Inklusion, Partizipation und Empowerment in der Behindertenarbeit
Best Practice-Beispiele: Wohnen - Leben - Arbeit - Freizeit
Die Behindertenarbeit befindet sich in einem hochdynamischen Umbruch. Dabei folgt sie neuen Leitprinzipien wie der "Inklusion", des "Empowerment" und der "Partizipation". Zwar gibt es inzwischen einige theoretische Beiträge zu den dahinter stehenden...
Leider schon ausverkauft
Buch (Kartoniert)
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Inklusion, Partizipation und Empowerment in der Behindertenarbeit “
Die Behindertenarbeit befindet sich in einem hochdynamischen Umbruch. Dabei folgt sie neuen Leitprinzipien wie der "Inklusion", des "Empowerment" und der "Partizipation". Zwar gibt es inzwischen einige theoretische Beiträge zu den dahinter stehenden Konzepten; was aber fehlt sind bislang konkrete Praxisbeispiele und damit Antworten auf die Fragen: Wie sieht der jeweilige Ansatz in der Praxis aus? Wie lässt sich das konkret umsetzen? Gibt es dafür in Deutschland schon vorbildliche Beispiele? Das Buch dokumentiert Best-Practice-Beispiele und zeigt damit auf, welche Zukunftsperspektiven sich für die Behindertenarbeit aus den neuen Leitprinzipien ergeben.
Klappentext zu „Inklusion, Partizipation und Empowerment in der Behindertenarbeit “
Die Behindertenarbeit befindet sich derzeit in einem hochdynamischen Umbruch. Dabei folgt sie neuen Leitprinzipien wie der "Inklusion", des "Empowerment" und der "Partizipation", die hierzulande als "Teilhabe" bezeichnet wird. Zwar gibt es inzwischen einige theoretische Beiträge zu den dahinter stehenden Konzepten; was aber fehlt sind bislang konkrete Praxisbeispiele und damit Antworten auf die Fragen: Wie sieht der jeweilige Ansatz in der Praxis aus? Wie lässt sich das konkret umsetzen? Gibt es dafür in Deutschland schon vorbildliche Beispiele? Genau hier setzt das Buch an. Es dokumentiert für die Bereiche des Arbeitens, Wohnens und der Lebensgestaltung Best-Practice-Beispiele und zeigt damit auf, welche Zukunftsperspektiven sich für die Behindertenarbeit aus den neuen Leitprinzipien ergeben.
Lese-Probe zu „Inklusion, Partizipation und Empowerment in der Behindertenarbeit “
Von der Integration zur Inklusion im Sinne von Empowerment von Georg Theunissen & Helmut Schwalb Die gesellschaftliche Situation von Menschen mit einer Behinderung und damit auch die Behindertenarbeit befinden sich derzeit in einem dynamischen Umbruch: Hatte sie sich bisher den Prinzipien der Integration und im Zusammenhang damit der pädagogisch-therapeutischen Förderung verschrieben, so steht heute das Paradigma Inklusion, verbunden mit dem Empowerment-Konzept, auf der Tagesordnung. Unser Beitrag greift diesen Perspektivwechsel auf und möchte ihn im Hinblick auf Fragen der Teilhabe am Arbeitsleben und des Lebens in der Gesellschaft, insbesondere des Wohnens und der Freizeit, beleuchten. Dabei konzentrieren wir uns auf die Situation von Menschen mit Lernschwierigkeiten, also jener Menschen, die bisher mit dem Begriff „Menschen mit einer geistigen Behinderung" etikettiert wurden.
Historische Entwicklung: Von der Exklusion zur Inklusion
Mit dem Schweizer Heilpädagogen Bürli (1997) lassen sich in der Begriffsgeschichte der Arbeit mit behinderten Menschen seit dem 19. Jahrhundert vier Phasen ausmachen:
Die erste Phase benennt er als Phase der Exklusion. In dieser Phase waren Menschen mit Behinderung von der Teilhabe an gesellschaftlichen Regelsystemen ausgeschlossen, sie wurden weggeschlossen (zuhause oder in Anstalten für von der Norm abweichende Menschen).
... mehr
In der zweiten Phase, die Bürli als Phase der Segregation bezeichnet, wurden Menschen mit Behinderung zwar weiterhin als krank, behandlungs-und versorgungsbedürftig bezeichnet, dem Fürsorgeansatz folgend wurden für sie aber nunmehr eigene, abgetrennte Sozialisationseinrichtungen geschaffen, in denen sie gefördert werden konnten. Diese Phase war gekennzeichnet durch die in der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts forcierte Institutionalisierung von Menschen mit Behinderungen. Damals war es in vielen Industrienationen zu zahlreichen Heim-oder Anstaltsgründungen gekommen. Die Beweggründe dafür waren recht unterschiedlich. Neben den christlichen Impulsen der Nächstenliebe und Barmherzigkeit ging es um „Heilung" und Erziehung zur „Brauchbarkeit" für die Gesellschaft. Dabei zeigte sich jedoch, dass es behinderte Menschen gab, die die Anforderungen nicht oder kaum erfüllen konnten und diese Erfahrung förderte die Vorstellung, dass es sinnvoll sei, das Heim-und Anstaltswesen in Anstalten oder Abteilungen für „bildbare" Personen auf der einen Seite und in Pflegeheime oder Pflegeabteilungen für „bildungs-und erziehungsunfähige" Menschen auf der anderen zu differenzieren.
Im 20. Jahrhundert wurde weltweit dieses von der Psychiatrie gestützte ZweiKlassen- System zunächst uneingeschränkt fortgeschrieben (s. Theunissen 2005). Allerdings war es in einigen hoch entwickelten Industrienationen (USA, skandinavische Länder) alsbald zu scharfer Kritik am Ausschluss der Menschen mit Behinderung von der Teilhabe an gesellschaftlichen Regelsystemen gekommen. Kritisiert wurde insbesondere die Unterbringung behinderter Menschen in Institutionen, denen ein „totaler Charakter" (Goffman) attestiert wurde. Das betraf vor allem staatliche Behindertenanstalten. Hierzulande war die Kritik an der Institutionalisierung verhaltener, da kirchliche Anstalten im Versorgungssystem behinderter Menschen die dominierende Rolle spielten, die sich durch eine christlich geprägte Philosophie von den staatlichen Institutionen (z.B. psychiatrischen Landeskrankenhäusern) abzuheben versuchten. Die Auseinandersetzung wurde dabei von betroffenen Menschen, von ihren Eltern und Familien sowie von engagierten Fachwissenschaftlern, Professionellen und Bürgerrechtlern geführt.
Hier setzte eine dritte Phase der Entwicklung an, die Bürli als Phase der Integration bezeichnet. Menschen mit Behinderung wurden zwar immer noch als „defizitär ausgestattet" beschrieben, es wurde jedoch nunmehr erkannt, dass die diagnostizierten Defizite durch Förderung soweit reduzierbar seien, dass Menschen mit Behinderung an normale Lebensbedingungen herangeführt werden können. Dies war die Stunde der heilpädagogischen Förderung.
