erscheinungsdatum: 11.02.2013
Rezension zu „Ich beschütze dich “
"Penny Hancock hat mit Ich beschütze Dich ein bemerkenswertes Debüt geschrieben, in dem sie gleich mehrere Tabus bricht und frischen Wind in die Krimilandschaft bringt."
Kommentare zu "Ich beschütze dich"
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