Im Tal des Fuchses
Kriminalroman
Vanessa wurde entführt. Ein Unbekannter hat sie überrumpelt, betäubt und verschleppt. Der Täter sperrt sie in eine Kiste und versorgt sie mit Wasser und Nahrung für eine Woche. Doch noch ehe der Entführer seine...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Im Tal des Fuchses “
Vanessa wurde entführt. Ein Unbekannter hat sie überrumpelt, betäubt und verschleppt. Der Täter sperrt sie in eine Kiste und versorgt sie mit Wasser und Nahrung für eine Woche. Doch noch ehe der Entführer seine Lösegeldforderung an Vanessas Mann stellen kann, wird er wegen eines anderen Deliktes verhaftet. Und überlässt Vanessa ihrem Schicksal.
Klappentext zu „Im Tal des Fuchses “
Was, wenn dein Entführer spurlos verschwindet und niemand weiß, wo du bist?Ein sonniger Augusttag, ein einsam gelegener Parkplatz zwischen Wiesen und Feldern. Vanessa Willard wartet auf ihren Mann, der noch eine Runde mit dem Hund dreht. In Gedanken versunken bemerkt sie nicht das Auto, das sich nähert. Als sie ein unheimliches Gefühl beschleicht, ist es schon zu spät: Ein Fremder taucht auf, überwältigt, betäubt und verschleppt sie. In eine Kiste gesperrt, wird sie in einer Höhle versteckt, ausgestattet mit Wasser und Nahrung für eine Woche. Doch noch ehe der Täter seine Lösegeldforderung an ihren Mann stellen kann, wird er wegen eines anderen Deliktes verhaftet. Und überlässt Vanessa ihrem Schicksal ...
Millionen Fans sind von den fesselnden Krimis von Charlotte Link begeistert. Dunkle Geheimnisse und spannende Mordfälle erwarten Sie. Alle Bücher können unabhängig voneinander gelesen werden.
Lese-Probe zu „Im Tal des Fuchses “
Im Tal des Fuchses von Charlotte Link... mehr
Der Junge war nicht sicher, ob er wirklich einen Fuchs gesehen hatte oder ob es ein anderes Tier gewesen war, aber er beschloss schließlich einfach, dass es sich um einen Fuchs gehandelt haben müsste, denn dieser Gedanke gefiel ihm am besten. Als flacher, dunkler Schatten war er durch das kleine Tal geglitten, zwischen den Gräsern, den niedrigen Büschen, den Steinen hindurch, und als er die andere Seite erreicht hatte, die einzige Seite, an der das Tal nicht durch sanft ansteigende Wiesenhänge, sondern durch eine schroffe Felswand begrenzt wurde, tauchte er zwischen dem Gestein unter und war verschwunden. Von einer Sekunde zur anderen schien ihn die Wand verschluckt zu haben.
Der Junge schaute fasziniert zu. Es hatte so ausgesehen, als gebe es in dem Felsen einen Eingang, eine Spalte, die ausreichte, dass ein nicht allzu kleines Tier, immerhin ein Fuchs, ohne jede Mühe einfach hineinhuschen konnte. Er wollte dem Geheimnis auf den Grund gehen. Er ließ sein Fahrrad ins Gras fallen und rannte den Hügel hinab. Er kannte sich gut aus in der Gegend, er kam oft zu dem kleinen stillen Tal, obwohl er über fünf Meilen mit dem Fahrrad zurücklegen musste. Das Tal war schwer zu finden, weil es keine Wege gab, die dorthin führten. Aber darum war man hier auch so ungestört. Man konnte in der Sonne liegen oder auf einem Stein sitzen, in den Himmel blicken und einfach seinen Gedanken nachhängen.
Der Junge erreichte die Stelle, an der der Fuchs verschwunden war. Vor allem als er noch jünger gewesen war, war er an der Felswand oft hinauf- oder hinabgeklettert und hatte sich vorgestellt, er besteige den Mount Everest. Inzwischen war er zehn, und solche Spiele erschienen ihm kindisch, aber er entsann sich noch gut der abenteuerlichen Gefühle, die der Steilhang in ihm ausgelöst hatte. Allerdings hatte er dabei nie etwas entdeckt, das ihn hätte vermuten lassen, es könnte eine Art Öffnung in der Wand geben.
Sein Herz klopfte schnell, als er zwischen dem hohen Farn, der hier in dicken Büscheln wuchs und noch tropfend nass war vom Regen der vergangenen Nacht, nach einem Eingang suchte. Er war sich ganz sicher, dass der Fuchs genau hier, an dieser Stelle, verschwunden war. Mit dem Fuß stieß der Junge gegen den Felsen. Ein paar Steine bröckelten ab und rollten in den Farn.
Vor ihm lag die Felsspalte. Er hatte sie nie zuvor sehen können, weil der Farn sie verdeckte, aber es handelte sich um eine deutliche Öffnung in der Wand. Groß genug auf jeden Fall für einen Fuchs. Der Junge schnaufte vor Aufregung. Er steckte seinen Arm in den Spalt, fürchtete, sofort wieder gegen eine Begrenzung zu stoßen, aber tatsächlich schien es einen Hohlraum im Felsen zu geben.
Er zog den Arm zurück und trat erneut, diesmal erheblich kräftiger, gegen den Fels. Wieder bröckelten Steine, darunter auch dickere Brocken, zu Boden. Jetzt war die Öffnung schon um einiges größer. Der Junge kniete nieder und schaufelte die Steine beiseite. Er hatte nie zuvor bemerkt, dass die Felsbrocken an dieser Stelle ziemlich locker waren. Hatte jemand sie aufeinandergeschichtet? Er blickte nach oben. Vielleicht hatte es hier vor langer Zeit einmal einen Erdrutsch gegeben, Teile des Felsens waren abgesplittert und hinuntergestürzt. Sie hatten den Eingang in den Berg verschlossen.
