Im Sturm der Erinnerung
Roman
Ein Porzellanhund und eine mysteriöse Botschaft heben das ruhige Leben der jungen Antiquitätenhändlerin Laine Tavish völlig aus den Angeln. Ihr Vater, ein notorischer Dieb und Trickbetrüger, ist diesmal in einen...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Im Sturm der Erinnerung “
Ein Porzellanhund und eine mysteriöse Botschaft heben das ruhige Leben der jungen Antiquitätenhändlerin Laine Tavish völlig aus den Angeln. Ihr Vater, ein notorischer Dieb und Trickbetrüger, ist diesmal in einen spektakulären, millionenschweren Diamantenraub verwickelt, hat sich mit gefährlichen Ganoven eingelassen und sich dabei übernommen. Als schließlich Laine zur Zielscheibe wird, kommt ihr der hinreißende Detektiv Max Gannon zu Hilfe, und zwischen den beiden knistert es schnell ganz gewaltig.
SPIEGEL Bestseller!
Klappentext zu „Im Sturm der Erinnerung “
Ein Porzellanhund und eine mysteriöse Botschaft heben das ruhige Leben der jungen Antiquitätenhändlerin Laine Tavish völlig aus den Angeln. Ihr Vater, ein notorischer Dieb und Trickbetrüger, ist diesmal in einen spektakulären, millionenschweren Diamantenraub verwickelt, hat sich mit gefährlichen Ganoven eingelassen und sich dabei übernommen. Als schließlich Laine zur Zielscheibe wird, kommt ihr der hinreißende Detektiv Max Gannon zu Hilfe, und zwischen den beiden knistert es schnell ganz gewaltig ...
Lese-Probe zu „Im Sturm der Erinnerung “
Im Sturm der Erinnerung von Nora Roberts1
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Ein dumpfes Donnergrollen folgte dem seltsamen kleinen Mann in den Laden. Er blickte sich entschuldigend um, als sei er und nicht die Natur für den Lärm verantwortlich, und klemmte sich sein Päckchen unter den Arm, damit er seinen schwarzweiß gestreiften Regenschirm schließen konnte.
Schirm und Mann tropften irgendwie traurig auf die Fußmatte hinter der Tür, während draußen ein kalter Frühlingsregen auf die Straße und den Bürgersteig herniederprasselte. Zögernd verharrte er an Ort und Stelle, als sei er sich nicht sicher, wie er empfangen würde.
Laine schenkte ihm ein freundliches, einladendes Lächeln, das ihre Freunde immer als ihr höfliches Geschäftslächeln bezeichneten.
Nun ja, sie war eben eine höfliche Geschäftsfrau - was allerdings im Moment auf eine harte Probe gestellt wurde.
Wenn sie gewusst hätte, dass bei dem Regen die Kunden den Laden stürmen würden, statt einfach zu Hause zu bleiben, dann hätte sie Jenny heute nicht freigegeben. Aber eigentlich machte ihr die Arbeit nichts aus, schließlich eröffnete man keinen Laden, wenn man keine Kunden haben wollte, ganz gleich, wie das Wetter war. Und man hatte auch kein Geschäft in einem kleinen Nest in den USA, wenn man nicht bereit war, mit den Kunden zu schwatzen, zuzuhören und zu diskutieren, während man verkaufte.
Und das war ja auch in Ordnung so, dachte Laine. Wenn allerdings Jenny heute nicht gemütlich zu Hause säße, sich die Fußnägel lackieren und Soaps im Fernsehen anschauen würde, dann hätte sie jetzt die Zwillinge am Hals.
Darla Price Davis und Carla Price Gohen hatten ihre Haare beide im selben Aschblond gefärbt. Sie trugen identische glänzende blaue Regenmäntel und die gleichen Umhängetaschen. Jede beendete den Satz der anderen, und sie kommunizierten miteinander in einer Art von Geheimsprache, zu der hochgezogene Augenbrauen, geschürzte Lippen, Schulterzucken und Nicken gehörten.
Was bei Achtjährigen vielleicht süß gewesen wäre, wirkte bei achtundvierzigjährigen Frauen einfach nur blöd.
Aber, rief sich Laine ins Gedächtnis, sie kamen nie ins Remember When, ohne etwas zu kaufen. Es mochte manchmal Stunden dauern, aber letztendlich klingelte die Registrierkasse. Und es gab nur wenig, was Laines Herz so erwärmte wie dieses Geräusch.
Heute waren sie auf der Jagd nach einem Verlobungsgeschenk für ihre Nichte, und weder die Regenfluten noch der grollende Donner hatten sie aufhalten können. Auch das durchnässte junge Paar hatte sich davon nicht abschrecken lassen. Sie hatten, wie sie sagten, aus einer Laune heraus auf ihrem Weg nach D.C. einen Abstecher nach Angel's Gap gemacht.
Und dann stand da noch der nasse kleine Mann mit dem gestreiften Schirm, der in Laines Augen ein wenig verloren und ängstlich wirkte.
Sie lächelte ihn noch ein bisschen freundlicher an. »Ich bin gleich bei Ihnen«, rief sie und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Zwillingen zu.
»Schauen Sie sich doch einfach noch ein wenig um«, schlug sie ihnen vor. »Überlegen Sie noch einmal. Sobald ich ... «
Darla umklammerte ihr Handgelenk, und Laine war klar, dass sie ihnen nicht entkommen würde.
»Wir müssen es jetzt entscheiden. Carrie ist ungefähr in Ihrem Alter, Schätzchen. Was würden Sie sich denn zur Verlobung wünschen?«
Laine brauchte den Code gar nicht erst zu entschlüsseln, um zu begreifen, dass es ein Wink mit dem Zaunpfahl war. Schließlich war sie schon achtundzwanzig und immer noch nicht verheiratet. Noch nicht einmal verlobt. Noch dazu hatte sie momentan auch keinen Freund. Was in den Augen der Price-Zwillinge ein Verbrechen wider die Natur war.
