Ich bin der Herr deiner Angst / Albrecht & Friedrichs Bd.1
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Der Teppich für die Angst ist ausgerollt, die Türen sind geöffnet: und sie tritt ein
Der Schock über den Tod des Kollegen sitzt, doch dem leitenden Ermittler Albrecht, seiner Kollegin Hanna Friedrich und dem Rest des Teams bleibt keine Zeit, sich aus der Starre zu lösen. Noch auf der Pressekonferenz erfährt Albrecht von einer Boulevard-Reporterin, dass eine weitere Kollegin aus seinem Team als vermisst gilt. Gefunden wird Kerstin Ebert auf dem Friedhof. Ihre Leiche radioaktiv verstrahlt und grauenhaft entstellt. Lektion zwei. Nun ist der Weg bereitet, der Teppich für die Angst ausgerollt, die Türen sind geöffnet. Und sie tritt ein - in jedes Leben mit einem ganz individuellen Drehbuch. Die Kommissare befangen, gelähmt und blind vor Wut über die Morde an ihren Kollegen, sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Oder wollen ihn nicht sehen. Können ihn nicht sehen. Aus Angst? Eigene Albträume, gut versteckt und verdrängt, melden sich und kommen an die Oberfläche.
Lebendig begraben: auch der Psychologe kann nicht mehr helfen, er ist tot
Professor Möllhaus, Psychologe in Braunschweig, soll mit dem Blick von außen helfen. Albrecht passt das gar nicht, aber er muss nach Braunschweig - und wird positiv überrascht. Das Gespräch mit Möllhaus und seinem jungen Team war angenehm. Dass es keine Fortsetzung geben wird, erfährt Albrecht am Morgen danach. Der Professor liegt tot auf einem Braunschweiger Friedhof, lebendig begraben. Kein Hamburger Irrer also, der seine Spielchen spielt. Doch wo ist die Verbindung, gibt es überhaupt eine Verbindung? Das Stochern im Nebel geht weiter und der Nebel wird dichter. In Lektion drei hat die Angst eine neue Dimension erreicht.
Gefährlicher als Hannibal Lecter: Der Traumfänger hat Macht über die Seelen
Es gibt da jemanden, der den Nebel lichten könnte. Vielleicht. Wenngleich auch er ein Irrer ist, seit 30 Jahren in der Psychiatrie sitzt. Als Jörg Albrecht sich an den Traumfänger Maximilian Freiligrath erinnert, den Fall, der vor Jahrzehnten Hamburg in Angst und Schrecken versetzt hatte, meint er, mit dessen Hilfe weiter zu kommen. Der Psychiater hatte mit den geheimsten Ängsten seiner Patienten gespielt. Nein, er war kein gefährlicher Kannibale wie Hannibal Lecter, er rührte die Menschen nicht an. Er war viel gefährlicher. Er hatte Macht über die Seelen der Menschen, und spielte mit ihnen wie mit Puppen.
Niemand weiß, was mit ihm passiert, wenn die schlimmste Angst Wirklichkeit wird
Jörg Albrecht weiß das alles. Doch er will, er muss sich Freiligrath stellen, er will weiterkommen, hofft so, dem kranken Mörder auf die Spur zu kommen.
Jörg Albrecht denkt, er wisse das alles. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Angst macht einsam, Angst lähmt, Angst kann töten. Niemand weiß, was mit ihm passiert, wenn seine schlimmste Angst Wirklichkeit wird. Niemand weiß, wie stark er ist, wie das Spiel ausgehen wird. Denn für den Psychiater ist es das. Und niemand weiß, ob Freiligrath überhaupt helfen kann, das will oder ob er, höchst unwahrscheinlich, selbst die Fäden zieht und aus der Psychiatrie heraus Lektionen der Angst erteilt. Jörg Albrecht setzt dennoch alles auf die eine Karte. Er spielt mit.
Ein in jeder Hinsicht verstörender Mord führt die Ermittler Jörg Albrecht und Hannah Friedrichs ins Hamburger Rotlichtviertel: Das Opfer war ein Kollege, und es wird nicht das letzte sein. Die Taten nehmen an Grausamkeit zu. Und alle haben sie mit den dunkelsten Geheimnissen der Opfer zu tun, ihrer größten Angst.