Er hatte jetzt genug Steine beiseitegeräumt, um einen Höhleneingang freizulegen, der groß genug für ihn war. Einen Moment lang ruhte er sich schwer atmend aus. Obwohl der Tag kalt und feucht war, war der Junge inzwischen vollkommen verschwitzt. Es war anstrengend gewesen, die zum Teil ziemlich großen und schweren Steine zu bewegen. Hinzu kam die Aufregung. Er zitterte am ganzen Körper.
Dann kroch er in die Öffnung hinein.
Kaum hatte er den Eingang hinter sich gelassen, konnte er sich zu seiner vollen Größe aufrichten. Ein erwachsener Mensch würde hier womöglich nur mit eingezogenem Kopf stehen können, aber für einen Jungen seines Alters gab es sogar noch Platz. Er folgte einem kurzen Gang, der sich bald darauf zu einer Art Höhle verbreiterte. Das Tageslicht reichte hier nur noch schwach hin, der Junge konnte kaum etwas erkennen. Was er undeutlich wahrnahm, waren Wände, teils felsig, teils aus Erde, Wurzeln, die von der niedrigen Decke hingen, dünne Rinnsale von Wasser, die zu Boden tropften und dort zwischen Geröll und Lehm versickerten. Er wagte kaum zu atmen vor Spannung, vor Entzücken. Er hatte eine Höhle entdeckt. Eine Höhle in einem Felsen, zugänglich durch einen Geheimgang, den offenbar niemand vorher je gefunden hatte.
Er drehte sich um und zwängte sich zwischen den engen Wänden hindurch wieder zurück zum Eingang. Von dem Fuchs hatte er keine Spur mehr gesehen, aber vielleicht hatte er ihn in der Dunkelheit auch einfach nicht entdecken können. Er musste jetzt unbedingt sofort nach Hause radeln und eine Taschenlampe holen, dann würde er zurückkommen und die Höhle ganz genau erforschen. Er würde auch ein paar Sachen mitbringen - Buntstifte, Briefmarken, einen Plastikbecher - und sie im Inneren der Höhle deponieren. Das würde sein Test sein. Er würde jeden Tag kommen und die Sachen kontrollieren. Wenn alles unverändert blieb, hatte er irgendwann den Beweis, dass wirklich nur er von der Existenz dieses geheimen Ortes wusste.
Draußen angekommen wäre er am liebsten sofort zu seinem Fahrrad gerannt, aber er beherrschte sich und machte sich zunächst die Mühe, alle Steine wieder aufeinanderzuschichten und den Eingang sorgfältig zu verschließen. Er holte sogar feuchte Erde von weiter her und schmierte sie in die Ritzen, damit niemand sehen konnte, dass hier Geröll nur locker übereinanderlag. So gut er konnte, richtete er den niedergetretenen Farn auf. In Zukunft musste er besser aufpassen, er musste sich vorsichtig und geschmeidig bewegen, damit er nicht einen deutlich sichtbaren Trampelpfad hinterließ, der direkt zum Eingang führte. Die Höhle sollte sein Geheimnis bleiben, niemand sonst durfte sie entdecken. Er würde niemanden einweihen, seine Mutter und seinen Stiefvater schon gar nicht, aber auch nicht seine Freunde in der Schule. Er hatte auch nie jemandem etwas von diesem Platz erzählt, zu dem er so gerne kam, und nun hatte der Ort eine viel größere Bedeutung bekommen.
Mein Tal, dachte er, meine Höhle.
Der Fuchs hatte ihm den Weg gezeigt, und so schoss ihm der Name durch den Kopf, den er diesem Flecken Erde, der nur ihm gehörte, geben wollte:
Fox Valley.
Das Tal des Fuchses.
Das hörte sich geheimnisvoll an, fand er, und irgendwie besonders.
Das Tal des Fuchses.
Zufrieden betrachtete er seine Arbeit. Niemand konnte erkennen, dass es hier eine Öffnung im Felsen gab. Niemand würde sein Versteck jemals finden. Und er würde viel Zeit hier verbringen und den Gang vielleicht noch etwas vergrößern und die Höhle befestigen und sich einen wunderbaren Zufluchtsort für alle Zeiten schaffen.
Er lief zu seinem Fahrrad.
»Ich bin bald wieder da«, flüsterte er.
1
Auf der ganzen Fahrt aus dem Norden von Wales hinunter in den Süden hatten sie wieder die lange, entnervende und fruchtlose Diskussion geführt, in die sie sich während der vergangenen Wochen ständig verstrickten. Als sie den Pembrokeshire Coast National Park verließen und Fishguard erreichten, stritten sie sogar richtig. Vielleicht wäre sonst alles ganz anders gekommen. Hätten sie bloß das Thema friedlich zu klären versucht, wäre nur einer von ihnen auf die Idee gekommen zu sagen: »Jetzt lass uns den schönen Tag nicht verderben. Reden wir über etwas anderes. Heute Abend setzen wir uns in Ruhe zusammen, trinken ein Glas Wein und besprechen das alles.«
Aber sie waren aus der Spirale, in der sie sich verfangen hatten, nicht herausgekommen, und alles mündete in eine Tragödie, aber das hatte niemand voraussehen können. Der Streit schwelte seit Langem und ging, wie Vanessa fand, im Grunde um ... gar nichts. Matthew, ihr Mann, arbeitete in einer Firma in Swansea, die Computersoftware entwickelte und über viele Jahre extrem erfolgreich gewesen war. In der jüngsten Zeit hatte sich die Situation verschlechtert, die Konkurrenz war stärker geworden, der Markt härter und schneller, und in der Firma wurden Umstrukturierungsmaßnahmen diskutiert, die im Kern darauf hinausliefen, dass man erwog, jüngere Mitarbeiter an anderen Stellen abzuwerben und gegen die eigenen Leute, die sich als nicht mehr wirklich konkurrenzfähig erwiesen, einzutauschen. Matthew war überzeugt - Vanessa bezeichnete es als fixe Idee -, dass man ihn entlassen würde. Zumindest sah er die Möglichkeit. Und da er ein Angebot aus London bekommen hatte, dort in einer anderen Firma einzusteigen, sah er nicht ein, weshalb er der drohenden Gefahr nicht zuvorkommen, kündigen und nach London gehen sollte.
