Irgendwann werden wir uns alles erzählen
Roman
Sommer 1990, ein Bauerndorf nahe der deutsch-deutschen Grenze, die gerade keine mehr ist. In ihrem literarischen Debüt schildert Daniela Krien eine Liebesgeschichte von archaischer Wucht, die Zeitgeschehen und Existentielles auf zwingende Weise miteinander...
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Produktinformationen zu „Irgendwann werden wir uns alles erzählen “
Klappentext zu „Irgendwann werden wir uns alles erzählen “
Sommer 1990, ein Bauerndorf nahe der deutsch-deutschen Grenze, die gerade keine mehr ist. In ihrem literarischen Debüt schildert Daniela Krien eine Liebesgeschichte von archaischer Wucht, die Zeitgeschehen und Existentielles auf zwingende Weise miteinander verschränkt.Es ist Sommer, heißer, herrlicher Sommer. Der Hof ist ein Dreiseithof. Schaut man geradeaus, sieht man eingezäunte Wiesen und den Bahndamm, und hinter den Schienen, in einiger Entfernung, doch klar erkennbar: den Henner-Hof.
Maria wird bald siebzehn, sie wohnt mit Johannes auf dem Hof seiner Eltern, in den "Spinnenzimmern" unterm Dach. Sie ist zart und verträumt, verkriecht sich lieber mit den "Brüdern Karamasow" als in die Schule zu gehen. Auf dem Nachbarhof lebt der vierzigjährige Henner, allein. Die Leute aus dem Dorf sind argwöhnisch: Eine Tragik, die mit seiner Vergangenheit zu tun hat, umgibt ihn; gleichzeitig ist er ein Mann, dessen charismatische Ausstrahlung Eifersucht erregt. Ein zufälliger Blick eines Tages, eine zufällige Berührung an einem andern lösen in Maria eine Sehnsucht aus, die fremd und übermächtig ist und sie daher wie von höherer Gewalt geleitet in Henners Haus und in seine Arme treibt...
Die sommerlichen Weizenfelder, die vom Heu und den Mückenstichen juckenden Beine, das Summen des Kühlschranks in der Küche... Eine allgegenwärtige Sinnlichkeit beherrscht diesen intensiven Text, der eine ländliche, ebenso schöne wie düstere Welt entstehen lässt und einen Sog entwickelt, der bis zum dramatischen Ende alles mit sich reißt.
Lese-Probe zu „Irgendwann werden wir uns alles erzählen “
Irgendwann werden wir uns alles erzählen von Daniela KrienKAPITEL 1
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ES IST SOMMER, heißer, herrlicher Sommer. Der Hof ist ein Dreiseithof. Das langgestreckte freistehende Wohnhaus in der Mitte hat zwei Etagen und einen großen Dachboden; linker Hand schließt sich die Scheune an; ein großes hölzernes Tor führt vorn hinein und an der Rückseite wieder heraus. Einige Meter dahinter gibt es einen breiten, flachen Holzbau - das Sägewerk. Wiesen und Weiden erstrecken sich bis zum Fluss; ein Stück flussaufwärts, kurz vor einem alten Wehr, steht ein halb verfallener Schuppen. Am anderen Ufer erhebt sich steil ein dicht bewal de ter Hang.
Das rechte Seitengebäude beherbergt die Rinder und Hühner. Dahinter, in einem aufgeständerten Holzhäuschen, das mit Sägespänen und Heu eingestreut ist, haben die Gänse ihren Platz. In einem Anbau, der den gut dreißig Meter langen Stall um weitere zehn Meter verlängert, stehen die Fahrzeuge. Auch hier, wie in Scheune und Stall, führen ein großes Tor hinein und ein ebenso großes in der Rückwand wieder heraus. Schaut man von dort aus nach links, erblickt man am Rande des Ge müsegartens den Schafstall; geradeaus sieht man eingezäunte Wiesen und den Bahndamm und, hinter den Schienen, in einiger Entfernung, doch klar erkennbar: den Henner-Hof.