Inzwischen beginnt eine vierte Phase Kontur zu bekommen, deren Leitbegriff Inklusion heißt. Sie hat ihren Ausgangspunkt in der Kritik an der Priorisierung von Eigeninteressen der Kostenträger, Wohlfahrtsverbände und Organisationen der Behindertenhilfe sowie einer Fremdbestimmung durch die heilpädagogische Helferkultur. Stattdessen wird ein Autonomie-Modell eingefordert, das sich auf die Rechte-Perspektive behinderter Menschen (Menschen-und Bürgerrechte) bezieht. Im Kern geht es hierbei ganz im Sinne von Empowerment um einen Wechsel der Zuständigkeit und Umverteilung von Macht, indem behinderte Menschen als „Experten in eigener Sache" selbst darüber entscheiden möchten, was für sie gut, sinnvoll und hilfreich ist und was nicht (Theunissen 2009). Die Vorstellungen in Bezug auf Arbeiten und Wohnen im Erwachsenenalter sind dabei eindeutig: Kein Arbeiten in Sondereinrichtungen, sondern Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt und keine Unterbringung in stationären Einrichtungen, sondern ein Leben in kleinen, gemeindeintegrierten Wohnungen, die mit einer Öffnung nach außen als Ort des gesellschaftlichen Zusammenlebens betrachtet werden. Das Paradigma der Inklusion geht davon aus, dass Menschen mit Behinderung sehr wohl in der Lage sind, trotz ihrer Behinderung, aber auch mit daraus erwachsenden spezifischen Fähigkeiten an normalen Lebensbedingungen in den gesellschaftlichen Regelsystemen teilzuhaben, dass sie ein Recht haben auf ein selbstständiges und selbst verantwortetes Leben in der Gesellschaft.
Integration - kritisch reflektiert
Der geschilderte Entwicklungsprozess hat insbesondere unter dem Stichwort der gesellschaftlichen Integration einen hohen Bekanntheitsgrad. Unzweifelhaft handelt es sich hierbei um ein wichtiges Leitprinzip, das angesichts des Wohnens und Arbeitens vieler Menschen mit Lernschwierigkeiten in großen Institutionen bis heute seine Bedeutung hat. Allerdings sind im Zuge der Integration mehrere Probleme deutlich geworden, die zur Weiterentwicklung und Neubestimmung des Konzepts geführt haben. Im Folgenden werden einige Probleme genannt:
1. Integration als Eingliederung
Bis heute wird unter Integration zumeist nur eine strukturelle Eingliederung in die Gesellschaft verstanden. Dabei handelt es sich um ein Input-Prinzip, bei dem anstelle abseits gelegener Einrichtungen auf der grünen Wiese oder auf dem Lande Wohnangebote möglichst innerhalb einer Gemeinde und Arbeitsangebote auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt geschaffen werden. Wir können dieses Prinzip auch als räumliche Integration bezeichnen, die aber noch kein Garant dafür ist, dass eine funktionale Integration stattfindet, indem Menschen mit Lernschwierigkeiten allgemeine Dienstleistungsangebote nutzen, am gesellschaftlichen Leben partizipieren und sich soziokulturell integriert erleben. Was nutzt es einem behinderten Menschen, wenn er zwar räumlich integriert in einem Wohnheim oder einer Wohngemeinschaft lebt, aber kaum Kontakt zu seiner Außenwelt hat und ihm das Leben in der Gesellschaft fremd bleibt?
2. Dekapitierter Integrationsbegriff und Vernachlässigung des Kontextes
Abgeleitet vom lateinischen „integrare" kann Integration mit „heil, unversehrt machen, wiederherstellen, ergänzen" (Duden 1997, 308) in Verbindung gebracht werden. Oder anders gesagt: Integration bedeutet die Wiederherstellung eines Ganzen. Demzufolge handelt es sich bei der Auslegung von Integration als Eingliederung um ein verkürztes Begriffsverständnis, welches die innere und äußere Wiederherstellung eines Ganzen ignoriert.
Die Reduktion des Integrationsbegriffs auf strukturelle Eingliederung führt auf handlungspraktischer Ebene zur Vernachlässigung des Kontextes. Das gilt zum Beispiel für alle Wohnkonzepte, die nur auf die Schaffung von räumlich integriertem Wohnraum hinauslaufen, ohne dabei infrastrukturelle, soziale und kulturelle Bedingungen sowie eine Vernetzung und Einbettung der Wohnformen in einem eng umschriebenen Sozialraum (Stadtteil, Wohnviertel) zu beachten. Vernetzung und Einbettung ist weitaus mehr als bloße Eingliederung nach dem Input-Prinzip. Auch in Bezug auf Werkstätten für behinderte Menschen wird nicht selten der Kontext vernachlässigt, wenn sie abseits gelegen und mit öffentlichen Verkehrsmitteln schwer zugänglich sind. Das hat unter anderem die Konsequenz, dass potenzielle Selbstfahrer daran gehindert werden, ihre Selbstständigkeit durch Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel beständig unter Beweis zu stellen.
3. Zwei-Welten-Theorie
Des Weiteren wird durch die Reduktion des Integrationsbegriffs auf Eingliederung letztlich die Vorstellung zum Ausdruck gebracht, dass es zwei Welten gibt: zum einen die Welt der nichtbehinderten Menschen und zum anderen die der behinderten Personen. Die Welt der nichtbehinderten Menschen gilt als Normalität und wird durch das Input-Prinzip der Eingliederung zur Norm für Personen mit Behinderungen erklärt. Wir stoßen hier auf das Problem der Anpassung behinderter Menschen an Normen und Werte einer Gesellschaft aus nichtbehinderten Menschen. Zugleich wird durch das dekapitierte Integrationsverständnis das Trennende betont und eine systemökologische Sicht und Praxis der Integration, die das Ganze durch beidseitige Anpassungsprozesse sowie durch die Akzeptanz von Differenz und eines „Lebens im Plural" (Welsch) im Blick hat, vernachlässigt.
4. Integration durch vorausgegangene Segregation
Die bisherigen Ausführungen lassen erkennen, dass Integration im Sinne von Eingliederung eine vorausgegangene Ausgrenzung voraussetzt. Anders gesagt: Es wird davon ausgegangen und zugleich hingenommen, dass Menschen mit Behinderungen zunächst einmal aus dem allgemeinen gesellschaftlichen Lebensraum ausgegrenzt werden, in dem sie dann später mit Blick auf das Wohnen wieder eingegliedert werden sollen. In einer ähnlichen Bahn bewegt sich der Integrationsbegriff im Sinne der Wiederherstellung des Ganzen. Auch hier werden Störungen, Beeinträchtigungen oder Ausgrenzungen als Ausgangspunkt für ein „Heil-oder Unversehrtmachen" zugrunde gelegt.
5. Top-down-Praxis und Profizentrierung
Typisch für die Integration als Eingliederungsprinzip ist die Gepflogenheit, vom grünen Tisch aus Angebote zu planen und zu implementieren. Eine solche Topdown- Praxis geht nicht selten an den Interessen von Menschen mit Behinderungen oder Lernschwierigkeiten vorbei. Das gilt gleichfalls für die Helferzentrierung, die mit der Top-down-Praxis eng verknüpft ist. Zumeist sind es Organisationen, Funktionäre, Sachbearbeiter und Professionelle, die das Sagen haben und eigene Interessen bei der Entwicklung und Schaffung von Angeboten in einer Gemeinde geschickt einzubringen wissen. Welche Folgen z.B. entsprechende Wohnkonzepte haben können, zeigen einige Maßnahmen der Deinstitutionalisierung aus dem westlichen Ausland auf, die als Top-down-Reformen unbedacht realisiert wurden und in vielerlei Hinsicht skandalös waren (vgl. Dalferth 1999; Theunissen 2009, 378f.). Aber auch hierzulande gibt es Negativbeispiele, wenn beispielsweise anstelle einer Enthospitalisierung eine Umhospitalisierung betrieben wurde (vgl. Theunissen 2007).