»Wissen Sie«, zwitscherte Carla, »Carrie hat ihren Paul letzten Herbst beim Spaghettiessen im Kawanian's kennen gelernt. Sie sollten wirklich mehr ausgehen, Laine.«
»Ja, da haben Sie Recht«, gab sie mit gewinnendem Lächeln zu. Wenn ich mir einen kahlköpfigen, geschiedenen Buchhalter mit chronischer Nasennebenhöhlenentzündung angeln will. »Ich bin mir sicher, dass Carrie alles gefallen wird, was immer Sie aussuchen. Allerdings sollte ein Verlobungsgeschenk von ihren Tanten vielleicht etwas persönlicher sein als die Kerzenständer. Sie sind sehr hübsch, aber das Frisierset ist so feminin.« Sie ergriff die Haarbürste mit dem Silberrücken. » Bei dieser Bürste stelle ich mir vor, dass eine andere Braut sich damit vor ihrer Hochzeitsnacht die Haare gebürstet hat. «
»Persönlicher«, begann Darla. »Mädchen...«
»...hafter. Ja! Die Kerzenleuchter könnten wir ... «
» ... als Hochzeitsgeschenk nehmen. Aber vielleicht sollten wir uns noch einmal den Schmuck ansehen, bevor wir das Frisierset kaufen. Irgendetwas mit Perlen? Etwas...«
»...Altes, das sie am Hochzeitstag tragen könnte. Legen Sie die Kerzenleuchter und das Frisierset beiseite, Liebchen. Wir schauen uns noch mal den Schmuck an, bevor wir uns entscheiden.«
Das Gespräch sprang wie ein Tennisball zwischen den beiden Damen hin und her, und Laine gratulierte sich insgeheim zu ihrer Fähigkeit, ihnen konzentriert folgen zu können.
»Gute Idee.« Sie griff nach den prachtvollen, alten Dresdener Kerzenleuchtern. Niemand konnte den Zwillingen nachsagen, sie hätten keinen Geschmack oder Angst vorm Geldausgeben.
Sie wollte die Leuchter gerade zur Theke tragen, als der kleine Mann auf sie zutrat. Seine blass-blauen Augen waren gerötet - von Schlafmangel, Alkohol oder Allergien, überlegte Laine. Am wahrscheinlichsten war Mangel an Schlaf. Die schweren, müden Tränensäcke waren nicht zu übersehen. Seine dichten grauen Haare waren klatschnass vom Regen. Er trug einen teuren Burberry-Regenmantel, aber der Schirm, den er bei sich hatte, konnte unmöglich mehr als drei Dollar gekostet haben. Die grauen Stoppeln an seinem Kinn deuteten daraufhin hin, dass er sich heute früh nur hastig und oberflächlich rasiert hatte.
» Laine. «
Er sprach ihren Namen so drängend und intim aus, dass ihr Lächeln einer höflichen Verwirrung wich.
»Ja? Entschuldigung, kenne ich Sie?«
»Du erinnerst dich nicht an mich.« Seine Schulter sackten herunter. »Es ist lange her, aber ich dachte...«
»Miss!« Die Frau auf dem Weg nach D.C. rief nach ihr. »Verschicken Sie die Ware auch?«
»Ja, natürlich.« Im Hintergrund hörte sie die Zwillinge über Ohrringe und Broschen debattieren, und sie spürte förmlich, dass das Paar aus D.C. einen Spontankauf tätigen würde. Dazu starrte der kleine Mann sie mit einer hoffnungsvollen Intimität an, die ihr Gänsehaut verursachte.
»Es tut mir Leid, ich bin heute früh nicht ganz auf der Höhe.« Sie stellte die Kerzenleuchter auf der Theke ab. Intimität, rief sie sich ins Gedächtnis, gehörte zum Rhythmus von Kleinstädten. Der Mann war wahrscheinlich früher schon einmal im Laden gewesen, und sie konnte ihn bloß nicht einordnen. »Kann ich Ihnen behilflich sein, oder möchten Sie sich einfach nur ein wenig umschauen?«
»Ich brauche deine Hilfe. Wir haben nicht viel Zeit.« Er zog eine Karte aus der Tasche und drückte sie ihr in die Hand. »Ruf mich unter dieser Nummer an, sobald du kannst.«
»Mister...« Sie blickte auf die Karte und las seinen Namen. »Peterson. Ich verstehe nicht. Möchten Sie etwas verkaufen?«
»Nein, nein.« Sein Lachen klang fast hysterisch, und Laine war dankbar dafür, dass der Laden voller Kundschaft war. »Nicht mehr. Ich erkläre dir alles, aber nicht jetzt.« Er blickte sich im Laden um. »Und nicht hier. Ich hätte nicht hierher kommen sollen. Ruf mich unter der Nummer an. «
Er schloss seine Finger so fest um ihre Hand, dass Laine gegen den Impuls ankämpfen musste, sich loszureißen. »Versprich es.«
Er roch nach Regen, Seife und... Brut, stellte sie fest. Bei dem Duft des Rasierwassers flackerte eine winzige Erinnerung in ihrem Kopf auf. Sein Griff wurde fester. »Versprich es«, flüsterte er heiser, und sie sah nur noch einen komischen kleinen Mann in einem nassen Mantel.
»Natürlich.«
Sie sah ihm nach, als er zur Tür ging und seinen billigen Regenschirm aufspannte. Als er hinauseilte, seufzte sie erleichtert auf. Komisch, dachte sie, betrachtete aber die Karte doch ein paar Sekunden.
Sein Name, Jasper R. Peterson, war aufgedruckt, aber die Telefonnummer war handschriftlich hinzugefügt und zweimal unterstrichen worden.
Sie steckte die Karte in die Tasche und wollte sich gerade dem Pärchen auf dem Weg nach D.C. zuwenden, als draußen Bremsen auf dem nassen Pflaster kreischten. Sie fuhr herum. Entsetzte Aufschreie ertönten, und dann hörte sie ein grässliches Geräusch, einen dumpfen Knall, den sie nie mehr vergessen sollte, genauso wenig wie den Anblick des kleinen Mannes in seinem teuren Mantel, der gegen ihr Schaufenster prallte.
Sie stürzte hinaus in den strömenden Regen. Leute kamen angerannt, und ganz in der Nähe splitterte Glas, knirschte Metall auf Metall.
