Der zehnte Kreis / Irondead Bd.1
Roman
Irland zu Beginn des 20. Jahrhunderts: In einem ehemaligen Schlachthaus entdeckt der Privatdetektiv Quinn Devlin ein monströses eisernes Geschöpf. Kurz darauf verschwindet der reiche Kaufmann Stanley Garland, der am Bau der Titanic beteiligt ist....
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Buch (Kartoniert)
17.50 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Der zehnte Kreis / Irondead Bd.1 “
Irland zu Beginn des 20. Jahrhunderts: In einem ehemaligen Schlachthaus entdeckt der Privatdetektiv Quinn Devlin ein monströses eisernes Geschöpf. Kurz darauf verschwindet der reiche Kaufmann Stanley Garland, der am Bau der Titanic beteiligt ist. Quinn versucht, das mysteriöse Geschehen aufzuklären - und legt sich dabei mit Mächten an, die das größte Schiff der Welt für ein mörderisches Spiel missbrauchen ...
Klappentext zu „Der zehnte Kreis / Irondead Bd.1 “
"Mit leiser Selbstironie und einem lakonischen Grundton lässt Wolfgang Hohlbein seinen Helden die Ereignisse Anfang des 20. Jahrhunderts in Belfast schildern. Ein kluger und fesselnder Steampunk-Roman, vorangetrieben von einer unbändigen Vorstellungskraft. Rationale Technik steht gegen emotionale Menschen." (Monika Trapp, Buchhändlerin, Ginsheim-Gustavsburg. In: Bücher-Medien-Magazin HITS für KIDS, Print-Ausgabe 42/2014)
Lese-Probe zu „Der zehnte Kreis / Irondead Bd.1 “
Irondead - Der zehnte Kreis von Wolfgang Hohlbein1
Seit nunmehr einem guten halben Jahr versuchte ich, das Zigarrenrauchen einzustellen oder - sollte ich es nicht schaffen - doch wenigstens einzuschränken. Selbstverständlich war mir bisher weder das eine noch das andere gelungen. Ganz im Gegenteil hatte mein Konsum an teuren kubanischen Zigarren sogar noch deutlich zugenommen, seit ich meinen ersten ernst gemeinten Versuch gestartet hatte, enthaltsamer zu leben. Auch meine Idee, von teuren Zigarren auf preiswerten Zigarettentabak umzusteigen, hatte sich als kontraproduktiv erwiesen, denn der günstige Tabak verführte mich trotz seines zweifelhaften Geschmacks zum ständigen Paffen. Also hatte ich irgendwann mein schlechtes Gewissen hintenangestellt und war wieder in meine alten Gewohnheiten zurückgefallen, jeden Tag viel zu viele teure importierte Zigarren zu konsumieren, die ich mir nicht leisten konnte, begleitet von dem einen oder anderen Gläschen einheimischen Whiskys, der mein Budget endgültig sprengte.
Jetzt war ich froh, mir binnen einer Stunde die dritte Zigarre angezündet zu haben, ohne deren würzigen Rauch ich mich vermutlich schon längst übergeben hätte.
Vielleicht würde ich das ja trotzdem noch tun, Zigarren- rauch hin oder her, denn der Gestank an dem fast überbordenden Kanal, an dessen Ufer ich meiner Verabredung entgegenstrebte, war einfach unerträglich. Im Wasser trieben nicht nur Abfälle und tote Tiere - Ratten, Mäuse, Katzen und auch der eine oder andere tote Hund -, sondern auch ganz andere Dinge. Erst vor wenigen Minuten hatte die träge Strömung etwas vorübergetrieben, das einem kleinen menschlichen Umriss so sehr geähnelt hatte, dass ich instinktiv davor zurückgeschreckt war, ein zweites Mal genauer hinzusehen.
Den Geruch des Todes war ich gewohnt, schon durch meinen Beruf, der mich
... mehr
wiederholt an weit üblere Orte geführt und mir Einblicke in die schlimmsten Abgründe der menschlichen Seele aufgezwungen hatte. Nichts von alledem hatte mich jedoch auf diesen Gestank vorbereitet, der meine Sinne verwirrte und in mir ein Gefühl tiefsten Abscheus auslöste.
Da waren Tod und Verwesung - selbstverständlich -, doch unter all den Nuancen des Vergänglichen verbarg sich noch etwas anderes und womöglich wahrhaft Bedrohliches. Etwas, das in meiner Kehle brannte und mir das Gefühl gab, dass meine Augen ununterbrochen tränten, obwohl das genaue Gegenteil der Fall war und sich jeder Lidschlag so anfühlte, als scheuerte Sand über meine Augäpfel.
Aber vielleicht spielten mir ja auch nur meine Nerven einen Streich, und vielleicht war ich auch nur diesem Viertel und der ganzen Stadt gegenüber voreingenommen und sah (und vor allem roch) nicht nur das, was um mich herum existierte, sondern vor allem das, was ich zu sehen und zu riechen glaubte.
