In Zeiten des abnehmenden Lichts
Roman einer Familie
Ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2011!
Von den Jahren des Exils bis ins Wendejahr 1989 reicht die wechselvolle Geschichte einer deutschen Familie. Sie führt von Mexiko über Sibirien bis in die neu gegründete DDR über die...
Von den Jahren des Exils bis ins Wendejahr 1989 reicht die wechselvolle Geschichte einer deutschen Familie. Sie führt von Mexiko über Sibirien bis in die neu gegründete DDR über die...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „In Zeiten des abnehmenden Lichts “
Ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2011!
Von den Jahren des Exils bis ins Wendejahr 1989 reicht die wechselvolle Geschichte einer deutschen Familie. Sie führt von Mexiko über Sibirien bis in die neu gegründete DDR über die Gipfel und Abgründe der Geschichte.
Von den Jahren des Exils bis ins Wendejahr 1989 reicht die wechselvolle Geschichte einer deutschen Familie. Sie führt von Mexiko über Sibirien bis in die neu gegründete DDR über die Gipfel und Abgründe der Geschichte.
Klappentext zu „In Zeiten des abnehmenden Lichts “
International gefeiert, ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis - ein halbes Jahrhundert gelebter Geschichte, ein Familienroman voller überraschender Wendungen: groß durch seine Reife, seinen Humor, seine Menschlichkeit.Die Großeltern haben noch für den Kommunismus gebrannt, als sie aus dem mexikanischen Exil kamen, um ein neues Deutschland aufzubauen. Der Sohn kehrte aus der Sowjetunion heim: mit einer russischen Frau, der Erinnerung ans Lager und doch in dem Glauben an die politische Idee. Dem Enkel bleibt nur ein Platz in der Realität der DDR, und er flieht - an eben dem Tag, an dem sich Familie, Freunde und Feinde versammeln, um den neunzigsten Geburtstag des Patriarchen zu begehen.
Von den Jahren des Exils bis ins Wendejahr 1989 und darüber hinaus reicht diese wechselvolle Geschichte einer deutschen Familie. Sie führt von Mexiko über Sibirien bis in die neu gegründete DDR, führt über die Gipfel und durch die Abgründe des 20. Jahrhunderts. So entsteht ein weites Panorama, ein großer Deutschlandroman, der, ungeheuer menschlich und komisch, Geschichte als Familiengeschichte erlebbar macht.
2009 erhielt Eugen Ruge für In Zeiten des abnehmenden Lichts den Alfred-Döblin-Preis. 2011 wurde der Roman mit dem Aspekte-Literaturpreis und mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Er verkaufte sich bisher in 28 Länder, stand mehr als 40 Wochen auf der Bestsellerliste und wurde von Matti Geschonneck nach einem Drehbuch von Wolfgang Kohlhaase fürs Kino verfilmt.
Lese-Probe zu „In Zeiten des abnehmenden Lichts “
In Zeiten des abnehmenden Lichts von Eugen Ruge2001
Zwei Tage lang hatte er wie tot auf seinem Büffelledersofa gelegen. Dann stand er auf, duschte ausgiebig, um auch den letzten Partikel Krankenhausluft von sich abzuwaschen, und fuhr nach Neuendorf.
Er fuhr die A 115, wie immer. Schaute hinaus in die Welt. Prüfte, ob sie sich verändert hatte. Und - hatte sie?
Die Autos kamen ihm sauberer vor. Sauberer? Irgendwie bunter. Idiotischer.
Der Himmel war blau, was sonst.
Der Herbst hatte sich eingeschlichen, hinterrücks. Tupfte kleine gelbe Markierungen in die Bäume. Es war inzwischen September geworden. Und wenn er am Samstag entlassen worden war, musste heut Dienstag sein. Das Datum hatte er während der letzten Tage verloren.
Neuendorf besaß neuerdings eine eigene Autobahnabfahrt - «neuerdings» hieß für Alexander immer noch: nach der Wende. Man kam direkt auf die Thälmannstraße (hieß immer noch so). Die Straße war glatt asphaltiert, rote Fahrradstreifen zu beiden Seiten. Frisch renovierte Häuser, wärmegedämmt nach irgendeiner EU-Norm. Neubauten, die aussahen wie Schwimmhallen: Stadtvillen nannte man das.
Aber man brauchte nur einmal links abzubiegen und ein paar hundert Meter dem krummen Steinweg zu folgen, dann noch einmal links - hier schien die Zeit stillzustehen: eine schmale Straße mit Linden. Kopfsteingepflasterte Bürgersteige, von Wurzeln verbeult. Morsche Zäune und Feuerwanzen. Tief in den Gärten, hinter hohem Gras, die toten Fenster von Villen, über deren Rückübertragung in fernen Anwaltskanzleien gestritten wurde.
Eins der wenigen Häuser hier, die noch bewohnt waren: Am Fuchsbau sieben. Moos auf dem Dach. Risse in der Fassade. Die Holunderbüsche berührten schon die Veranda. Und der Apfelbaum, den Kurt immer eigenhändig beschnitten hatte, wuchs kreuz und quer in den
... mehr
Himmel, ein einziges Gewirr.
Das «Essen auf Rädern» stand schon in der ISO-Verpackung auf dem Zaunpfeiler. Dienstag, fand er auf der Packung bestätigt. Alexander nahm die Packung und ging hinein.
Obwohl er einen Schlüssel hatte, klingelte er. Testen, ob Kurt aufmachte - sinnlos. Ohnehin wusste er, dass Kurt nicht aufmachen würde. Aber dann hörte er das vertraute Quietschen der Flurtür, und als er durch das Fensterchen schaute, erschien Kurt - wie ein Geist - im Halbdunkel des Vorraums.
- Mach auf, rief Alexander.
Kurt kam näher, glotzte.
- Mach auf!
Aber Kurt rührte sich nicht.
Alexander schloss auf, umarmte seinen Vater, obwohl ihm die Umarmung seit langem unangenehm war. Kurt roch. Es war der Geruch des Alters. Er saß tief in den Zellen. Kurt roch auch gewaschen und zähnegeputzt.
- Erkennst du mich, fragte Alexander.
- Ja, sagte Kurt.
Sein Mund war mit Pflaumenmus verschmiert, der Morgendienst hatte es wieder mal eilig gehabt. Seine Strickjacke war schief geknöpft, er trug nur einen Hausschuh.
Alexander machte Kurts Essen warm. Mikrowelle, Sicherung einschalten. Kurt stand interessiert daneben.
- Hast du Hunger, fragte Alexander.
- Ja, sagte Kurt.
- Du hast immer Hunger.
- Ja, sagte Kurt.
Es gab Gulasch mit Rotkohl (seit Kurt sich an einem Stück Rindfleisch einmal fast tödlich verschluckt hatte, wurde nur noch Kleinteiliges bestellt). Alexander brühte sich einen Kaffee. Dann nahm er Kurts Gulasch aus der Mikrowelle, stellte es auf die Igelit-Decke.
- Guten Appetit, sagte er.
- Ja, sagte Kurt.
Begann zu essen. Eine Weile war nur Kurts konzentriertes Schniefen zu hören. Alexander nippte an seinem noch viel zu heißen Kaffee. Sah zu, wie Kurt aß.
- Du hast die Gabel falsch herum, sagte er nach einer Weile.
Kurt hielt einen Augenblick inne, schien nachzudenken. Aß dann aber weiter: Versuchte, das Stück Gulasch mit dem Gabelstiel auf die Messerspitze zu schieben.
- Du hast die Gabel falsch herum, wiederholte Alexander.