»Weil du dann zum Beispiel keine Abfindung bekommst«, hatte Vanessa entgegengehalten.
»Okay. Aber was nützt mir die Abfindung, wenn die Stelle in London dann besetzt ist und ich arbeitslos bin?« »Dann findest du etwas anderes!«
»Und wenn nicht?«
Das Problem war natürlich ein anderes, das Problem war London. Vanessa arbeitete als Dozentin für Literatur an der Universität Swansea. Sie sah nicht ein, dass sie ihre Stelle, ihre Studenten, ihr gesamtes Umfeld aufgeben und ihrem Mann nach London folgen sollte, nur weil dieser einer Kündigung zuvorkommen wollte, die bislang ausschließlich in seiner Phantasie existierte.
»Du verhältst dich wie ein Pascha aus dem vorletzten Jahrhundert«, sagte sie wütend. »Du bestimmst, und ich gehe brav mit dir, wo immer du hinmöchtest. Aber so funktionieren Partnerschaften heutzutage nicht mehr. Ich gehe nicht nach London, Matthew. Und wenn du dich auf den Kopf stellst!«
Er seufzte.
»Nach fünfzehn Jahren Swansea«, sagte er, »wäre da eine Veränderung so schlecht?«
»Nein. Aber nicht ausgerechnet jetzt. Und nicht nur, weil es dir gerade in den Kram passt!«
Max, der große, langhaarige Schäferhund, der auf dem Rücksitz lag, hob den Kopf und winselte. Matthew warf einen Blick in den Rückspiegel. »Ich fürchte, Max muss raus. Bis wir daheim sind, hält er nicht durch.«
Vanessa erwiderte nichts. Sie presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie zu einem weißen Strich wurden. Kurz entschlossen bog Matthew bei der nächsten Gelegenheit von der Hauptstraße ab und folgte der Landstraße, die sie wieder zum Coast Park hinführte. Der Abend brach herein, die Sonne stand schon tief. Ein warmer, klarer, wunderbarer Augustabend. Rotgoldenes Licht lag über den Feldern ringsum. Sie bemerkten einen einsamen Wanderer, der gerade über ein Weidengatter kletterte, aber ansonsten war keine Menschenseele zu sehen. Der Nationalpark, der sich über viele Meilen direkt am Meer entlangzog, sich aber auch tief ins Landesinnere erstreckte, war ein Touristenmagnet. Im Sommer waren hier ständig Menschen unterwegs, zu Fuß, zu Pferd oder auf dem Mountainbike, dies jedoch vor allem in der Gegend direkt an der Küste. Abseits vom Meer hingegen konnte man stundenlang wandern, manchmal ohne einem anderen Menschen zu begegnen.
Sie kamen an einem kleinen Parkplatz vorbei, der ein Stück unterhalb der Straße lag und einen schönen Ausblick über die Landschaft bot. Es gab einen Picknicktisch mit zwei Bänken und einen Abfallkorb aus Metall. Der Abfallkorb war völlig leer, offenbar kamen selten Menschen hierher.
Matthew hielt an. »Komm«, sagte er, »lass uns ein Stück mit Max laufen. Das wird uns guttun.«
Vanessa schüttelte den Kopf. »Geh du allein. Ich brauche ein bisschen Abstand. Ich möchte nachdenken. Ich warte hier.«
»Sicher?«
»Ja. Sicher.«
Sie stiegen aus. Warme Luft schlug ihnen entgegen. Die Klimaanlage im Wagen hatten sie auf zwanzig Grad gestellt, draußen mussten es noch an die vierundzwanzig Grad sein. Es gab keine einzige Wolke am lichtblauen Himmel. Es war einer jener Sommertage, von denen man den ganzen Winter über träumen konnte.
Weißt du noch, dieser herrliche Augustsonntag? Dieser einsame Rastplatz am Ende der Welt ... Nichts als Ruhe und Wärme ...
Nein, so würden sie nicht sprechen, dachte Vanessa. Jenen Sonntag würden sie wohl stets nur mit ihrem Streit in Verbindung bringen. Wie auch immer sich die Dinge am Ende entschieden, sie würden sich an eine lange Fahrt von Holyhead hinunter nach Swansea erinnern und daran, dass sie die meiste Zeit über debattiert hatten. Und dass Matthew schließlich allein eine Runde mit Max gedreht hatte, während sie, Vanessa, am Auto blieb, weil sie so zornig auf ihn war, dass sie nicht mitgehen mochte.
Es gab einen Trampelpfad, der zunächst ein kleines Stück in ein Tal hinunterführte, dann jedoch einen scharfen Bogen nach links um den Hügel herum schlug und von dort an vom Parkplatz aus nicht mehr zu sehen war. Vanessa blickte Matthew und Max nach, wie sie um die Ecke verschwanden; Max, der sich noch ein paar Mal unruhig nach seinem Frauchen umgesehen hatte, schließlich in großen Sprüngen vorneweg, Matthew langsamer hinterher. An Matthews sehr geraden Schultern konnte sie ablesen, wie verärgert auch er noch war. Klar, er fühlte sich unverstanden. Brachte aber selbst keinerlei Verständnis auf. Wahrscheinlich würde er nun ziemlich lange mit dem Hund unterwegs sein. Matthew brauchte immer Bewegung, wenn er Stress hatte, meistens kam er dann aber viel gelöster und ausgeglichener zurück.