Ich war widerwillig und mit dem Gefühl hierhergekommen, mit etwas konfrontiert zu werden, von dem ich eigentlich gar nichts wissen wollte. Meine Verabredung ließ nun schon fast eine Stunde auf sich warten, und das missfiel mir nicht nur wegen der Verspätung immer mehr. Das hier war kein Ort für erbauliche Spaziergänge. Bereits seit einer ganzen Weile mutmaßte ich, dass die Verursacher der gierigen Blicke, die ich wie die Berührung nicht minder gieriger Hände auf mir zu spüren glaubte, nur deshalb noch nicht aus ihren Verstecken hervorgestürmt und über mich hergefallen waren, weil ich ein kräftiger Mann von nicht ganz unbeeindruckender Statur und einer gewissen Ausstrahlung war und mir darüber hinaus auch keine große Mühe gab, den langläufigen Revolver zu verbergen, den ich im Gürtel trug.
Dabei gab es kaum etwas, das ich mehr hasste als Waffen, denn schließlich hatte ich oft genug gesehen, welchen Schaden sie in den falschen Händen anrichten konnten. Aber ich hasste auch Ratten und Schmutz und menschlichen Abschaum, und von alledem gab es in dieser Umgebung überreichlich.
Immerhin konnte ich zwei von diesen drei Dingen erschießen, wenn es sein musste.
Was alles nichts daran änderte, dass mir allmählich ernsthaft übel zu werden begann. Ich schluckte einen Mundvoll säuerlich schmeckenden Speichels hinunter, woraufhin mein Magen endgültig zu rebellieren begann, spuckte ins trübe Wasser des Kanals und schnippte den Zigarrenstummel hinterher. Er erlosch zischend, auch wenn es mir so vorkam, als täte er es längst nicht so schnell wie üblich. Ich ertappte mich dabei, ganz instinktiv einen halben Schritt von der blubbernden Brühe zurückzuweichen, so als hätte ich Angst, die Glut der Zigarre könnte den ganzen Kanal in Brand setzen, statt in seinem Wasser zu ersticken. So etwas war schon vorgekommen.
Wenn es denn Wasser war, das da träge vor meinen Schuhspitzen schwappte. Nicht einmal dessen war ich mir ganz sicher, denn weder sah es wie Wasser aus, noch bewegte es sich wie solches, von dem Geruch ganz zu schweigen. Die Brühe war nicht einmal klar oder hatte wenigstens den Anstand, wie moderndes Abwasser oder Jauche auszusehen, sondern schillerte in widerwärtigen grünblauen Schlieren, und da und dort stiegen Blasen an die Oberfläche, um mit einem ekelhaften Geräusch zu platzen und dabei einen Schwall noch viel ekelhafteren Gestanks freizusetzen - den der Wind natürlich genau in meine Richtung trug, und zwar ganz gleich, woher er wehte und wo am Ufer ich gerade stand.
Spätestens jetzt, gestand ich mir ein, begannen meine Gedanken endgültig in gefährliche Gefilde abzugleiten. Aber in einem Moment wie diesem konnte ich mir eine solch kleine Schwäche wohl leisten.
Vorsichtige Schritte näherten sich, und das Gefühl, beobachtet zu werden, wurde noch einmal um Etliches unangenehmer. Doch statt mich sofort umzudrehen, griff ich betont langsam in die Jackentasche und nahm eine weitere Zigarre heraus, um sie in aller Seelenruhe anzuzünden. Selbst der Rauch schmeckte inzwischen faul.
»Sind Sie Devlin?«
Ich nahm einen zweiten, noch tieferen Zug und behielt den Rauch so lange in den Lungen, bis mir leicht schwindelig zu werden begann. Betont langsam - und mit der Linken wie zufällig den Griff meines Revolvers berührend - drehte ich mich um und erlebte eine Überraschung: Die Gestalt war eine gute Handspanne kleiner als ich und konnte nicht einmal die Hälfte meines Gewichts auf die Waage bringen. Auf den zweiten Blick war ich nicht einmal mehr ganz sicher, ob es schon ein Mann war oder noch ein Junge. Auf jeden Fall war er noch sehr jung.
Statt zu antworten, zog ich lediglich fragend die rechte Augenbraue hoch.
»Sind Sie Constabler Devlin?«, erkundigte sich der Junge noch einmal.
Es war lange her, dass mich jemand so genannt hatte, und auch wenn ich zum Schluss meiner Karriere für kurze Zeit Inspektor gewesen war, bevor man mich wieder degradiert hatte, weckte das Constabler Devlin die lebhaftesten Erinnerungen an meine nicht ganz glücklich verlaufene Polizeilaufbahn. Ich nickte knapp. »Und du?«
»Mister Jacobs schickt mich«, sagte der Junge. »Ich soll Ihnen was geben.«
Ich nahm immerhin die Hand von der Waffe - schon weil mir alles andere lächerlich vorgekommen wäre -, legte aber nur den Kopf auf die Seite und bemühte mich um einen fragenden Blick.