Er sprach ohne Betonung, ohne mahnenden Unterton, um die Wirkung der reinen Begriffe auf Kurt zu testen. Keine Wirkung. Null. Was ging in diesem Kopf vor? In diesem immer noch durch einen Schädel von der Welt abgegrenzten Raum, der immer noch irgendeine Art Ich enthielt. Was fühlte, was dachte Kurt, wenn er im Zimmer umhertapste? Wenn er vormittags an seinem Schreibtisch saß und, wie die Pflegerinnen berichteten, stundenlang in die Zeitung starrte. Was dachte er? Dachte er überhaupt? Wie dachte man ohne Worte?
Kurt hatte endlich das Gulaschstück auf die Messerspitze geladen, balancierte es jetzt, schon zitternd vor Gier, zum Mund. Absturz. Zweiter Versuch.
Eigentlich ein Witz, dachte Alexander, dass Kurts Verfall ausgerechnet mit der Sprache begonnen hatte. Kurt, der Redner. Der große Erzähler. Wie er dagesessen hatte in seinem berühmten Sessel - Kurts Sessel! Wie alle an seinen Lippen hingen, wenn er seine Geschichtchen erzählte, der Herr Professor. Seine Anekdoten. Komisch aber auch: In Kurts Mund verwandelte sich alles in eine Anekdote. Egal, was Kurt erzählte - selbst wenn er davon erzählte, wie er im Lager beinahe krepiert wäre -, immer hatte es eine Pointe, immer hatte es Witz. Hatte gehabt. Fernste Vergangenheit. Der letzte Satz, den Kurt zusammenhängend hatte sagen können, war: Ich habe die Sprache verloren. Auch nicht schlecht. Verglichen mit seinem heutigen Repertoire eine Glanznummer. Doch das war zwei Jahre her: Ich habe die Sprache verloren. Und die Leute hatten wirklich gedacht, sieh mal an, er hat die Sprache verloren, aber sonst ... Sonst schien er noch einigermaßen beisammen zu sein. Lächelte, nickte. Zog Grimassen, die irgendwie passten. Verstellte sich schlau. Nur hin und wieder unterlief ihm Sonderbares: dass er den Rotwein in seine Kaffeetasse goss. Oder auf einmal ratlos mit einem Korken dastand - und ihn schließlich ins Bücherregal steckte.
Miserable Quote: Ein Stückchen Gulasch hatte Kurt bisher geschafft. Jetzt griff er zu: mit den Fingern. Schaute schräg von unten zu Alexander herauf, wie ein Kind, das die Reaktion seiner Eltern prüft. Stopfte das Stück in den Mund. Und noch eins. Und kaute.
Und während er kaute, hielt er seine beschmierten Finger hoch wie zum Schwur.
- Wenn du wüsstest, sagte Alexander.
Kurt reagierte nicht. Hatte endlich eine Methode gefunden: die Lösung des Gulaschproblems. Stopfte, kaute. Die Soße rann in einer schmalen Spur über sein Kinn.
Kurt konnte nichts mehr. Konnte nicht sprechen, sich nicht mehr die Zähne putzen. Nicht einmal den Arsch ab-wischen konnte er sich, man musste froh sein, wenn er sich zum Scheißen aufs Klo setzte. Das Einzige, dachte Alexander, was Kurt noch konnte, was er aus eigenem Antrieb noch tat, wofür er sich wirklich interessierte und worauf er sein letztes bisschen Schlauheit verwendete, war essen. Nahrung aufnehmen. Kurt aß nicht mit Genuss. Kurt aß nicht etwa, weil es ihm schmeckte (seine Geschmacksnerven, davon war Alexander überzeugt, waren durch das jahrzehntelange Pfeiferauchen vollständig ruiniert). Kurt aß, um zu leben. Essen = Leben, diese Formel, dachte Alexander, hatte er im Arbeitslager gelernt, und zwar gründlich. Ein für alle Mal. Die Gier, mit der Kurt aß, mit der er sich Gulaschstückchen in den Mund stopfte, war nichts anderes als Überlebenswille. Das war das Letzte, was von Kurt übrig geblieben war. Was ihn über Wasser hielt, was diesen Körper weiter funktionieren ließ, eine außer Rand und Band geratene Herz-Kreislauf-Maschine, die sich selbst in Betrieb hielt - und sich wohl, so war zu befürchten, noch eine Weile in Betrieb halten würde. Kurt hatte alle überlebt. Er hatte Irina überlebt. Und nun bestand die reale Chance, dass er auch ihn, Alexander, über-leben würde.
Ein dicker Soßetropfen bildete sich an Kurts Kinn. Alexander überkam der starke Drang, Kurt wehzutun: ein Stück Küchenkrepp abzureißen und ihm die Soße grob aus dem Gesicht zu wischen.
Der Tropfen zitterte, stürzte ab.
War es gestern gewesen? Oder heute? Irgendwann während dieser zwei Tage, als er auf dem Büffelledersofa lag (reglos und aus irgendeinem Grunde immer bemüht, nicht mit der bloßen Haut an das Leder zu kommen), irgendwann war ihm der Gedanke gekommen: Kurt umzubringen. Mehr als nur der Gedanke. Er hatte Varianten durchgespielt: Kurt mit dem Kissen ersticken oder - der perfekte Mord - Kurt ein zähes Rindersteak servieren. So wie das Steak, an dem er beinahe erstickt war. Und hätte Alexander ihn, als er schon blau anlief und auf die Straße taumelte und dort bewusst-los umfiel - hätte Alexander ihn damals nicht instinktiv in die stabile Seitenlage gedreht und wäre nicht infolgedessen, zusammen mit Kurts Gebiss, auch der beinahe kugelrunde, durch endloses Kauen zusammengepappte Fleischkloß aus Kurts Rachen gerollt, dann wäre Kurt vermutlich schon nicht mehr am Leben, und diese Niederlage (wenigstens die-se) wäre Alexander erspart geblieben.
- Hast du bemerkt, dass ich eine Weile nicht da war?
Kurt war jetzt beim Rotkohl - seit einiger Zeit hatte er die infantile Angewohnheit angenommen, die Abteilungen nacheinander zu leeren: zuerst das Fleisch, dann das Gemüse, dann die Kartoffeln. Erstaunlicherweise hatte er jetzt die Gabel wieder in der Hand - sogar richtig herum. Schaufelte Rotkohl.
Alexander wiederholte seine Frage:
- Hast du bemerkt, dass ich eine Weile nicht hier war? - Ja, sagte Kurt.
- Das hast du also bemerkt. Wie lange denn: eine Woche oder ein Jahr?
- Ja, sagte Kurt.
Oder sagte er: Jahr?
- Ein Jahr also, fragte Alexander.
- Ja, sagte Kurt.
Alexander lachte. Dabei kam es ihm tatsächlich vor wie ein Jahr. Wie ein anderes Leben - nachdem das Leben davor mit einem einzigen, mit einem banalen Satz beendet worden war:
- Ich schicke Sie mal in die Fröbelstraße.
So hieß der Satz.
- Fröbelstraße?
- Klinikum.
Erst draußen war er auf die Idee gekommen, die Schwester zu fragen: ob das heiße, dass er Schlafanzug und Zahn-bürste mitnehmen solle. Und die Schwester war nochmal ins Sprechzimmer gegangen und hatte gefragt, ob das heiße, dass der Patient Schlafanzug und Zahnbürste mitnehmen solle. Und der Arzt hatte gesagt, der Patient solle Schlaf-anzug und Zahnbürste mitnehmen. Und das war's.