»Mr. Peterson.« Laine griff nach seiner Hand und beugte sich vor, in dem jämmerlichen Versuch, sein blutüberströmtes Gesicht vor dem Regen zu schützen. »Bewegen Sie sich nicht. Holen Sie einen Krankenwagen!«, schrie sie und zog sich das Jackett aus, um ihn ein wenig zu schützen.
»Ich habe ihn gesehen. Ich habe ihn gesehen. Hätte nicht kommen sollen, Laine.«
»Gleich kommt Hilfe.«
»Hab's für dich dagelassen. Er wollte, dass ich es dir gebe.«
»Ist schon gut.« Sie schob sich die tropfenden Haare aus den Augen und nahm den Schirm entgegen, den ihr jemand hinhielt. Er zupfte an ihrer Hand, und sie beugte sich dichter zu ihm herunter.
»Sei vorsichtig. Es tut mir Leid. Sei vorsichtig.«
»Ja, natürlich. Reden Sie nicht so viel, versuchen Sie durchzuhalten, Mr. Peterson. Der Krankenwagen kommt gleich.«
»Du erinnerst dich nicht.« Blut tröpfelte aus seinem Mund, als er lächelte. »Kleine Lainie.« Zitternd holte er Luft und hustete Blut. Sie hörte schon die Sirenen, als er mit dünner, keuchender Stimme zu singen begann.
»Pack up all my care and woe, here I go, singing low. Bye, bye, blackbird. «
Sie starrte in sein blutüberströmtes Gesicht, und ihre Haut begann zu prickeln. Tief vergrabene Erinnerungen stiegen in ihr auf. »Onkel Willy? Oh mein Gott.«
»Das hab ich immer besonders gerne gemocht, es machte so fröhlich«, röchelte er. »Tut mir Leid. Dachte, es wäre ungefährlich. Hätte nicht kommen sollen.«
»Ich verstehe nicht.« Tränen brannten ihr in der Kehle, strömten über ihre Wangen. Er starb. Er starb, weil sie ihn nicht erkannt und in den Regen hinausgeschickt hatte. »Es tut mir Leid. Es tut mir so Leid.«
»Er weiß, wo du jetzt bist.« Seine Augäpfel verdrehten sich. »Versteck den Köter.«
»Was?« Sie beugte sich so dicht über ihn, dass ihre Lippen seine fast streiften. »Was? « Die Hand, die ihre umklammert hielt, wurde schlaff.
Sanitäter schoben sie beiseite. Sie hörte ihren kurzen, prägnanten Dialog - medizinische Ausdrücke, die sich durch das Fernsehen so eingeprägt hatten, dass sie sie beinahe schon selbst rezitieren konnte. Aber dies hier war real. Das Blut, das der Regen davonschwemmte, war real.
Sie hörte eine Frau schluchzen und immer wieder mit erstickter Stimme sagen: »Er ist mir direkt vors Auto gelaufen. Ich konnte nicht mehr bremsen. Er ist mir direkt vors Auto gelaufen. Ist er in Ordnung? Ist er in Ordnung? Ist er in Ordnung?«
Nein, hätte Laine am liebsten geschrien. Er ist nicht in Ordnung.
»Kommen Sie hinein, Liebchen.« Darla legte Laine den Arm um die Schultern und zog sie zurück. »Sie sind ja völlig durchnässt. Hier draußen können Sie sowieso nichts mehr tun.«
»Ich sollte aber etwas tun.« Sie blickte auf den zerbrochenen Regenschirm, dessen fröhliche Streifen jetzt voller Schmutz und Blut waren.
Sie hätte ihn vors Feuer setzen sollen. Ihm etwas Heißes zu trinken geben und ihn vor dem kleinen Ofen warm und trocken sitzen lassen sollen. Dann wäre er jetzt noch am Leben und würde ihr Geschichten und alberne Witze erzählen.
Aber sie hatte ihn nicht erkannt, und deshalb starb er jetzt.
Sie konnte nicht hineingehen und ihn alleine mit fremden Leuten draußen im Regen liegen lassen. Aber sie konnte auch nichts anderes tun, als hilflos zuzusehen, während die Sanitäter vergeblich um das Leben des Mannes kämpften, der früher einmal über ihre Kinderwitze gelacht und alberne Lieder gesungen hatte. Er starb genau vor dem Laden, den sie mit harter Arbeit aufgebaut hatte, und ließ an ihrer Türschwelle all die Erinnerungen zurück, denen sie entkommen zu sein glaubte.
Sie war eine Geschäftsfrau, ein solides Mitglied der Gemeinde und eine Betrügerin. Als sie im Hinterzimmer ihres Ladens zwei Tassen Kaffee einschenkte, wusste sie genau, dass sie gleich einen Mann anlügen würde, den sie als Freund betrachtete. Und sie würde abstreiten, den Mann zu kennen, den sie geliebt hatte.
Mühsam rang sie um Fassung, fuhr sich durch die feuchte Masse leuchtend roter Haare, die sie normalerweise in einem schulterlangen Bob trug. Sie war blass. Der Regen hatte das Make-up, das sie stets so sorgfältig auftrug, abgewaschen, und auf ihrer schmalen Nase und den Wangenknochen traten die Sommersprossen hervor. Ihre Augen, von einem hellen Wikingerblau, waren glasig vor Schock und Trauer, und ihr Mund, der nur eine Spur zu breit für ihr eckiges Gesicht war, hätte am liebsten gebebt.
In dem kleinen Spiegel mit vergoldetem Rahmen, der an der Wand ihres Büros hing, musterte sie ihren Gesichtsausdruck. Sie machte sich nichts vor. Sie würde tun, was nötig war, um zu überleben. Willy würde das bestimmt verstehen. Erst das eine, sagte sie sich, und dann denkst du über den Rest nach.
Sie holte tief Luft und stieß sie zitternd wieder aus, dann ergriff sie die Kaffeebecher. Ihre Hände waren beinahe ruhig, als sie in den Verkaufsraum trat. Sie war auf ihre Falschaussage vor dem Polizeichef von Angel's Gap vorbereitet.
»Entschuldigung, dass es so lange gedauert hat.« Sie lächelte schief, als sie Vince Burger, der an dem kleinen, verklinkerten Kamin stand, seinen Becher reichte.
