Ich, Conchita
Meine Geschichte. We are unstoppable
Nichts kann uns aufhalten
Mit ihrem Sieg beim Eurovision Song Contest 2014 sorgte Conchita Wurst für einen weltweiten Sturm der Begeisterung bei Millionen. Gleichzeitig formierten sich die Gegner aus dem konservativen Lager. Auftritte vor dem...
Mit ihrem Sieg beim Eurovision Song Contest 2014 sorgte Conchita Wurst für einen weltweiten Sturm der Begeisterung bei Millionen. Gleichzeitig formierten sich die Gegner aus dem konservativen Lager. Auftritte vor dem...
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Produktinformationen zu „Ich, Conchita “
Klappentext zu „Ich, Conchita “
Nichts kann uns aufhaltenMit ihrem Sieg beim Eurovision Song Contest 2014 sorgte Conchita Wurst für einen weltweiten Sturm der Begeisterung bei Millionen. Gleichzeitig formierten sich die Gegner aus dem konservativen Lager. Auftritte vor dem Europäischen Parlament wechseln sich ab mit Morddrohungen. Conchita Wurst polarisiert und fasziniert; eine hinreißende Sängerin, die von Stars wie Elton John, Cher, Jean Paul Gaultier und Karl Lagerfeld für ihr Talent und ihren Mut bewundert wird. Nun spricht sie zum ersten Mal über ihre Kindheit, die Liebe ihrer Eltern, den Beistand ihrer Oma, aber auch die harsche Diskriminierung, die sie erfahren musste. Warum verlässt sie bereits mit 14 Jahren die Heimat, um auf eigenen Füßen zu stehen? Wie wurde aus Tom Neuwirth Conchita Wurst? Wie schafft sie es, ihren Traum in die Tat umzusetzen, wenn ihr Tag für Tag Hindernisse in den Weg gelegt werden? "Ich, Conchita" ist die spannende Geschichte eines Jungen aus der Provinz, der immer an die Vision glaubte, eines Tages ein Weltstar zu sein.
"Schaut mich an und schaut euch an. Und dann denkt darüber nach, ob ihr nicht alle ein bisschen bärtige Frau in euch habt."
Lese-Probe zu „Ich, Conchita “
Conchita Wurst - Ich, ConchitaProlog
... mehr
In der Nacht vor dem Finale des European Song Contest stand ich
vor dem Spiegel meines Hotelzimmers. Zum ersten Mal seit vielen
Stunden war ich allein mit mir – und war es doch nicht. Halb
abgeschminkt für eine kurze Nachtruhe sah ich dem Gestaltenwandler
entgegen, der mir so vertraut ist. Ein Mensch, der bei
vielen Freude am Leben, Toleranz und Liebe auslöst, bei anderen
dagegen Hass, Zorn und die Angst vor der wichtigsten Frage überhaupt:
Wer bin ich? In dieser Nacht stellte ich sie mir selbst: »Wer
bin ich?«, wenn ich morgen auf die Bühne trete, sich die Augen der
Welt auf mich richten, für die Dauer eines Liedes? Drei Minuten,
die zur Ewigkeit werden können, falls eintritt, was keiner von uns
erwartet und ich gewinne.
»Dann haben wir ein Problem, du und ich«, sagte ich zum Zwitterwesen
im Spiegel. »Wenn das geschieht, müssen wir etwas Kluges
sagen.«
Conchita lächelte mir entgegen. Oder war es Tom Neuwirth, der
aus der tiefsten Provinz stammt, weit weg vom Rampenlicht? Aus
einer Gegend, wohin Menschen in Urlaub fahren, weil dort die
Welt, wie sie sagen, noch in Ordnung ist. Wenn das zutrifft , warum
gab es dann Conchita?
Ich griff zu einem Wattebausch, um mich weiter abzuschminken.
Mit jedem Strich wich Conchita zurück, um Platz zu machen für
Tom. Das Lied, das ich morgen singen würde, war in meinem Kopf.
Es erzählt vom einem Tausende Jahre alten Mythos, inspiriert vom
sagenumwobenen Vogel Phönix, der am Ende seines Lebens verbrennt,
um aus der eigenen Asche neu zu entstehen. Weil er ein
Abbild des ewigen Lebens ist, nannten die Ägypter ihren göttlichen
Vogel Benu, einen Vorläufer des Phönix, »wiedergeborener
Sohn«. Den sehe ich im Spiegel, wenn mich Conchita beim Ab-
schminken verlässt: die Wiedergeburt von Tom, dem Jungen aus
der Provinz. Da ist die Perücke längst abgelegt, das Kleid hängt am
Ständer, noch ein paar Striche mit dem Wattebausch, und Conchita
wird verschwunden sein.