Vier Wochen. Siebenundzwanzig Ärzte (er hatte nach-gezählt). Moderne Medizin.
Der Assistenzarzt, der wie ein Abiturient aussah und ihm - in einem irrwitzigen Aufnahmesaal, wo hinter Paravents irgendwelche Schwerkranken stöhnten - die Grundsätze der Diagnostik erklärt hatte. Der Pferdeschwanz-Arzt, der gesagt hatte: Marathonläufer haben keine gefährlichen Krankheiten (sehr sympathischer Mann). Die Radiologin, die ihn gefragt hatte, ob er in seinem Alter etwa noch Kinder zeugen wolle. Der Chirurg mit dem Namen Fleischhauer. Und natürlich der pockennarbige Karajan: Oberarzt Dr. Koch.
Und noch zweiundzwanzig andere.
Und wahrscheinlich noch zwei Dutzend Laboranten, die das ihm abgezapfte Blut in Reagenzgläser gefüllt, seinen Urin durchleuchtet, sein Gewebe unter irgendwelchen Mikroskopen betrachtet oder in irgendwelche Zentrifugen gesteckt hatten. Und das alles mit dem erbärmlichen, mit dem geradezu unverschämten Ergebnis, das Dr. Koch in zwei Worte gefasst hatte:
- Nicht operabel.
Hatte Dr. Koch gesagt. Mit seiner knarzigen Stimme. Mit seinen Pockennarben. Seiner Karajan-Frisur. Nicht operabel, hatte er gesagt und sich auf seinem Drehstuhl hin und her gewiegt, und die Gläser seiner Brille hatten geblitzt im Rhythmus seiner Bewegung.
Kurt hatte jetzt auch das Rotkohlfach geleert. Machte sich an die Kartoffeln: trocken. Alexander wusste schon, was jetzt kam (falls er Kurt nicht sofort ein Glas Wasser hinstellte). Nämlich dass die trockenen Kartoffeln Kurt im Hals stecken blieben, dass er einen brüllenden Schluckauf bekam, sodass man glaubte, der Magen würde gleich mit herauskommen. Wahrscheinlich konnte man Kurt auch mit trockenen Kar-toffeln ersticken.
Alexander stand auf und füllte ein Glas mit Wasser.
Kurt, komischerweise, war operabel: Kurt hatte man drei Viertel des Magens herausoperiert. Und er aß mit seinem Rest Magen, als hätte man ihm noch drei Viertel Magen da-zugegeben. Egal, was es gab: Kurt aß immer den Teller leer. Er hatte auch früher immer den Teller leer gegessen, dachte Alexander. Egal, was Irina ihm vorgesetzt hatte. Er hatte es aufgegessen und gelobt - ausgezeichnet! Immer dasselbe Lob, immer dasselbe «Danke» und «Ausgezeichnet», und erst Jahre später, nach Irinas Tod, als es gelegentlich dazu kam, dass Alexander kochte - erst da hatte Alexander begriffen, wie zermürbend, wie demütigend dieses ewige «Danke!» und «Ausgezeichnet!» für seine Mutter gewesen sein muss-ten. Man konnte Kurt nichts vorwerfen. Tatsächlich hatte er nie etwas verlangt, noch nicht einmal von Irina. Wenn keiner kochte, ging er ins Restaurant oder aß eine Butterstulle. Und wenn jemand für ihn kochte, bedankte er sich artig. Dann machte er seinen Mittagsschlaf. Dann seinen Spaziergang. Dann erledigte er seine Post. Was war dagegen zu sagen? Nichts. Das war es ja gerade.
Kurt tupfte mit den Fingerspitzen die letzten Kartoffel-krümel auf. Alexander reichte ihm eine Serviette. Kurt wischte sich tatsächlich den Mund, faltete die Serviette wie-der ordentlich zusammen und legte sie neben den Teller.
- Hör zu, Vater, sagte Alexander. Ich war im Krankenhaus.
Kurt schüttelte den Kopf. Alexander fasste ihn am Unter-arm und versuchte es noch einmal mit Nachdruck.
- Ich - er zeigte auf sich - war im Krankenhaus! Verstehst du?
- Ja, sagte Kurt und stand auf.
- Ich bin noch nicht fertig, sagte Alexander.
Aber Kurt reagierte nicht. Tapste ins Schlafzimmer, noch immer mit nur einem Hausschuh, zog seine Hosen aus. Sah Alexander erwartungsvoll an.
- Mittagsschlaf?
- Ja, sagte Kurt.
- Na, dann wechseln wir mal die Windel.
Kurt tapste ins Bad, Alexander glaubte schon, dass er verstanden hätte, aber im Bad zog Kurt die Windelhose ein Stück herunter und pisste in hohem Bogen auf den Fuß-boden. - Was machst du denn da!
Kurt sah erschrocken auf. Konnte aber nicht mehr auf-hören zu pissen.
Nachdem Alexander seinen Vater geduscht, ins Bett gebracht und den Badfußboden gewischt hatte, war sein Kaffee kalt. Er schaute auf die Uhr: um zwei. Der Abenddienst würde frühestens um sieben kommen. Kurz überlegte er, ob er jetzt die siebenundzwanzigtausend Mark aus dem Wandsafe nehmen und einfach verschwinden sollte. Beschloss aber zu warten. Er wollte es vor den Augen seines Vaters tun. Wollte ihm die Sache erklären, auch wenn es sinnlos war. Wollte, dass Kurt Ja dazu sagte - auch wenn Ja das einzige Wort war, das er noch beherrschte.
Alexander ging mit seinem Kaffee ins Wohnzimmer. Was nun? Was anfangen mit der verlorenen Zeit? Wieder ärgerte er sich darüber, dass er sich Kurts Rhythmus unterworfen hatte, und der Ärger darüber verband sich unwillkürlich mit dem schon notorisch gewordenen Ärger über das Zimmer. Nur dass es ihm jetzt, nachdem er vier Wochen nicht hier gewesen war, noch schlimmer vorkam: blaue Gardinen, blaue Tapeten, alles blau. Weil Blau die Lieblingsfarbe seiner letzten Angebeteten gewesen war ... Idiotisch, mit achtundsiebzig. Kaum dass Irina ein halbes Jahr unter der Erde gelegen hatte ... Sogar die Servietten, die Kerzen: blau!
Ein Jahr lang hatten die beiden sich aufgeführt wie Pennäler. Hatten einander Herzchenpostkarten geschickt und ihre gegenseitigen Liebesgeschenke in blaues Papier eingewickelt, dann hatte die Angebetete wohl bemerkt, dass Kurt zu verblöden begann - und war verschwunden. Zurück blieb der blaue Sarg, so nannte es Alexander. Eine kalte blaue Welt, die nun von niemandem mehr bewohnt wurde.
Nur die Essecke war noch wie früher. Obwohl, auch das nicht ... Kurt hatte zwar die Furniertapete nicht angerührt - Irinas Stolz: echte Furniertapete! Sogar das sogenannte Sammelsirium (Irina-Deutsch) war noch da - aber wie! Kurt hatte diese wildgewachsene Sammlung abstrusester Mibringsel und Erinnerungsstücke, die die Furniertapete mit den Jahren überwuchert hatte, im Zuge seiner Renovierung komplett abgenommen, entstaubt, das «Wichtigste» (oder was Kurt dafür hielt) ausgewählt und in «lockerer Ordnung» (oder was Kurt dafür hielt) wieder an der Furniertapete platziert. Wobei er versucht hatte, schon vorhandene Nagellöcher «zweckmäßigerweise» zu nutzen. Kurts Kompromiss-ästhetik. So sah es auch aus.