Irgendwann keimt in Albrecht eine Erinnerung: der Traumfänger-Fall. Seit dreißig Jahren schlummert er in den Akten. Seit dreißig Jahren sitzt der Täter in der Psychiatrie. Wie es scheint, hat der Albtraum gerade erst begonnen ...
Sie kennen keine Furcht? www.herr-deiner-angst.de
Ein in jeder Hinsicht verstörender Mord führt die Ermittler Jörg Albrecht und Hannah Friedrichs ins Hamburger Rotlichtviertel: Das Opfer war ein Kollege, und es wird nicht das letzte sein. Die Taten nehmen an Grausamkeit zu. Und alle haben sie mit den dunkelsten Geheimnissen der Opfer zu tun, ihrer größten Angst.
Irgendwann keimt in Albrecht eine Erinnerung: der Traumfänger-Fall. Seit dreißig Jahren schlummert er in den Akten. Seit dreißig Jahren sitzt der Täter in der Psychiatrie. Wie es scheint, hat der Albtraum gerade erst begonnen ...
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vorspiel
Die Augen sind unsichtbar, Schatten inmitten von Schatten. Seit Stunden sind sie reglos auf die Szenerie gerichtet.
Flutlichter färben den Horizont über dem Hafenviertel in den Tönen eines düsteren Regenbogens. Die Umrisse von Industrieanlagen ragen schwarz in den Himmel.
Aber das ist weit entfernt.
Auf dem verlassenen Gelände zwischen einer heruntergekommenen Schrebergartensiedlung und den Verladerampen des Raffineriehafens herrscht Dunkelheit.
Es ist ein Ort wie geschaffen für einen Menschen, der von der Welt vergessen werden will. Ein Ort, an dem sich niemand freiwillig aufhält, ausgenommen die allgegenwärtigen Ratten.
Hier, am Rande einer Ablaufrinne und fast unsichtbar zwischen den Skeletten abgestorbener Bäume, steht das Wohnmobil. Es ist fahrbereit. Der spärliche Grasbewuchs der Zufahrt wird kurz gehalten, die TÜV-Plakette am rostigen Heck ist noch gültig. Die Flucht aus dem stinkenden Winkel am Rande des Nirgendwo scheint jede Minute möglich.
Doch der Mann wird nicht fliehen. Es gibt keinen Ort, an den er verschwinden könnte. Und selbst wenn, so wäre es ein Ort, der diesem hier zum Verwechseln ähnlich sähe: vernichtet, zerstört, verpestet von Chemiegestank wie das Innere seiner Seele.
Die Augen befinden sich mehr als hundert Meter Luftlinie entfernt. Sie blicken durch einen Feldstecher mit Restlichtverstärker.
Seit zwei Stunden hat sich am Wohnmobil nichts gerührt. Die Schatten sind tiefer geworden, und durch eine ausgeblichene orangefarbene Gardine dringt eine Ahnung von Helligkeit.
Jetzt sind hinter dem Vorhang undeutliche Bewegungen zu erahnen. Er ist wach. Man könnte die Uhr nach ihm stellen. Wenn der letzte Schimmer Tageslicht vom Himmel verschwunden ist, wird er lebendig.
Die Metalltür des Wohnmobils öffnet sich ohne das geringste Geräusch. So verrostet der Kasten nach außen hin auch wirkt: Alles ist auf dieses eine Ziel ausgerichtet - unsichtbar zu sein, unhörbar. Vergessen von der Welt.
Geduckt schiebt sich der Mann ins Freie. Für das bloße Auge ist alles grau an ihm, sein Haar, seine Kleidung, das unrasierte Gesicht. Doch der Infrarotsensor fängt die blasse Wärme seines Körpers ein, flackernd, als könnte sie jeden Moment verlöschen.
Die Augen hinter dem Feldstecher blinzeln kein einziges Mal. Sie verfolgen den Weg des grauen Mannes: Humpelnd bewegt er sich auf die Baumreihe zu, nutzt jede Deckung, bis er nach wenigen Schritten schwer gegen einen der Stämme sinkt. Heftig atmend hält er inne. Ziellos schweift sein Blick in sämtliche Richtungen. Er wittert. Er spürt die Bedrohung.
Sie ist ein Teil von ihm, hat ihn niemals verlassen. Dreiundzwanzig Jahre lang. Und doch ahnt er nicht, wie nahe sie ihm seit einigen Wochen ist.
Er ahnt nichts von ihrer Natur, weil er glaubt, sich all die Jahre bereits in der Hölle zu befinden. Doch da irrt er, wie ein Mensch nur irren kann.