»Wir müssen etwas Kluges sagen«, wiederholte ich.
Vielleicht war mir Lidschatten ins Auge geraten oder etwas von
der Wimperntusche, die Conchita so liebt, jedenfalls liefen mir
Tränen herab, und in ihnen wurde Tom zum Jungen. In kurzen
Hosen, heruntergerollten Strümpfen, mit einem T-Shirt am mageren
Körper. Es roch nach würzigen Kiefern, nach dem Wasser eines
schmalen Baches. Da sprang der kleine Tom darüber und
rannte weiter, so schnell ihn seine Beine trugen, und mit ihm rannte
das Glück, das nur kennt, wer einen dieser Sommer auf dem
Land verbringen darf, der in der Vorstellung eines Jungen immer
unendlich ist.
»Warum sich etwas ausdenken?«, hörte ich die Stimme von Conchita.
»Erzähl den Leuten deine Geschichte. Es gibt nichts Kluges
zu sagen, außer man erlebt es.«
Weil sie so oft recht hat, machte ich mir eine Notiz. Sollte ich gewinnen,
würde ich meine Geschichte erzählen. Aber nur dann.
Die Grüne Höhle
I want to make magic, I want to electrify the place
Aus dem Musical »Fame«
Mein Leben ist ein Musical, sage ich oft . Nicht nur, weil es begann,
wo Musicals gerne beginnen, nämlich in der Provinz. Es ist ein
Musical, weil Musik und Gesang darin eine große Rolle spielen,
weil Drama vorkommt und Komödie, weil ich das Varieté liebe
und die Kostümierung und natürlich all die Geschichten, von denen
ich nie genug bekommen kann. So gesehen, ist bereits eine
meiner ersten Erinnerungen wie aus einem Musical entsprungen:
Ich war vier Jahre alt, und wir lebten in Ebensee. Das ist ein romantisches
Städtchen am Südufer des Traunsees, mitten im Salzkammergut.
Schiff e fahren übers Wasser, eine Seilbahn führt hoch zum
Feuerkogel, es gibt den Rindbach-Wasserfall, der im Frühling zum
tosenden Schwall wird, und die Tropfsteinhöhle im Gassenkogel,
deren Eingang tausend Meter überm See liegt. Und es gab eine
zweite Höhle. Die befand sich in unserem Haus, einer verwunschenen
Villa, groß wie ein Märchenschloss. In der wahren Welt war es
eine Jugendherberge, von meinen Eltern geleitet, mit einem Aufenthaltsraum,
der vom Boden bis zur Decke mit waldgrünem
Plüsch tapeziert war. Das Ganze wirkte wie eine moosbewachsene
Höhle, in der die Schülergruppen, die unser Haus bevölkerten, ihre
Partys feierten. War niemand da, gehörte die Höhle mir. Dann war
sie mir Spielzimmer und Traumplatz in einem; ein Ort, der von
Riesen und Zwergen bevölkert wurde, von Feen und Elfen. Dort
spürte ich, dass es ein Leben außerhalb dieser Realität gab, von der
die Erwachsenen so gerne sprachen. Hier entstanden im Handumdrehen
fantastische Welten, die nur durch die Augen eines Kindes
zu sehen sind. Als ich Jahre später nach unserem Umzug auf einen
Besuch zurückkehrte, war die Höhle verschwunden. Jemand hatte
den Plüsch von den Wänden gerissen und sich mit Pinsel und Farbe
ans Werk gemacht. Nun war ein Raum entstanden, an dem es
für die meisten nichts auszusetzen gab, doch war alle Schöpferkraft
weg und mit ihr die Möglichkeit, in andere Welten zu reisen. Das
passiert uns oft : Wir sanieren etwas tot und wundern uns, warum
die Ideen mit auf der Strecke bleiben. An denen hatte es mir in der
Grünen Höhle nie gemangelt. Kein Wunder, war mir der Abschied
schwergefallen. Doch mein Vater hatte sich mit einer Gaststätte
selbstständig gemacht, daher hatten wir Ebensee verlassen. Damals
konnte ich nicht ahnen, dass in meiner neuen Heimat eine weitere
Fantasiehöhle auf mich warten würde, die ebenfalls in Grün erstrahlte,
dieser Farbe der Hoff nung und der Unsterblichkeit. So
etwas kommt normalerweise nur in Musicals vor – oder in meinem
Leben.