Der Brendel- und der Henner-Hof sind die größten Höfe im Ort. Beim Henner, sagt man, sei alles noch wie vor dem Krieg: die Möbel, die Öfen, die Fußböden, die undichten kleinen Fenster. Kalt muss es dort sein im Winter. Die Brendels sind da moderner; sogar eine Zentralheizung haben sie. Betritt man das Haus, geht man ebenerdig in einen kleinen Vorraum. Links und rechts führen Türen in Küche und Wohnräume, geradeaus geht eine Treppe nach oben; hinter der Treppe befi nden sich die Tür zum Gemüsegarten und der Eingang zum Keller.
Die unteren Zimmer werden von Siegfried, Marianne und Lukas bewohnt, die oberen von Frieda und Alfred, der Dachboden gehört uns, Johannes und mir.
In der Küche, dem größten aller Räume, steht noch der alte Küchenofen, auf dem auch gekocht werden kann. Die Großmutter Frieda aber hat sich längst an den Elektroherd gewöhnt. Die Sitzmöbel sind älter als die Frieda, der große Esstisch in der Mitte und das wuchtige Küchenbüfett ebenfalls. Nur die Hängeschränke und eine Arbeitsplatte stammen aus der DDR-Zeit. Alles ist sauber und aufgeräumt; doch düster ist es immer. Jetzt, im Sommer, stehen die Fenster meistens offen. Es sind alte Fenster mit drehbaren Knäufen; weiße Lackfarbe bröckelt von den Rahmen. Die niedrige Decke bedrückt und beschützt zugleich.
Siegfried, der Vater, sitzt am Tisch. Der mächtige Schatten der Kastanie im Hof lässt nur kleine Fetzen Abendlicht durch die Fenster hinein. Keiner spricht; die Gesichter der Familie sind so spärlich beschienen, ich erkenne sie kaum.
Nach und nach setzen sich auch die anderen. Die Mutter Marianne, Frieda, die Großmutter, der alte Alfred, den man früher Knecht genannt hätte, die Brüder Johannes und Lukas.
Siegfried schneidet eine daumendicke Scheibe vom groben Brot ab und streicht Butter darauf. Dazu nimmt er einige Stücke einer roten Paprika, die seine Frau vorgeschnitten hat. Er isst langsam, wortlos. Dann lächelt er und sagt: »Es ist gut, dass wir jetzt Paprika kaufen können, ist sehr gesund, wusstet ihr das?« Er schaut hoch, ohne den Kopf zu heben.
Die Söhne antworten nicht. Marianne, seine Frau, nickt und sagt: »Bald wird's noch viel mehr geben.« Siegfried nimmt den Teller mit der Paprika und hält ihn Frieda entgegen: »Probier mal, Mutter«, sagt er und nickt ermunternd. Ich schaue umher, versuche die Regeln zu verstehen, nach denen hier gelebt wird; ich bin noch nicht lange da. An einem Sonntagmorgen im Mai hat der Johannes zu mir gesagt: »Heute bringe ich dich nicht nach Hause. Die Eltern wollen dich jetzt kennenlernen.« Da bin ich geblieben und nicht mehr fortgegangen. Jetzt haben wir schon Juni.
Wir essen nun wieder schweigend. Ich höre auf die Kaugeräusche der anderen. Beim Alfred gibt es am meisten zu hören. Er murmelt, ohne den Siegfried dabei anzusehen: »Die Liese kalbt heute Nacht. Alle Anzeichen sind da.« Siegfried nickt und sieht aus dem Fenster rüber zum Stall.
Johannes erhebt sich schwerfällig und mit gesenktem Blick. »Ich geh noch mal los, Freunde treffen - in der Stadt.«
»Etwa mit dem Motorrad?«, fragt die Marianne und steht ebenfalls auf.