Er war gebaut wie ein Bär, mit dichten, weißblonden Haaren, die fast senkrecht hochstanden, als seien sie überrascht darüber,
sich über einem so breiten, freundlichen Gesicht zu befinden. Aus seinen blassblauen Augen, die von Lachfältchen umgeben waren, blickte er Laine mitfühlend an.
Er war Jennys Mann und für Laine fast so etwas wie ein Bruder. Aber jetzt, dachte sie, war er in erster Linie Polizist. Und alles, wofür sie gearbeitet hatte, stand auf dem Spiel.
»Willst du dich nicht setzen, Laine? Du hast einen schlimmen Schock erlitten.«
»Ich fühle mich wie betäubt.« Das zumindest stimmte - sie brauchte also nicht nur zu lügen. Sie wich jedoch seinem Blick aus und trat ans Fenster, um in den Regen hinauszustarren. »Danke, dass du extra hierher gekommen bist, um meine Aussage aufzunehmen, Vince. Ich weiß, dass du viel zu tun hast.«
»Ich hab mir gedacht, es ist angenehmer für dich.«
Man lügt besser einen Freund als einen Fremden an, dachte sie bitter. »Ich weiß gar nicht, was ich dir sagen soll. Den eigentlichen Unfall habe ich ja nicht gesehen. Ich hörte... ich hörte Bremsen, Schreie, einen schrecklichen Aufprall, dann sah ich ... « Sie schloss die Augen nicht. Wenn sie sie zumachte, würde sie alles wieder vor sich sehen. »Ich sah, wie er gegen das Fenster prallte, als hätte ihn jemand dagegengeworfen. Ich rannte hinaus und blieb bei ihm, bis die Sanitäter kamen. Sie waren schnell da. Mir kam es zwar wie Stunden vor, aber es hat nur Minuten gedauert.«
»Er war vor dem Unfall hier drin.«
Jetzt schloss sie doch die Augen, entschlossen, das zu tun, was sie tun musste, um sich zu schützen. »Ja. Ich hatte heute früh eine Menge Kunden - was beweist, dass ich Jenny nie einen Tag hätte freigeben dürfen. Die Zwillinge waren hier und ein Pärchen auf der Durchfahrt nach D.C. Ich hatte zu tun, als er hereinkam. Deshalb schaute er sich ein bisschen um.«
»Die Frau, die nicht von hier war, sagte, sie hätte geglaubt, ihr beide kennt euch.«
»Tatsächlich?« Laine drehte sich um und zauberte ein verwirrtes Lächeln auf ihr Gesicht. Sie trat zu den beiden Lehnstühlen, die sie vor den Kamin gestellt hatte, und setzte sich. »Wie kommt sie darauf?«
»Sie hatte nur den Eindruck«, erwiderte Vince achselzuckend.
Bedächtig und vorsichtig setzte er sich in den anderen Stuhl. »Sie sagte, er hat deine Hand genommen.«
»Nun, wir schüttelten uns die Hände, und er hat mir seine Karte gegeben.« Laine zog sie aus der Tasche, wobei sie sich zwang, Vince in die Augen zu schauen. Das Feuer prasselte, und obwohl sie die Hitze auf den Wangen spürte, war ihr kalt. Sehr kalt. »Er sagte, er würde gerne mit mir sprechen, wenn ich nicht so viel zu tun hätte. Er habe mir etwas zu verkaufen. Das passiert häufig«, fügte sie hinzu und reichte Vince die Karte. »So bleibe ich im Geschäft.«
»Klar.« Er steckte die Karte in seine Brusttasche. »Ist dir irgendetwas an ihm aufgefallen?«
»Nur dass er einen teuren Regenmantel trug und einen albernen Schirm dabei hatte - und dass er sich normalerweise wohl nicht in Kleinstädten aufhielt. Er hatte etwas Großstädtisches an sich.«
»Das war bei dir vor ein paar Jahren auch so. Eigentlich...«, er kniff die Augen zusammen und rieb ihr mit dem Daumen über die Wange, »klebt es irgendwie immer noch an dir.«
Sie lachte, weil er das erwartete. »Ich wünschte, ich könnte hilfreicher sein, Vince. Es ist eine so grauenhafte Geschichte.«
»Das kann ich dir sagen. Wir haben vier Zeugenaussagen. Alle haben gesehen, wie der Typ direkt auf die Straße gerannt ist, genau vor das Auto. Als ob ihn etwas erschreckt hätte. Kam er dir ängstlich vor, Laine? «
»Darauf habe ich nicht geachtet. Um ehrlich zu sein, Vince, ich habe ihn abgewimmelt, als ich merkte, dass er nichts kaufen wollte. Ich hatte Kundschaft im Laden.« Sie schüttelte den Kopf, und ihre Stimme brach. »Jetzt kommt es mir so gefühllos vor.«
Sie fühlte sich elend, als Vince tröstend seine Hand über ihre legte. »Du wusstest doch nicht, was passieren würde. Und du bist als Erste zu ihm gelaufen.«
»Er lag ja direkt da draußen.« Sie musste einen großen Schluck Kaffee trinken, damit ihre Stimme nicht so traurig klang. »Fast auf der Türschwelle.«
»Er hat mit dir geredet.«
»Ja.« Sie griff erneut nach dem Kaffeebecher, damit er ihre Hand losließ. »Nichts Besonderes. Er sagte ein paar Mal, es täte
ihm Leid. Ich glaube nicht, dass er wusste, wer ich war oder was passiert ist. Ich glaube, er war schon nicht mehr ganz bei sich. Dann kamen die Sanitäter und... und er ist gestorben. Was wirst du jetzt tun? Ich meine, schließlich ist er nicht von hier. Das ist eine New Yorker Telefonnummer. Ich frage mich, ob er hier nur durchgefahren ist, wohin er wollte und wo er her war. «
»Wir werden es schon herausfinden, damit wir seine nächsten Angehörigen benachrichtigen können.« Vince stand auf und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich werde dir jetzt nicht sagen, du sollst nicht mehr daran denken, Laine. Das wird dir sowieso eine Zeit lang nicht gelingen. Aber ich sage dir, dass du alles getan hast, was du konntest. Mehr hätte niemand machen können.«
»Danke. Ich schließe den Laden für heute. Ich möchte nach Hause.«
»Gute Idee. Soll ich dich mitnehmen?«
»Nein. Danke.« Schuldbewusstsein ebenso wie Zuneigung veranlassten sie, sich auf die Zehenspitzen zu stellen und ihm einen Kuss auf die Wange zu geben. »Sag Jenny, wir sehen uns dann morgen.«
Übersetung: Margarethe van Pée
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2003
by Limes Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Ein dumpfes Donnergrollen folgte dem seltsamen kleinen Mann in den Laden. Er blickte sich entschuldigend um, als sei er und nicht die Natur für den Lärm verantwortlich, und klemmte sich sein Päckchen unter den Arm, damit er seinen schwarzweiß gestreiften Regenschirm schließen konnte.