»Ich bin Chip.« Der Junge lächelte verschlagen. »Jacobs hat gesagt, dass Sie mich bezahlen.«
Ich antwortete erneut mit einem Nicken, was zugleich aber auch schon meine ganze Reaktion auf diese unverschämte Forderung war und auch bleiben würde. Ich würde ganz gewiss niemanden für irgendetwas bezahlen, bevor ich nicht selbst bezahlt worden war. Falls dieser unverschämte Bengel nicht ohnehin log, um mich zu übervorteilen.
Was offensichtlich der Fall war, denn nach einigen weiteren Augenblicken scharrte er unbehaglich mit den Füßen und griff dann unter seine Jacke, um einen schmalen Briefumschlag aus der Innentasche zu ziehen. Mir fiel nicht nur auf, wie schmutzig seine Finger waren, sondern auch, dass seine Jacke mindestens eine Nummer zu groß war, wenn nicht mehr. Vermutlich gestohlen, wie auch seine übrigen Kleider. Aber das ging mich nichts an.
»Das hat er mir gegeben«, sagte er, als er mir mit einer zögerlichen Bewegung den Brief überreichte. »Und gesagt, dass ich einen Sixpence bekomme.«
Ich ignorierte auch diesen zweiten und schon deutlich weniger subtilen Versuch, mir ein bisschen Geld abzuluchsen, riss den Umschlag auf und las:
Mein lieber Mister Devlin,
alles hat sich inzwischen aufgeklärt und mein Verdacht sich
gottlob als unbegründet erwiesen, sodass ich Ihre Dienste nicht
mehr länger benötige. Einen Betrag in Höhe des vereinbarten
Honorars habe ich bereits auf Ihr Konto angewiesen.
Bitte verzeihen Sie, dass ich Ihre Zeit unnötig in Anspruch
genommen habe.
Mit den besten Wünschen
Ihr Stanley Jacobs
Ich starrte den Brief an, überflog ihn ein zweites Mal, starrte erneut auf die ebenso winzige wie akribische Handschrift und las ihn dann noch ein drittes Mal.
»Irgendwas nicht in Ordnung?«, wollte Chip wissen.
Mir war nicht klar, was das den Burschen anging, aber ich ertappte mich trotzdem dabei, ganz automatisch zu nicken. So konnte man es durchaus nennen.
Ich wusste nicht, ob diese fast schon kalligrafisch anmutende Notiz tatsächlich von Jacobs stammte, denn ich hatte ihn selbst nur ein einziges Mal und seine Handschrift noch nie zu Gesicht bekommen, doch ich erinnerte mich auch gut an seine eher joviale Art zu sprechen und sich zu geben, und weder die Wortwahl noch die schon fast überpräzise Schrift schienen mir zu einem Mann wie ihm zu passen.
Mein Verstand wollte mir (mit Recht) klarmachen, dass sich ein Mann wie Stanley Jacobs durchaus jemanden leisten konnte, der Dinge wie das Verfassen lästiger Notizen für ihn erledigte, aber das war längst nicht alles. Es gab keine Summe, auf die wir uns geeinigt hatten, und ich konnte mich auch nicht erinnern, ihm jemals meine Bankdaten genannt zu haben. Ich bevorzuge Barzahlung, und jetzt erinnerte ich mich auch, dass Jacobs zwischen zwei Schlucken Portwein wissend gelächelt und angemerkt hatte, dass die Steuer ja schließlich nicht alles wissen müsse und es ihn im Übrigen auch nichts angehe, was sie wusste und was nicht.
»Und diesen Brief hast du von Mister Jacobs persönlich bekommen? «, vergewisserte ich mich.
Chip hob die Schultern, und etwas klimperte in seiner Jackentasche. Ich sah ihn noch weitere zwei oder drei Sekunden lang auffordernd an, begriff schließlich, dass ich das auch noch zwei oder drei weitere Stunden lang tun konnte, ohne irgendeine andere Reaktion zu bekommen, und griff widerwillig in die Jackentasche, um einen Sixpence zutage zu fördern. Als Chip jedoch nach dem Geldstück greifen wollte, verbarg ich es blitzartig in der Faust und schüttelte den Kopf.
Der Junge verstand. »Ich kenne diesen Jacobs nicht«, bekannte er. »Er hat behauptet, das sei sein Name. Ein großer Kerl mit Backenbart und teuren Kleidern. Er hat Zigarren geraucht und nach Portwein gerochen.«
Was so ungefähr auf jeden zweiten Kaufmann und Bankier in dieser Stadt zutraf. Ich wiederholte mein Kopfschütteln.