»Setzt euch wieder!« Die Stimme des Vaters hat nun den leisen, drohenden Klang, den ich mag und ein wenig fürchte. Die anderen fürchten sich nicht.
»Nimmst du mich nicht mit, Johannes?«, frage ich ihn und bohre meinen Blick in seinen gesenkten Kopf. Er jedoch schaut nicht. Antwortet auch nicht. Steht noch immer und verlässt den Raum. Schweigend.
Eine Landstraße geht an den zwei Höfen vorbei, und zwei schmale Wege führen zu den Häusern. Auf der anderen Seite der Straße, etwa dreihundert Meter von den Höfen entfernt, liegt das Dorf. Die Dorfstraße wird beidseitig von Lindenbäumen gesäumt, die jetzt, im Juni, einen schweren Duft verströmen. Nahe der Brücke, die den Fluss überquert, steht die Lindenschenke.
Dahinter ordnen sich die Häuser und kleineren Höfe, die Post, der Konsum und die Kirche kreisförmig um den Dorfteich herum an. Schmale Gassen schlängeln sich zwischen den Häusern entlang und führen zu weiteren Häusern und Höfen. Einer dieser von der Dorfmitte aus strahlenförmig wegführenden Wege geht schnurgerade auf zwei flache Betongebäude zu, die wirken, als wären sie versehentlich in die Wiesen gefallen - die örtliche LPG-Verwaltung. Dahinter prangt stolz der große Genossenschaftsschweinestall.
Es ist ein besonderes Dorf. Weder Krieg noch DDR haben es zerstören können, so sagt es die Frieda gern. Außer ein paar Wohnhäusern und der LPG gibt es nur wenig Neues. So etwas fi ndet man nicht mehr oft, und an den Wochenenden kommen Leute aus der Stadt und gehen hier spazieren.
Draußen auf dem Hof laufen die Hühner umher. Marianne hat vergessen, sie einzusperren. Aus einem der oberen Fenster schaut die Frieda und schreit: »Marianne, der Fuchs wird die Hühner holen, nach zwanzig Jahren hast du es noch immer nicht begriffen. Wenn es dunkel wird, müssen die Hühner in den Stall.«
Die alte Kastanie wirft Schatten auf das ganze Haus, doch bald, so hat es der Siegfried angekündigt, wird sie gefällt. Er will eine neue pflanzen, die alte ist zu groß geworden.
Marianne läuft bis zum Rand der Scheune und sieht ihrem Sohn hinterher, wie er davonbraust mit seiner schwarz lackierten MZ. Ich habe mir einen Schal aus ihrer Garderobe geholt und um die Schultern gelegt. Von der Haustür aus beobachte ich sie. »Steht dir gut«, sagt sie, als sie zurückkommt, und: »Ihm passiert schon nichts.«
Ich sorge mich nicht. Sie ist es, die nicht ruhen wird, bevor er nicht wieder daheim ist. In letzter Zeit sind mehrere tödliche Unfälle auf der Landstraße passiert. Auch ein Freund vom Johannes war dabei. Ich stehe ruhig, blase Zigarettenrauch in die frische Landluft hinaus; dann helfe ich beim Hühnerscheuchen.
Es ist schon fast Mitternacht, als ich das Knattern der Maschine höre und schließlich den abklingenden Motor. Die Dachzimmer speichern die Hitze des Tages; ich habe mein Sommerkleid gegen ein weißes Nachthemd getauscht, das ich in einer der vielen Truhen auf dem Dachboden fand. Sicher trug es früher die Frieda.
Sehe ich aus dem hinteren Fenster, dann weiten sich vor meinem Blick das hügelige Land und der rauschende Fluss; ich sehe die Wälder und die Rinder auf den Wiesen. Nach vorne schaue ich in den Hof und in das Laub der Kastanie, die von Vögeln bevölkert wird, und aus dem Giebelfenster über die Weiden, den Schafstall und die Bahnstrecke bis hinüber zum Henner-Hof. Erst als ich hier einzog, begriff ich, wie schön diese Landschaft ist. Für den Moment kann ich mir keinen besseren Ort denken.