Paradies mit Rissen
Hiding away, there’s a little bit of gypsy in me
Aus dem Musical »Anything Goes«
Wir zogen von einem Paradies ins andere: Bad Mitterndorf, unsere
neue Heimat, liegt wie Ebensee mitten im Salzkammergut, umgeben
von Bergen, Wiesen und Wäldern. Wieder war Wasser nicht
fern, mit dem Salza-Stausee und den Heilbrunner Th ermalquellen,
in denen schon die Römer badeten. Im Winter kamen Gäste aus
aller Welt zum Skifahren auf die Tauplitzalm, und waren ein paar
Mutige unter ihnen, gingen sie hinüber auf den Kulm, zur größten
Naturschanze der Welt, wo Sprungweiten über 200 Meter keine
Seltenheit sind. Meine Kindheit verbrachte ich mit meinem eineinhalb
Jahre älteren Bruder Andi und unseren Freunden draußen an
der frischen Luft . Kamen wir außer Atem, hungrig und durstig
nach Hause, durft en wir uns eine Mahlzeit von der Speisekarte
auswählen. Damals verstand ich nicht, weshalb die Spielkameraden
neidisch schauten, denn für uns war das eine Selbstverständlichkeit.
Denke ich an die Zeit zurück, kommt sie mir vor wie ein
langer Kindertraum. Zwar meinte meine Mutter kürzlich, wie leid
es ihr tue, dass sie und mein Vater so wenig Zeit für uns hatten. Sie
waren dabei, das Gasthaus auf Vordermann zu bringen und ihr
Geschäft aufzubauen. Doch konnte ich sie beruhigen, denn ich
hatte das ganz anders empfunden: Wann immer wir unsere Eltern
brauchten, waren sie für uns da. Das änderte sich auch nicht, als
die Zeiten in Bad Mitterndorf für mich ungemütlicher wurden und
das Paradies Risse bekam.
Alles begann mit der Pubertät. Auf einmal trat eine Unsicherheit in
mein Leben, die ich vorher nicht kannte. Ich vermag heute nicht
mehr zu sagen, wer als Erster bemerkte, dass ich mich von meinen
Mitschülern unterschied: ich selbst oder sie. Jugendliche besitzen
einen siebten Sinn fürs »Anders sein«, und in einer Zeit, in der alle
noch gleich sein wollen, ist das ein Schimpfwort. Von denen bekam
ich immer mehr zu hören, denn irgendwann waren viele der Jungs
zur Überzeugung gelangt, dass mit dem Tom etwas nicht stimmte.
Was das war, blieb im Unklaren, trotzdem gab es ein Wort dafür:
»schwul«. Dieses Wort fi el in allen denkbaren Variationen, wobei
keiner der Schreihälse wusste, was es bedeutete. Das ist nicht weiter
verwunderlich, schließlich gibt es selbst heute nur Vermutungen darüber,
wann und warum dieser Begriff mit homosexuell gleichgesetzt
wurde. Ich habe mich der Sache mal angenommen: Vermutlich
entstammt der Ausdruck dem Rotwelsch, einem ab dem Mittelalter
verbreiteten Dialekt fahrender Händler, Handwerker auf der Walz,
Kesselfl icker und Krämer. Und homosexuell? Ein Wort, das der
österreichisch-ungarische Schrift steller Karl Maria Benkert schon
1869 geprägt hat, als er das griechische homós mit dem lateinischen
sexus zusammenführte. Frei übersetzt bedeutet es gleichgeschlechtlich,
was einiges erklärt und vieles nicht. Für die Jungs meiner Schule
war das alles auch gar nicht wichtig: Es ging ihnen darum, mit
dem Finger auf den Schwulen zu zeigen. Wie ich heute weiß, geschieht
dies oft aus der großen Angst heraus, selbst einer zu sein.