Schirm und Mann tropften irgendwie traurig auf die Fußmatte hinter der Tür, während draußen ein kalter Frühlingsregen auf die Straße und den Bürgersteig herniederprasselte. Zögernd verharrte er an Ort und Stelle, als sei er sich nicht sicher, wie er empfangen würde.
Laine schenkte ihm ein freundliches, einladendes Lächeln, das ihre Freunde immer als ihr höfliches Geschäftslächeln bezeichneten.
Nun ja, sie war eben eine höfliche Geschäftsfrau - was allerdings im Moment auf eine harte Probe gestellt wurde.
Wenn sie gewusst hätte, dass bei dem Regen die Kunden den Laden stürmen würden, statt einfach zu Hause zu bleiben, dann hätte sie Jenny heute nicht freigegeben. Aber eigentlich machte ihr die Arbeit nichts aus, schließlich eröffnete man keinen Laden, wenn man keine Kunden haben wollte, ganz gleich, wie das Wetter war. Und man hatte auch kein Geschäft in einem kleinen Nest in den USA, wenn man nicht bereit war, mit den Kunden zu schwatzen, zuzuhören und zu diskutieren, während man verkaufte.
Und das war ja auch in Ordnung so, dachte Laine. Wenn allerdings Jenny heute nicht gemütlich zu Hause säße, sich die Fußnägel lackieren und Soaps im Fernsehen anschauen würde, dann hätte sie jetzt die Zwillinge am Hals.
Darla Price Davis und Carla Price Gohen hatten ihre Haare beide im selben Aschblond gefärbt. Sie trugen identische glänzende blaue Regenmäntel und die gleichen Umhängetaschen. Jede beendete den Satz der anderen, und sie kommunizierten miteinander in einer Art von Geheimsprache, zu der hochgezogene Augenbrauen, geschürzte Lippen, Schulterzucken und Nicken gehörten.
Was bei Achtjährigen vielleicht süß gewesen wäre, wirkte bei achtundvierzigjährigen Frauen einfach nur blöd.
Aber, rief sich Laine ins Gedächtnis, sie kamen nie ins Remember When, ohne etwas zu kaufen. Es mochte manchmal Stunden dauern, aber letztendlich klingelte die Registrierkasse. Und es gab nur wenig, was Laines Herz so erwärmte wie dieses Geräusch.
Heute waren sie auf der Jagd nach einem Verlobungsgeschenk für ihre Nichte, und weder die Regenfluten noch der grollende Donner hatten sie aufhalten können. Auch das durchnässte junge Paar hatte sich davon nicht abschrecken lassen. Sie hatten, wie sie sagten, aus einer Laune heraus auf ihrem Weg nach D.C. einen Abstecher nach Angel's Gap gemacht.
Und dann stand da noch der nasse kleine Mann mit dem gestreiften Schirm, der in Laines Augen ein wenig verloren und ängstlich wirkte.
Sie lächelte ihn noch ein bisschen freundlicher an. »Ich bin gleich bei Ihnen«, rief sie und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Zwillingen zu.
»Schauen Sie sich doch einfach noch ein wenig um«, schlug sie ihnen vor. »Überlegen Sie noch einmal. Sobald ich ... «
Darla umklammerte ihr Handgelenk, und Laine war klar, dass sie ihnen nicht entkommen würde.
»Wir müssen es jetzt entscheiden. Carrie ist ungefähr in Ihrem Alter, Schätzchen. Was würden Sie sich denn zur Verlobung wünschen?«
Laine brauchte den Code gar nicht erst zu entschlüsseln, um zu begreifen, dass es ein Wink mit dem Zaunpfahl war. Schließlich war sie schon achtundzwanzig und immer noch nicht verheiratet. Noch nicht einmal verlobt. Noch dazu hatte sie momentan auch keinen Freund. Was in den Augen der Price-Zwillinge ein Verbrechen wider die Natur war.
»Wissen Sie«, zwitscherte Carla, »Carrie hat ihren Paul letzten Herbst beim Spaghettiessen im Kawanian's kennen gelernt. Sie sollten wirklich mehr ausgehen, Laine.«
»Ja, da haben Sie Recht«, gab sie mit gewinnendem Lächeln zu. Wenn ich mir einen kahlköpfigen, geschiedenen Buchhalter mit chronischer Nasennebenhöhlenentzündung angeln will. »Ich bin mir sicher, dass Carrie alles gefallen wird, was immer Sie aussuchen. Allerdings sollte ein Verlobungsgeschenk von ihren Tanten vielleicht etwas persönlicher sein als die Kerzenständer. Sie sind sehr hübsch, aber das Frisierset ist so feminin.« Sie ergriff die Haarbürste mit dem Silberrücken. » Bei dieser Bürste stelle ich mir vor, dass eine andere Braut sich damit vor ihrer Hochzeitsnacht die Haare gebürstet hat. «
»Persönlicher«, begann Darla. »Mädchen...«
»...hafter. Ja! Die Kerzenleuchter könnten wir ... «
» ... als Hochzeitsgeschenk nehmen. Aber vielleicht sollten wir uns noch einmal den Schmuck ansehen, bevor wir das Frisierset kaufen. Irgendetwas mit Perlen? Etwas...«
»...Altes, das sie am Hochzeitstag tragen könnte. Legen Sie die Kerzenleuchter und das Frisierset beiseite, Liebchen. Wir schauen uns noch mal den Schmuck an, bevor wir uns entscheiden.«
Das Gespräch sprang wie ein Tennisball zwischen den beiden Damen hin und her, und Laine gratulierte sich insgeheim zu ihrer Fähigkeit, ihnen konzentriert folgen zu können.