»Aber mehr weiß ich nicht«, beharrte Chip. »Er hat Sie mir beschrieben und mir den Brief gegeben. Und gesagt, dass Sie mich bezahlen.«
Das sah ich zwar nicht ein, händigte ihm aber trotzdem den in Aussicht gestellten Sixpence aus und war nicht überrascht, als mir der Junge das Geldstück aus der Hand riss und dann zurücksprang. Ich wäre auch nicht überrascht gewesen, wäre er auf der Stelle verschwunden, doch Chip gab sich mit diesem kleinen Sicherheitsabstand zufrieden. Vielleicht spekulierte er ja auf einen weiteren Sixpence ... den er ganz bestimmt nicht bekommen würde. Ich griff trotzdem noch einmal wie zufällig in dieselbe Tasche und ließ die Hand auch darin. Ganz wie es zu erwarten gewesen war, setzte der Junge seine begonnene Flucht nicht fort, und in seinen Augen flammte neue Gier auf.
Sehr aufmerksam studierte ich den Text ein viertes Mal. Nichts daran war so ungewöhnlich, dass es nicht zu einem exzentrischen Kaufmann gepasst hätte, und doch schien er mir mit jedem Mal weniger überzeugend. »Wo hast du ihn getroffen? «
»Nicht weit von hier.« Chip machte eine wedelnde Geste überallhin, verstand wohl die Bedeutung, als meine Augenbraue ein weiteres Stück an meiner Stirn emporwanderte, und deutete daraufhin auf ein großes Backsteingebäude ein gutes Stück entfernt, und selbstverständlich auf der anderen Seite des Kanals mit seinem blubbernden Inhalt.
»Dort?«, fragte ich unüberhörbar zweifelnd. Meine Augen tränten jetzt wirklich, und jeder Zug aus der Zigarre hinterließ einen scharfen Nachgeschmack tief in meinem Rachen, den ich allenfalls von jenem billig verschnittenen Tabak kannte, wie man ihn in zwielichtigen Spelunken und ärmlichen Vierteln für ein paar Pennys erstehen konnte. Ich musste ein paarmal blinzeln, um das dreistöckige Gebäude klar zu erkennen, aber dadurch wurde es auch nicht ansehnlicher und schon gar nicht vertrauenswürdiger. Wie ein großer Teil der Häuser hier stand es leer und musste schon vor Jahren aufgegeben worden sein, wie die zahllosen eingeschlagenen Scheiben und herausgerissenen Türfüllungen bewiesen. Schon der bloße Anblick bereitete mir Unbehagen, und eigentlich wollte ich nichts weniger, als dorthin zu gehen.
Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, welcher Teufel Jacobs eigentlich geritten hatte, mich ausgerechnet hierher zu bestellen, in eine Gegend, die so heruntergekommen, leer und vor allem gefährlich war, dass ein so vornehmer Mann wie er eigentlich nicht einmal wissen sollte, dass es sie überhaupt gab. Er hatte mir etwas zeigen wollen, aber was? Tote Katzen und ersoffene Ratten?
Chip scharrte erneut mit den Füßen, und ich erwartete, dass er nun losgehen würde, um mir den Weg über den Kanal zu zeigen, aber der Junge druckste nur weiter herum. Schließlich zog ich einen zweiten Sixpence hervor, ließ aber auch ihn sofort wieder in der geschlossenen Faust verschwinden, sodass das verlockende Geldstück nur ganz kurz zwischen meinen Fingern aufblitzte, und das verstand sogar dieser gierige Bengel und setzte sich missmutig in Bewegung.
Wir gingen dichter an dem stinkenden Kanal entlang, als mir lieb war. Die Ränder des künstlich angelegten Flusses waren längst von ätzenden Dämpfen und der erbarmungslosen Witterung Belfasts angegriffen und zum Teil sogar zerstört worden. Unter jedem zweiten oder dritten Schritt lösten sich Staub und zerbröckelnder Stein, manchmal ganze Trümmerlawinen, die mit einem heftigen Platschen im Wasser verschwanden, woraufhin nur zu oft ein Schwall noch übleren Gestanks folgte. Ich würde meine Kleider wechseln müssen, dachte ich missmutig, sobald ich zu Hause war; möglicherweise baden.
Falls ich wieder nach Hause kam. Mit einem Mal war ich gar nicht mehr so sicher, dass ich diesen Ort lebend verlassen würde.
Ich blieb stehen, als wir eine schmale Brücke erreichten, die in einem Bogen über die zischende Brühe hinwegführte, der den meisten kühn vorgekommen wäre, mir aber schier die Haare zu Berge stehen ließ. Es war nicht so, dass ich der Brücke nicht traute. Sie sah baufällig aus, stand aber nun schon seit mindestens einem Menschenalter hier und würde sicher auch noch einige weitere Minuten und meinem Gewicht standhalten. Aber allein der Gedanke, diese widerwärtige Brühe zu überqueren, war mir zuwider.
»Ich würde da nicht reingehen«, sagte Chip, fast als hätte er meine Gedanken gelesen. »Ist eine gefährliche Gegend. Hier ist schon so mancher einfach verschwunden.«
Vielleicht nur, um vor dem Jungen nicht das Gesicht zu verlieren, betrat ich, ohne zu zögern, den geländerlosen Steg und legte ein forsches Tempo vor. Ich ertappte mich dabei, die ganze Zeit über die Luft anzuhalten, und auf der anderen Seite angekommen entfernte ich mich rasch ein paar Schritte und blieb dann wieder stehen, um das Gebäude einer weiteren Musterung zu unterziehen. Es gefiel mir immer weniger. »Hier hast du ihn getroffen?«, fragte ich misstrauisch.