6. Selektion und Ausgrenzung
Zudem scheint vielerorts die Vorstellung noch weit verbreitet zu sein, dass die Integration durch unterstütztes (sog. betreutes) Einzel-, Paar-oder Gruppenwohnen nur für behinderte Menschen mit einem relativ hohen Grad an Selbstständigkeit in Betracht zu ziehen sei. Menschen mit schweren (kognitiven) Beeinträchtigungen gehören demnach ins Heim, und bei einem hohen pflegerischen Assistenzbedarf werden zumindest von Kostenträgern Unterbringungsformen (Pflegeheime, Pflegegruppen bzw. eingestreute Pflegeplätze in Großeinrichtungen) unter der Regie der Pflegeversicherung favorisiert. Dass hier nahtlos an das eingangs skizzierte ZweiKlassen- System angeknüpft wird, ist unschwer zu erkennen. Letztlich tritt eine Eingliederungspraxis in Kraft, die zwischen „integrationsfähigen" und „integrationsunfähigen" Personen differenziert und damit eine Selektion und Ausgrenzung betreibt. Diesem Problem begegnen wir gleichfalls im Bereich der Werkstätten für behinderte Menschen, wo vor dem Hintergrund der Aufnahmebedingungen, die besser als Ausschlusskriterien bezeichnet werden sollten, zwischen „werkstattfähigen" und „arbeits-bzw. integrationsunfähigen" Personen unterschieden wird.
7. Ergänzende Angebote
Die etymologische Bedeutung von Integration verweist auch auf ein Ergänzungsprinzip. Diesem wird in der Tat Rechnung getragen, wenn unter dem Etikett der gesellschaftlichen Integration Wohnformen wie das unterstützte (sog. betreute) Einzel-, Paar-oder Gruppenwohnen nicht als zeitgemäße Ablöse-, Nachfolge- und Regelsysteme, sondern nur als Alternativ-oder Ergänzungsangebote zu einem Wohnheim, einer Anstalt oder einer Komplexeinrichtung betrachtet werden. Gleichfalls gelten Werkstätten für behinderte Menschen als „Regelsysteme" und Außenarbeitsplätze, Außengruppen oder Formen unterstützter Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt als additive Angebote. So wird am Behinderungsbild und an der davon abgeleiteten Notwendigkeit einer Besonderung festgehalten, was letztlich die Institutionalisierung von Menschen mit Behinderungen aufrechterhält.
Inklusion - kontrapunktisch aufbereitet
All diese Probleme sind mittlerweile erkannt worden und sollen nunmehr durch eine Praxis der Inklusion überwunden werden. Was aber bedeutet Inklusion?
Der Begriff der Inklusion stammt aus dem angloamerikanischen Sprachraum, vor allem aus Nordamerika. Nicht selten wird er mit „Nicht-Aussonderung" oder „unmittelbare Zugehörigkeit" übersetzt oder in Verbindung gebracht. Um einen Zugang zu Vorstellungen zu finden, die mit dem Begriff der Inklusion einhergehen, macht es Sinn, das Statement der US-amerikanischen Organisation The Arc of New Jersey (1995) aufzugreifen (zit. nach Theunissen 2009, 17f.):
„Alle Menschen, mit oder ohne Behinderung, haben das Recht auf eine volle Zugehörigkeit in unterschiedlichsten Gemeinschaften.
Kinder mit intellektueller Behinderung sollten:
- in ihrer Familie leben
- sich in ihrer Persönlichkeit entfalten und lebendige Beziehungen innerhalb und außerhalb ihrer Familie pflegen können
- in ihrer Nachbarschaft, im Kindergarten wie auch in regulären Schulklassen mit nicht behinderten Kindern gemeinsam spielen und lernen können
- an Gemeinschafts-oder Freizeitaktivitäten partizipieren können.
Erwachsene mit intellektueller Behinderung sollten Möglichkeiten haben:
- für eine größtmögliche Kontrolle ihres eigenen Lebens
- für Partnerschaften, Freundschaften oder Lebensgemeinschaften
- in einem eigenen Zuhause zu leben
- einer für sie bedeutungsvollen Arbeit nachgehen zu können, die angemessen bezahlt wird
- an Freizeitaktivitäten zu partizipieren und sich zu erfreuen
- ein spirituelles (religiöses) Leben zu pflegen
Unterstützungsleistungen, die Menschen mit intellektueller Behinderung benötigen, sollten ihnen in ihrem eigenen Zuhause wie auch in den Gemeinschaften, wo sie leben, lernen, arbeiten und spielen, zusammen mit nicht behinderten Menschen angeboten werden."
Dieses Statement, das bereits Mitte der 1990er Jahre formuliert wurde, kann als ein Empowerment-Zeugnis engagierter Eltern-und Behinderten-Bewegungen betrachtet werden und wird heute von breiten Teilen der US-amerikanischen Fachwelt gestützt. Den wohl entscheidenden Ausgangspunkt für Inklusion als Leitidee der Behindertenarbeit bildeten politische Aktionen und Initiativen von behinderten Menschen und ihren Angehörigen, die unter der Flagge des Empowerment vor nahezu 40 Jahren für Selbstbestimmung, rechtliche Gleichheit und Anerkennung behinderter Menschen als Bürger, für soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche Teilhabe kämpften (dazu Theunissen 2009). Neben der Einführung der Schulpflicht für alle, dem Recht behinderter Kinder auf „inclusive education" unter „least restrictive environments" (auf Erziehung und Bildung im allgemeinen Bildungssystem), gilt der 1990 vom US-Kongress verabschiedete „The Americans with Disabilities Act" (ADA) als große Errungenschaft der Betroffenen-Bewegungen. Dieses Gesetz verbietet jede Form von Diskriminierung behinderter Menschen sowohl in öffentlichen Einrichtungen als auch im privaten Arbeits-und Dienstleistungsbereich.
Interessant ist nunmehr die Frage nach der politischen und praktischen Bedeutung von Inklusion. Handelt es sich bei der Inklusion tatsächlich um eine Weiterentwicklung des Integrationsgedankens, um eine Antwort auf Schwächen oder Fehlentwicklungen der Integrationspraxis, um eine optimierte, von Problemen beseitigte Integration? Oder geht es bei der Inklusion gar um etwas völlig Neues? Oder handelt es sich - wie manche Kritiker behaupten - nur um einen euphemistischen Etikettenaustausch, um einen Modebegriff, der letztlich nichts anderes bedeutet als Integration?
Um Antworten zu finden, bietet es sich an, einige zentrale Aspekte herauszustellen, die unter Inklusion diskutiert werden:
1. Recht auf Zugehörigkeit, Selbstbestimmung und Partizipation
Das Wort Inklusion stammt vom lateinischen Verb „includere" (einschließen) und wird mit dem Adjektiv „inclusivus" (eingeschlossen) sowie der Adverbform „inclusive" (einschließlich, inbegriffen) in Verbindung gebracht (Duden 1997, 306). Diese Wortbedeutung liegt dem Verständnis einer Gesellschaft zugrunde, in der jeder Mensch das Recht hat, als vollwertiges und gleichberechtigtes Mitglied anerkannt zu werden. Mit dieser Anerkennung geht zugleich das Recht auf Selbstbestimmung und Partizipation am gesellschaftlichen Leben einher. Diese Rechte- Perspektive verpflichtet zugleich die Gesellschaft, dafür Sorge zu tragen, dass keine Aussonderung oder Benachteiligung von Menschen stattfindet und dass diejenigen, die hilfebedürftig sind, angemessene Unterstützung erfahren. Inklusion als unmittelbare Zugehörigkeit bezieht sich dabei nicht etwa nur auf Menschen mit Behinderungen, sondern sie hat ebenso andere Gruppen im Blick, die allzu leicht marginalisiert, ausgegrenzt und benachteiligt werden, zum Beispiel Menschen mit psychischen Behinderungen, ältere Mitbürger, kinderreiche Familien, Alleinerziehende, Familien und Kinder mit Migrationshintergrund.