»Gute Idee.« Sie griff nach den prachtvollen, alten Dresdener Kerzenleuchtern. Niemand konnte den Zwillingen nachsagen, sie hätten keinen Geschmack oder Angst vorm Geldausgeben.
Sie wollte die Leuchter gerade zur Theke tragen, als der kleine Mann auf sie zutrat. Seine blass-blauen Augen waren gerötet - von Schlafmangel, Alkohol oder Allergien, überlegte Laine. Am wahrscheinlichsten war Mangel an Schlaf. Die schweren, müden Tränensäcke waren nicht zu übersehen. Seine dichten grauen Haare waren klatschnass vom Regen. Er trug einen teuren Burberry-Regenmantel, aber der Schirm, den er bei sich hatte, konnte unmöglich mehr als drei Dollar gekostet haben. Die grauen Stoppeln an seinem Kinn deuteten daraufhin hin, dass er sich heute früh nur hastig und oberflächlich rasiert hatte.
» Laine. «
Er sprach ihren Namen so drängend und intim aus, dass ihr Lächeln einer höflichen Verwirrung wich.
»Ja? Entschuldigung, kenne ich Sie?«
»Du erinnerst dich nicht an mich.« Seine Schulter sackten herunter. »Es ist lange her, aber ich dachte...«
»Miss!« Die Frau auf dem Weg nach D.C. rief nach ihr. »Verschicken Sie die Ware auch?«
»Ja, natürlich.« Im Hintergrund hörte sie die Zwillinge über Ohrringe und Broschen debattieren, und sie spürte förmlich, dass das Paar aus D.C. einen Spontankauf tätigen würde. Dazu starrte der kleine Mann sie mit einer hoffnungsvollen Intimität an, die ihr Gänsehaut verursachte.
»Es tut mir Leid, ich bin heute früh nicht ganz auf der Höhe.« Sie stellte die Kerzenleuchter auf der Theke ab. Intimität, rief sie sich ins Gedächtnis, gehörte zum Rhythmus von Kleinstädten. Der Mann war wahrscheinlich früher schon einmal im Laden gewesen, und sie konnte ihn bloß nicht einordnen. »Kann ich Ihnen behilflich sein, oder möchten Sie sich einfach nur ein wenig umschauen?«
»Ich brauche deine Hilfe. Wir haben nicht viel Zeit.« Er zog eine Karte aus der Tasche und drückte sie ihr in die Hand. »Ruf mich unter dieser Nummer an, sobald du kannst.«
»Mister...« Sie blickte auf die Karte und las seinen Namen. »Peterson. Ich verstehe nicht. Möchten Sie etwas verkaufen?«
»Nein, nein.« Sein Lachen klang fast hysterisch, und Laine war dankbar dafür, dass der Laden voller Kundschaft war. »Nicht mehr. Ich erkläre dir alles, aber nicht jetzt.« Er blickte sich im Laden um. »Und nicht hier. Ich hätte nicht hierher kommen sollen. Ruf mich unter der Nummer an. «
Er schloss seine Finger so fest um ihre Hand, dass Laine gegen den Impuls ankämpfen musste, sich loszureißen. »Versprich es.«
Er roch nach Regen, Seife und... Brut, stellte sie fest. Bei dem Duft des Rasierwassers flackerte eine winzige Erinnerung in ihrem Kopf auf. Sein Griff wurde fester. »Versprich es«, flüsterte er heiser, und sie sah nur noch einen komischen kleinen Mann in einem nassen Mantel.
»Natürlich.«
Sie sah ihm nach, als er zur Tür ging und seinen billigen Regenschirm aufspannte. Als er hinauseilte, seufzte sie erleichtert auf. Komisch, dachte sie, betrachtete aber die Karte doch ein paar Sekunden.
Sein Name, Jasper R. Peterson, war aufgedruckt, aber die Telefonnummer war handschriftlich hinzugefügt und zweimal unterstrichen worden.
Sie steckte die Karte in die Tasche und wollte sich gerade dem Pärchen auf dem Weg nach D.C. zuwenden, als draußen Bremsen auf dem nassen Pflaster kreischten. Sie fuhr herum. Entsetzte Aufschreie ertönten, und dann hörte sie ein grässliches Geräusch, einen dumpfen Knall, den sie nie mehr vergessen sollte, genauso wenig wie den Anblick des kleinen Mannes in seinem teuren Mantel, der gegen ihr Schaufenster prallte.
Sie stürzte hinaus in den strömenden Regen. Leute kamen angerannt, und ganz in der Nähe splitterte Glas, knirschte Metall auf Metall.
»Mr. Peterson.« Laine griff nach seiner Hand und beugte sich vor, in dem jämmerlichen Versuch, sein blutüberströmtes Gesicht vor dem Regen zu schützen. »Bewegen Sie sich nicht. Holen Sie einen Krankenwagen!«, schrie sie und zog sich das Jackett aus, um ihn ein wenig zu schützen.
»Ich habe ihn gesehen. Ich habe ihn gesehen. Hätte nicht kommen sollen, Laine.«
»Gleich kommt Hilfe.«
»Hab's für dich dagelassen. Er wollte, dass ich es dir gebe.«
»Ist schon gut.« Sie schob sich die tropfenden Haare aus den Augen und nahm den Schirm entgegen, den ihr jemand hinhielt. Er zupfte an ihrer Hand, und sie beugte sich dichter zu ihm herunter.
»Sei vorsichtig. Es tut mir Leid. Sei vorsichtig.«
»Ja, natürlich. Reden Sie nicht so viel, versuchen Sie durchzuhalten, Mr. Peterson. Der Krankenwagen kommt gleich.«
»Du erinnerst dich nicht.« Blut tröpfelte aus seinem Mund, als er lächelte. »Kleine Lainie.« Zitternd holte er Luft und hustete Blut. Sie hörte schon die Sirenen, als er mit dünner, keuchender Stimme zu singen begann.