Die Verwirrungen von uns Menschen entstehen durch Verbote,
die wir nicht verstehen. Homosexualität war in unseren Kulturkreisen
seit frühchristlichen Zeiten verboten. Was zu Verfolgungen
und Hinrichtungen führte bis zum Wahnsinn der Nationalsozialisten,
für die jeder Schwule ins KZ gehörte. Mehr als 120 Jahre lang
bestimmte der Paragraf 175 ganz selbstverständlich die deutsche
Rechtsprechung und bestraft e homosexuelle Handlungen unter
Männern mit Gefängnis. Von diesen Dingen wusste ich damals
nichts. Dafür fühlte ich tief in meinem Herzen, dass schwul sein
weder schmutzig noch falsch sein konnte. Wenn ich heute für Toleranz
und Liebe eintrete, sage ich kaum anderes, als ich damals
schon empfand: Wir sind Menschen verschiedenster Nationen,
Kulturen, Hautfarben und Ausprägungen – und wir sind immer
richtig. Während meiner Schulzeit in Bad Mitterndorf lernte ich,
was geschieht, wenn wir diese Toleranz aus dem Leben verbannen.
Es waren oft die kleinen Gemeinheiten, das Tuscheln hinter dem
Rücken, die Schimpfworte, die mir nachgerufen wurden. Diese
Erlebnisse haben mich geprägt, aber nicht verbittert. Das kann
auch anders ausgehen: Über Muhammad Ali, den vielleicht besten
Schwergewichtsboxer aller Zeiten, »Sportler des Jahrhunderts«,
Träger der Presidential Medal of Freedom und der Otto-Hahn-
Friedensmedaille »für herausragende Verdienste um Frieden und
Völkerverständigung«, erzählt man sich eine Geschichte, die mir
immer wieder vor Augen führt, wozu einen Enttäuschungen bringen
können. Als der 18-jährige Ali bei den Olympischen Spielen
1960 in Rom die Goldmedaille gewann, kehrte er mit dem Gefühl,
»das habe ich für mein Land getan«, in seine Heimatstadt Louisville
zurück. Dort herrschte Diskriminierung und Rassentrennung,
und als Ali eine Milchbar betrat, wurde er unter dem Beifall der
Gäste rausgeschmissen. Danach war ihm klar, was seine Leistung
in den Augen der Weißen wert war: nichts. Frustriert nahm er seine
Goldmedaille, warf sie in den Ohio River und weigerte sich, für
Amerika in Vietnam zu kämpfen. Jahrzehntelang wurde er dafür
befeindet. Als mir 2014 die Ehrenbürgerschaft von Bad Mitterndorf
angetragen wurde, konnte ich sie annehmen, weil ich nicht
verbittert war. Ich spürte, dass in den Herzen derjenigen, die mit
dem Finger auf mich gezeigt hatten, etwas erblüht war: die Einsicht,
dass anders sein kein Makel ist.© Langen/Müller Verlag
In der Nacht vor dem Finale des European Song Contest stand ich
vor dem Spiegel meines Hotelzimmers. Zum ersten Mal seit vielen
Stunden war ich allein mit mir – und war es doch nicht. Halb
abgeschminkt für eine kurze Nachtruhe sah ich dem Gestaltenwandler
entgegen, der mir so vertraut ist. Ein Mensch, der bei
vielen Freude am Leben, Toleranz und Liebe auslöst, bei anderen
dagegen Hass, Zorn und die Angst vor der wichtigsten Frage überhaupt:
Wer bin ich? In dieser Nacht stellte ich sie mir selbst: »Wer
bin ich?«, wenn ich morgen auf die Bühne trete, sich die Augen der
Welt auf mich richten, für die Dauer eines Liedes? Drei Minuten,
die zur Ewigkeit werden können, falls eintritt, was keiner von uns
erwartet und ich gewinne.
»Dann haben wir ein Problem, du und ich«, sagte ich zum Zwitterwesen
im Spiegel. »Wenn das geschieht, müssen wir etwas Kluges
sagen.«
Conchita lächelte mir entgegen. Oder war es Tom Neuwirth, der
aus der tiefsten Provinz stammt, weit weg vom Rampenlicht? Aus
einer Gegend, wohin Menschen in Urlaub fahren, weil dort die
Welt, wie sie sagen, noch in Ordnung ist. Wenn das zutrifft , warum
gab es dann Conchita?
Ich griff zu einem Wattebausch, um mich weiter abzuschminken.
Mit jedem Strich wich Conchita zurück, um Platz zu machen für
Tom. Das Lied, das ich morgen singen würde, war in meinem Kopf.