2. Akzeptanz von Heterogenität und Individualität
Vor diesem Hintergrund wird unter der Leitidee der Inklusion das Leben in einer multikulturellen Gesellschaft in den Blick genommen, in der die Verschiedenheit von Menschen und die Verwirklichung individueller Lebensentwürfe in einem sozial verträglichen Ganzen akzeptiert und unterstützt wird. Wir haben es hier mit einer Vision einer Gesellschaft zu tun, in der alle ihre Mitglieder in ihrem So-Sein wertgeschätzt werden, in der jeder als zugehörig betrachtet wird und sich sozial angenommen und wohlfühlen soll. Als erstrebenswert können unter diesem Blickwinkel Konzepte betrachtet werden, die ein Wohnen in Autonomie und ggf. mit Unterstützung in Mehrgenerationenwohnanlagen fördern. Ebenso hat hier die Bewegung Community Care (Maas 2006) ihren Platz. Im Hinblick auf eine Teilhabe am Arbeitsleben spielen Ansätze der Unterstützten Beschäftigung (supported employment) oder auch das Konzept der Virtuellen Werkstatt die zentrale Rolle.
3. Barrierefreiheit
Die Vorstellung eines Lebens in Inklusion oder einer inklusiven Kultur ist an die Voraussetzung geknüpft, dass allen Mitgliedern einer Gesellschaft wichtige soziale und kulturelle Systeme (z.B. allgemeine Bildungseinrichtungen und Dienstleistungen, Arbeitsplätze in regulären Betrieben) verfügbar und zugänglich sein müssen. Wir haben es hier mit dem Leitprinzip der Barrierefreiheit zu tun, welches für ein Leben in Inklusion unabdingbar ist. Mit dem ADA in den USA, dem Antidiskriminierungsgrundsatz in unserem Grundgesetz, der Erarbeitung länderbezogener Antidiskriminierungsgesetze sowie dem allgemeinen Schutz vor Diskriminierung im Zivilrecht wurden die Weichen für eine Barrierefreiheit rechtlich kodifiziert. Nun kommt es darauf an, ihr auch tatsächlich Rechnung zu tragen.
4. Kontextuelle Veränderungen und Anpassungen
Um Barrierefreiheit zu schaffen, müssen die Strukturen, Institutionen und Dienstleistungsagenturen der Gesellschaft so verändert werden, dass sie den Rechten, Interessen und Bedürfnissen aller Mitglieder einer Gesellschaft entsprechen können. Inklusion lenkt somit den Blick auf strukturelle oder institutionelle Veränderungen, um jedem Menschen die uneingeschränkte Partizipation an gesellschaftlichen Aktivitäten und Bezügen zu ermöglichen. Bei der Integration ging es hingegen primär um die Anpassung des Einzelnen an die Gesellschaft. Dieser Aspekt wird durch das Unterstützungsprinzip im Rahmen von Inklusion nicht gänzlich außer Kraft gesetzt. Allerdings wird er nicht isoliert betrachtet, sondern systemökologisch, in der Reflexion und im Zusammenhang von kontextuellen Bezügen, aufbereitet.
5. Nicht-Aussonderung und Ressourcenorientierung
Durch diese Form gegenseitiger Anpassung gelingt es, Prozesse einer Selektion und Separation zu vermeiden. Folgerichtig ist dem Inklusionsparadigma der Begriff der „Integrationsunfähigkeit" fremd - unabhängig von der Schwere einer Beeinträchtigung oder Pflegebedürftigkeit gilt es, jedem Menschen Inklusion zu ermöglichen. Hierzu ist es unabdingbar, individuelle und soziale Ressourcen zu erschließen und zu nutzen.
Indem individuelle Ressourcen fokussiert werden, zum Beispiel Stärken, Potenziale, Fähigkeiten und Fertigkeiten, wird zugleich dem defizitorientierten Behinderungsbild, wie es im Konzept der Integration noch durchschimmert, eine unmissverständliche Absage erteilt. Stattdessen wird ein positives Menschenbild zugrunde gelegt, welches jeder Person Stärken zuschreibt, die es für ein Leben in Inklusion zu aktivieren und zu unterstützen gilt. Hierzu führen uns Smith, Belcher und Juhrs (2000) bemerkenswerte Ressourcen von Menschen mit autistischen Störungen und Lernschwierigkeiten im Hinblick auf Möglichkeiten einer Unterstützten Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vor Augen, zum Beispiel exzellente Merkfähigkeiten, ritualisierte Handlungen mit hoher Präzision und Zuverlässigkeit u.a.
Ein Leben in Inklusion kann nur dann gedeihen, wenn neben den individuellen auch soziale Ressourcen ausfindig gemacht, mobilisiert und gewürdigt werden. Das Spektrum sozialer Ressourcen ist breit: Familienstrukturen, milieuspezifische Lebensformen, Bräuche, Traditionen, Freundeskreise, Bekanntschaften, Nachbarschaften, Bereitschaft für bürgerschaftliches Engagement, Freiwilligenagenturen, Seniorenbüros, Bürgertreffs, Bürgervereine, Kirchengemeinde, Tagesstätten, Assistenzzentralen, Serviceangebote, Ambulanzen, nichtbehinderte Arbeitskollegen, die als Mentoren fungieren etc. Aus dieser Vielfalt gilt es ein persönliches Netzwerk zu knüpfen. Eine prominente Rolle als soziale Ressource spielt hierbei auch die Verschiedenheit in der Gemeinschaft, indem zum Beispiel intergenerative und interpersonelle Potenziale, Lebenswelten und Gestaltungsformen für ein Leben in Inklusion gefördert und genutzt werden. Dies alles macht freilich nur dann Sinn, wenn soziale Ressourcen als valide und hilfreiche Unterstützungsangebote erlebt werden und wirksam sind. Soziale Ressourcen und heterogene Gemeinschaften sind nämlich nicht per se schützend, unterstützend und persönlichkeitsfördernd.
6. Bürgerzentrierung
Um zu einem tragfähigen Netzwerk für ein Leben in Inklusion zu gelangen, bedarf es einer bürgerzentrierten Arbeit. Ihr Adressat sind in erster Linie Bürger, die für andere als informelle Unterstützer angesprochen werden sollen oder sich bereits mit ihren Stärken, Ressourcen und Kompetenzen als freiwillige Helfer anbieten. Eine wesentliche Aufgabe für die Behindertenhilfe bezieht sich auf die Sensibilisierung nichtbehinderter Bürger, Menschen mit Lernschwierigkeiten oder Behinderungen als Mitbürger zu akzeptieren und schätzen zu lernen (z.B. über bürgerzentrierte Aktionsprogramme wie „IncludCity" in Köln; www.includcity.de). Ein solches Programm kann, wie die Kontakthypothese belegt (Cloerkes 2001), am ehesten fruchtbar werden, wenn die Heterogenität in der Gemeinschaft, soziale Kontakte und ein gemeinsames Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderungen, verschiedener Herkunft oder unterschiedlichen Alters in qualitativer Hinsicht gefördert und letztendlich gelebt werden.
7. Kontextorientierung
Es wäre ein eklatantes Missverständnis, Aufgaben der Netzwerkförderung und Bürgerzentrierung nur als Beiwerk oder Ergänzung eines Wohnkonzepts zu betrachten. Im Gegenteil: Ein Wohnen in Inklusion verlangt ein Konzept, das den Kontext, das Umfeld, Bezugs-und Umkreispersonen mit einbezieht. Das Scheitern mancher gut gemeinten Reformen oder Integrationsprojekte war gerade dem Fehlen einer Kontextorientierung geschuldet. Sie ist mit ein Garant dafür, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten oder Behinderungen informelle Unterstützung erfahren, wenn sie Hilfe benötigen, sich in ihrem sozialen Umfeld zurecht finden und wohlfühlen sowie am soziokulturellen Leben partizipieren können. In der Praxis der Inklusion findet die Kontextorientierung im Rahmen der Erstellung persönlicher Zukunfts-oder Lebensstilpläne (person-centered lifestyle-planning) Eingang, indem infrastrukturelle Bedingungen, Umweltbarrieren und Umfeldressourcen aufbereitet werden.