Sie schlenderte langsam vom Auto zu dem Picknicktisch hinüber, setzte sich auf die Bank, deren Holz warm war von der Sonne. Das Abendlicht war so sanft, dass es nicht mehr blendete. Sie blickte über das flache Tal, das weit war, wellig und sehr grün. Eine Steinmauer zog sich an seiner Nordseite entlang, dann schloss sich eine kleine Baumgruppe an. Ansonsten gab es nur flache Ginsterbüsche, die jetzt von einem etwas verstaubten Grün waren. Im April, wenn sie blühten, musste die Gegend wie überschwemmt sein von gelben Farbklecksen.
Wie schön es hier war! Vanessa überlegte, dass sie viel öfter hierherkommen sollten. Die einzelnen Gebiete des Nationalparks lagen gar nicht so weit von Swansea entfernt, aber sie konnte es an einer Hand abzählen, wie oft sie und Matthew in den vergangenen fünfzehn Jahren den Weg dorthin gefunden hatten. Und dann hatte es sie immer an die Küste zum Schwimmen gezogen. Vielleicht sollten sie für den Herbst ein Wanderwochenende planen. Auch Max würde sich freuen, er ging so gerne spazieren. Na ja, vielleicht bereiteten sie da auch schon ihren Umzug nach London vor.
London.
Ich will nicht weg von allem, was ich kenne, dachte sie, und ich will auch keine Wochenendbeziehung, Matthew in London und ich in Swansea ... Das ist nicht das, was ich mir vorgestellt habe ...
Gleichzeitig fragte sie sich, ob dieses Festhalten am Vertrauten die richtige Einstellung war für eine siebenunddreißigjährige Frau. Musste man in ihrem Alter nicht noch beweglicher sein? Flexibler? Erlebnishungriger?
Neugieriger?
Sie war so sehr in ihre Gedanken vertieft, dass sie kaum merkte, wie die Zeit verstrich. Zwei- oder dreimal hörte sie ein Auto oben auf der Landstraße vorbeifahren, sonst blieb alles ruhig. Gerade als sie endlich auf die Uhr schaute und feststellte, dass Matthew und Max nun schon seit fast zwanzig Minuten fort waren, hörte sie erneut ein Auto kommen. Es wurde langsamer, als es die Höhe des Rastplatzes erreicht hatte, beschleunigte dann, bremste jedoch ein Stück weiter schon wieder ab. Vanessa wandte sich um, sah aber nichts. Eine mit Hecken bewachsene kleine Anhöhe trennte den Rastplatz von der Straße, erst wenn ein Auto um eine weitere Biegung gefahren war, konnte man es von hier aus sehen. In diesem Moment tauchte es auf. Ein weißer Kastenwagen mit irgendeiner Aufschrift an der Seite, die sie aber auf diese Entfernung nicht lesen konnte. Vanessa erkannte, dass der Wagen sehr langsam fuhr. Jetzt wendete der Fahrer mitten auf der Straße und kam wieder zurück. Er verließ Vanessas Sichtfeld, aber sie hörte ihn noch immer. Der Wagen schien am Rastplatz geradezu vorüberzuschleichen, beschleunigte dann. Bremste wieder. Vanessa runzelte die Stirn. Wendete er erneut? Wieso fuhr dieses Auto dort oben ständig auf und ab? Und handelte es sich um dasselbe Fahrzeug, das sie schon vorher einige Male gehört, aber nicht weiter beachtet hatte? Sie hörte es schon wieder näher kommen, langsamer werden. Diesmal jedoch bog es offenbar auf den Parkplatz ein. Vanessa drehte sich wieder um, konnte aber nichts sehen. Sie hörte, dass eine Autotür schlug. Anscheinend hatte das Auto in der Auffahrt geparkt, war nicht bis auf den eigentlichen Rastplatz gefahren. Vielleicht jemand, der nur rasch pinkeln wollte und gesehen hatte, dass eine Frau auf der Picknickbank saß.
Sie versuchte die Unruhe, die sich ihrer bemächtigen wollte, zu ignorieren und schaute über das Tal.
Matthew könnte wirklich langsam zurückkommen, dachte sie.
Sie wünschte, Max würde bellend um die Ecke schießen. Sie hätte den großen Hund jetzt gerne an ihrer Seite gehabt. Gleichzeitig nannte sie sich hysterisch. Nur weil ein Auto ein paarmal hin und her fuhr ... Nur weil sie sich hier mit einem Mal so mutterseelenallein vorkam ...
Obwohl sie keinen Laut vernommen hatte, zwang sie eine plötzliche Nervosität, sich ruckartig umzuwenden. Es war ein unerklärbares Gefühl von Bedrohung gewesen, es hatte ihre Härchen am Körper aufgestellt und ihr trotz der Wärme ein Frösteln über beide Arme gejagt.
Ein Mann stand direkt hinter ihr.
Keine zwei Schritte von ihr entfernt. Er war geräuschlos herangekommen.
Sie sprang auf. Sie war nicht ganz sicher, ob sie dabei auch einen Schrei ausstieß, aber sie hielt es für möglich. Der Typ war absolut unheimlich.
Es ging ihm anscheinend darum, sein Gesicht zu verbergen, denn trotz des noch sehr warmen Abends trug er eine schwarze Baseballkappe, die er sich tief in die Stirn gezogen hatte, eine völlig undurchsichtige kohlschwarze Sonnenbrille, ein schwarzes Halstuch, das er so hochgeschoben hatte, dass es fast den Mund bedeckte. Vanessa konnte eigentlich nur seine Nase sehen. Sein Körper steckte in einer schwarzen Jogginghose und einem schwarzen Rollkragenpullover. Er hatte Handschuhe an.
Sie schluckte trocken.
»Was ...?«, begann sie.
In der nächsten Sekunde hatte der Mann eine blitzschnelle Bewegung auf sie zugemacht. So unvermittelt, dass Vanessa keine Chance zur Gegenwehr oder gar zum Ausweichen blieb. Etwas Nasses wurde gegen ihr Gesicht gepresst, ein stechender Geruch umfing sie, reizte ihre Bronchien zu heftigem Husten. Der Geruch verursachte ihr Schmerzen und Übelkeit und raubte ihr dann von einem Moment zum nächsten die Sinne. Sie fuchtelte kraftlos mit den Armen wie eine schlaffe Gummipuppe, die an Fäden aufgehängt ist, und dann verlor sie auch schon das Bewusstsein.