Wo war der kleine Krummdolch, den der Schauspieler Gojkovic - Häuptling aller DEFA-Indianerfilme, immerhin! - Irina einmal geschenkt hatte. Und wo war der Kuba-Teller, den die Genossen aus dem Karl-Marx-Werk Wilhelm zum neunzigsten Geburtstag überreicht hatten, und Wilhelm, so wurde erzählt, hatte die Brieftasche gezückt und einen Hunderter auf den Teller geknallt - weil er glaubte, er werde um eine Spende für die Volkssolidarität gebeten ...
Egal. Gegenstände, dachte Alexander ... Einfach bloß Gegenstände. Für den, der nach ihm kam, ohnehin bloß ein Haufen Sperrmüll.
Er ging hinüber in Kurts Arbeitszimmer, das auf der anderen (wie Alexander fand: schöneren) Seite lag.
Ganz im Gegensatz zum Wohnzimmer, wo Kurt alles um-gekrempelt hatte - auch Irinas Möbel hatte er ausgetauscht, die schöne alte Vitrine gegen irgendein grässliches Möbel aus MDF-Platten; selbst Irinas wunderbares, zeitlebens wackliges Telefontischchen hatte Kurt abgeschafft; und, was Alexander ihm besonders übelgenommen hatte, sogar die Wanduhr: die freundliche alte Uhr, deren Mechanik zu jeder halben und vollen Stunde zu schnurren pflegte, zum Zeichen, dass sie noch immer ihren Dienst versah, obwohl das Gehäuse für den Gong fehlte, ursprünglich war es nämlich eine Standuhr gewesen, Irina hatte sie, einer Mode folgend, aus dem Kasten genommen und an die Wand gehängt, und Alexander konnte sich bis heute daran erinnern, wie Irina und er die Uhr geholt hatten und dass Irina es nicht fertig-gebracht hatte, der alten Dame, die sich von der Uhr trennte, mitzuteilen, dass der Uhrkasten eigentlich überflüssig war; wie sie extra einen Nachbarn hatten bitten müssen, beim Verladen des kompletten Uhrkastens zu helfen, und wie der riesige Kasten, den sie nur zum Schein abtransportierten, aus dem Kofferraum des kleinen Trabbi herausgeragt hat-te, sodass das Auto vorn fast die Bodenhaftung verlor - im Gegensatz zum totalrenovierten Wohnzimmer war in Kurts Zimmer noch alles, und zwar auf gespenstische Weise, beim Alten:
Der Schreibtisch stand schräg vor dem Fenster - vierzig Jahre lang war er nach jeder Renovierung wieder genau in die Druckstellen im Teppich gestellt worden. Ebenso die Sitzecke mit Kurts großem Sessel, in dem er mit krummem Rücken und gefalteten Händen gesessen und seine Anekdoten erzählt hatte. Und auch die große schwedische Wand (wieso eigentlich schwedische Wand?) stand wie eh und je. Die Bretter bogen sich unter der Last der Bücher; hier und da hatte Kurt ein zusätzliches, farblich nicht ganz passendes Brett eingezogen, aber die kosmische Ordnung war unverändert - eine Art letztes Back-up von Kurts Gehirn: Dort standen die Nachschlagewerke, die auch Alexander mitunter benutzt hatte (Aber zurückstellen!), dort die Bücher zur russischen Revolution, da in langer Reihe die rostbraunen Lenin-Bände, und links neben Lenin, in der letzten Abteilung, unter dem Ordner mit der strengen Aufschrift PERSÖNLICH, stand noch immer - Alexander hätte es blindlings herausgreifen können - das aufklappbare, ramponierte Schachbrett mit den Figuren, die irgendein namenloser Gulag-Häftling irgendwann einmal geschnitzt hatte.
Das Einzige, was - abgesehen von neuen Büchern - in vierzig Jahren hinzugekommen war, waren ein paar der ursprünglich zahlreichen Erinnerungsstücke, die die Groß-eltern aus Mexiko mitgebracht hatten; das meiste war nach ihrem Tod in einer überstürzten Aktion verschenkt und verscherbelt worden, und auch die wenigen Dinge, von denen sich Kurt merkwürdigerweise nicht hatte trennen wollen, hatten es nicht geschafft, ins «Sammelsirium» aufgenommen zu werden - angeblich aus Platzmangel, in Wirklichkeit aber, weil Irina ihren Hass auf alles, was aus dem Hause der Schwiegereltern kam, nie hatte überwinden können. Also hatte Kurt sie «provisorisch» in seine schwedische Wand eingefügt, und dort waren sie «provisorisch» geblieben, bis heute: Das ausgestopfte Haifischbaby, von dessen rauer Haut Alexander als Kind beeindruckt gewesen war, hatte Kurt mit Geschenkband an einer Regalsprosse aufgehängt; die furchteinflößende aztekische Maske lag noch immer mit dem Gesicht nach oben im Vitrinenfach mit den unzähligen kleinen Schnapsfläschchen; und die große, gewundene, rosafarbene Muschel, in die Wilhelm - keiner wusste, wie - eine Glühbirne eingebaut hatte, stand noch immer ohne Elektro-anschluss auf einem der Unterschränke.
Wieder musste er an Markus denken: an seinen Sohn. Musste sich vorstellen, wie Markus hier umging, mit Kapuze und Kopfhörern in den Ohren - so hatte er ihn das letzte Mal, vor zwei Jahren, gesehen -, musste sich vorstellen, wie Markus vor Kurts Bücherwand stand und die Regalbretter mit den Stiefelspitzen anstupste; wie er die Dinge, die sich in vierzig Jahren hier angesammelt hatten, durch seine Hände gehen ließ und auf Gebrauchswert oder Verkäuflichkeit prüfte: Kaum jemand würde ihm den Lenin abkaufen; für das klappbare Schachbrett bekam er womöglich noch ein paar Mark. Einzig das ausgestopfte Haifischbaby und die große rosa Muschel würden ihn vermutlich interessieren, und er würde sie in seiner Bude aufstellen, ohne sich über ihre Herkunft Gedanken zu machen.
Für eine Sekunde tauchte der Gedanke auf, die Muschel mitzunehmen, um sie dort, wo sie herkam, ins Meer zu werfen - aber dann kam es ihm vor wie eine Szene aus einer Fernsehschmonzette, und er verwarf den Gedanken wieder.
Er setzte sich an den Schreibtisch und öffnete die linke Tür. Im mittleren Schubfach ganz hinten, in der uralten ORWO-Fotopapierschachtel, lag, versteckt unter Klebstoff-tuben, seit vierzig Jahren der Schlüssel zum Wandsafe - und er lag immer noch da (plötzlich hatte Alexander die blöd-sinnige Vorstellung angefallen, der Schlüssel könnte verschwunden sein und seine Pläne wären im Eimer).
Er steckte den Schlüssel vorsichtshalber ein - als ob ihn jetzt noch jemand wegnehmen könnte. Trank einen Schluck kalten Kaffee.