8. Überwindung der Zwei-Welten-Theorie
Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass ein Leben in Inklusion die Zwei-Welten- Theorie obsolet werden lässt. Vielmehr haben wir es mit einer Vielzahl an heterogenen Lebenswelten zu tun, die allesamt ein Ganzes bilden, welches Pluralität als Normalität betrachtet. Auf diese Weise gelingt es, eng gestrickte Anpassungszwänge zu vermeiden und ein Höchstmaß an Selbstbestimmung, Individualität und Bedürfnisbefriedigung zu erreichen - dies unter der Voraussetzung, dass persönliche Lebensentwürfe nicht in eine soziale Gleichgültigkeit, Verantwortungslosigkeit der Mitwelt gegenüber oder Asozialität entgleiten. Menschen-und Bürgerrechte können an dieser Stelle als regulatives Moment betrachtet werden, welches den Rahmen für ein selbstbestimmtes Leben in Inklusion absteckt.
Copyright © 2012 W. Kohlhammer, Stuttgart
In der zweiten Phase, die Bürli als Phase der Segregation bezeichnet, wurden Menschen mit Behinderung zwar weiterhin als krank, behandlungs-und versorgungsbedürftig bezeichnet, dem Fürsorgeansatz folgend wurden für sie aber nunmehr eigene, abgetrennte Sozialisationseinrichtungen geschaffen, in denen sie gefördert werden konnten. Diese Phase war gekennzeichnet durch die in der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts forcierte Institutionalisierung von Menschen mit Behinderungen. Damals war es in vielen Industrienationen zu zahlreichen Heim-oder Anstaltsgründungen gekommen. Die Beweggründe dafür waren recht unterschiedlich. Neben den christlichen Impulsen der Nächstenliebe und Barmherzigkeit ging es um „Heilung" und Erziehung zur „Brauchbarkeit" für die Gesellschaft. Dabei zeigte sich jedoch, dass es behinderte Menschen gab, die die Anforderungen nicht oder kaum erfüllen konnten und diese Erfahrung förderte die Vorstellung, dass es sinnvoll sei, das Heim-und Anstaltswesen in Anstalten oder Abteilungen für „bildbare" Personen auf der einen Seite und in Pflegeheime oder Pflegeabteilungen für „bildungs-und erziehungsunfähige" Menschen auf der anderen zu differenzieren.
Im 20. Jahrhundert wurde weltweit dieses von der Psychiatrie gestützte ZweiKlassen- System zunächst uneingeschränkt fortgeschrieben (s. Theunissen 2005). Allerdings war es in einigen hoch entwickelten Industrienationen (USA, skandinavische Länder) alsbald zu scharfer Kritik am Ausschluss der Menschen mit Behinderung von der Teilhabe an gesellschaftlichen Regelsystemen gekommen. Kritisiert wurde insbesondere die Unterbringung behinderter Menschen in Institutionen, denen ein „totaler Charakter" (Goffman) attestiert wurde. Das betraf vor allem staatliche Behindertenanstalten. Hierzulande war die Kritik an der Institutionalisierung verhaltener, da kirchliche Anstalten im Versorgungssystem behinderter Menschen die dominierende Rolle spielten, die sich durch eine christlich geprägte Philosophie von den staatlichen Institutionen (z.B. psychiatrischen Landeskrankenhäusern) abzuheben versuchten. Die Auseinandersetzung wurde dabei von betroffenen Menschen, von ihren Eltern und Familien sowie von engagierten Fachwissenschaftlern, Professionellen und Bürgerrechtlern geführt.
Hier setzte eine dritte Phase der Entwicklung an, die Bürli als Phase der Integration bezeichnet. Menschen mit Behinderung wurden zwar immer noch als „defizitär ausgestattet" beschrieben, es wurde jedoch nunmehr erkannt, dass die diagnostizierten Defizite durch Förderung soweit reduzierbar seien, dass Menschen mit Behinderung an normale Lebensbedingungen herangeführt werden können. Dies war die Stunde der heilpädagogischen Förderung.
Inzwischen beginnt eine vierte Phase Kontur zu bekommen, deren Leitbegriff Inklusion heißt. Sie hat ihren Ausgangspunkt in der Kritik an der Priorisierung von Eigeninteressen der Kostenträger, Wohlfahrtsverbände und Organisationen der Behindertenhilfe sowie einer Fremdbestimmung durch die heilpädagogische Helferkultur. Stattdessen wird ein Autonomie-Modell eingefordert, das sich auf die Rechte-Perspektive behinderter Menschen (Menschen-und Bürgerrechte) bezieht. Im Kern geht es hierbei ganz im Sinne von Empowerment um einen Wechsel der Zuständigkeit und Umverteilung von Macht, indem behinderte Menschen als „Experten in eigener Sache" selbst darüber entscheiden möchten, was für sie gut, sinnvoll und hilfreich ist und was nicht (Theunissen 2009). Die Vorstellungen in Bezug auf Arbeiten und Wohnen im Erwachsenenalter sind dabei eindeutig: Kein Arbeiten in Sondereinrichtungen, sondern Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt und keine Unterbringung in stationären Einrichtungen, sondern ein Leben in kleinen, gemeindeintegrierten Wohnungen, die mit einer Öffnung nach außen als Ort des gesellschaftlichen Zusammenlebens betrachtet werden. Das Paradigma der Inklusion geht davon aus, dass Menschen mit Behinderung sehr wohl in der Lage sind, trotz ihrer Behinderung, aber auch mit daraus erwachsenden spezifischen Fähigkeiten an normalen Lebensbedingungen in den gesellschaftlichen Regelsystemen teilzuhaben, dass sie ein Recht haben auf ein selbstständiges und selbst verantwortetes Leben in der Gesellschaft.
Integration - kritisch reflektiert
Der geschilderte Entwicklungsprozess hat insbesondere unter dem Stichwort der gesellschaftlichen Integration einen hohen Bekanntheitsgrad. Unzweifelhaft handelt es sich hierbei um ein wichtiges Leitprinzip, das angesichts des Wohnens und Arbeitens vieler Menschen mit Lernschwierigkeiten in großen Institutionen bis heute seine Bedeutung hat. Allerdings sind im Zuge der Integration mehrere Probleme deutlich geworden, die zur Weiterentwicklung und Neubestimmung des Konzepts geführt haben. Im Folgenden werden einige Probleme genannt:
1. Integration als Eingliederung
Bis heute wird unter Integration zumeist nur eine strukturelle Eingliederung in die Gesellschaft verstanden. Dabei handelt es sich um ein Input-Prinzip, bei dem anstelle abseits gelegener Einrichtungen auf der grünen Wiese oder auf dem Lande Wohnangebote möglichst innerhalb einer Gemeinde und Arbeitsangebote auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt geschaffen werden. Wir können dieses Prinzip auch als räumliche Integration bezeichnen, die aber noch kein Garant dafür ist, dass eine funktionale Integration stattfindet, indem Menschen mit Lernschwierigkeiten allgemeine Dienstleistungsangebote nutzen, am gesellschaftlichen Leben partizipieren und sich soziokulturell integriert erleben. Was nutzt es einem behinderten Menschen, wenn er zwar räumlich integriert in einem Wohnheim oder einer Wohngemeinschaft lebt, aber kaum Kontakt zu seiner Außenwelt hat und ihm das Leben in der Gesellschaft fremd bleibt?