Statt zu antworten, starrte Chip meine geschlossene Faust an. Ich reichte ihm den Sixpence, der wie weggezaubert verschwand, und fügte warnend hinzu: »Und lass dir nicht einfallen, mich zu betrügen, Freundchen.«
Der Junge schüttelte den Kopf, und diesmal war das Klimpern so laut, als hätte er eine ganze Schlüsselfabrik in der Jackentasche. »Auf der anderen Seite. Ich war auf der Straße unterwegs, um mich mit ein paar Kumpel zu treffen, da hat er mich angesprochen. Hat mit seinem schicken Wagen am Straßenrand gehalten und mir den Brief und einen Sixpence ... ich meine den Brief gegeben und mir gesagt, dass ich einen Sixpence von Ihnen bekomme.«
Ich hatte Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken. Eigentlich sollte ich zornig werden, doch irgendwie beeindruckte mich diese ganz bestimmte Art von Unverschämtheit auch beinahe. »Ich sehe keine Straße«, widersprach ich trotzdem.
»Hinter dem Haus, auf der anderen Seite«, sagte Chip. »Wir können außen rumgehen, aber dann müssen wir das ganze Stück zurück. Und er ist auch gleich wieder abgefahren.«
Ich überlegte. Alles in mir sträubte sich dagegen, diese Ruine zu betreten, aber die Vorstellung, die ganze Strecke neben und über den Kanal wieder zurückzugehen, behagte mir noch viel weniger. Außerdem wollte ich vor dem Jungen nicht als Feigling dastehen.
»Dann zeig mir, wo du ihn getroffen hast.«
»Bestimmt?« War da plötzlich etwas Lauerndes in Chips Augen? »Ist nicht ganz ungefährlich.«
Ich paffte an meiner Zigarre und sah auf ihn hinab. Chip begriff, zog eine Grimasse und ging weiter.
Das Gebäude war riesig und strahlte etwas ebenso Abweisendes wie fast Heimtückisches aus. Trotz der zahlreichen Fenster, in denen es schon seit Jahren kein Glas mehr gab, herrschte in seinem Inneren nahezu vollkommene Finsternis und ein Gestank, der im wortwörtlichen Sinne atemberaubend war. Ich sog so stark an meiner Zigarre, dass ich husten musste, doch diesmal funktionierte der Trick nicht, und der Tabakqualm machte es eher noch schlimmer. Es stank nach geronnenem Blut und nassem Fell und Öl und Ruß und Wagenschmiere und verdorbenen Lebensmitteln, nach Katzenpisse und faulendem Wasser und hundert anderen Dingen, die allesamt unangenehm waren und in ihrer Summe augenblicklich erneut ein Gefühl latenter Übelkeit in mir weckten. Ich verspürte ein Rumoren in den Eingeweiden, das das Potenzial hatte, bei der geringsten unvorsichtigen Bewegung zu etwas weit Unangenehmerem zu werden.
»Passen Sie auf, wo Sie hintreten«, warnte Chip. »Hier kann man leicht zu Schaden kommen.«
Ich trat erst einmal nirgendwohin, sondern blieb stehen, damit sich meine Augen an das schwache Licht gewöhnen konnten. Ich hatte ein vages Gefühl von Weite, das mich zugleich aber auch zu erdrücken schien, so absurd es mir auch selbst vorkam. Chip hatte recht. Ich sollte nicht nur aufpassen, wo ich hintrat, sondern auf dem Absatz kehrtmachen und von diesem unheimlichen Ort verschwinden, so schnell ich nur konnte. Sollte dieser dahergelaufene Straßenjunge doch von mir denken, was er wollte!
Stattdessen blinzelte ich ein paarmal heftig, und um zusätzliche Zeit zu gewinnen, fragte ich: »Was war das hier früher einmal?«
»Weiß nicht. Ein Schlachthof. Vielleicht. Oder sie haben hier nur die Felle und die Haut verarbeitet. Warum?«
Eine ehemalige Gerberei würde zumindest den aufdringlichen Geruch nach Chemikalien und Tod erklären, aber eigentlich konnte ich nicht einmal genau sagen, warum ich diese Frage überhaupt gestellt hatte, denn es interessierte mich auch nicht. Über den Niedergang Belfasts in dem ständig von Hungerkatastrophen bedrohten Irland waren schon zahllose kluge Artikel verfasst und viele noch klügere Bücher geschrieben worden, eloquente Abhandlungen über die Gründe besagten Niedergangs und düstere Warnungen, dass alles nur noch viel schlimmer werden konnte. Die einen meinten, dass nur eine engere Anlehnung Irlands an das englische Parlament helfen könnte, den drohenden Niedergang zu verhindern, die anderen kämpften für eine eigene Verfassung und Selbstverwaltung oder sogar die völlige Loslösung vom Britischen Empire, in der sie die einzige Chance sahen, Irland in eine bessere Zukunft führen zu können.