Es erzählt vom einem Tausende Jahre alten Mythos, inspiriert vom
sagenumwobenen Vogel Phönix, der am Ende seines Lebens verbrennt,
um aus der eigenen Asche neu zu entstehen. Weil er ein
Abbild des ewigen Lebens ist, nannten die Ägypter ihren göttlichen
Vogel Benu, einen Vorläufer des Phönix, »wiedergeborener
Sohn«. Den sehe ich im Spiegel, wenn mich Conchita beim Ab-
schminken verlässt: die Wiedergeburt von Tom, dem Jungen aus
der Provinz. Da ist die Perücke längst abgelegt, das Kleid hängt am
Ständer, noch ein paar Striche mit dem Wattebausch, und Conchita
wird verschwunden sein.
»Wir müssen etwas Kluges sagen«, wiederholte ich.
Vielleicht war mir Lidschatten ins Auge geraten oder etwas von
der Wimperntusche, die Conchita so liebt, jedenfalls liefen mir
Tränen herab, und in ihnen wurde Tom zum Jungen. In kurzen
Hosen, heruntergerollten Strümpfen, mit einem T-Shirt am mageren
Körper. Es roch nach würzigen Kiefern, nach dem Wasser eines
schmalen Baches. Da sprang der kleine Tom darüber und
rannte weiter, so schnell ihn seine Beine trugen, und mit ihm rannte
das Glück, das nur kennt, wer einen dieser Sommer auf dem
Land verbringen darf, der in der Vorstellung eines Jungen immer
unendlich ist.
»Warum sich etwas ausdenken?«, hörte ich die Stimme von Conchita.
»Erzähl den Leuten deine Geschichte. Es gibt nichts Kluges
zu sagen, außer man erlebt es.«
Weil sie so oft recht hat, machte ich mir eine Notiz. Sollte ich gewinnen,
würde ich meine Geschichte erzählen. Aber nur dann.
Die Grüne Höhle
I want to make magic, I want to electrify the place
Aus dem Musical »Fame«
Mein Leben ist ein Musical, sage ich oft . Nicht nur, weil es begann,
wo Musicals gerne beginnen, nämlich in der Provinz. Es ist ein
Musical, weil Musik und Gesang darin eine große Rolle spielen,
weil Drama vorkommt und Komödie, weil ich das Varieté liebe
und die Kostümierung und natürlich all die Geschichten, von denen
ich nie genug bekommen kann. So gesehen, ist bereits eine
meiner ersten Erinnerungen wie aus einem Musical entsprungen:
Ich war vier Jahre alt, und wir lebten in Ebensee. Das ist ein romantisches
Städtchen am Südufer des Traunsees, mitten im Salzkammergut.
Schiff e fahren übers Wasser, eine Seilbahn führt hoch zum
Feuerkogel, es gibt den Rindbach-Wasserfall, der im Frühling zum
tosenden Schwall wird, und die Tropfsteinhöhle im Gassenkogel,
deren Eingang tausend Meter überm See liegt. Und es gab eine
zweite Höhle. Die befand sich in unserem Haus, einer verwunschenen
Villa, groß wie ein Märchenschloss. In der wahren Welt war es
eine Jugendherberge, von meinen Eltern geleitet, mit einem Aufenthaltsraum,
der vom Boden bis zur Decke mit waldgrünem
Plüsch tapeziert war. Das Ganze wirkte wie eine moosbewachsene
Höhle, in der die Schülergruppen, die unser Haus bevölkerten, ihre
Partys feierten. War niemand da, gehörte die Höhle mir. Dann war
sie mir Spielzimmer und Traumplatz in einem; ein Ort, der von
Riesen und Zwergen bevölkert wurde, von Feen und Elfen. Dort
spürte ich, dass es ein Leben außerhalb dieser Realität gab, von der
die Erwachsenen so gerne sprachen. Hier entstanden im Handumdrehen
fantastische Welten, die nur durch die Augen eines Kindes
zu sehen sind. Als ich Jahre später nach unserem Umzug auf einen
Besuch zurückkehrte, war die Höhle verschwunden. Jemand hatte
den Plüsch von den Wänden gerissen und sich mit Pinsel und Farbe
ans Werk gemacht. Nun war ein Raum entstanden, an dem es
für die meisten nichts auszusetzen gab, doch war alle Schöpferkraft
weg und mit ihr die Möglichkeit, in andere Welten zu reisen. Das
passiert uns oft : Wir sanieren etwas tot und wundern uns, warum
die Ideen mit auf der Strecke bleiben. An denen hatte es mir in der
Grünen Höhle nie gemangelt. Kein Wunder, war mir der Abschied
schwergefallen. Doch mein Vater hatte sich mit einer Gaststätte
selbstständig gemacht, daher hatten wir Ebensee verlassen. Damals
konnte ich nicht ahnen, dass in meiner neuen Heimat eine weitere
Fantasiehöhle auf mich warten würde, die ebenfalls in Grün erstrahlte,
dieser Farbe der Hoff nung und der Unsterblichkeit. So
etwas kommt normalerweise nur in Musicals vor – oder in meinem
Leben.