2. Dekapitierter Integrationsbegriff und Vernachlässigung des Kontextes
Abgeleitet vom lateinischen „integrare" kann Integration mit „heil, unversehrt machen, wiederherstellen, ergänzen" (Duden 1997, 308) in Verbindung gebracht werden. Oder anders gesagt: Integration bedeutet die Wiederherstellung eines Ganzen. Demzufolge handelt es sich bei der Auslegung von Integration als Eingliederung um ein verkürztes Begriffsverständnis, welches die innere und äußere Wiederherstellung eines Ganzen ignoriert.
Die Reduktion des Integrationsbegriffs auf strukturelle Eingliederung führt auf handlungspraktischer Ebene zur Vernachlässigung des Kontextes. Das gilt zum Beispiel für alle Wohnkonzepte, die nur auf die Schaffung von räumlich integriertem Wohnraum hinauslaufen, ohne dabei infrastrukturelle, soziale und kulturelle Bedingungen sowie eine Vernetzung und Einbettung der Wohnformen in einem eng umschriebenen Sozialraum (Stadtteil, Wohnviertel) zu beachten. Vernetzung und Einbettung ist weitaus mehr als bloße Eingliederung nach dem Input-Prinzip. Auch in Bezug auf Werkstätten für behinderte Menschen wird nicht selten der Kontext vernachlässigt, wenn sie abseits gelegen und mit öffentlichen Verkehrsmitteln schwer zugänglich sind. Das hat unter anderem die Konsequenz, dass potenzielle Selbstfahrer daran gehindert werden, ihre Selbstständigkeit durch Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel beständig unter Beweis zu stellen.
3. Zwei-Welten-Theorie
Des Weiteren wird durch die Reduktion des Integrationsbegriffs auf Eingliederung letztlich die Vorstellung zum Ausdruck gebracht, dass es zwei Welten gibt: zum einen die Welt der nichtbehinderten Menschen und zum anderen die der behinderten Personen. Die Welt der nichtbehinderten Menschen gilt als Normalität und wird durch das Input-Prinzip der Eingliederung zur Norm für Personen mit Behinderungen erklärt. Wir stoßen hier auf das Problem der Anpassung behinderter Menschen an Normen und Werte einer Gesellschaft aus nichtbehinderten Menschen. Zugleich wird durch das dekapitierte Integrationsverständnis das Trennende betont und eine systemökologische Sicht und Praxis der Integration, die das Ganze durch beidseitige Anpassungsprozesse sowie durch die Akzeptanz von Differenz und eines „Lebens im Plural" (Welsch) im Blick hat, vernachlässigt.
4. Integration durch vorausgegangene Segregation
Die bisherigen Ausführungen lassen erkennen, dass Integration im Sinne von Eingliederung eine vorausgegangene Ausgrenzung voraussetzt. Anders gesagt: Es wird davon ausgegangen und zugleich hingenommen, dass Menschen mit Behinderungen zunächst einmal aus dem allgemeinen gesellschaftlichen Lebensraum ausgegrenzt werden, in dem sie dann später mit Blick auf das Wohnen wieder eingegliedert werden sollen. In einer ähnlichen Bahn bewegt sich der Integrationsbegriff im Sinne der Wiederherstellung des Ganzen. Auch hier werden Störungen, Beeinträchtigungen oder Ausgrenzungen als Ausgangspunkt für ein „Heil-oder Unversehrtmachen" zugrunde gelegt.
5. Top-down-Praxis und Profizentrierung
Typisch für die Integration als Eingliederungsprinzip ist die Gepflogenheit, vom grünen Tisch aus Angebote zu planen und zu implementieren. Eine solche Topdown- Praxis geht nicht selten an den Interessen von Menschen mit Behinderungen oder Lernschwierigkeiten vorbei. Das gilt gleichfalls für die Helferzentrierung, die mit der Top-down-Praxis eng verknüpft ist. Zumeist sind es Organisationen, Funktionäre, Sachbearbeiter und Professionelle, die das Sagen haben und eigene Interessen bei der Entwicklung und Schaffung von Angeboten in einer Gemeinde geschickt einzubringen wissen. Welche Folgen z.B. entsprechende Wohnkonzepte haben können, zeigen einige Maßnahmen der Deinstitutionalisierung aus dem westlichen Ausland auf, die als Top-down-Reformen unbedacht realisiert wurden und in vielerlei Hinsicht skandalös waren (vgl. Dalferth 1999; Theunissen 2009, 378f.). Aber auch hierzulande gibt es Negativbeispiele, wenn beispielsweise anstelle einer Enthospitalisierung eine Umhospitalisierung betrieben wurde (vgl. Theunissen 2007).
6. Selektion und Ausgrenzung
Zudem scheint vielerorts die Vorstellung noch weit verbreitet zu sein, dass die Integration durch unterstütztes (sog. betreutes) Einzel-, Paar-oder Gruppenwohnen nur für behinderte Menschen mit einem relativ hohen Grad an Selbstständigkeit in Betracht zu ziehen sei. Menschen mit schweren (kognitiven) Beeinträchtigungen gehören demnach ins Heim, und bei einem hohen pflegerischen Assistenzbedarf werden zumindest von Kostenträgern Unterbringungsformen (Pflegeheime, Pflegegruppen bzw. eingestreute Pflegeplätze in Großeinrichtungen) unter der Regie der Pflegeversicherung favorisiert. Dass hier nahtlos an das eingangs skizzierte ZweiKlassen- System angeknüpft wird, ist unschwer zu erkennen. Letztlich tritt eine Eingliederungspraxis in Kraft, die zwischen „integrationsfähigen" und „integrationsunfähigen" Personen differenziert und damit eine Selektion und Ausgrenzung betreibt. Diesem Problem begegnen wir gleichfalls im Bereich der Werkstätten für behinderte Menschen, wo vor dem Hintergrund der Aufnahmebedingungen, die besser als Ausschlusskriterien bezeichnet werden sollten, zwischen „werkstattfähigen" und „arbeits-bzw. integrationsunfähigen" Personen unterschieden wird.
7. Ergänzende Angebote
Die etymologische Bedeutung von Integration verweist auch auf ein Ergänzungsprinzip. Diesem wird in der Tat Rechnung getragen, wenn unter dem Etikett der gesellschaftlichen Integration Wohnformen wie das unterstützte (sog. betreute) Einzel-, Paar-oder Gruppenwohnen nicht als zeitgemäße Ablöse-, Nachfolge- und Regelsysteme, sondern nur als Alternativ-oder Ergänzungsangebote zu einem Wohnheim, einer Anstalt oder einer Komplexeinrichtung betrachtet werden. Gleichfalls gelten Werkstätten für behinderte Menschen als „Regelsysteme" und Außenarbeitsplätze, Außengruppen oder Formen unterstützter Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt als additive Angebote. So wird am Behinderungsbild und an der davon abgeleiteten Notwendigkeit einer Besonderung festgehalten, was letztlich die Institutionalisierung von Menschen mit Behinderungen aufrechterhält.
Inklusion - kontrapunktisch aufbereitet
All diese Probleme sind mittlerweile erkannt worden und sollen nunmehr durch eine Praxis der Inklusion überwunden werden. Was aber bedeutet Inklusion?