»Pack up all my care and woe, here I go, singing low. Bye, bye, blackbird. «
Sie starrte in sein blutüberströmtes Gesicht, und ihre Haut begann zu prickeln. Tief vergrabene Erinnerungen stiegen in ihr auf. »Onkel Willy? Oh mein Gott.«
»Das hab ich immer besonders gerne gemocht, es machte so fröhlich«, röchelte er. »Tut mir Leid. Dachte, es wäre ungefährlich. Hätte nicht kommen sollen.«
»Ich verstehe nicht.« Tränen brannten ihr in der Kehle, strömten über ihre Wangen. Er starb. Er starb, weil sie ihn nicht erkannt und in den Regen hinausgeschickt hatte. »Es tut mir Leid. Es tut mir so Leid.«
»Er weiß, wo du jetzt bist.« Seine Augäpfel verdrehten sich. »Versteck den Köter.«
»Was?« Sie beugte sich so dicht über ihn, dass ihre Lippen seine fast streiften. »Was? « Die Hand, die ihre umklammert hielt, wurde schlaff.
Sanitäter schoben sie beiseite. Sie hörte ihren kurzen, prägnanten Dialog - medizinische Ausdrücke, die sich durch das Fernsehen so eingeprägt hatten, dass sie sie beinahe schon selbst rezitieren konnte. Aber dies hier war real. Das Blut, das der Regen davonschwemmte, war real.
Sie hörte eine Frau schluchzen und immer wieder mit erstickter Stimme sagen: »Er ist mir direkt vors Auto gelaufen. Ich konnte nicht mehr bremsen. Er ist mir direkt vors Auto gelaufen. Ist er in Ordnung? Ist er in Ordnung? Ist er in Ordnung?«
Nein, hätte Laine am liebsten geschrien. Er ist nicht in Ordnung.
»Kommen Sie hinein, Liebchen.« Darla legte Laine den Arm um die Schultern und zog sie zurück. »Sie sind ja völlig durchnässt. Hier draußen können Sie sowieso nichts mehr tun.«
»Ich sollte aber etwas tun.« Sie blickte auf den zerbrochenen Regenschirm, dessen fröhliche Streifen jetzt voller Schmutz und Blut waren.
Sie hätte ihn vors Feuer setzen sollen. Ihm etwas Heißes zu trinken geben und ihn vor dem kleinen Ofen warm und trocken sitzen lassen sollen. Dann wäre er jetzt noch am Leben und würde ihr Geschichten und alberne Witze erzählen.
Aber sie hatte ihn nicht erkannt, und deshalb starb er jetzt.
Sie konnte nicht hineingehen und ihn alleine mit fremden Leuten draußen im Regen liegen lassen. Aber sie konnte auch nichts anderes tun, als hilflos zuzusehen, während die Sanitäter vergeblich um das Leben des Mannes kämpften, der früher einmal über ihre Kinderwitze gelacht und alberne Lieder gesungen hatte. Er starb genau vor dem Laden, den sie mit harter Arbeit aufgebaut hatte, und ließ an ihrer Türschwelle all die Erinnerungen zurück, denen sie entkommen zu sein glaubte.
Sie war eine Geschäftsfrau, ein solides Mitglied der Gemeinde und eine Betrügerin. Als sie im Hinterzimmer ihres Ladens zwei Tassen Kaffee einschenkte, wusste sie genau, dass sie gleich einen Mann anlügen würde, den sie als Freund betrachtete. Und sie würde abstreiten, den Mann zu kennen, den sie geliebt hatte.
Mühsam rang sie um Fassung, fuhr sich durch die feuchte Masse leuchtend roter Haare, die sie normalerweise in einem schulterlangen Bob trug. Sie war blass. Der Regen hatte das Make-up, das sie stets so sorgfältig auftrug, abgewaschen, und auf ihrer schmalen Nase und den Wangenknochen traten die Sommersprossen hervor. Ihre Augen, von einem hellen Wikingerblau, waren glasig vor Schock und Trauer, und ihr Mund, der nur eine Spur zu breit für ihr eckiges Gesicht war, hätte am liebsten gebebt.
In dem kleinen Spiegel mit vergoldetem Rahmen, der an der Wand ihres Büros hing, musterte sie ihren Gesichtsausdruck. Sie machte sich nichts vor. Sie würde tun, was nötig war, um zu überleben. Willy würde das bestimmt verstehen. Erst das eine, sagte sie sich, und dann denkst du über den Rest nach.
Sie holte tief Luft und stieß sie zitternd wieder aus, dann ergriff sie die Kaffeebecher. Ihre Hände waren beinahe ruhig, als sie in den Verkaufsraum trat. Sie war auf ihre Falschaussage vor dem Polizeichef von Angel's Gap vorbereitet.
»Entschuldigung, dass es so lange gedauert hat.« Sie lächelte schief, als sie Vince Burger, der an dem kleinen, verklinkerten Kamin stand, seinen Becher reichte.
Er war gebaut wie ein Bär, mit dichten, weißblonden Haaren, die fast senkrecht hochstanden, als seien sie überrascht darüber,
sich über einem so breiten, freundlichen Gesicht zu befinden. Aus seinen blassblauen Augen, die von Lachfältchen umgeben waren, blickte er Laine mitfühlend an.
Er war Jennys Mann und für Laine fast so etwas wie ein Bruder. Aber jetzt, dachte sie, war er in erster Linie Polizist. Und alles, wofür sie gearbeitet hatte, stand auf dem Spiel.
