Im Canyon
Es gibt nur eine Überlebenschance: er muss sich den eingeklemmten Arm amputieren.
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Es gibt nur eine Überlebenschance: er muss sich den eingeklemmten Arm amputieren.
LESEPROBE
Ich habe ein Kletterseil, einen Klettergurt, HalterungundGurtband zum Abseilen und eine Stirnlampe dabei, mit der ich Spalten nachSchlangen ableuchten kann, bevor ich meine Hand hineinstecke. Ich freue michschon auf die Wanderung nach dem Abseilen und besonders freue ich mich auf dieGreat Gallery. In Kelsys Reiseführer steht, dass es dort die bestenFelszeichnungen des Colorado Plateaus gibt.
Gold in my hair / In a country pool / Standing and waving / The rain, windon the runway.
Während ich Musik höre, merke ich gar nicht, dass dieSchlucht immer schmaler wird. Unter hymnischem Gitarrenspiel verwandelt sichmein Schritt in eine Art Stolzieren und ich recke meine Faust in die Luft. Dannerreiche ich die erste Steilwand. Gäbe es Wasser hier, wäre das ein Wasserfall.Eine härtere Schicht im Sandstein hat der Erosion durch Wasser widerstanden unddieses dunkle Konglomerat beschreibt den Rand der Steilwand. Von hier geht esungefähr drei Meter in die Tiefe. Sechs Meter weiter klemmt ein s-förmigerBaumstamm. Dort entlang wäre der Abstieg leichter, wenn ich ihn nur erreichenkönnte. Doch der flach abfallende Sockel zu meiner Rechten, der dorthin führt,scheint mir schwieriger zu bewältigen zu sein als die drei Meter hohe Steilwandvor mir.
Ich lasse mich langsam hinab, halte mich in Löchern in derWand fest. Einen Meter über dem Boden lasse ich los und lande in einer sandigenHöhlung, die durch heruntertropfendes Flutwasser entstanden ist. Der trockeneSand bröckelt unter meinem Gewicht wie Mörtel. Von hier kann ich nicht wieder hinaufklettern. Es gibt kein Zurück.
Ein neues Lied beginnt, als ich unter dem s-förmigenBaumstamm hindurchlaufe. Von den Spitzen der Sanddünen über mir aus gerechnetbefinde ich mich neun Meter tief in der Schlucht.
I fear I never told you the story of the ghost / That I once knew andtalked to, of
Durch die drei Meter breite Öffnung über mir kann ich denblassblauen Himmel sehen. Ich muss über zwei Felsbrocken klettern, die so großsind wie Kleinlaster. Der eine befindet sich nicht einmal einen halben Meterüber dem sandigen Boden, der andere liegt quer. Die Schlucht verengt sich zueiner Breite von etwas über einem Meter. Sie ist kurvenreich, so dass ichSchlangenlinien laufe, dann wieder geradeaus und wieder Schlangenlinien undimmer tiefer hinein.
Enorme Flutwellen haben große Felsstücke aus den Wändengerissen, und Baumstämme haben sich in neun Meter Höhe über mir verkeilt.Schluchten sind der letzte Ort, an dem man während eines Gewitters sein möchte.Der Himmel über der Schlucht mag zwar blau sein, aber ein 30 Kilometerentfernter Wolkenbruch kann für unachtsame Schluchtenwanderer das Endebedeuten. Der Boden nimmt das Wasser einfach nicht auf. Im Osten derVereinigten Staaten dauert es Tage oder Wochen, bis sich die Erde vollgesogenhat oder die Flüsse über die Ufer treten. Doch in der Wüste prallt das Wasservom sonnenverbrannten Boden ab wie von Lehmziegeln und aus einem Platzregenkann eine ungeheure Sturzflut entstehen. Schnell steht das Wasser in einerzwölf Meter breiten Schlucht fast einen halben Meter hoch und wird zu einemreißenden Strom. In den Fluten entsteht ein Chaos aus Schlamm und Geröll, dasFelsbrocken hinwegspült, neue Rinnen formt, Gesteinsstücke zu Hindernissenauftürmt und jeden, der sich nicht schnell genug in Sicherheit bringen kann,tötet.