Ich war für mich selbst schon zu einer viel simpleren Erklärung gekommen: Die Dinge änderten sich, unerbittlich und immer und unaufhaltsam, und jeder musste für sich sehen, wie er mit diesem Wandel der Zeiten zurechtkam. So einfach war das.
Meine Augen hatten sich umgestellt. Ich sah immer noch nicht viel, aber wenigstens genug, um nicht unversehens in einen jäh aufklaffenden Abgrund zu stürzen oder mich an irgendeiner heimtückischen Kante aufzuspießen, die auf mich lauerte.
Es gab keine Abgründe. Der Boden war massiv und mit einer klebrigen schwarzen Schicht bedeckt, auf der unsere Schritte unangenehme Sauggeräusche verursachten. In dem wenigen Licht, das meinen Augen blieb, erkannte ich kaum mehr als gedrungene finstere Umrisse, die gefährlichen Raubtieren gleich in der ewigen Dämmerung lauerten. Wie eiserne Spinnweben hingen Ketten von der Decke, die sich höher über unseren Köpfen erhob, als mein Blick reichte, und irgendwo tropfte regelmäßig eine Flüssigkeit; kein Wasser, eher etwas Dickflüssigeres. Obwohl es bei Weitem nicht das erste Mal war, dass ich einen solch heruntergekommenen Ort sah, hatte ich das Gefühl, eine vollkommen fremde Welt zu betreten, einen Winkel der Schöpfung, in dem Menschen nicht willkommen waren und auch nicht sein sollten.
Das irritierte mich. Ich hielt mich vollkommen zu Recht für einen rationalen Menschen, zu dem solcherlei krudes Zeug gar nicht passte. Aber ich wurde das unangenehme Gefühl, hier vollkommen fehl am Platz zu sein, auch nicht los.
»Wohin?«, fragte ich knapp. Selbst an diesem einzelnen Wort war etwas ... unpassend, als wäre allein der Klang einer menschlichen Stimme an diesem Ort ein Frevel, der nicht ungesühnt bleiben konnte.
Ich ahnte Chips deutende Geste mehr, als dass ich sie sah. Eine der Ketten rasselte, als hätte er sie berührt, doch das konnte nicht sein, denn er stand ein gutes Stück entfernt. »Wir müssen durch die Halle und dann einfach die Treppe runter.«
Seltsamerweise klang seine Stimme nicht annähernd so deplatziert wie meine eigene, sah man von einem leicht metallischen Unterton ab, als redete er mit Stimmbändern aus Eisen. Sicher eine Folge der verwirrenden Akustik dieses Ortes.
»Dann geh voraus.«
Diese Worte wiederum klangen wieder falsch. Allmählich wurde mir dieser Ort wirklich unheimlich.
Ich wartete, bis sich Chip vor mir in Bewegung gesetzt hatte, was von einem neuerlichen und diesmal lang anhaltenden Kettenrasseln begleitet wurde, und nun sah ich, dass sich etliche der dicken Kettenbündel bewegten. Vielleicht ein Luftzug, den wir mit unserem Eintreten ausgelöst hatten.
Ich folgte dem Jungen, aber ich fiel auch mit jedem Schritt, den er machte, ein wenig weiter zurück, denn ich trat nur sehr behutsam auf, schon wegen der unangenehmen Geräusche, die ich dabei verursachte.
»Was wollte Jacobs Ihnen denn eigentlich hier zeigen?«, fragte Chip, nachdem wir vielleicht ein Drittel der großen Halle durchquert hatten. Auch er ging jetzt etwas langsamer, aber es wollte mir einfach nicht gelingen, wirklich zu ihm aufzuholen. Ich hatte das verrückte Gefühl, dass sich der Junge immer gerade außerhalb meines Blickfelds hielt; ganz egal, wie schnell oder langsam ich auch ging.
»Warum fragst du das?«, erwiderte ich. Das unheimliche Gefühl, einen monströsen Schatten irgendwo in der Dunkelheit über mir entlanghuschen zu sehen, ergriff mich.
»War nur neugierig«, sagte Chip. Er blieb nun doch stehen und strich in Gedanken über eine der Ketten, die neben ihm von der Decke hingen. Als hier noch gearbeitet worden war, hatten sie vielleicht dazu gedient, tote Schweine und Rinder- hälften zu transportieren oder schwere Maschinenteile zu bewegen. Jetzt mochten sie weit sinisteren Zwecken dienen, über die ich gar nicht nachdenken wollte. »Ist schon ein komischer Ort, nicht?«
Mir wäre durchaus eine andere Bezeichnung dafür eingefallen, aber ich schwieg.