Mit einem Keuchen löst sich der graue Mann aus dem Schutz der Bäume, hastet voran. Durch die Okulare des Nachtsichtgeräts sind die Augen ganz nah bei ihm, doch da ist noch mehr: eine Verbindung, die über die bloße Beobachtung mit den Augen eines Fremden hinausgeht, Gedanken und Gefühle einbezieht.
Der panische Rhythmus seines Atems nimmt noch zu, als der graue Mann ächzend der Vorortsiedlung entgegenstolpert. Der Kiosk liegt achthundert Meter entfernt, die eine Hetzjagd auf Leben und Tod sind, jeden Abend wieder.
Die Weite der offenen Fläche will ihn auseinanderreißen, die Enge zwischen den Bäumen ihn ersticken.
Die Bilder sind überall, doch hier draußen scheinen sie zu leuchten, zwingen sich mit greller Härte auf die Innenseite seiner Lider. Er ist unfähig, die Erinnerungen auszulöschen. Er versucht zu fliehen, doch es gibt keinen Ort, an den er fliehen könnte vor den Bildern, die in ihm sind.
Er lebt. Die Augen hinter dem Feldstecher weiten sich triumphierend. Er lebt, und jeder Tag, jede Nacht ist die Hölle.
Alles ist ganz genauso, wie es sein sollte. Und längst noch nicht genug.
Er kann nicht ahnen, dass es gerade erst begonnen hat.
eins
Sie wundern sich, warum gerade ich Ihnen diese Geschichte erzähle?
Klingt seltsam, ich weiß. Wenn man bedenkt, wie Jörg Albrecht in die ganze Sache hineingeschlittert ist- und warum -, sollte ich so ziemlich der letzte Mensch sein, der sich ein Urteil erlauben könnte, was die ganze Zeit in seinem Kopf vorgegangen ist.
Um ganz ehrlich zu sein: Mit absoluter Sicherheit kann ich das natürlich auch nicht immer sagen. Doch es ist nun mal eine Tatsache, dass ich ihn sehr viel besser kannte, als er jemals für möglich gehalten hätte.
Das war es, was die ganze Sache so schwierig machte - und zwar nicht so sehr für ihn, sondern vor allem für mich.
Ihm hat es immer ausgereicht, sich im Designeranzug vor die Leute hinzustellen und seine cleveren Schlussfolgerungen zu ziehen. Den Leuten in die Köpfe gucken, das konnte er gut - nur von den Dingen, auf die es wirklich ankam, hat er nie viel mitgekriegt. Von dem nämlich, was in seinem eigenen Kopf vorging.
Und das gilt nicht nur für die Jagd nach dem Traumfänger, sondern für all die Jahre unserer Zusammenarbeit.
Aber um das zu verstehen, müssen wir dort anfangen, wo alle diese Albträume zu Hause sind, in Jörg Albrechts Kopf nämlich.
Und das ist kein besonders erfreulicher Ort.
Sie werden schon sehen.
Drei Uhr fünfundvierzig.
Der Radiowecker projizierte die digitalen Ziffern an die Wand des Schlafzimmers. Ein Geschenk seiner Tochter, und Hauptkommissar Jörg Albrecht fragte sich bis heute, was sie sich dabei gedacht hatte.
Eine von tausend Fragen, über die sich ganz herrlich nachgrübeln ließ, wenn der Schlaf sich nicht für mehr als dreißig Minuten am Stück einstellen wollte.
Es war noch eine der erfreulichsten.
Albrecht warf sich auf die linke Seite und widerstand dem Impuls, den Wecker mitsamt der vorwurfsvoll glimmenden Leuchtschrift vom Nachttisch zu fegen. Er würde es morgen früh bereuen, wenn er das tat. In exakt zwei Stunden, genauer gesagt.
Nadelspitzer Nieselregen peitschte gegen die Fenster seiner Etagenwohnung in Hamburg-Altona. Es war ein stürmischer Regen, doch nicht mal ihm gelang es, die Verkehrsgeräusche der zwei Häuserblocks entfernten Max-Brauer-Allee zu übertönen. Und das machte es für Albrecht unmöglich, sich vorzustellen, er läge jetzt in dem gemütlichen weichen Bett, in der Stille des historischen Bauernhauses in Ohlstedt, das sie mit dem Geld ausgebaut hatten, das eigentlich in seinen Rentenfonds hatte fließen sollen.