Seltsam, wie winzig Kurts Schreibtisch war. An diesem Tischlein hatte Kurt sein Werk verfasst. Hier hatte er gesessen, in einer medizinisch schwer bedenklichen Sitzhaltung, auf einem Stuhl, der eine ergonomische Katastrophe war, hatte seine Pfeifen geraucht, seinen sauren Filterkaffee getrunken und im Viereinhalb-Finger-System auf seiner Schreibmaschine herumgehämmert, tack-tack-tack-tack, Papa arbeitet! Sieben Seiten täglich, das war seine «Norm», aber es kam auch vor, dass er zum Mittagessen verkündete: Zwölf Seiten heute! Oder: Fünfzehn! Eine komplette Spalte seiner schwedischen Wand hatte er auf diese Weise zusammengehämmert, ein Meter mal drei Meter fünfzig, alles voll mit dem Zeug, «einer der produktivsten Historiker der DDR», hatte es geheißen, und selbst wenn man die Artikel aus den Zeitschriften, in die sie eingebunden waren, und die Beiträge aus den Sammelbänden herausnahm und sie - zusammen mit den zehn oder zwölf oder vierzehn Büchern, die Kurt verfasst hatte - in eine Reihe stellte, hatte sein Werk noch immer eine Gesamtregalbreite, die fast mit der des Lenin'schen Werks konkurrieren konnte: ein Meter Wissenschaft. Für diesen Meter Wissenschaft hatte Kurt dreißig Jahre geschuftet, dreißig Jahre lang die Familie terrorisiert. Für diesen Meter hatte Irina gekocht und Wäsche gewaschen. Für diesen Meter hatte Kurt Orden und Auszeichnungen, aber auch Rüffel und einmal sogar eine Rüge von der Partei erhalten, hatte mit den vom ewigen Papiermangel gebeutelten Verlagen um Auflagenhöhen gefeilscht, hatte einen Kleinkrieg um Formulierungen und Titel geführt, hatte aufgeben müssen oder hatte mit List und Zähigkeit Teilerfolge erzielt - und nun war alles, alles Makulatur.
So hatte Alexander gedacht. Wenigstens diesen Triumph hatte er nach der Wende geglaubt verbuchen zu können: Alles das, so hatte er geglaubt, habe sich nun erledigt. Diese angebliche Forschung, dieses ganze halbwahre und halbherzige Zeug, das Kurt da über die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung zusammengehämmert hatte - das alles, so hatte Alexander geglaubt, würde mit der Wende hinweggespült, und nichts von Kurts sogenanntem Werk würde bleiben.
© 2012 by Rowohlt Verlag GmbH
Das «Essen auf Rädern» stand schon in der ISO-Verpackung auf dem Zaunpfeiler. Dienstag, fand er auf der Packung bestätigt. Alexander nahm die Packung und ging hinein.
Obwohl er einen Schlüssel hatte, klingelte er. Testen, ob Kurt aufmachte - sinnlos. Ohnehin wusste er, dass Kurt nicht aufmachen würde. Aber dann hörte er das vertraute Quietschen der Flurtür, und als er durch das Fensterchen schaute, erschien Kurt - wie ein Geist - im Halbdunkel des Vorraums.
- Mach auf, rief Alexander.
Kurt kam näher, glotzte.
- Mach auf!
Aber Kurt rührte sich nicht.
Alexander schloss auf, umarmte seinen Vater, obwohl ihm die Umarmung seit langem unangenehm war. Kurt roch. Es war der Geruch des Alters. Er saß tief in den Zellen. Kurt roch auch gewaschen und zähnegeputzt.
- Erkennst du mich, fragte Alexander.
- Ja, sagte Kurt.
Sein Mund war mit Pflaumenmus verschmiert, der Morgendienst hatte es wieder mal eilig gehabt. Seine Strickjacke war schief geknöpft, er trug nur einen Hausschuh.
Alexander machte Kurts Essen warm. Mikrowelle, Sicherung einschalten. Kurt stand interessiert daneben.
- Hast du Hunger, fragte Alexander.
- Ja, sagte Kurt.
- Du hast immer Hunger.
- Ja, sagte Kurt.
Es gab Gulasch mit Rotkohl (seit Kurt sich an einem Stück Rindfleisch einmal fast tödlich verschluckt hatte, wurde nur noch Kleinteiliges bestellt). Alexander brühte sich einen Kaffee. Dann nahm er Kurts Gulasch aus der Mikrowelle, stellte es auf die Igelit-Decke.
- Guten Appetit, sagte er.
- Ja, sagte Kurt.
Begann zu essen. Eine Weile war nur Kurts konzentriertes Schniefen zu hören. Alexander nippte an seinem noch viel zu heißen Kaffee. Sah zu, wie Kurt aß.
- Du hast die Gabel falsch herum, sagte er nach einer Weile.
Kurt hielt einen Augenblick inne, schien nachzudenken. Aß dann aber weiter: Versuchte, das Stück Gulasch mit dem Gabelstiel auf die Messerspitze zu schieben.
- Du hast die Gabel falsch herum, wiederholte Alexander.
Er sprach ohne Betonung, ohne mahnenden Unterton, um die Wirkung der reinen Begriffe auf Kurt zu testen. Keine Wirkung. Null. Was ging in diesem Kopf vor? In diesem immer noch durch einen Schädel von der Welt abgegrenzten Raum, der immer noch irgendeine Art Ich enthielt. Was fühlte, was dachte Kurt, wenn er im Zimmer umhertapste? Wenn er vormittags an seinem Schreibtisch saß und, wie die Pflegerinnen berichteten, stundenlang in die Zeitung starrte. Was dachte er? Dachte er überhaupt? Wie dachte man ohne Worte?
Kurt hatte endlich das Gulaschstück auf die Messerspitze geladen, balancierte es jetzt, schon zitternd vor Gier, zum Mund. Absturz. Zweiter Versuch.
Eigentlich ein Witz, dachte Alexander, dass Kurts Verfall ausgerechnet mit der Sprache begonnen hatte. Kurt, der Redner. Der große Erzähler. Wie er dagesessen hatte in seinem berühmten Sessel - Kurts Sessel! Wie alle an seinen Lippen hingen, wenn er seine Geschichtchen erzählte, der Herr Professor. Seine Anekdoten. Komisch aber auch: In Kurts Mund verwandelte sich alles in eine Anekdote. Egal, was Kurt erzählte - selbst wenn er davon erzählte, wie er im Lager beinahe krepiert wäre -, immer hatte es eine Pointe, immer hatte es Witz. Hatte gehabt. Fernste Vergangenheit. Der letzte Satz, den Kurt zusammenhängend hatte sagen können, war: Ich habe die Sprache verloren. Auch nicht schlecht. Verglichen mit seinem heutigen Repertoire eine Glanznummer. Doch das war zwei Jahre her: Ich habe die Sprache verloren. Und die Leute hatten wirklich gedacht, sieh mal an, er hat die Sprache verloren, aber sonst ... Sonst schien er noch einigermaßen beisammen zu sein. Lächelte, nickte. Zog Grimassen, die irgendwie passten. Verstellte sich schlau. Nur hin und wieder unterlief ihm Sonderbares: dass er den Rotwein in seine Kaffeetasse goss. Oder auf einmal ratlos mit einem Korken dastand - und ihn schließlich ins Bücherregal steckte.
Miserable Quote: Ein Stückchen Gulasch hatte Kurt bisher geschafft. Jetzt griff er zu: mit den Fingern. Schaute schräg von unten zu Alexander herauf, wie ein Kind, das die Reaktion seiner Eltern prüft. Stopfte das Stück in den Mund. Und noch eins. Und kaute.
Und während er kaute, hielt er seine beschmierten Finger hoch wie zum Schwur.
- Wenn du wüsstest, sagte Alexander.
Kurt reagierte nicht. Hatte endlich eine Methode gefunden: die Lösung des Gulaschproblems. Stopfte, kaute. Die Soße rann in einer schmalen Spur über sein Kinn.