Doch nun ist es Nacht, und ich sehe nur Johannes, der sein Motorrad in den Schuppen schiebt, wieder herauskommt, sich eine Zigarette anzündet und nach oben schaut. Er kann mich nicht sehen. Ich habe das Licht gelöscht, damit ich die Spinnen, die sich ununterbrochen an durchsichtigen Fäden von der Decke lassen, nicht mehr ertragen muss. Sie widern mich an, und ich weiß, er fi ndet sie lächerlich, meine kindische Angst.
Er war in der Stadt, bei den Künstlern.
Als er ins Zimmer kommt, stelle ich mich schlafend. Er wirft seine Kleider achtlos auf den Boden, putzt sich die Zähne, zu kurz, wie immer. Es ist spät, und morgen müssen wir früh raus. Ich werde wieder einmal lügen, werde sagen, ich hätte erst zur dritten Stunde, und schließlich bleibe ich einfach im Bett, bis er wiederkommt. Johannes ist im letzten Jahr; wir gehen auf dieselbe Schule, er in die zwölfte und ich in die zehnte Klasse. Als ich noch bei der Mutter und den Großeltern wohnte, musste ich jeden Tag den Berg hinunter in die kleine Stadt laufen - eine dreiviertel Stunde Marsch war das - und dann mit dem Bus weiter in die Kreisstadt. Insgesamt habe ich etwa eine Stunde und fünfzehn Minuten gebraucht. Zurück ging es nicht so schnell, denn da musste ich den Berg wieder hinauf.
Jetzt fahre ich meistens mit dem Johannes auf dem Motorrad zur Schule, aber seit einiger Zeit gehe ich nicht mehr oft hin. Meine Fehlstunden zähle ich gar nicht mehr. Ich weiß, ich werde es nicht schaffen. Meine Vormittage verbringe ich mit Büchern und Zigaretten; am Nachmittag fahren wir oft übers Land, manchmal in die Stadt, in das Künstlercafé. Dort trinkt man schon vor dem Dunkelwerden Wodka und Wein, und andauernd wird geredet. Dem Johannes gefällt das; ich weiß noch nicht, was ich davon halten soll.
Später dann steigen wir die Treppen hinauf in unsere Spinnenzimmer und lieben uns. Johannes löscht das Licht, er ist zärtlich und sanft unter der Bettdecke; noch niemals hat er mir wehgetan. Er ist mein erster Mann. Ich glaube, ich liebe ihn.
ES IST SOMMER, heißer, herrlicher Sommer. Der Hof ist ein Dreiseithof. Das langgestreckte freistehende Wohnhaus in der Mitte hat zwei Etagen und einen großen Dachboden; linker Hand schließt sich die Scheune an; ein großes hölzernes Tor führt vorn hinein und an der Rückseite wieder heraus. Einige Meter dahinter gibt es einen breiten, flachen Holzbau - das Sägewerk. Wiesen und Weiden erstrecken sich bis zum Fluss; ein Stück flussaufwärts, kurz vor einem alten Wehr, steht ein halb verfallener Schuppen. Am anderen Ufer erhebt sich steil ein dicht bewal de ter Hang.
Das rechte Seitengebäude beherbergt die Rinder und Hühner. Dahinter, in einem aufgeständerten Holzhäuschen, das mit Sägespänen und Heu eingestreut ist, haben die Gänse ihren Platz. In einem Anbau, der den gut dreißig Meter langen Stall um weitere zehn Meter verlängert, stehen die Fahrzeuge. Auch hier, wie in Scheune und Stall, führen ein großes Tor hinein und ein ebenso großes in der Rückwand wieder heraus. Schaut man von dort aus nach links, erblickt man am Rande des Ge müsegartens den Schafstall; geradeaus sieht man eingezäunte Wiesen und den Bahndamm und, hinter den Schienen, in einiger Entfernung, doch klar erkennbar: den Henner-Hof.