Andererseits wäre selbst in diesem Bett nicht genug Platz gewesen für ihn und Joanna - und für ihren Dentisten Dr. Hannes Jork, der ga-ran-tiert nicht ständig Arbeit mit nach Hause brachte und nicht ansprechbar war, weil er einen dermaßen ekelhaften Fall am Wickel hatte, dass es ihm die Kehle zuschnürte. Nein, ganz gewiss nicht! Dieses Geschenk an die weibliche Hälfte der Schöpfung hatte ja einen ganzen Stall voller Vorzimmerhühner für alle unangenehmen Sachen. Und zu Hause - in dem mit dem Geld aus Albrechts Rentenfonds sanierten Bauernhaus in Ohlstedt - musste er sich dann auch nicht anhören, er sei ja nicht mal richtig da, wenn er hier sei, in dem Bauernhaus in ...
Mit einem Knurren wälzte Albrecht sich nach rechts, sodass er einen Blick durch die widerliche Plastikjalousie auf den widerlichen Regen und das Doppelglasfenster hatte, das beim Öffnen regelmäßig ein Geräusch von sich gab wie ein schlecht geölter Sargdeckel.
Öffnen, ha! Joannas Wunderdentist hatte ga-ran-tiert keine Probleme mit dem Öffnen. Mit dem Von-der-Seele-Reden-was-dich-so-bedrückt. Mit dem Vertrauen, das man nach jahrelanger Ehe doch einfach haben musste. Dr. Hannes Jork hielt Albrechts Exfrau sicher en détail auf dem Laufenden, welcher seiner Patienten an der Mundhygiene sparte und wem die Keramikfüllungen für den dritten Backenzahn von hinten zu teuer waren. Kein bleiernes Schweigen. Keine Leichen, die er im Kopf mit sich rumtrug.
Und keine schlaflosen Nächte.
Nein, immer ein strahlendes Zahnklempnerlächeln, wenn er nach Hause kam, zu Joanna und den Mädchen.
Zu Clara und Swantje.
Zu Jörg Albrechts Töchtern.
Du wirst jetzt nicht an die Kinder denken!
Die Ziffern an der Wand sprangen auf drei Uhr siebenundfünfzig.
Im selben Moment meldete sich Albrechts Handy.
Er nahm den Anruf an, bevor es ein zweites Mal klingelte. Die Rufnummer hätte er im Schlaf hersagen können.
«Hannah?»
«Hauptkommissar?» Hannah Friedrichs' Stimme klang irritiert. Im nächsten Moment fand sie zu ihrem gewohnten Tonfall zurück, in dem sich Ich schicke Ihnen die Akte in Kopie anhören konnte wie Leck mich am Arsch. «Sie sind schneller am Handy, als ich an den Wecker komme.»
Kunststück, dachte Albrecht, wenn man schon wach ist. «Ich höre», murmelte er.
Kriminalkommissarin Hannah Friedrichs war eine von drei Beamten auf dem Revier, die sich in der Leitung der Nachtschicht abwechselten, wenn keine dringende Ermittlung anstand. Er war sich nicht ganz sicher, aber möglicherweise traute er ihr eine Spur mehr zu als dem Rest der Mannschaft. Vielleicht weil sie keine überflüssigen Worte machte. Die wenigsten Menschen konnten gleichzeitig denken und reden. Vor die Wahl gestellt, entschieden sich die meisten für das Reden.
«Wir haben einen Toten.» Für einen Moment glaubte er in ihrer Stimme einen Ton zu hören, den er nicht einordnen konnte. Doch er konnte sich täuschen. Es war Nacht, und Stimmen veränderten sich mit der Dunkelheit.
«Ich bin in zehn Minuten da.» Mit dem Handy am Ohr ging er ins Badezimmer. Der Spiegelschrank war halb blind, das Gesicht, das ihm entgegenblickte, verschwommen und fahl. Lange her, doch irgendwann musste er diesen Typen mal gekannt haben.
«Kommen Sie direkt zur Bernhard-Nocht-Straße », sagte Friedrichs. «Den Peterwagen sehen Sie schon.»
«Gut.» Albrecht kniff die Augen zusammen. «Wir sehen uns ... dort.»
Doch die Leitung war bereits tot.