»Willst du dich nicht setzen, Laine? Du hast einen schlimmen Schock erlitten.«
»Ich fühle mich wie betäubt.« Das zumindest stimmte - sie brauchte also nicht nur zu lügen. Sie wich jedoch seinem Blick aus und trat ans Fenster, um in den Regen hinauszustarren. »Danke, dass du extra hierher gekommen bist, um meine Aussage aufzunehmen, Vince. Ich weiß, dass du viel zu tun hast.«
»Ich hab mir gedacht, es ist angenehmer für dich.«
Man lügt besser einen Freund als einen Fremden an, dachte sie bitter. »Ich weiß gar nicht, was ich dir sagen soll. Den eigentlichen Unfall habe ich ja nicht gesehen. Ich hörte... ich hörte Bremsen, Schreie, einen schrecklichen Aufprall, dann sah ich ... « Sie schloss die Augen nicht. Wenn sie sie zumachte, würde sie alles wieder vor sich sehen. »Ich sah, wie er gegen das Fenster prallte, als hätte ihn jemand dagegengeworfen. Ich rannte hinaus und blieb bei ihm, bis die Sanitäter kamen. Sie waren schnell da. Mir kam es zwar wie Stunden vor, aber es hat nur Minuten gedauert.«
»Er war vor dem Unfall hier drin.«
Jetzt schloss sie doch die Augen, entschlossen, das zu tun, was sie tun musste, um sich zu schützen. »Ja. Ich hatte heute früh eine Menge Kunden - was beweist, dass ich Jenny nie einen Tag hätte freigeben dürfen. Die Zwillinge waren hier und ein Pärchen auf der Durchfahrt nach D.C. Ich hatte zu tun, als er hereinkam. Deshalb schaute er sich ein bisschen um.«
»Die Frau, die nicht von hier war, sagte, sie hätte geglaubt, ihr beide kennt euch.«
»Tatsächlich?« Laine drehte sich um und zauberte ein verwirrtes Lächeln auf ihr Gesicht. Sie trat zu den beiden Lehnstühlen, die sie vor den Kamin gestellt hatte, und setzte sich. »Wie kommt sie darauf?«
»Sie hatte nur den Eindruck«, erwiderte Vince achselzuckend.
Bedächtig und vorsichtig setzte er sich in den anderen Stuhl. »Sie sagte, er hat deine Hand genommen.«
»Nun, wir schüttelten uns die Hände, und er hat mir seine Karte gegeben.« Laine zog sie aus der Tasche, wobei sie sich zwang, Vince in die Augen zu schauen. Das Feuer prasselte, und obwohl sie die Hitze auf den Wangen spürte, war ihr kalt. Sehr kalt. »Er sagte, er würde gerne mit mir sprechen, wenn ich nicht so viel zu tun hätte. Er habe mir etwas zu verkaufen. Das passiert häufig«, fügte sie hinzu und reichte Vince die Karte. »So bleibe ich im Geschäft.«
»Klar.« Er steckte die Karte in seine Brusttasche. »Ist dir irgendetwas an ihm aufgefallen?«
»Nur dass er einen teuren Regenmantel trug und einen albernen Schirm dabei hatte - und dass er sich normalerweise wohl nicht in Kleinstädten aufhielt. Er hatte etwas Großstädtisches an sich.«
»Das war bei dir vor ein paar Jahren auch so. Eigentlich...«, er kniff die Augen zusammen und rieb ihr mit dem Daumen über die Wange, »klebt es irgendwie immer noch an dir.«
Sie lachte, weil er das erwartete. »Ich wünschte, ich könnte hilfreicher sein, Vince. Es ist eine so grauenhafte Geschichte.«
»Das kann ich dir sagen. Wir haben vier Zeugenaussagen. Alle haben gesehen, wie der Typ direkt auf die Straße gerannt ist, genau vor das Auto. Als ob ihn etwas erschreckt hätte. Kam er dir ängstlich vor, Laine? «
»Darauf habe ich nicht geachtet. Um ehrlich zu sein, Vince, ich habe ihn abgewimmelt, als ich merkte, dass er nichts kaufen wollte. Ich hatte Kundschaft im Laden.« Sie schüttelte den Kopf, und ihre Stimme brach. »Jetzt kommt es mir so gefühllos vor.«
Sie fühlte sich elend, als Vince tröstend seine Hand über ihre legte. »Du wusstest doch nicht, was passieren würde. Und du bist als Erste zu ihm gelaufen.«
»Er lag ja direkt da draußen.« Sie musste einen großen Schluck Kaffee trinken, damit ihre Stimme nicht so traurig klang. »Fast auf der Türschwelle.«
»Er hat mit dir geredet.«
»Ja.« Sie griff erneut nach dem Kaffeebecher, damit er ihre Hand losließ. »Nichts Besonderes. Er sagte ein paar Mal, es täte
ihm Leid. Ich glaube nicht, dass er wusste, wer ich war oder was passiert ist. Ich glaube, er war schon nicht mehr ganz bei sich. Dann kamen die Sanitäter und... und er ist gestorben. Was wirst du jetzt tun? Ich meine, schließlich ist er nicht von hier. Das ist eine New Yorker Telefonnummer. Ich frage mich, ob er hier nur durchgefahren ist, wohin er wollte und wo er her war. «
»Wir werden es schon herausfinden, damit wir seine nächsten Angehörigen benachrichtigen können.« Vince stand auf und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich werde dir jetzt nicht sagen, du sollst nicht mehr daran denken, Laine. Das wird dir sowieso eine Zeit lang nicht gelingen. Aber ich sage dir, dass du alles getan hast, was du konntest. Mehr hätte niemand machen können.«
»Danke. Ich schließe den Laden für heute. Ich möchte nach Hause.«
»Gute Idee. Soll ich dich mitnehmen?«
»Nein. Danke.« Schuldbewusstsein ebenso wie Zuneigung veranlassten sie, sich auf die Zehenspitzen zu stellen und ihm einen Kuss auf die Wange zu geben. »Sag Jenny, wir sehen uns dann morgen.«
Übersetung: Margarethe van Pée
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2003
by Limes Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Nora Roberts
Nora Roberts, geb. 1950 in Maryland. Als sie 1979 in ihrem Landhaus eingeschneit wurde, griff sie zu Stift und Papier und begann zu schreiben. Ihren ersten Roman veröffentlichte sie 1981. Seitdem hat Nora Roberts über 100 Bücher geschrieben. Mit einer Gesamtauflage von mehr als 100 Millionen Exemplaren ist sie eine der erfolgreichsten Autorinnen weltweit. Nora Roberts hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Ehemann in Keedsville, Maryland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nora Roberts
- 2011, 248 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Pée, Margarethe van
- Übersetzer: Margarethe Pée
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442377420
- ISBN-13: 9783442377428
- Erscheinungsdatum: 15.11.2011
Rezension zu „Im Sturm der Erinnerung “
"Romantisch." neue woche
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