Sie stürzte in völlige Finsternis.
In eine endlose Nacht.
...
© 2012 by Blanvalet Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Der Junge war nicht sicher, ob er wirklich einen Fuchs gesehen hatte oder ob es ein anderes Tier gewesen war, aber er beschloss schließlich einfach, dass es sich um einen Fuchs gehandelt haben müsste, denn dieser Gedanke gefiel ihm am besten. Als flacher, dunkler Schatten war er durch das kleine Tal geglitten, zwischen den Gräsern, den niedrigen Büschen, den Steinen hindurch, und als er die andere Seite erreicht hatte, die einzige Seite, an der das Tal nicht durch sanft ansteigende Wiesenhänge, sondern durch eine schroffe Felswand begrenzt wurde, tauchte er zwischen dem Gestein unter und war verschwunden. Von einer Sekunde zur anderen schien ihn die Wand verschluckt zu haben.
Der Junge schaute fasziniert zu. Es hatte so ausgesehen, als gebe es in dem Felsen einen Eingang, eine Spalte, die ausreichte, dass ein nicht allzu kleines Tier, immerhin ein Fuchs, ohne jede Mühe einfach hineinhuschen konnte. Er wollte dem Geheimnis auf den Grund gehen. Er ließ sein Fahrrad ins Gras fallen und rannte den Hügel hinab. Er kannte sich gut aus in der Gegend, er kam oft zu dem kleinen stillen Tal, obwohl er über fünf Meilen mit dem Fahrrad zurücklegen musste. Das Tal war schwer zu finden, weil es keine Wege gab, die dorthin führten. Aber darum war man hier auch so ungestört. Man konnte in der Sonne liegen oder auf einem Stein sitzen, in den Himmel blicken und einfach seinen Gedanken nachhängen.
Der Junge erreichte die Stelle, an der der Fuchs verschwunden war. Vor allem als er noch jünger gewesen war, war er an der Felswand oft hinauf- oder hinabgeklettert und hatte sich vorgestellt, er besteige den Mount Everest. Inzwischen war er zehn, und solche Spiele erschienen ihm kindisch, aber er entsann sich noch gut der abenteuerlichen Gefühle, die der Steilhang in ihm ausgelöst hatte. Allerdings hatte er dabei nie etwas entdeckt, das ihn hätte vermuten lassen, es könnte eine Art Öffnung in der Wand geben.
Sein Herz klopfte schnell, als er zwischen dem hohen Farn, der hier in dicken Büscheln wuchs und noch tropfend nass war vom Regen der vergangenen Nacht, nach einem Eingang suchte. Er war sich ganz sicher, dass der Fuchs genau hier, an dieser Stelle, verschwunden war. Mit dem Fuß stieß der Junge gegen den Felsen. Ein paar Steine bröckelten ab und rollten in den Farn.
Vor ihm lag die Felsspalte. Er hatte sie nie zuvor sehen können, weil der Farn sie verdeckte, aber es handelte sich um eine deutliche Öffnung in der Wand. Groß genug auf jeden Fall für einen Fuchs. Der Junge schnaufte vor Aufregung. Er steckte seinen Arm in den Spalt, fürchtete, sofort wieder gegen eine Begrenzung zu stoßen, aber tatsächlich schien es einen Hohlraum im Felsen zu geben.
Er zog den Arm zurück und trat erneut, diesmal erheblich kräftiger, gegen den Fels. Wieder bröckelten Steine, darunter auch dickere Brocken, zu Boden. Jetzt war die Öffnung schon um einiges größer. Der Junge kniete nieder und schaufelte die Steine beiseite. Er hatte nie zuvor bemerkt, dass die Felsbrocken an dieser Stelle ziemlich locker waren. Hatte jemand sie aufeinandergeschichtet? Er blickte nach oben. Vielleicht hatte es hier vor langer Zeit einmal einen Erdrutsch gegeben, Teile des Felsens waren abgesplittert und hinuntergestürzt. Sie hatten den Eingang in den Berg verschlossen.
Er hatte jetzt genug Steine beiseitegeräumt, um einen Höhleneingang freizulegen, der groß genug für ihn war. Einen Moment lang ruhte er sich schwer atmend aus. Obwohl der Tag kalt und feucht war, war der Junge inzwischen vollkommen verschwitzt. Es war anstrengend gewesen, die zum Teil ziemlich großen und schweren Steine zu bewegen. Hinzu kam die Aufregung. Er zitterte am ganzen Körper.
Dann kroch er in die Öffnung hinein.
Kaum hatte er den Eingang hinter sich gelassen, konnte er sich zu seiner vollen Größe aufrichten. Ein erwachsener Mensch würde hier womöglich nur mit eingezogenem Kopf stehen können, aber für einen Jungen seines Alters gab es sogar noch Platz. Er folgte einem kurzen Gang, der sich bald darauf zu einer Art Höhle verbreiterte. Das Tageslicht reichte hier nur noch schwach hin, der Junge konnte kaum etwas erkennen. Was er undeutlich wahrnahm, waren Wände, teils felsig, teils aus Erde, Wurzeln, die von der niedrigen Decke hingen, dünne Rinnsale von Wasser, die zu Boden tropften und dort zwischen Geröll und Lehm versickerten. Er wagte kaum zu atmen vor Spannung, vor Entzücken. Er hatte eine Höhle entdeckt. Eine Höhle in einem Felsen, zugänglich durch einen Geheimgang, den offenbar niemand vorher je gefunden hatte.