***
Zehn Minuten, hatte Albrecht gesagt. Wenn er sich das bis zum Revier zutraute, sollte es auch bis zur Bernhard-Nocht-Straße zu schaffen sein.
Ich würde für jede Sekunde dankbar sein, die er früher kam.
Das Fleurs du Mal schimpfte sich ‹Club›. Das taten diese Kaschemmen fast alle, schon weil sie wussten, dass wir wegen des Jugendschutzes ein Auge auf sie hatten. In den letzten Jahren war noch das Rauchverbot dazugekommen, um das sie auf diese Weise herumkamen.
Was das Fleurs du Mal anbetraf, hatte es tatsächlich was Exklusives verglichen mit den üblichen versifften Läden abseits der Reeperbahn. Ich hatte kurz mit einigen der Mädchen gesprochen und festgestellt, dass sie nicht nur keine offensichtlichen Spuren von Misshandlungen aufwiesen, sondern obendrein tatsächlich sprechen konnten - unsere Sprache, und mehr als ein paar Brocken davon.
Doch das war wohl auch notwendig. Das Fleurs du Mal war auf besondere Wünsche eingerichtet.
In der Eingangshalle ahnte man noch nichts davon. Da war nichts als der übliche Plüsch zu sehen. Ich fragte mich seit Jahren, wo solche Möbel eigentlich herkamen: vom Antiquitätenhändler? Oder gab es irgendwo in der Stadt eine ganze Branche, die davon lebte, Omas Sperrmüllsofa für die Puffs von St. Pauli aufzuarbeiten?
Worauf es in diesem Schuppen ankam, war mir erst klar geworden, als ich mir die Gemälde an den Wänden genauer angesehen hatte: Jede Menge Spitzentutus, Seide und Samtroben, so weit nichts Ungewöhnliches - aber hier war außerdem eine eindrucksvolle Auswahl von Peitschen, Knebeln und Handfesseln zu sehen. Und auf der ersten Etage gab's dann was für jeden Geschmack: Zwei der Türen standen offen, und hinter einer davon hatte ich einen Pranger entdeckt, Direktimport aus dem Mittelalter. Die zweite führte geradewegs ins Himmelreich der Latexfreunde.
Und dann war da natürlich die Tür, die jetzt verschlossen war und an der Lehmann auf meine Anweisung ein Siegel angebracht hatte, bis der Chef eintraf oder das Team von der Spurensicherung. Je nachdem, wer schneller da war. Ich schüttelte mich innerlich. Ich hatte nur einen knappen Blick in dieses Zimmer geworfen, doch das war schon ein Blick zu viel gewesen.
Ich war wie betäubt, aber auf der Stelle war mir klar, dass das ein Fall für Albrecht war.
Bis dahin allerdings musste ich die Gesellschaft von Madame Beatrice ertragen, der «Geschäftsführerin», während die Kollegen die Personalien der Mädels und ihrer Kunden aufnahmen.
Die Puffmutter war eine imposante Erscheinung, dazu hätte sie nicht mal die messerlangen High Heels gebraucht. Ich schätzte die Frau ungefähr auf mein Alter, Mitte dreißig. Genau ließ sich das nicht sagen bei ihrem Frank 'n' Furter-Look, der gleichzeitig dafür sorgte, dass ich aus ihren Reaktionen nicht richtig klug wurde.
«Können Sie nicht wenigstens jetzt diesen Blaulichtwagen abziehen?»
Sie sprach mit einem merkwürdigen Akzent: ßie, dießen. Irgendwas Osteuropäisches, oder versuchte sie den Hamburger Slang nachzumachen? Dann suchte sie sich die falschen Stellen aus.
«Es gibt unser Haus seit mehr als drei Jahren, und wir haben einen Ruf ...»
«In Ihrem Haus ist heute ein Mensch zu Tode gekommen», erinnerte ich sie. «Mit Sicherheit haben Sie Verständnis dafür, dass unsere Ermittlungen in diesem Fall Vorrang haben. Wir werden alles so schnell wie möglich freigeben, sobald die Spuren gesichert sind und mein Vorgesetzter sich einen Überblick verschafft hat. Ich bin mir sicher, dass auch Ihre Gäste dafür Verständnis haben.»
In meinem Hinterkopf meldete sich ein kleines Teufelchen: Vielleicht war die Kundschaft des Fleurs du Mal ja pervers genug, dass sie einen echten Mord richtig zu schätzen wusste? Mit ordentlich viel Blut anstatt ein bisschen Aua-aua mit der Lederpeitsche.