Kurt konnte nichts mehr. Konnte nicht sprechen, sich nicht mehr die Zähne putzen. Nicht einmal den Arsch ab-wischen konnte er sich, man musste froh sein, wenn er sich zum Scheißen aufs Klo setzte. Das Einzige, dachte Alexander, was Kurt noch konnte, was er aus eigenem Antrieb noch tat, wofür er sich wirklich interessierte und worauf er sein letztes bisschen Schlauheit verwendete, war essen. Nahrung aufnehmen. Kurt aß nicht mit Genuss. Kurt aß nicht etwa, weil es ihm schmeckte (seine Geschmacksnerven, davon war Alexander überzeugt, waren durch das jahrzehntelange Pfeiferauchen vollständig ruiniert). Kurt aß, um zu leben. Essen = Leben, diese Formel, dachte Alexander, hatte er im Arbeitslager gelernt, und zwar gründlich. Ein für alle Mal. Die Gier, mit der Kurt aß, mit der er sich Gulaschstückchen in den Mund stopfte, war nichts anderes als Überlebenswille. Das war das Letzte, was von Kurt übrig geblieben war. Was ihn über Wasser hielt, was diesen Körper weiter funktionieren ließ, eine außer Rand und Band geratene Herz-Kreislauf-Maschine, die sich selbst in Betrieb hielt - und sich wohl, so war zu befürchten, noch eine Weile in Betrieb halten würde. Kurt hatte alle überlebt. Er hatte Irina überlebt. Und nun bestand die reale Chance, dass er auch ihn, Alexander, über-leben würde.
Ein dicker Soßetropfen bildete sich an Kurts Kinn. Alexander überkam der starke Drang, Kurt wehzutun: ein Stück Küchenkrepp abzureißen und ihm die Soße grob aus dem Gesicht zu wischen.
Der Tropfen zitterte, stürzte ab.
War es gestern gewesen? Oder heute? Irgendwann während dieser zwei Tage, als er auf dem Büffelledersofa lag (reglos und aus irgendeinem Grunde immer bemüht, nicht mit der bloßen Haut an das Leder zu kommen), irgendwann war ihm der Gedanke gekommen: Kurt umzubringen. Mehr als nur der Gedanke. Er hatte Varianten durchgespielt: Kurt mit dem Kissen ersticken oder - der perfekte Mord - Kurt ein zähes Rindersteak servieren. So wie das Steak, an dem er beinahe erstickt war. Und hätte Alexander ihn, als er schon blau anlief und auf die Straße taumelte und dort bewusst-los umfiel - hätte Alexander ihn damals nicht instinktiv in die stabile Seitenlage gedreht und wäre nicht infolgedessen, zusammen mit Kurts Gebiss, auch der beinahe kugelrunde, durch endloses Kauen zusammengepappte Fleischkloß aus Kurts Rachen gerollt, dann wäre Kurt vermutlich schon nicht mehr am Leben, und diese Niederlage (wenigstens die-se) wäre Alexander erspart geblieben.
- Hast du bemerkt, dass ich eine Weile nicht da war?
Kurt war jetzt beim Rotkohl - seit einiger Zeit hatte er die infantile Angewohnheit angenommen, die Abteilungen nacheinander zu leeren: zuerst das Fleisch, dann das Gemüse, dann die Kartoffeln. Erstaunlicherweise hatte er jetzt die Gabel wieder in der Hand - sogar richtig herum. Schaufelte Rotkohl.
Alexander wiederholte seine Frage:
- Hast du bemerkt, dass ich eine Weile nicht hier war? - Ja, sagte Kurt.
- Das hast du also bemerkt. Wie lange denn: eine Woche oder ein Jahr?
- Ja, sagte Kurt.
Oder sagte er: Jahr?
- Ein Jahr also, fragte Alexander.
- Ja, sagte Kurt.
Alexander lachte. Dabei kam es ihm tatsächlich vor wie ein Jahr. Wie ein anderes Leben - nachdem das Leben davor mit einem einzigen, mit einem banalen Satz beendet worden war:
- Ich schicke Sie mal in die Fröbelstraße.
So hieß der Satz.
- Fröbelstraße?
- Klinikum.
Erst draußen war er auf die Idee gekommen, die Schwester zu fragen: ob das heiße, dass er Schlafanzug und Zahn-bürste mitnehmen solle. Und die Schwester war nochmal ins Sprechzimmer gegangen und hatte gefragt, ob das heiße, dass der Patient Schlafanzug und Zahnbürste mitnehmen solle. Und der Arzt hatte gesagt, der Patient solle Schlaf-anzug und Zahnbürste mitnehmen. Und das war's.
Vier Wochen. Siebenundzwanzig Ärzte (er hatte nach-gezählt). Moderne Medizin.
Der Assistenzarzt, der wie ein Abiturient aussah und ihm - in einem irrwitzigen Aufnahmesaal, wo hinter Paravents irgendwelche Schwerkranken stöhnten - die Grundsätze der Diagnostik erklärt hatte. Der Pferdeschwanz-Arzt, der gesagt hatte: Marathonläufer haben keine gefährlichen Krankheiten (sehr sympathischer Mann). Die Radiologin, die ihn gefragt hatte, ob er in seinem Alter etwa noch Kinder zeugen wolle. Der Chirurg mit dem Namen Fleischhauer. Und natürlich der pockennarbige Karajan: Oberarzt Dr. Koch.
Und noch zweiundzwanzig andere.
Und wahrscheinlich noch zwei Dutzend Laboranten, die das ihm abgezapfte Blut in Reagenzgläser gefüllt, seinen Urin durchleuchtet, sein Gewebe unter irgendwelchen Mikroskopen betrachtet oder in irgendwelche Zentrifugen gesteckt hatten. Und das alles mit dem erbärmlichen, mit dem geradezu unverschämten Ergebnis, das Dr. Koch in zwei Worte gefasst hatte:
- Nicht operabel.
Hatte Dr. Koch gesagt. Mit seiner knarzigen Stimme. Mit seinen Pockennarben. Seiner Karajan-Frisur. Nicht operabel, hatte er gesagt und sich auf seinem Drehstuhl hin und her gewiegt, und die Gläser seiner Brille hatten geblitzt im Rhythmus seiner Bewegung.
Kurt hatte jetzt auch das Rotkohlfach geleert. Machte sich an die Kartoffeln: trocken. Alexander wusste schon, was jetzt kam (falls er Kurt nicht sofort ein Glas Wasser hinstellte). Nämlich dass die trockenen Kartoffeln Kurt im Hals stecken blieben, dass er einen brüllenden Schluckauf bekam, sodass man glaubte, der Magen würde gleich mit herauskommen. Wahrscheinlich konnte man Kurt auch mit trockenen Kar-toffeln ersticken.
Alexander stand auf und füllte ein Glas mit Wasser.
Kurt, komischerweise, war operabel: Kurt hatte man drei Viertel des Magens herausoperiert. Und er aß mit seinem Rest Magen, als hätte man ihm noch drei Viertel Magen da-zugegeben. Egal, was es gab: Kurt aß immer den Teller leer. Er hatte auch früher immer den Teller leer gegessen, dachte Alexander. Egal, was Irina ihm vorgesetzt hatte. Er hatte es aufgegessen und gelobt - ausgezeichnet! Immer dasselbe Lob, immer dasselbe «Danke» und «Ausgezeichnet», und erst Jahre später, nach Irinas Tod, als es gelegentlich dazu kam, dass Alexander kochte - erst da hatte Alexander begriffen, wie zermürbend, wie demütigend dieses ewige «Danke!» und «Ausgezeichnet!» für seine Mutter gewesen sein muss-ten. Man konnte Kurt nichts vorwerfen. Tatsächlich hatte er nie etwas verlangt, noch nicht einmal von Irina. Wenn keiner kochte, ging er ins Restaurant oder aß eine Butterstulle. Und wenn jemand für ihn kochte, bedankte er sich artig. Dann machte er seinen Mittagsschlaf. Dann seinen Spaziergang. Dann erledigte er seine Post. Was war dagegen zu sagen? Nichts. Das war es ja gerade.