Chip betastete eine der Ketten, folgte ihr mit Blicken, bis sie in der Dunkelheit über uns verschwand, und zog prüfend daran. Ich wünschte mir, er hätte das nicht getan. Chip selbst vermutlich auch, denn die Kette geriet ins Pendeln, berührte ihn sacht an der Wange und hinterließ einen langen Schmierer aus Rost und Öl darauf. »Ob sie es wohl gewusst haben?«
»Was?«
»All diese Tiere, die hier getötet worden sind. Das müssen Tausende gewesen sein.«
»Man sagt, dass Tiere die Angst der anderen riechen«, bestätigte ich, bekam aber nur ein neuerliches Kopfschütteln zur Antwort. Und ein noch länger anhaltendes Kettenrasseln.
»Das meine ich nicht. Ob sie wohl von uns gewusst haben?«
»Von uns?«
»Es waren nur Tiere, aber auch sie haben die Welt rings um sich herum bestimmt irgendwie wahrgenommen.« Chip machte ein übertrieben nachdenkliches Gesicht. »Ich frage mich, ob all diese Kreaturen davon wissen, dass es da noch eine andere Spezies gibt, die mitten unter ihnen lebt ... und die viel intelligenter ist als sie und viel gefährlicher.«
Für einen vermeintlichen Straßenjungen, als den ich Chip eingeschätzt hatte, waren das sehr seltsame Gedanken. »Was soll das?«, fragte ich misstrauisch.
»Ich denke nur so«, erwiderte Chip. »Wie erstaunt sie wohl wären, wenn sie es wüssten. Und ob sie wohl fähig wären, sich zu wehren.«
»Wehren?«
»Gegen das Schicksal. Gegen uns.«
»Was soll der Unsinn?«, fragte ich noch einmal und fügte noch schärfer hinzu. »Geh weiter.«
Chip sah sehr ernst zu mir hoch. »Wirklich?«
»Geh weiter«, sagte ich noch einmal. »Und ich warne dich.
Wenn du irgendetwas Dummes versuchst, dann wirst du es bereuen.«
Chip sah fast ein bisschen traurig aus. »Wohl kaum«, seufzte er ... und verschwand.
»Sie hätten Jacobs' Geld nehmen und nach Hause gehen sollen«, sagte er.Vielleicht sagte er es auch nicht wirklich, denn so wie er selbst plötzlich verschwunden war, hörte ich nur noch das Klirren der Ketten, in dem diese Worte irgendwie mitzuschwingen schienen.
Ich blinzelte, schüttelte den Kopf und blinzelte noch einmal. Was war nur mit mir los? Hatte ich zu viel von den schädlichen Dämpfen eingeatmet? Und wo war dieser verdammte Bengel?
Zwei- oder dreimal rief ich Chips Namen und bekam nur ein anhaltendes Kettenrasseln zur Antwort, nicht einmal das Echo meiner eigenen Stimme. Ich war nahe daran, einfach die Halle zu durchqueren und nach der Treppe zu suchen, von der Chip gesprochen hatte, verwarf diesen Gedanken aber auch fast schneller wieder, als er mir gekommen war. Ich konnte immer noch nicht viel sehen, aber schon die bloße Vorstellung, mich in diesem unheimlichen Gebäude zu verlaufen, ließ mir die Knie weich werden. Wir waren zwar schon fast in der Mitte der Halle angelangt, aber ich ging lieber einen langen Weg zurück, den ich kannte, als eine vermeintliche Abkürzung zu wählen, die zur Todesfalle werden konnte.
Zur Sicherheit rief ich noch einmal nach Chip, dann drehte ich mich um und machte mich auf den Rückweg ...
... oder hätte es getan, wäre er noch da gewesen.
Ich konnte ihn nicht finden. Es war verblüffend (und ein bisschen beunruhigend): Ich war mir sicher, nicht mehr als zwanzig oder fünfundzwanzig Schritte weit gegangen zu sein, und doch sah ich nichts als von Schatten und pendelnden Ketten erfüllte Weite, die mir schier die Luft abzuschnüren schien.
Originalausgabe © 2014 INK verlegt durch Egmont Verlagsgesellschaften mbH, Köln.
Da waren Tod und Verwesung - selbstverständlich -, doch unter all den Nuancen des Vergänglichen verbarg sich noch etwas anderes und womöglich wahrhaft Bedrohliches. Etwas, das in meiner Kehle brannte und mir das Gefühl gab, dass meine Augen ununterbrochen tränten, obwohl das genaue Gegenteil der Fall war und sich jeder Lidschlag so anfühlte, als scheuerte Sand über meine Augäpfel.
Aber vielleicht spielten mir ja auch nur meine Nerven einen Streich, und vielleicht war ich auch nur diesem Viertel und der ganzen Stadt gegenüber voreingenommen und sah (und vor allem roch) nicht nur das, was um mich herum existierte, sondern vor allem das, was ich zu sehen und zu riechen glaubte.