Paradies mit Rissen
Hiding away, there’s a little bit of gypsy in me
Aus dem Musical »Anything Goes«
Wir zogen von einem Paradies ins andere: Bad Mitterndorf, unsere
neue Heimat, liegt wie Ebensee mitten im Salzkammergut, umgeben
von Bergen, Wiesen und Wäldern. Wieder war Wasser nicht
fern, mit dem Salza-Stausee und den Heilbrunner Th ermalquellen,
in denen schon die Römer badeten. Im Winter kamen Gäste aus
aller Welt zum Skifahren auf die Tauplitzalm, und waren ein paar
Mutige unter ihnen, gingen sie hinüber auf den Kulm, zur größten
Naturschanze der Welt, wo Sprungweiten über 200 Meter keine
Seltenheit sind. Meine Kindheit verbrachte ich mit meinem eineinhalb
Jahre älteren Bruder Andi und unseren Freunden draußen an
der frischen Luft . Kamen wir außer Atem, hungrig und durstig
nach Hause, durft en wir uns eine Mahlzeit von der Speisekarte
auswählen. Damals verstand ich nicht, weshalb die Spielkameraden
neidisch schauten, denn für uns war das eine Selbstverständlichkeit.
Denke ich an die Zeit zurück, kommt sie mir vor wie ein
langer Kindertraum. Zwar meinte meine Mutter kürzlich, wie leid
es ihr tue, dass sie und mein Vater so wenig Zeit für uns hatten. Sie
waren dabei, das Gasthaus auf Vordermann zu bringen und ihr
Geschäft aufzubauen. Doch konnte ich sie beruhigen, denn ich
hatte das ganz anders empfunden: Wann immer wir unsere Eltern
brauchten, waren sie für uns da. Das änderte sich auch nicht, als
die Zeiten in Bad Mitterndorf für mich ungemütlicher wurden und
das Paradies Risse bekam.
Alles begann mit der Pubertät. Auf einmal trat eine Unsicherheit in
mein Leben, die ich vorher nicht kannte. Ich vermag heute nicht
mehr zu sagen, wer als Erster bemerkte, dass ich mich von meinen
Mitschülern unterschied: ich selbst oder sie. Jugendliche besitzen
einen siebten Sinn fürs »Anders sein«, und in einer Zeit, in der alle
noch gleich sein wollen, ist das ein Schimpfwort. Von denen bekam
ich immer mehr zu hören, denn irgendwann waren viele der Jungs
zur Überzeugung gelangt, dass mit dem Tom etwas nicht stimmte.
Was das war, blieb im Unklaren, trotzdem gab es ein Wort dafür:
»schwul«. Dieses Wort fi el in allen denkbaren Variationen, wobei
keiner der Schreihälse wusste, was es bedeutete. Das ist nicht weiter
verwunderlich, schließlich gibt es selbst heute nur Vermutungen darüber,
wann und warum dieser Begriff mit homosexuell gleichgesetzt
wurde. Ich habe mich der Sache mal angenommen: Vermutlich
entstammt der Ausdruck dem Rotwelsch, einem ab dem Mittelalter
verbreiteten Dialekt fahrender Händler, Handwerker auf der Walz,
Kesselfl icker und Krämer. Und homosexuell? Ein Wort, das der
österreichisch-ungarische Schrift steller Karl Maria Benkert schon
1869 geprägt hat, als er das griechische homós mit dem lateinischen
sexus zusammenführte. Frei übersetzt bedeutet es gleichgeschlechtlich,
was einiges erklärt und vieles nicht. Für die Jungs meiner Schule
war das alles auch gar nicht wichtig: Es ging ihnen darum, mit
dem Finger auf den Schwulen zu zeigen. Wie ich heute weiß, geschieht
dies oft aus der großen Angst heraus, selbst einer zu sein.