Kurt tupfte mit den Fingerspitzen die letzten Kartoffel-krümel auf. Alexander reichte ihm eine Serviette. Kurt wischte sich tatsächlich den Mund, faltete die Serviette wie-der ordentlich zusammen und legte sie neben den Teller.
- Hör zu, Vater, sagte Alexander. Ich war im Krankenhaus.
Kurt schüttelte den Kopf. Alexander fasste ihn am Unter-arm und versuchte es noch einmal mit Nachdruck.
- Ich - er zeigte auf sich - war im Krankenhaus! Verstehst du?
- Ja, sagte Kurt und stand auf.
- Ich bin noch nicht fertig, sagte Alexander.
Aber Kurt reagierte nicht. Tapste ins Schlafzimmer, noch immer mit nur einem Hausschuh, zog seine Hosen aus. Sah Alexander erwartungsvoll an.
- Mittagsschlaf?
- Ja, sagte Kurt.
- Na, dann wechseln wir mal die Windel.
Kurt tapste ins Bad, Alexander glaubte schon, dass er verstanden hätte, aber im Bad zog Kurt die Windelhose ein Stück herunter und pisste in hohem Bogen auf den Fuß-boden. - Was machst du denn da!
Kurt sah erschrocken auf. Konnte aber nicht mehr auf-hören zu pissen.
Nachdem Alexander seinen Vater geduscht, ins Bett gebracht und den Badfußboden gewischt hatte, war sein Kaffee kalt. Er schaute auf die Uhr: um zwei. Der Abenddienst würde frühestens um sieben kommen. Kurz überlegte er, ob er jetzt die siebenundzwanzigtausend Mark aus dem Wandsafe nehmen und einfach verschwinden sollte. Beschloss aber zu warten. Er wollte es vor den Augen seines Vaters tun. Wollte ihm die Sache erklären, auch wenn es sinnlos war. Wollte, dass Kurt Ja dazu sagte - auch wenn Ja das einzige Wort war, das er noch beherrschte.
Alexander ging mit seinem Kaffee ins Wohnzimmer. Was nun? Was anfangen mit der verlorenen Zeit? Wieder ärgerte er sich darüber, dass er sich Kurts Rhythmus unterworfen hatte, und der Ärger darüber verband sich unwillkürlich mit dem schon notorisch gewordenen Ärger über das Zimmer. Nur dass es ihm jetzt, nachdem er vier Wochen nicht hier gewesen war, noch schlimmer vorkam: blaue Gardinen, blaue Tapeten, alles blau. Weil Blau die Lieblingsfarbe seiner letzten Angebeteten gewesen war ... Idiotisch, mit achtundsiebzig. Kaum dass Irina ein halbes Jahr unter der Erde gelegen hatte ... Sogar die Servietten, die Kerzen: blau!
Ein Jahr lang hatten die beiden sich aufgeführt wie Pennäler. Hatten einander Herzchenpostkarten geschickt und ihre gegenseitigen Liebesgeschenke in blaues Papier eingewickelt, dann hatte die Angebetete wohl bemerkt, dass Kurt zu verblöden begann - und war verschwunden. Zurück blieb der blaue Sarg, so nannte es Alexander. Eine kalte blaue Welt, die nun von niemandem mehr bewohnt wurde.
Nur die Essecke war noch wie früher. Obwohl, auch das nicht ... Kurt hatte zwar die Furniertapete nicht angerührt - Irinas Stolz: echte Furniertapete! Sogar das sogenannte Sammelsirium (Irina-Deutsch) war noch da - aber wie! Kurt hatte diese wildgewachsene Sammlung abstrusester Mibringsel und Erinnerungsstücke, die die Furniertapete mit den Jahren überwuchert hatte, im Zuge seiner Renovierung komplett abgenommen, entstaubt, das «Wichtigste» (oder was Kurt dafür hielt) ausgewählt und in «lockerer Ordnung» (oder was Kurt dafür hielt) wieder an der Furniertapete platziert. Wobei er versucht hatte, schon vorhandene Nagellöcher «zweckmäßigerweise» zu nutzen. Kurts Kompromiss-ästhetik. So sah es auch aus.
Wo war der kleine Krummdolch, den der Schauspieler Gojkovic - Häuptling aller DEFA-Indianerfilme, immerhin! - Irina einmal geschenkt hatte. Und wo war der Kuba-Teller, den die Genossen aus dem Karl-Marx-Werk Wilhelm zum neunzigsten Geburtstag überreicht hatten, und Wilhelm, so wurde erzählt, hatte die Brieftasche gezückt und einen Hunderter auf den Teller geknallt - weil er glaubte, er werde um eine Spende für die Volkssolidarität gebeten ...
Egal. Gegenstände, dachte Alexander ... Einfach bloß Gegenstände. Für den, der nach ihm kam, ohnehin bloß ein Haufen Sperrmüll.
Er ging hinüber in Kurts Arbeitszimmer, das auf der anderen (wie Alexander fand: schöneren) Seite lag.
Ganz im Gegensatz zum Wohnzimmer, wo Kurt alles um-gekrempelt hatte - auch Irinas Möbel hatte er ausgetauscht, die schöne alte Vitrine gegen irgendein grässliches Möbel aus MDF-Platten; selbst Irinas wunderbares, zeitlebens wackliges Telefontischchen hatte Kurt abgeschafft; und, was Alexander ihm besonders übelgenommen hatte, sogar die Wanduhr: die freundliche alte Uhr, deren Mechanik zu jeder halben und vollen Stunde zu schnurren pflegte, zum Zeichen, dass sie noch immer ihren Dienst versah, obwohl das Gehäuse für den Gong fehlte, ursprünglich war es nämlich eine Standuhr gewesen, Irina hatte sie, einer Mode folgend, aus dem Kasten genommen und an die Wand gehängt, und Alexander konnte sich bis heute daran erinnern, wie Irina und er die Uhr geholt hatten und dass Irina es nicht fertig-gebracht hatte, der alten Dame, die sich von der Uhr trennte, mitzuteilen, dass der Uhrkasten eigentlich überflüssig war; wie sie extra einen Nachbarn hatten bitten müssen, beim Verladen des kompletten Uhrkastens zu helfen, und wie der riesige Kasten, den sie nur zum Schein abtransportierten, aus dem Kofferraum des kleinen Trabbi herausgeragt hat-te, sodass das Auto vorn fast die Bodenhaftung verlor - im Gegensatz zum totalrenovierten Wohnzimmer war in Kurts Zimmer noch alles, und zwar auf gespenstische Weise, beim Alten:
Der Schreibtisch stand schräg vor dem Fenster - vierzig Jahre lang war er nach jeder Renovierung wieder genau in die Druckstellen im Teppich gestellt worden. Ebenso die Sitzecke mit Kurts großem Sessel, in dem er mit krummem Rücken und gefalteten Händen gesessen und seine Anekdoten erzählt hatte. Und auch die große schwedische Wand (wieso eigentlich schwedische Wand?) stand wie eh und je. Die Bretter bogen sich unter der Last der Bücher; hier und da hatte Kurt ein zusätzliches, farblich nicht ganz passendes Brett eingezogen, aber die kosmische Ordnung war unverändert - eine Art letztes Back-up von Kurts Gehirn: Dort standen die Nachschlagewerke, die auch Alexander mitunter benutzt hatte (Aber zurückstellen!), dort die Bücher zur russischen Revolution, da in langer Reihe die rostbraunen Lenin-Bände, und links neben Lenin, in der letzten Abteilung, unter dem Ordner mit der strengen Aufschrift PERSÖNLICH, stand noch immer - Alexander hätte es blindlings herausgreifen können - das aufklappbare, ramponierte Schachbrett mit den Figuren, die irgendein namenloser Gulag-Häftling irgendwann einmal geschnitzt hatte.