Der Brendel- und der Henner-Hof sind die größten Höfe im Ort. Beim Henner, sagt man, sei alles noch wie vor dem Krieg: die Möbel, die Öfen, die Fußböden, die undichten kleinen Fenster. Kalt muss es dort sein im Winter. Die Brendels sind da moderner; sogar eine Zentralheizung haben sie. Betritt man das Haus, geht man ebenerdig in einen kleinen Vorraum. Links und rechts führen Türen in Küche und Wohnräume, geradeaus geht eine Treppe nach oben; hinter der Treppe befi nden sich die Tür zum Gemüsegarten und der Eingang zum Keller.
Die unteren Zimmer werden von Siegfried, Marianne und Lukas bewohnt, die oberen von Frieda und Alfred, der Dachboden gehört uns, Johannes und mir.
In der Küche, dem größten aller Räume, steht noch der alte Küchenofen, auf dem auch gekocht werden kann. Die Großmutter Frieda aber hat sich längst an den Elektroherd gewöhnt. Die Sitzmöbel sind älter als die Frieda, der große Esstisch in der Mitte und das wuchtige Küchenbüfett ebenfalls. Nur die Hängeschränke und eine Arbeitsplatte stammen aus der DDR-Zeit. Alles ist sauber und aufgeräumt; doch düster ist es immer. Jetzt, im Sommer, stehen die Fenster meistens offen. Es sind alte Fenster mit drehbaren Knäufen; weiße Lackfarbe bröckelt von den Rahmen. Die niedrige Decke bedrückt und beschützt zugleich.
Siegfried, der Vater, sitzt am Tisch. Der mächtige Schatten der Kastanie im Hof lässt nur kleine Fetzen Abendlicht durch die Fenster hinein. Keiner spricht; die Gesichter der Familie sind so spärlich beschienen, ich erkenne sie kaum.
Nach und nach setzen sich auch die anderen. Die Mutter Marianne, Frieda, die Großmutter, der alte Alfred, den man früher Knecht genannt hätte, die Brüder Johannes und Lukas.
Siegfried schneidet eine daumendicke Scheibe vom groben Brot ab und streicht Butter darauf. Dazu nimmt er einige Stücke einer roten Paprika, die seine Frau vorgeschnitten hat. Er isst langsam, wortlos. Dann lächelt er und sagt: »Es ist gut, dass wir jetzt Paprika kaufen können, ist sehr gesund, wusstet ihr das?« Er schaut hoch, ohne den Kopf zu heben.
Die Söhne antworten nicht. Marianne, seine Frau, nickt und sagt: »Bald wird's noch viel mehr geben.« Siegfried nimmt den Teller mit der Paprika und hält ihn Frieda entgegen: »Probier mal, Mutter«, sagt er und nickt ermunternd. Ich schaue umher, versuche die Regeln zu verstehen, nach denen hier gelebt wird; ich bin noch nicht lange da. An einem Sonntagmorgen im Mai hat der Johannes zu mir gesagt: »Heute bringe ich dich nicht nach Hause. Die Eltern wollen dich jetzt kennenlernen.« Da bin ich geblieben und nicht mehr fortgegangen. Jetzt haben wir schon Juni.
Wir essen nun wieder schweigend. Ich höre auf die Kaugeräusche der anderen. Beim Alfred gibt es am meisten zu hören. Er murmelt, ohne den Siegfried dabei anzusehen: »Die Liese kalbt heute Nacht. Alle Anzeichen sind da.« Siegfried nickt und sieht aus dem Fenster rüber zum Stall.
Johannes erhebt sich schwerfällig und mit gesenktem Blick. »Ich geh noch mal los, Freunde treffen - in der Stadt.«
»Etwa mit dem Motorrad?«, fragt die Marianne und steht ebenfalls auf.