Die Verwirrungen von uns Menschen entstehen durch Verbote,
die wir nicht verstehen. Homosexualität war in unseren Kulturkreisen
seit frühchristlichen Zeiten verboten. Was zu Verfolgungen
und Hinrichtungen führte bis zum Wahnsinn der Nationalsozialisten,
für die jeder Schwule ins KZ gehörte. Mehr als 120 Jahre lang
bestimmte der Paragraf 175 ganz selbstverständlich die deutsche
Rechtsprechung und bestraft e homosexuelle Handlungen unter
Männern mit Gefängnis. Von diesen Dingen wusste ich damals
nichts. Dafür fühlte ich tief in meinem Herzen, dass schwul sein
weder schmutzig noch falsch sein konnte. Wenn ich heute für Toleranz
und Liebe eintrete, sage ich kaum anderes, als ich damals
schon empfand: Wir sind Menschen verschiedenster Nationen,
Kulturen, Hautfarben und Ausprägungen – und wir sind immer
richtig. Während meiner Schulzeit in Bad Mitterndorf lernte ich,
was geschieht, wenn wir diese Toleranz aus dem Leben verbannen.
Es waren oft die kleinen Gemeinheiten, das Tuscheln hinter dem
Rücken, die Schimpfworte, die mir nachgerufen wurden. Diese
Erlebnisse haben mich geprägt, aber nicht verbittert. Das kann
auch anders ausgehen: Über Muhammad Ali, den vielleicht besten
Schwergewichtsboxer aller Zeiten, »Sportler des Jahrhunderts«,
Träger der Presidential Medal of Freedom und der Otto-Hahn-
Friedensmedaille »für herausragende Verdienste um Frieden und
Völkerverständigung«, erzählt man sich eine Geschichte, die mir
immer wieder vor Augen führt, wozu einen Enttäuschungen bringen
können. Als der 18-jährige Ali bei den Olympischen Spielen
1960 in Rom die Goldmedaille gewann, kehrte er mit dem Gefühl,
»das habe ich für mein Land getan«, in seine Heimatstadt Louisville
zurück. Dort herrschte Diskriminierung und Rassentrennung,
und als Ali eine Milchbar betrat, wurde er unter dem Beifall der
Gäste rausgeschmissen. Danach war ihm klar, was seine Leistung
in den Augen der Weißen wert war: nichts. Frustriert nahm er seine
Goldmedaille, warf sie in den Ohio River und weigerte sich, für
Amerika in Vietnam zu kämpfen. Jahrzehntelang wurde er dafür
befeindet. Als mir 2014 die Ehrenbürgerschaft von Bad Mitterndorf
angetragen wurde, konnte ich sie annehmen, weil ich nicht
verbittert war. Ich spürte, dass in den Herzen derjenigen, die mit
dem Finger auf mich gezeigt hatten, etwas erblüht war: die Einsicht,
dass anders sein kein Makel ist.© Langen/Müller Verlag
... weniger
Autoren-Porträt von Conchita Wurst
Tom Neuwirth, behütet aufgewachsen in der österreichischen Steiermark, erfährt als Jugendlicher Ablehnung und Aggression. Mit 14 Jahren verlässt er das Elternhaus und beginnt seine Ausbildung an der Modeschule Graz. Auch dort ist es nicht besser: Der homosexuelle Junge wird an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Doch Tom kämpft um seine Anerkennung. 2007 erreicht er bei der ORF-Castingshow "Starmania" den 2. Platz. 2011 tritt er zum ersten Mal als Conchita Wurst ins Rampenlicht. 2014 gewinnt Conchita mit ihrem Song "Rise Like a Phoenix" den 59. Eurovision Song Contest in Kopenhagen. Ein Star ist geboren, der mit seiner klaren Botschaft von Toleranz und Liebe nicht nur Millionen von Fans begeistert, sondern auch die Politiker des Europäischen Parlaments beeindruckt. Im Oktober 2014 hält Conchita Wurst eine viel beachtete Rede vor dem Parlament. Der Aufstieg zum Weltstar kennt keine Grenzen mehr ...
Bibliographische Angaben
- Autor: Conchita Wurst
- 2015, 192 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 14,3 x 22,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Langen/Müller
- ISBN-10: 3784433758
- ISBN-13: 9783784433752
- Erscheinungsdatum: 03.03.2015
Kommentar zu "Ich, Conchita"
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