Der Begriff der Inklusion stammt aus dem angloamerikanischen Sprachraum, vor allem aus Nordamerika. Nicht selten wird er mit „Nicht-Aussonderung" oder „unmittelbare Zugehörigkeit" übersetzt oder in Verbindung gebracht. Um einen Zugang zu Vorstellungen zu finden, die mit dem Begriff der Inklusion einhergehen, macht es Sinn, das Statement der US-amerikanischen Organisation The Arc of New Jersey (1995) aufzugreifen (zit. nach Theunissen 2009, 17f.):
„Alle Menschen, mit oder ohne Behinderung, haben das Recht auf eine volle Zugehörigkeit in unterschiedlichsten Gemeinschaften.
Kinder mit intellektueller Behinderung sollten:
- in ihrer Familie leben
- sich in ihrer Persönlichkeit entfalten und lebendige Beziehungen innerhalb und außerhalb ihrer Familie pflegen können
- in ihrer Nachbarschaft, im Kindergarten wie auch in regulären Schulklassen mit nicht behinderten Kindern gemeinsam spielen und lernen können
- an Gemeinschafts-oder Freizeitaktivitäten partizipieren können.
Erwachsene mit intellektueller Behinderung sollten Möglichkeiten haben:
- für eine größtmögliche Kontrolle ihres eigenen Lebens
- für Partnerschaften, Freundschaften oder Lebensgemeinschaften
- in einem eigenen Zuhause zu leben
- einer für sie bedeutungsvollen Arbeit nachgehen zu können, die angemessen bezahlt wird
- an Freizeitaktivitäten zu partizipieren und sich zu erfreuen
- ein spirituelles (religiöses) Leben zu pflegen
Unterstützungsleistungen, die Menschen mit intellektueller Behinderung benötigen, sollten ihnen in ihrem eigenen Zuhause wie auch in den Gemeinschaften, wo sie leben, lernen, arbeiten und spielen, zusammen mit nicht behinderten Menschen angeboten werden."
Dieses Statement, das bereits Mitte der 1990er Jahre formuliert wurde, kann als ein Empowerment-Zeugnis engagierter Eltern-und Behinderten-Bewegungen betrachtet werden und wird heute von breiten Teilen der US-amerikanischen Fachwelt gestützt. Den wohl entscheidenden Ausgangspunkt für Inklusion als Leitidee der Behindertenarbeit bildeten politische Aktionen und Initiativen von behinderten Menschen und ihren Angehörigen, die unter der Flagge des Empowerment vor nahezu 40 Jahren für Selbstbestimmung, rechtliche Gleichheit und Anerkennung behinderter Menschen als Bürger, für soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche Teilhabe kämpften (dazu Theunissen 2009). Neben der Einführung der Schulpflicht für alle, dem Recht behinderter Kinder auf „inclusive education" unter „least restrictive environments" (auf Erziehung und Bildung im allgemeinen Bildungssystem), gilt der 1990 vom US-Kongress verabschiedete „The Americans with Disabilities Act" (ADA) als große Errungenschaft der Betroffenen-Bewegungen. Dieses Gesetz verbietet jede Form von Diskriminierung behinderter Menschen sowohl in öffentlichen Einrichtungen als auch im privaten Arbeits-und Dienstleistungsbereich.
Interessant ist nunmehr die Frage nach der politischen und praktischen Bedeutung von Inklusion. Handelt es sich bei der Inklusion tatsächlich um eine Weiterentwicklung des Integrationsgedankens, um eine Antwort auf Schwächen oder Fehlentwicklungen der Integrationspraxis, um eine optimierte, von Problemen beseitigte Integration? Oder geht es bei der Inklusion gar um etwas völlig Neues? Oder handelt es sich - wie manche Kritiker behaupten - nur um einen euphemistischen Etikettenaustausch, um einen Modebegriff, der letztlich nichts anderes bedeutet als Integration?
Um Antworten zu finden, bietet es sich an, einige zentrale Aspekte herauszustellen, die unter Inklusion diskutiert werden:
1. Recht auf Zugehörigkeit, Selbstbestimmung und Partizipation
Das Wort Inklusion stammt vom lateinischen Verb „includere" (einschließen) und wird mit dem Adjektiv „inclusivus" (eingeschlossen) sowie der Adverbform „inclusive" (einschließlich, inbegriffen) in Verbindung gebracht (Duden 1997, 306). Diese Wortbedeutung liegt dem Verständnis einer Gesellschaft zugrunde, in der jeder Mensch das Recht hat, als vollwertiges und gleichberechtigtes Mitglied anerkannt zu werden. Mit dieser Anerkennung geht zugleich das Recht auf Selbstbestimmung und Partizipation am gesellschaftlichen Leben einher. Diese Rechte- Perspektive verpflichtet zugleich die Gesellschaft, dafür Sorge zu tragen, dass keine Aussonderung oder Benachteiligung von Menschen stattfindet und dass diejenigen, die hilfebedürftig sind, angemessene Unterstützung erfahren. Inklusion als unmittelbare Zugehörigkeit bezieht sich dabei nicht etwa nur auf Menschen mit Behinderungen, sondern sie hat ebenso andere Gruppen im Blick, die allzu leicht marginalisiert, ausgegrenzt und benachteiligt werden, zum Beispiel Menschen mit psychischen Behinderungen, ältere Mitbürger, kinderreiche Familien, Alleinerziehende, Familien und Kinder mit Migrationshintergrund.
2. Akzeptanz von Heterogenität und Individualität
Vor diesem Hintergrund wird unter der Leitidee der Inklusion das Leben in einer multikulturellen Gesellschaft in den Blick genommen, in der die Verschiedenheit von Menschen und die Verwirklichung individueller Lebensentwürfe in einem sozial verträglichen Ganzen akzeptiert und unterstützt wird. Wir haben es hier mit einer Vision einer Gesellschaft zu tun, in der alle ihre Mitglieder in ihrem So-Sein wertgeschätzt werden, in der jeder als zugehörig betrachtet wird und sich sozial angenommen und wohlfühlen soll. Als erstrebenswert können unter diesem Blickwinkel Konzepte betrachtet werden, die ein Wohnen in Autonomie und ggf. mit Unterstützung in Mehrgenerationenwohnanlagen fördern. Ebenso hat hier die Bewegung Community Care (Maas 2006) ihren Platz. Im Hinblick auf eine Teilhabe am Arbeitsleben spielen Ansätze der Unterstützten Beschäftigung (supported employment) oder auch das Konzept der Virtuellen Werkstatt die zentrale Rolle.
3. Barrierefreiheit
Die Vorstellung eines Lebens in Inklusion oder einer inklusiven Kultur ist an die Voraussetzung geknüpft, dass allen Mitgliedern einer Gesellschaft wichtige soziale und kulturelle Systeme (z.B. allgemeine Bildungseinrichtungen und Dienstleistungen, Arbeitsplätze in regulären Betrieben) verfügbar und zugänglich sein müssen. Wir haben es hier mit dem Leitprinzip der Barrierefreiheit zu tun, welches für ein Leben in Inklusion unabdingbar ist. Mit dem ADA in den USA, dem Antidiskriminierungsgrundsatz in unserem Grundgesetz, der Erarbeitung länderbezogener Antidiskriminierungsgesetze sowie dem allgemeinen Schutz vor Diskriminierung im Zivilrecht wurden die Weichen für eine Barrierefreiheit rechtlich kodifiziert. Nun kommt es darauf an, ihr auch tatsächlich Rechnung zu tragen.