Er drehte sich um und zwängte sich zwischen den engen Wänden hindurch wieder zurück zum Eingang. Von dem Fuchs hatte er keine Spur mehr gesehen, aber vielleicht hatte er ihn in der Dunkelheit auch einfach nicht entdecken können. Er musste jetzt unbedingt sofort nach Hause radeln und eine Taschenlampe holen, dann würde er zurückkommen und die Höhle ganz genau erforschen. Er würde auch ein paar Sachen mitbringen - Buntstifte, Briefmarken, einen Plastikbecher - und sie im Inneren der Höhle deponieren. Das würde sein Test sein. Er würde jeden Tag kommen und die Sachen kontrollieren. Wenn alles unverändert blieb, hatte er irgendwann den Beweis, dass wirklich nur er von der Existenz dieses geheimen Ortes wusste.
Draußen angekommen wäre er am liebsten sofort zu seinem Fahrrad gerannt, aber er beherrschte sich und machte sich zunächst die Mühe, alle Steine wieder aufeinanderzuschichten und den Eingang sorgfältig zu verschließen. Er holte sogar feuchte Erde von weiter her und schmierte sie in die Ritzen, damit niemand sehen konnte, dass hier Geröll nur locker übereinanderlag. So gut er konnte, richtete er den niedergetretenen Farn auf. In Zukunft musste er besser aufpassen, er musste sich vorsichtig und geschmeidig bewegen, damit er nicht einen deutlich sichtbaren Trampelpfad hinterließ, der direkt zum Eingang führte. Die Höhle sollte sein Geheimnis bleiben, niemand sonst durfte sie entdecken. Er würde niemanden einweihen, seine Mutter und seinen Stiefvater schon gar nicht, aber auch nicht seine Freunde in der Schule. Er hatte auch nie jemandem etwas von diesem Platz erzählt, zu dem er so gerne kam, und nun hatte der Ort eine viel größere Bedeutung bekommen.
Mein Tal, dachte er, meine Höhle.
Der Fuchs hatte ihm den Weg gezeigt, und so schoss ihm der Name durch den Kopf, den er diesem Flecken Erde, der nur ihm gehörte, geben wollte:
Fox Valley.
Das Tal des Fuchses.
Das hörte sich geheimnisvoll an, fand er, und irgendwie besonders.
Das Tal des Fuchses.
Zufrieden betrachtete er seine Arbeit. Niemand konnte erkennen, dass es hier eine Öffnung im Felsen gab. Niemand würde sein Versteck jemals finden. Und er würde viel Zeit hier verbringen und den Gang vielleicht noch etwas vergrößern und die Höhle befestigen und sich einen wunderbaren Zufluchtsort für alle Zeiten schaffen.
Er lief zu seinem Fahrrad.
»Ich bin bald wieder da«, flüsterte er.
1
Auf der ganzen Fahrt aus dem Norden von Wales hinunter in den Süden hatten sie wieder die lange, entnervende und fruchtlose Diskussion geführt, in die sie sich während der vergangenen Wochen ständig verstrickten. Als sie den Pembrokeshire Coast National Park verließen und Fishguard erreichten, stritten sie sogar richtig. Vielleicht wäre sonst alles ganz anders gekommen. Hätten sie bloß das Thema friedlich zu klären versucht, wäre nur einer von ihnen auf die Idee gekommen zu sagen: »Jetzt lass uns den schönen Tag nicht verderben. Reden wir über etwas anderes. Heute Abend setzen wir uns in Ruhe zusammen, trinken ein Glas Wein und besprechen das alles.«
Aber sie waren aus der Spirale, in der sie sich verfangen hatten, nicht herausgekommen, und alles mündete in eine Tragödie, aber das hatte niemand voraussehen können. Der Streit schwelte seit Langem und ging, wie Vanessa fand, im Grunde um ... gar nichts. Matthew, ihr Mann, arbeitete in einer Firma in Swansea, die Computersoftware entwickelte und über viele Jahre extrem erfolgreich gewesen war. In der jüngsten Zeit hatte sich die Situation verschlechtert, die Konkurrenz war stärker geworden, der Markt härter und schneller, und in der Firma wurden Umstrukturierungsmaßnahmen diskutiert, die im Kern darauf hinausliefen, dass man erwog, jüngere Mitarbeiter an anderen Stellen abzuwerben und gegen die eigenen Leute, die sich als nicht mehr wirklich konkurrenzfähig erwiesen, einzutauschen. Matthew war überzeugt - Vanessa bezeichnete es als fixe Idee -, dass man ihn entlassen würde. Zumindest sah er die Möglichkeit. Und da er ein Angebot aus London bekommen hatte, dort in einer anderen Firma einzusteigen, sah er nicht ein, weshalb er der drohenden Gefahr nicht zuvorkommen, kündigen und nach London gehen sollte.
»Weil du dann zum Beispiel keine Abfindung bekommst«, hatte Vanessa entgegengehalten.
»Okay. Aber was nützt mir die Abfindung, wenn die Stelle in London dann besetzt ist und ich arbeitslos bin?« »Dann findest du etwas anderes!«
»Und wenn nicht?«
Das Problem war natürlich ein anderes, das Problem war London. Vanessa arbeitete als Dozentin für Literatur an der Universität Swansea. Sie sah nicht ein, dass sie ihre Stelle, ihre Studenten, ihr gesamtes Umfeld aufgeben und ihrem Mann nach London folgen sollte, nur weil dieser einer Kündigung zuvorkommen wollte, die bislang ausschließlich in seiner Phantasie existierte.
»Du verhältst dich wie ein Pascha aus dem vorletzten Jahrhundert«, sagte sie wütend. »Du bestimmst, und ich gehe brav mit dir, wo immer du hinmöchtest. Aber so funktionieren Partnerschaften heutzutage nicht mehr. Ich gehe nicht nach London, Matthew. Und wenn du dich auf den Kopf stellst!«
Er seufzte.