Ich drängte den Gedanken beiseite. Ich war nicht ganz bei mir, seitdem ich hinter die Tür geschaut hatte, die jetzt verschlossen war. Und ich mochte mir nicht vorstellen, wie Albrecht reagieren würde, wenn er sie öffnete.
***
Der Regen hatte sich in ein Nieseln verwandelt, das, falls überhaupt möglich, noch eine Spur widerlicher war. Vielleicht war es auch Nebel, der von der Außenalster zwischen die Häuser trieb und auf dem Asphalt einen Film aus schmieriger Nässe bildete.
Jörg Albrecht begegnete keinem Menschen, während er mit raschen Schritten in Richtung Reeperbahn ging.
Er erinnerte sich, wie er sich vorgestellt hatte, dass er den Weg zum Revier zu Fuß nehmen konnte, wenn er sich für die Wohnanlage in Altona entschied. Dass er unterwegs Abstand gewinnen, eine Mauer errichten konnte zwischen den beiden Feldern seines Lebens: der Leiter der Dienststelle auf der einen Seite, und auf der anderen ...
Auf der anderen Seite gab es nichts mehr. Selbst die Zimmerpflanzen hatte er Joanna und ihrem Dentisten überlassen. Er hatte sie nicht zum Tode verurteilen wollen.
Er schüttelte sich, kurz aber heftig.
Im nächsten Moment waren die Grübeleien verschwunden. Er war Ermittler im Dienst, und die Vergangenheit war so tot wie die Straßen von Altona in dieser Nacht.
Erst hinter der Friedenskirche änderte sich das Bild.
Hier waren Menschen unterwegs. Nachtschwärmer, deren Geschäfte ihn heute nicht interessierten. Keiner kam ihm nahe. Albrecht hatte früher oft gerätselt, ob es eine bestimmte Art zu gehen war, aus der man ihn schon aus fünfzig Schritt Entfernung als Kriminalbeamten identifizieren konnte. Manchmal konnte das ganz hilfreich sein, verdammt selten allerdings.
Es war, wie Friedrichs versprochen hatte. Als er in die Bernhard-Nocht-Straße einbog, sah er das Blaulicht des Einsatzfahrzeugs. Irgendwo in der Nähe zerriss die Sirene eines Krankenwagens die Nacht. Unwahrscheinlich, dass sie mit dem Fall zu tun hatte - die Hafenambulanz befand sich nur einen Steinwurf entfernt.
Albrecht wurde langsamer, während er sich dem Tatort näherte, und nahm sich ein paar Sekunden, um das Bild auf sich wirken zu lassen. Immer wieder hatte er erlebt, wie wichtig dieser erste Eindruck war: vom Schauplatz des Verbrechens selbst, aber auch von der Umgebung. Das Bild mit den Augen eines Menschen wahrzunehmen, der vielleicht zum ersten Mal hier war, in den Straßen abseits der Reeperbahn, wo sich Dunkelheit und schreiend bunte Leuchtreklamen zu einem unerfüllbaren Versprechen auf Erlösung mischten.
Die abweisenden Häuserfassaden waren übersät mit Graffiti. Bauten aus der Gründerzeit und neue, hässlichere Gebäude. Ein Trupp dunkelhäutiger Männer drängte sich vor dem Eingang eines billigen Hotels und unterhielt sich in einer unbekannten Sprache. Eine Frau in hohen Stiefeln passierte die Gruppe - ihr Blick ging durch Albrecht hindurch, als wäre er Luft.
Der Peterwagen war jetzt noch zwei Häuser entfernt. Keine Spur von Gaffern, die sich in einer zivilisierteren Gegend am Schauplatz eines Verbrechens eingefunden hätten, ganz gleich zu welcher Tages- oder Nachtzeit. Falls sich das Niveau einer Zivilisation an der Anwesenheit von Gaffern messen ließ.
Über dem Eingang des Etablissements leuchtete in düster rotem Neon der Schriftzug Les Fleurs du Mal. Ein greller Kontrast zum Blaulicht des Polizeifahrzeugs.
Ein einzelner uniformierter Beamter lehnte kaugummikauend am Heck des Einsatzwagens, die Augen auf den Eingang des Clubs gerichtet. Albrecht war auf ein halbes Dutzend Schritte an ihn herangetreten, als sein Blick sich hob.