»Setzt euch wieder!« Die Stimme des Vaters hat nun den leisen, drohenden Klang, den ich mag und ein wenig fürchte. Die anderen fürchten sich nicht.
»Nimmst du mich nicht mit, Johannes?«, frage ich ihn und bohre meinen Blick in seinen gesenkten Kopf. Er jedoch schaut nicht. Antwortet auch nicht. Steht noch immer und verlässt den Raum. Schweigend.
Eine Landstraße geht an den zwei Höfen vorbei, und zwei schmale Wege führen zu den Häusern. Auf der anderen Seite der Straße, etwa dreihundert Meter von den Höfen entfernt, liegt das Dorf. Die Dorfstraße wird beidseitig von Lindenbäumen gesäumt, die jetzt, im Juni, einen schweren Duft verströmen. Nahe der Brücke, die den Fluss überquert, steht die Lindenschenke.
Dahinter ordnen sich die Häuser und kleineren Höfe, die Post, der Konsum und die Kirche kreisförmig um den Dorfteich herum an. Schmale Gassen schlängeln sich zwischen den Häusern entlang und führen zu weiteren Häusern und Höfen. Einer dieser von der Dorfmitte aus strahlenförmig wegführenden Wege geht schnurgerade auf zwei flache Betongebäude zu, die wirken, als wären sie versehentlich in die Wiesen gefallen - die örtliche LPG-Verwaltung. Dahinter prangt stolz der große Genossenschaftsschweinestall.
Es ist ein besonderes Dorf. Weder Krieg noch DDR haben es zerstören können, so sagt es die Frieda gern. Außer ein paar Wohnhäusern und der LPG gibt es nur wenig Neues. So etwas fi ndet man nicht mehr oft, und an den Wochenenden kommen Leute aus der Stadt und gehen hier spazieren.
Draußen auf dem Hof laufen die Hühner umher. Marianne hat vergessen, sie einzusperren. Aus einem der oberen Fenster schaut die Frieda und schreit: »Marianne, der Fuchs wird die Hühner holen, nach zwanzig Jahren hast du es noch immer nicht begriffen. Wenn es dunkel wird, müssen die Hühner in den Stall.«
Die alte Kastanie wirft Schatten auf das ganze Haus, doch bald, so hat es der Siegfried angekündigt, wird sie gefällt. Er will eine neue pflanzen, die alte ist zu groß geworden.
Marianne läuft bis zum Rand der Scheune und sieht ihrem Sohn hinterher, wie er davonbraust mit seiner schwarz lackierten MZ. Ich habe mir einen Schal aus ihrer Garderobe geholt und um die Schultern gelegt. Von der Haustür aus beobachte ich sie. »Steht dir gut«, sagt sie, als sie zurückkommt, und: »Ihm passiert schon nichts.«
Ich sorge mich nicht. Sie ist es, die nicht ruhen wird, bevor er nicht wieder daheim ist. In letzter Zeit sind mehrere tödliche Unfälle auf der Landstraße passiert. Auch ein Freund vom Johannes war dabei. Ich stehe ruhig, blase Zigarettenrauch in die frische Landluft hinaus; dann helfe ich beim Hühnerscheuchen.
Es ist schon fast Mitternacht, als ich das Knattern der Maschine höre und schließlich den abklingenden Motor. Die Dachzimmer speichern die Hitze des Tages; ich habe mein Sommerkleid gegen ein weißes Nachthemd getauscht, das ich in einer der vielen Truhen auf dem Dachboden fand. Sicher trug es früher die Frieda.