»Nach fünfzehn Jahren Swansea«, sagte er, »wäre da eine Veränderung so schlecht?«
»Nein. Aber nicht ausgerechnet jetzt. Und nicht nur, weil es dir gerade in den Kram passt!«
Max, der große, langhaarige Schäferhund, der auf dem Rücksitz lag, hob den Kopf und winselte. Matthew warf einen Blick in den Rückspiegel. »Ich fürchte, Max muss raus. Bis wir daheim sind, hält er nicht durch.«
Vanessa erwiderte nichts. Sie presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie zu einem weißen Strich wurden. Kurz entschlossen bog Matthew bei der nächsten Gelegenheit von der Hauptstraße ab und folgte der Landstraße, die sie wieder zum Coast Park hinführte. Der Abend brach herein, die Sonne stand schon tief. Ein warmer, klarer, wunderbarer Augustabend. Rotgoldenes Licht lag über den Feldern ringsum. Sie bemerkten einen einsamen Wanderer, der gerade über ein Weidengatter kletterte, aber ansonsten war keine Menschenseele zu sehen. Der Nationalpark, der sich über viele Meilen direkt am Meer entlangzog, sich aber auch tief ins Landesinnere erstreckte, war ein Touristenmagnet. Im Sommer waren hier ständig Menschen unterwegs, zu Fuß, zu Pferd oder auf dem Mountainbike, dies jedoch vor allem in der Gegend direkt an der Küste. Abseits vom Meer hingegen konnte man stundenlang wandern, manchmal ohne einem anderen Menschen zu begegnen.
Sie kamen an einem kleinen Parkplatz vorbei, der ein Stück unterhalb der Straße lag und einen schönen Ausblick über die Landschaft bot. Es gab einen Picknicktisch mit zwei Bänken und einen Abfallkorb aus Metall. Der Abfallkorb war völlig leer, offenbar kamen selten Menschen hierher.
Matthew hielt an. »Komm«, sagte er, »lass uns ein Stück mit Max laufen. Das wird uns guttun.«
Vanessa schüttelte den Kopf. »Geh du allein. Ich brauche ein bisschen Abstand. Ich möchte nachdenken. Ich warte hier.«
»Sicher?«
»Ja. Sicher.«
Sie stiegen aus. Warme Luft schlug ihnen entgegen. Die Klimaanlage im Wagen hatten sie auf zwanzig Grad gestellt, draußen mussten es noch an die vierundzwanzig Grad sein. Es gab keine einzige Wolke am lichtblauen Himmel. Es war einer jener Sommertage, von denen man den ganzen Winter über träumen konnte.
Weißt du noch, dieser herrliche Augustsonntag? Dieser einsame Rastplatz am Ende der Welt ... Nichts als Ruhe und Wärme ...
Nein, so würden sie nicht sprechen, dachte Vanessa. Jenen Sonntag würden sie wohl stets nur mit ihrem Streit in Verbindung bringen. Wie auch immer sich die Dinge am Ende entschieden, sie würden sich an eine lange Fahrt von Holyhead hinunter nach Swansea erinnern und daran, dass sie die meiste Zeit über debattiert hatten. Und dass Matthew schließlich allein eine Runde mit Max gedreht hatte, während sie, Vanessa, am Auto blieb, weil sie so zornig auf ihn war, dass sie nicht mitgehen mochte.
Es gab einen Trampelpfad, der zunächst ein kleines Stück in ein Tal hinunterführte, dann jedoch einen scharfen Bogen nach links um den Hügel herum schlug und von dort an vom Parkplatz aus nicht mehr zu sehen war. Vanessa blickte Matthew und Max nach, wie sie um die Ecke verschwanden; Max, der sich noch ein paar Mal unruhig nach seinem Frauchen umgesehen hatte, schließlich in großen Sprüngen vorneweg, Matthew langsamer hinterher. An Matthews sehr geraden Schultern konnte sie ablesen, wie verärgert auch er noch war. Klar, er fühlte sich unverstanden. Brachte aber selbst keinerlei Verständnis auf. Wahrscheinlich würde er nun ziemlich lange mit dem Hund unterwegs sein. Matthew brauchte immer Bewegung, wenn er Stress hatte, meistens kam er dann aber viel gelöster und ausgeglichener zurück.
Sie schlenderte langsam vom Auto zu dem Picknicktisch hinüber, setzte sich auf die Bank, deren Holz warm war von der Sonne. Das Abendlicht war so sanft, dass es nicht mehr blendete. Sie blickte über das flache Tal, das weit war, wellig und sehr grün. Eine Steinmauer zog sich an seiner Nordseite entlang, dann schloss sich eine kleine Baumgruppe an. Ansonsten gab es nur flache Ginsterbüsche, die jetzt von einem etwas verstaubten Grün waren. Im April, wenn sie blühten, musste die Gegend wie überschwemmt sein von gelben Farbklecksen.
Wie schön es hier war! Vanessa überlegte, dass sie viel öfter hierherkommen sollten. Die einzelnen Gebiete des Nationalparks lagen gar nicht so weit von Swansea entfernt, aber sie konnte es an einer Hand abzählen, wie oft sie und Matthew in den vergangenen fünfzehn Jahren den Weg dorthin gefunden hatten. Und dann hatte es sie immer an die Küste zum Schwimmen gezogen. Vielleicht sollten sie für den Herbst ein Wanderwochenende planen. Auch Max würde sich freuen, er ging so gerne spazieren. Na ja, vielleicht bereiteten sie da auch schon ihren Umzug nach London vor.
London.
Ich will nicht weg von allem, was ich kenne, dachte sie, und ich will auch keine Wochenendbeziehung, Matthew in London und ich in Swansea ... Das ist nicht das, was ich mir vorgestellt habe ...
Gleichzeitig fragte sie sich, ob dieses Festhalten am Vertrauten die richtige Einstellung war für eine siebenunddreißigjährige Frau. Musste man in ihrem Alter nicht noch beweglicher sein? Flexibler? Erlebnishungriger?
Neugieriger?