Ich sehe die Überbleibsel des letzten Flutwassers an denWänden: Schlick bis zu dreieinhalb Metern überdem strandähnlichen Boden. An den rosa- und lilafarbenen Schichten im Gesteinlassen sich Jahrzehnte von Unterspülungen ablesen. Die sich krümmenden Wändeverzerren die flachen Linien der Sedimentationsschichten. Eine Stelle, an derdie Wände voreinander mäandrieren, fasziniert mich besonders. Ich mache ein paarFotos. Die Zeitanzeige meiner Kamera stimmt nicht mit meiner Uhr überein. Lautmeiner Kamera ist es 14.41 Uhr, Samstagnachmittag, der 26. April 2003. Aufmeiner Uhr ist es eine Minute später.
Ich bewege den Kopf zur Musik und muss wieder über dreiFelsbrocken klettern. Dann über fünf weitere, jeder so groß wie ein Kühlschank.Sie liegen rechts und links wie beim Spießrutenlauf in verschiedenen Höhen überdem Boden. So viele Felsbrocken auf einmal sind ungewöhnlich. Beim ersten istzwischen Boden und Stein etwa ein halber Meter Abstand, ich muss auf dem Bauchdarunter hinwegkriechen. Der nächste ist ein bisschen höher über dem Bodeneingekeilt. Ich stehe auf und klopfe den Staub von meinen Sachen. Dann duckeich mich und krauche auf allen Vieren oder im Entengang unter den übrigenhindurch. Die Schlucht hat hier eine Tiefe von über 18 Metern, ist alsoinnerhalb von 200 Metern 15 Meter abgefallen.
Wieder komme ich an eine Steilwand,von hier geht es vielleicht vier Meter in die Tiefe. Sie sieht etwasanders aus als die, an der ich mich eben heruntergelassen habe. Drei Meterweiter und auf derselben Höhe wie der Vorsprung klemmt noch ein Felsbrockenzwischen den Wänden. Darunter fühlt man sich wie in einem engen Tunnel. DieSchlucht mündet nicht in ein Becken, sondernwird immer schmaler. Ich stemme meine Füße an die eine Seite der Wand, mit demRücken lehne ich mich an die andere. Indem ich mit den Händen und Füßen gegendie jeweils eine oder andere Wand drücke, kann ich mich in dem nurschulterbreiten Spalt nach oben oder nach unten bewegen. Diese Technik nenntman Stemmen.
Genau unter dem Vorsprung, auf dem ich stehe, steckt einFelsbrocken von der Größe eines Busreifens zwischen den Wänden und ragt etwaeinen halben Meter über den Rand hinaus. Vondort muss ich zweieinhalb Meter nach unten klettern. Weniger als beim erstenÜberhang. Langsam klettere ich hinunter, dabei stemme ich mich mit dem Rückengegen die Südwand, mein Knie presse ich gegen die Nordwand. Mit meinem rechtenFuß trete ich gegen den Brocken. Ich will wissen, ob er festsitzt. Er sitztfest genug, um mein Körpergewicht zu halten. Ich lasse mich langsam herab undstelle mich auf den Stein. Er hält, wackelt aber ein wenig. Langsam rutscheich, die Füße voran, auf dem Bauch über die Kante, bis ich mit ausgestrecktenArmen an dem Stein hänge. Der Fels fängt an zu wackeln, und ich weiß gleich, esist Gefahr im Verzug. Instinktiv lasse ich los und lande auf einem runden Fels.Sofort schaue ich nach oben. Der Felsbrocken hat sich gelöst. Ein Schreckendurchzuckt mich, und ich halte schützend die Hände über den Kopf. Nach hintenausweichen ist unmöglich, ich würde über einen kleinen Vorsprung fallen. Jetzthoffe ich nur noch, dass mir der Fels nicht auf den Kopf fällt.
Die nächsten drei Sekunden vergehen wie in Zeitlupe. Esist, als wäre alles nur ein Traum, auch meine Bewegungen verlangsamen sich. DerFels schmettert meine linke Hand gegen die Südwand; ich registriere denAufprall aus dem Augenwinkel und reiße meinen linken Arm zurück, als der Felsabprallt; dann zermalmt der Brocken meine rechte Hand und quetscht meinenrechten Arm am Handgelenk ein, die Handfläche nach innen, den Daumen nach oben,die Finger ausgestreckt; der Fels rutscht noch fast einen Meter weiter in dieTiefe, mein eingequetschter Arm schabt an der Schluchtwand entlang. Dann istalles still. (...)
© Econ Verlag
Übersetzung: Susanne Schädlich
- Autor: Aron Ralston
- 2005, 375 Seiten, mit farbigen Abbildungen, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Amerikan. v. Susanne Schädlich
- Verlag: Ullstein Hardcover
- ISBN-10: 3550076207
- ISBN-13: 9783550076206
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