Das Einzige, was - abgesehen von neuen Büchern - in vierzig Jahren hinzugekommen war, waren ein paar der ursprünglich zahlreichen Erinnerungsstücke, die die Groß-eltern aus Mexiko mitgebracht hatten; das meiste war nach ihrem Tod in einer überstürzten Aktion verschenkt und verscherbelt worden, und auch die wenigen Dinge, von denen sich Kurt merkwürdigerweise nicht hatte trennen wollen, hatten es nicht geschafft, ins «Sammelsirium» aufgenommen zu werden - angeblich aus Platzmangel, in Wirklichkeit aber, weil Irina ihren Hass auf alles, was aus dem Hause der Schwiegereltern kam, nie hatte überwinden können. Also hatte Kurt sie «provisorisch» in seine schwedische Wand eingefügt, und dort waren sie «provisorisch» geblieben, bis heute: Das ausgestopfte Haifischbaby, von dessen rauer Haut Alexander als Kind beeindruckt gewesen war, hatte Kurt mit Geschenkband an einer Regalsprosse aufgehängt; die furchteinflößende aztekische Maske lag noch immer mit dem Gesicht nach oben im Vitrinenfach mit den unzähligen kleinen Schnapsfläschchen; und die große, gewundene, rosafarbene Muschel, in die Wilhelm - keiner wusste, wie - eine Glühbirne eingebaut hatte, stand noch immer ohne Elektro-anschluss auf einem der Unterschränke.
Wieder musste er an Markus denken: an seinen Sohn. Musste sich vorstellen, wie Markus hier umging, mit Kapuze und Kopfhörern in den Ohren - so hatte er ihn das letzte Mal, vor zwei Jahren, gesehen -, musste sich vorstellen, wie Markus vor Kurts Bücherwand stand und die Regalbretter mit den Stiefelspitzen anstupste; wie er die Dinge, die sich in vierzig Jahren hier angesammelt hatten, durch seine Hände gehen ließ und auf Gebrauchswert oder Verkäuflichkeit prüfte: Kaum jemand würde ihm den Lenin abkaufen; für das klappbare Schachbrett bekam er womöglich noch ein paar Mark. Einzig das ausgestopfte Haifischbaby und die große rosa Muschel würden ihn vermutlich interessieren, und er würde sie in seiner Bude aufstellen, ohne sich über ihre Herkunft Gedanken zu machen.
Für eine Sekunde tauchte der Gedanke auf, die Muschel mitzunehmen, um sie dort, wo sie herkam, ins Meer zu werfen - aber dann kam es ihm vor wie eine Szene aus einer Fernsehschmonzette, und er verwarf den Gedanken wieder.
Er setzte sich an den Schreibtisch und öffnete die linke Tür. Im mittleren Schubfach ganz hinten, in der uralten ORWO-Fotopapierschachtel, lag, versteckt unter Klebstoff-tuben, seit vierzig Jahren der Schlüssel zum Wandsafe - und er lag immer noch da (plötzlich hatte Alexander die blöd-sinnige Vorstellung angefallen, der Schlüssel könnte verschwunden sein und seine Pläne wären im Eimer).
Er steckte den Schlüssel vorsichtshalber ein - als ob ihn jetzt noch jemand wegnehmen könnte. Trank einen Schluck kalten Kaffee.
Seltsam, wie winzig Kurts Schreibtisch war. An diesem Tischlein hatte Kurt sein Werk verfasst. Hier hatte er gesessen, in einer medizinisch schwer bedenklichen Sitzhaltung, auf einem Stuhl, der eine ergonomische Katastrophe war, hatte seine Pfeifen geraucht, seinen sauren Filterkaffee getrunken und im Viereinhalb-Finger-System auf seiner Schreibmaschine herumgehämmert, tack-tack-tack-tack, Papa arbeitet! Sieben Seiten täglich, das war seine «Norm», aber es kam auch vor, dass er zum Mittagessen verkündete: Zwölf Seiten heute! Oder: Fünfzehn! Eine komplette Spalte seiner schwedischen Wand hatte er auf diese Weise zusammengehämmert, ein Meter mal drei Meter fünfzig, alles voll mit dem Zeug, «einer der produktivsten Historiker der DDR», hatte es geheißen, und selbst wenn man die Artikel aus den Zeitschriften, in die sie eingebunden waren, und die Beiträge aus den Sammelbänden herausnahm und sie - zusammen mit den zehn oder zwölf oder vierzehn Büchern, die Kurt verfasst hatte - in eine Reihe stellte, hatte sein Werk noch immer eine Gesamtregalbreite, die fast mit der des Lenin'schen Werks konkurrieren konnte: ein Meter Wissenschaft. Für diesen Meter Wissenschaft hatte Kurt dreißig Jahre geschuftet, dreißig Jahre lang die Familie terrorisiert. Für diesen Meter hatte Irina gekocht und Wäsche gewaschen. Für diesen Meter hatte Kurt Orden und Auszeichnungen, aber auch Rüffel und einmal sogar eine Rüge von der Partei erhalten, hatte mit den vom ewigen Papiermangel gebeutelten Verlagen um Auflagenhöhen gefeilscht, hatte einen Kleinkrieg um Formulierungen und Titel geführt, hatte aufgeben müssen oder hatte mit List und Zähigkeit Teilerfolge erzielt - und nun war alles, alles Makulatur.
So hatte Alexander gedacht. Wenigstens diesen Triumph hatte er nach der Wende geglaubt verbuchen zu können: Alles das, so hatte er geglaubt, habe sich nun erledigt. Diese angebliche Forschung, dieses ganze halbwahre und halbherzige Zeug, das Kurt da über die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung zusammengehämmert hatte - das alles, so hatte Alexander geglaubt, würde mit der Wende hinweggespült, und nichts von Kurts sogenanntem Werk würde bleiben.
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Autoren-Porträt von Eugen Ruge
Ruge, Eugen Eugen Ruge wurde 1954 in Soswa (Ural) geboren. Der diplomierte Mathematiker begann seine schriftstellerische Laufbahn mit Theaterstücken und Hörspielen. Für «In Zeiten des abnehmenden Lichts» wurde er unter anderem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Seitdem erschienen die Bände «Theaterstücke» und «Annäherung», die Romane «Cabo de Gata», «Follower» und zuletzt «Metropol».
Bibliographische Angaben
- Autor: Eugen Ruge
- 2017, 19. Aufl., 432 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499254123
- ISBN-13: 9783499254123
- Erscheinungsdatum: 23.10.2012
Rezension zu „In Zeiten des abnehmenden Lichts “
Die Bögen wie von Thomas Mann, aber sehr viel komischer. The Sunday Telegraph
Pressezitat
Die Bögen wie von Thomas Mann, aber sehr viel komischer. The Sunday Telegraph
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