Sie war so sehr in ihre Gedanken vertieft, dass sie kaum merkte, wie die Zeit verstrich. Zwei- oder dreimal hörte sie ein Auto oben auf der Landstraße vorbeifahren, sonst blieb alles ruhig. Gerade als sie endlich auf die Uhr schaute und feststellte, dass Matthew und Max nun schon seit fast zwanzig Minuten fort waren, hörte sie erneut ein Auto kommen. Es wurde langsamer, als es die Höhe des Rastplatzes erreicht hatte, beschleunigte dann, bremste jedoch ein Stück weiter schon wieder ab. Vanessa wandte sich um, sah aber nichts. Eine mit Hecken bewachsene kleine Anhöhe trennte den Rastplatz von der Straße, erst wenn ein Auto um eine weitere Biegung gefahren war, konnte man es von hier aus sehen. In diesem Moment tauchte es auf. Ein weißer Kastenwagen mit irgendeiner Aufschrift an der Seite, die sie aber auf diese Entfernung nicht lesen konnte. Vanessa erkannte, dass der Wagen sehr langsam fuhr. Jetzt wendete der Fahrer mitten auf der Straße und kam wieder zurück. Er verließ Vanessas Sichtfeld, aber sie hörte ihn noch immer. Der Wagen schien am Rastplatz geradezu vorüberzuschleichen, beschleunigte dann. Bremste wieder. Vanessa runzelte die Stirn. Wendete er erneut? Wieso fuhr dieses Auto dort oben ständig auf und ab? Und handelte es sich um dasselbe Fahrzeug, das sie schon vorher einige Male gehört, aber nicht weiter beachtet hatte? Sie hörte es schon wieder näher kommen, langsamer werden. Diesmal jedoch bog es offenbar auf den Parkplatz ein. Vanessa drehte sich wieder um, konnte aber nichts sehen. Sie hörte, dass eine Autotür schlug. Anscheinend hatte das Auto in der Auffahrt geparkt, war nicht bis auf den eigentlichen Rastplatz gefahren. Vielleicht jemand, der nur rasch pinkeln wollte und gesehen hatte, dass eine Frau auf der Picknickbank saß.
Sie versuchte die Unruhe, die sich ihrer bemächtigen wollte, zu ignorieren und schaute über das Tal.
Matthew könnte wirklich langsam zurückkommen, dachte sie.
Sie wünschte, Max würde bellend um die Ecke schießen. Sie hätte den großen Hund jetzt gerne an ihrer Seite gehabt. Gleichzeitig nannte sie sich hysterisch. Nur weil ein Auto ein paarmal hin und her fuhr ... Nur weil sie sich hier mit einem Mal so mutterseelenallein vorkam ...
Obwohl sie keinen Laut vernommen hatte, zwang sie eine plötzliche Nervosität, sich ruckartig umzuwenden. Es war ein unerklärbares Gefühl von Bedrohung gewesen, es hatte ihre Härchen am Körper aufgestellt und ihr trotz der Wärme ein Frösteln über beide Arme gejagt.
Ein Mann stand direkt hinter ihr.
Keine zwei Schritte von ihr entfernt. Er war geräuschlos herangekommen.
Sie sprang auf. Sie war nicht ganz sicher, ob sie dabei auch einen Schrei ausstieß, aber sie hielt es für möglich. Der Typ war absolut unheimlich.
Es ging ihm anscheinend darum, sein Gesicht zu verbergen, denn trotz des noch sehr warmen Abends trug er eine schwarze Baseballkappe, die er sich tief in die Stirn gezogen hatte, eine völlig undurchsichtige kohlschwarze Sonnenbrille, ein schwarzes Halstuch, das er so hochgeschoben hatte, dass es fast den Mund bedeckte. Vanessa konnte eigentlich nur seine Nase sehen. Sein Körper steckte in einer schwarzen Jogginghose und einem schwarzen Rollkragenpullover. Er hatte Handschuhe an.
Sie schluckte trocken.
»Was ...?«, begann sie.
In der nächsten Sekunde hatte der Mann eine blitzschnelle Bewegung auf sie zugemacht. So unvermittelt, dass Vanessa keine Chance zur Gegenwehr oder gar zum Ausweichen blieb. Etwas Nasses wurde gegen ihr Gesicht gepresst, ein stechender Geruch umfing sie, reizte ihre Bronchien zu heftigem Husten. Der Geruch verursachte ihr Schmerzen und Übelkeit und raubte ihr dann von einem Moment zum nächsten die Sinne. Sie fuchtelte kraftlos mit den Armen wie eine schlaffe Gummipuppe, die an Fäden aufgehängt ist, und dann verlor sie auch schon das Bewusstsein.
Sie stürzte in völlige Finsternis.
In eine endlose Nacht.
...
© 2012 by Blanvalet Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Charlotte Link
Charlotte Link, geboren in Frankfurt/Main, ist die erfolgreichste deutsche Autorin der Gegenwart. Ihre Kriminalromane sind internationale Bestseller, auch »Die Suche« und zuletzt »Ohne Schuld« eroberten wieder auf Anhieb die SPIEGEL-Bestsellerliste. Allein in Deutschland wurden bislang über 32 Millionen Bücher von Charlotte Link verkauft; ihre Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Charlotte Link lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt/Main.
Bibliographische Angaben
- Autor: Charlotte Link
- 2012, Originalausgabe, 575 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3764503505
- ISBN-13: 9783764503505
- Erscheinungsdatum: 06.09.2012
Rezension zu „Im Tal des Fuchses “
"Eine der wenigen Autorinnen, die von sich behaupten können [...], dass sie von Buch zu Buch besser wird und ihre Fangemeinschaft immer größer wird."
Pressezitat
"Charlotte Link hat mit Im Tal des Fuchses einen Gänsehautkrimi geschrieben, der mit überzeugenden Charakteren und einer gekonnten Handlungsführung aufwartet." DPA
Kommentare zu "Im Tal des Fuchses"
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