Sehe ich aus dem hinteren Fenster, dann weiten sich vor meinem Blick das hügelige Land und der rauschende Fluss; ich sehe die Wälder und die Rinder auf den Wiesen. Nach vorne schaue ich in den Hof und in das Laub der Kastanie, die von Vögeln bevölkert wird, und aus dem Giebelfenster über die Weiden, den Schafstall und die Bahnstrecke bis hinüber zum Henner-Hof. Erst als ich hier einzog, begriff ich, wie schön diese Landschaft ist. Für den Moment kann ich mir keinen besseren Ort denken.
Doch nun ist es Nacht, und ich sehe nur Johannes, der sein Motorrad in den Schuppen schiebt, wieder herauskommt, sich eine Zigarette anzündet und nach oben schaut. Er kann mich nicht sehen. Ich habe das Licht gelöscht, damit ich die Spinnen, die sich ununterbrochen an durchsichtigen Fäden von der Decke lassen, nicht mehr ertragen muss. Sie widern mich an, und ich weiß, er fi ndet sie lächerlich, meine kindische Angst.
Er war in der Stadt, bei den Künstlern.
Als er ins Zimmer kommt, stelle ich mich schlafend. Er wirft seine Kleider achtlos auf den Boden, putzt sich die Zähne, zu kurz, wie immer. Es ist spät, und morgen müssen wir früh raus. Ich werde wieder einmal lügen, werde sagen, ich hätte erst zur dritten Stunde, und schließlich bleibe ich einfach im Bett, bis er wiederkommt. Johannes ist im letzten Jahr; wir gehen auf dieselbe Schule, er in die zwölfte und ich in die zehnte Klasse. Als ich noch bei der Mutter und den Großeltern wohnte, musste ich jeden Tag den Berg hinunter in die kleine Stadt laufen - eine dreiviertel Stunde Marsch war das - und dann mit dem Bus weiter in die Kreisstadt. Insgesamt habe ich etwa eine Stunde und fünfzehn Minuten gebraucht. Zurück ging es nicht so schnell, denn da musste ich den Berg wieder hinauf.
Jetzt fahre ich meistens mit dem Johannes auf dem Motorrad zur Schule, aber seit einiger Zeit gehe ich nicht mehr oft hin. Meine Fehlstunden zähle ich gar nicht mehr. Ich weiß, ich werde es nicht schaffen. Meine Vormittage verbringe ich mit Büchern und Zigaretten; am Nachmittag fahren wir oft übers Land, manchmal in die Stadt, in das Künstlercafé. Dort trinkt man schon vor dem Dunkelwerden Wodka und Wein, und andauernd wird geredet. Dem Johannes gefällt das; ich weiß noch nicht, was ich davon halten soll.
Später dann steigen wir die Treppen hinauf in unsere Spinnenzimmer und lieben uns. Johannes löscht das Licht, er ist zärtlich und sanft unter der Bettdecke; noch niemals hat er mir wehgetan. Er ist mein erster Mann. Ich glaube, ich liebe ihn.
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Autoren-Porträt von Daniela Krien
Daniela Krien, geboren 1975 in Mecklenburg-Vorpommern, aufgewachsen in einem Dorf im Vogtland (Sachsen), lebt mit Mann und zwei Töchtern in Leipzig. Sie studierte Kulturwissenschaften, Kommunikations- und Medienwissenschaften und arbeitete unter anderem als Drehbuchautorin und Cutterin. 2015 wurde Daniela Krien mit dem Nicolas-Born-Preis ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Daniela Krien
- 2011, 2, 240 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Graf Verlag
- ISBN-10: 3862200191
- ISBN-13: 9783862200191
Rezension zu „Irgendwann werden wir uns alles erzählen “
"Daniela Krien nimmt existenzielle Ausnahmesituationen und Schicksalsschläge in den Blick. Männer und Frauen, Junge und Alte, Leute aus Ost und West. ... Die einfache, klare Sprache steigert noch die bedrängende, irritierende Wucht des Dargestellten. Entstanden sind so höhst eindrückliche Geschichten, die lange nachwirken.", Nicolas-Born-Preis, Jury , 24.09.2015
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