«Halt! Sie können hier nicht ...» Im selben Moment erkannte der Mann seinen Vorgesetzten. «Sie sind alle schon drin», sagte er eilig und tastete über seine Uniform nach Handy oder Funkgerät. «Ich kann Sie ...»
«Wenn sie alle schon drin sind», unterbrach ihn Albrecht, «dürfte das Innere des Objekts ja ausreichend gesichert sein. Und Sie behalten die Straße im Auge?»
Urplötzlich musste sich eine Reflexion des Rotlichts auf das Gesicht des Mannes verirrt haben. «Ich ... Natürlich.»
Albrecht sah, wie sich sein Adamsapfel bewegte, doch nur für einen Moment, bevor der Beamte sich eilig umdrehte, um angestrengt die Straße hinabzuspähen.
Kopfschüttelnd wandte sich der Hauptkommissar dem Eingang zu. «Danke für die Hilfe», murmelte er. «Ich finde den Weg.»
Albrecht folgte einem persönlichen Ritual: Er wollte das gesamte Bild sehen, alle möglichen Wege. Nicht allein denjenigen, auf dem ihn die Beamten schnurstracks zum Schauplatz des Verbrechens führen würden, der erst im Augenblick der Tat zum Schauplatz geworden war. Der Weg dorthin sagte ebenso viel über das Geschehen aus wie der Tatort selbst.
Die Tür öffnete sich ohne Laut. Ein menschenleerer Empfangsraum voller plüschiger Sitzgelegenheiten lag vor ihm. Albrecht durchquerte ihn mit langsamen Schritten, angezogen von einem dramatischen Treppenaufgang, den ein Geländer aus Marmor und Messing flankierte. Die Stufen waren mit dunklem Samt bezogen. Elektrische Kandelaber sorgten für eine schummerige Beleuchtung, an den Wänden Kunstdrucke mit lasziven Motiven der viktorianischen Epoche. Die üblichen Kunstgriffe. Das Einzige, was fehlte, waren die Menschen, war die Geräuschkulisse.
Doch Albrecht ging davon aus, dass das Fleurs du Mal auch das synthetisch liefern konnte: Laute der Lust vom Tonband, unterlegt mit Streicherklängen.
Hurenhäuser dieser Preisklasse waren ein Freizeitpark für Erwachsene, und wie in jedem Freizeitpark spielten die Requisiten eine besondere Rolle. Dieses Haus wollte offenbar in der obersten Liga mitspielen. Jedenfalls hatten sie die Zutaten nicht dem Zufall überlassen.
Les Fleurs du Mal. Die Blumen des Bösen. - Albrecht war im Begriff, den Fuß auf die Treppe zu setzen, da kam wie ein Blitz die Erinnerung.
«Verdammt!» Seine Stimme war ein lautloses Zischen. Doch im selben Moment ...
«... kann und wird mein Vorgesetzter entscheiden, nachdem Sie seine Fragen beantwortet haben.»
Hannah Friedrichs' Stimme. Auf der oberen Etage fiel ein Lichtschimmer aus einer halb geöffneten Tür. Albrecht schüttelte sich.
Jetzt war die Erinnerung da, jedes Detail an seinem Platz, doch was auch immer diese Vorgänge bedeuten mochten für das, was heute Abend hier geschehen war... Ob es einen Zusammenhang gab...
Verschaff dir einen Einblick, dachte er.
Dann kannst du die Verbindungslinien ziehen.
Wenn sie existieren.
Er fing ein letztes Mal die Atmosphäre ein. Schweres Parfüm, der dunkle Duft wilder Träume - und etwas anderes, ein klinischer Geruch, den er automatisch mit polizeilicher Ermittlungsarbeit in Verbindung brachte. Das jähe Erwachen aus dem Traum in die Wirklichkeit.
Auf dem oberen Treppenabsatz angekommen, klopfte er mit dem Handrücken leicht gegen die Tür und schob sie in derselben Bewegung auf.
Hannah Friedrichs hatte ihre dunklen Haare zu einem praktischen Pferdeschwanz gebunden, der bis auf ihre Wetterjacke fiel. Sie trug ihre randlose Brille, also hatte sie sich bereits Notizen gemacht.
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Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH
- Autor: Stephan M. Rother
- 2012, 1. Auflage, 576 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499258692
- ISBN-13: 9783499258695
- Erscheinungsdatum: 21.03.2012
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