4. Kontextuelle Veränderungen und Anpassungen
Um Barrierefreiheit zu schaffen, müssen die Strukturen, Institutionen und Dienstleistungsagenturen der Gesellschaft so verändert werden, dass sie den Rechten, Interessen und Bedürfnissen aller Mitglieder einer Gesellschaft entsprechen können. Inklusion lenkt somit den Blick auf strukturelle oder institutionelle Veränderungen, um jedem Menschen die uneingeschränkte Partizipation an gesellschaftlichen Aktivitäten und Bezügen zu ermöglichen. Bei der Integration ging es hingegen primär um die Anpassung des Einzelnen an die Gesellschaft. Dieser Aspekt wird durch das Unterstützungsprinzip im Rahmen von Inklusion nicht gänzlich außer Kraft gesetzt. Allerdings wird er nicht isoliert betrachtet, sondern systemökologisch, in der Reflexion und im Zusammenhang von kontextuellen Bezügen, aufbereitet.
5. Nicht-Aussonderung und Ressourcenorientierung
Durch diese Form gegenseitiger Anpassung gelingt es, Prozesse einer Selektion und Separation zu vermeiden. Folgerichtig ist dem Inklusionsparadigma der Begriff der „Integrationsunfähigkeit" fremd - unabhängig von der Schwere einer Beeinträchtigung oder Pflegebedürftigkeit gilt es, jedem Menschen Inklusion zu ermöglichen. Hierzu ist es unabdingbar, individuelle und soziale Ressourcen zu erschließen und zu nutzen.
Indem individuelle Ressourcen fokussiert werden, zum Beispiel Stärken, Potenziale, Fähigkeiten und Fertigkeiten, wird zugleich dem defizitorientierten Behinderungsbild, wie es im Konzept der Integration noch durchschimmert, eine unmissverständliche Absage erteilt. Stattdessen wird ein positives Menschenbild zugrunde gelegt, welches jeder Person Stärken zuschreibt, die es für ein Leben in Inklusion zu aktivieren und zu unterstützen gilt. Hierzu führen uns Smith, Belcher und Juhrs (2000) bemerkenswerte Ressourcen von Menschen mit autistischen Störungen und Lernschwierigkeiten im Hinblick auf Möglichkeiten einer Unterstützten Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vor Augen, zum Beispiel exzellente Merkfähigkeiten, ritualisierte Handlungen mit hoher Präzision und Zuverlässigkeit u.a.
Ein Leben in Inklusion kann nur dann gedeihen, wenn neben den individuellen auch soziale Ressourcen ausfindig gemacht, mobilisiert und gewürdigt werden. Das Spektrum sozialer Ressourcen ist breit: Familienstrukturen, milieuspezifische Lebensformen, Bräuche, Traditionen, Freundeskreise, Bekanntschaften, Nachbarschaften, Bereitschaft für bürgerschaftliches Engagement, Freiwilligenagenturen, Seniorenbüros, Bürgertreffs, Bürgervereine, Kirchengemeinde, Tagesstätten, Assistenzzentralen, Serviceangebote, Ambulanzen, nichtbehinderte Arbeitskollegen, die als Mentoren fungieren etc. Aus dieser Vielfalt gilt es ein persönliches Netzwerk zu knüpfen. Eine prominente Rolle als soziale Ressource spielt hierbei auch die Verschiedenheit in der Gemeinschaft, indem zum Beispiel intergenerative und interpersonelle Potenziale, Lebenswelten und Gestaltungsformen für ein Leben in Inklusion gefördert und genutzt werden. Dies alles macht freilich nur dann Sinn, wenn soziale Ressourcen als valide und hilfreiche Unterstützungsangebote erlebt werden und wirksam sind. Soziale Ressourcen und heterogene Gemeinschaften sind nämlich nicht per se schützend, unterstützend und persönlichkeitsfördernd.
6. Bürgerzentrierung
Um zu einem tragfähigen Netzwerk für ein Leben in Inklusion zu gelangen, bedarf es einer bürgerzentrierten Arbeit. Ihr Adressat sind in erster Linie Bürger, die für andere als informelle Unterstützer angesprochen werden sollen oder sich bereits mit ihren Stärken, Ressourcen und Kompetenzen als freiwillige Helfer anbieten. Eine wesentliche Aufgabe für die Behindertenhilfe bezieht sich auf die Sensibilisierung nichtbehinderter Bürger, Menschen mit Lernschwierigkeiten oder Behinderungen als Mitbürger zu akzeptieren und schätzen zu lernen (z.B. über bürgerzentrierte Aktionsprogramme wie „IncludCity" in Köln; www.includcity.de). Ein solches Programm kann, wie die Kontakthypothese belegt (Cloerkes 2001), am ehesten fruchtbar werden, wenn die Heterogenität in der Gemeinschaft, soziale Kontakte und ein gemeinsames Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderungen, verschiedener Herkunft oder unterschiedlichen Alters in qualitativer Hinsicht gefördert und letztendlich gelebt werden.
7. Kontextorientierung
Es wäre ein eklatantes Missverständnis, Aufgaben der Netzwerkförderung und Bürgerzentrierung nur als Beiwerk oder Ergänzung eines Wohnkonzepts zu betrachten. Im Gegenteil: Ein Wohnen in Inklusion verlangt ein Konzept, das den Kontext, das Umfeld, Bezugs-und Umkreispersonen mit einbezieht. Das Scheitern mancher gut gemeinten Reformen oder Integrationsprojekte war gerade dem Fehlen einer Kontextorientierung geschuldet. Sie ist mit ein Garant dafür, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten oder Behinderungen informelle Unterstützung erfahren, wenn sie Hilfe benötigen, sich in ihrem sozialen Umfeld zurecht finden und wohlfühlen sowie am soziokulturellen Leben partizipieren können. In der Praxis der Inklusion findet die Kontextorientierung im Rahmen der Erstellung persönlicher Zukunfts-oder Lebensstilpläne (person-centered lifestyle-planning) Eingang, indem infrastrukturelle Bedingungen, Umweltbarrieren und Umfeldressourcen aufbereitet werden.
8. Überwindung der Zwei-Welten-Theorie
Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass ein Leben in Inklusion die Zwei-Welten- Theorie obsolet werden lässt. Vielmehr haben wir es mit einer Vielzahl an heterogenen Lebenswelten zu tun, die allesamt ein Ganzes bilden, welches Pluralität als Normalität betrachtet. Auf diese Weise gelingt es, eng gestrickte Anpassungszwänge zu vermeiden und ein Höchstmaß an Selbstbestimmung, Individualität und Bedürfnisbefriedigung zu erreichen - dies unter der Voraussetzung, dass persönliche Lebensentwürfe nicht in eine soziale Gleichgültigkeit, Verantwortungslosigkeit der Mitwelt gegenüber oder Asozialität entgleiten. Menschen-und Bürgerrechte können an dieser Stelle als regulatives Moment betrachtet werden, welches den Rahmen für ein selbstbestimmtes Leben in Inklusion absteckt.
Copyright © 2012 W. Kohlhammer, Stuttgart
... weniger
Autoren-Porträt
Professor Dr. Georg Theunissen ist Ordinarius für Geistigbehindertenpädagogik, Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg.
Bibliographische Angaben
- 2012, 2. Aufl., 254 Seiten, 2 Abbildungen, Maße: 15,4 x 22,8 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Herausgegeben von Schwalb, Helmut; Theunissen, Georg
- Herausgegeben: Georg Theunissen, Helmut Schwalb
- Verlag: Kohlhammer
- ISBN-10: 3170225308
- ISBN-13: 9783170225305
Rezension zu „Inklusion, Partizipation und Empowerment in der Behindertenarbeit “
Prof. Helmut Schwalb lehrte an der Katholischen Hochschule Freiburg. Prof. Dr. Georg Theunissen hat den Lehrstuhl für Geistigbehindertenpädagogik und Pädagogik bei Autismus an der Universität Halle-Wittenberg.
Kommentar zu "Inklusion, Partizipation und Empowerment in der Behindertenarbeit"
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Inklusion, Partizipation und Empowerment in der Behindertenarbeit".
Kommentar verfassen