Ich war widerwillig und mit dem Gefühl hierhergekommen, mit etwas konfrontiert zu werden, von dem ich eigentlich gar nichts wissen wollte. Meine Verabredung ließ nun schon fast eine Stunde auf sich warten, und das missfiel mir nicht nur wegen der Verspätung immer mehr. Das hier war kein Ort für erbauliche Spaziergänge. Bereits seit einer ganzen Weile mutmaßte ich, dass die Verursacher der gierigen Blicke, die ich wie die Berührung nicht minder gieriger Hände auf mir zu spüren glaubte, nur deshalb noch nicht aus ihren Verstecken hervorgestürmt und über mich hergefallen waren, weil ich ein kräftiger Mann von nicht ganz unbeeindruckender Statur und einer gewissen Ausstrahlung war und mir darüber hinaus auch keine große Mühe gab, den langläufigen Revolver zu verbergen, den ich im Gürtel trug.
Dabei gab es kaum etwas, das ich mehr hasste als Waffen, denn schließlich hatte ich oft genug gesehen, welchen Schaden sie in den falschen Händen anrichten konnten. Aber ich hasste auch Ratten und Schmutz und menschlichen Abschaum, und von alledem gab es in dieser Umgebung überreichlich.
Immerhin konnte ich zwei von diesen drei Dingen erschießen, wenn es sein musste.
Was alles nichts daran änderte, dass mir allmählich ernsthaft übel zu werden begann. Ich schluckte einen Mundvoll säuerlich schmeckenden Speichels hinunter, woraufhin mein Magen endgültig zu rebellieren begann, spuckte ins trübe Wasser des Kanals und schnippte den Zigarrenstummel hinterher. Er erlosch zischend, auch wenn es mir so vorkam, als täte er es längst nicht so schnell wie üblich. Ich ertappte mich dabei, ganz instinktiv einen halben Schritt von der blubbernden Brühe zurückzuweichen, so als hätte ich Angst, die Glut der Zigarre könnte den ganzen Kanal in Brand setzen, statt in seinem Wasser zu ersticken. So etwas war schon vorgekommen.
Wenn es denn Wasser war, das da träge vor meinen Schuhspitzen schwappte. Nicht einmal dessen war ich mir ganz sicher, denn weder sah es wie Wasser aus, noch bewegte es sich wie solches, von dem Geruch ganz zu schweigen. Die Brühe war nicht einmal klar oder hatte wenigstens den Anstand, wie moderndes Abwasser oder Jauche auszusehen, sondern schillerte in widerwärtigen grünblauen Schlieren, und da und dort stiegen Blasen an die Oberfläche, um mit einem ekelhaften Geräusch zu platzen und dabei einen Schwall noch viel ekelhafteren Gestanks freizusetzen - den der Wind natürlich genau in meine Richtung trug, und zwar ganz gleich, woher er wehte und wo am Ufer ich gerade stand.
Spätestens jetzt, gestand ich mir ein, begannen meine Gedanken endgültig in gefährliche Gefilde abzugleiten. Aber in einem Moment wie diesem konnte ich mir eine solch kleine Schwäche wohl leisten.
Vorsichtige Schritte näherten sich, und das Gefühl, beobachtet zu werden, wurde noch einmal um Etliches unangenehmer. Doch statt mich sofort umzudrehen, griff ich betont langsam in die Jackentasche und nahm eine weitere Zigarre heraus, um sie in aller Seelenruhe anzuzünden. Selbst der Rauch schmeckte inzwischen faul.
»Sind Sie Devlin?«
Ich nahm einen zweiten, noch tieferen Zug und behielt den Rauch so lange in den Lungen, bis mir leicht schwindelig zu werden begann. Betont langsam - und mit der Linken wie zufällig den Griff meines Revolvers berührend - drehte ich mich um und erlebte eine Überraschung: Die Gestalt war eine gute Handspanne kleiner als ich und konnte nicht einmal die Hälfte meines Gewichts auf die Waage bringen. Auf den zweiten Blick war ich nicht einmal mehr ganz sicher, ob es schon ein Mann war oder noch ein Junge. Auf jeden Fall war er noch sehr jung.
Statt zu antworten, zog ich lediglich fragend die rechte Augenbraue hoch.
»Sind Sie Constabler Devlin?«, erkundigte sich der Junge noch einmal.
Es war lange her, dass mich jemand so genannt hatte, und auch wenn ich zum Schluss meiner Karriere für kurze Zeit Inspektor gewesen war, bevor man mich wieder degradiert hatte, weckte das Constabler Devlin die lebhaftesten Erinnerungen an meine nicht ganz glücklich verlaufene Polizeilaufbahn. Ich nickte knapp. »Und du?«
»Mister Jacobs schickt mich«, sagte der Junge. »Ich soll Ihnen was geben.«
Ich nahm immerhin die Hand von der Waffe - schon weil mir alles andere lächerlich vorgekommen wäre -, legte aber nur den Kopf auf die Seite und bemühte mich um einen fragenden Blick.
»Ich bin Chip.« Der Junge lächelte verschlagen. »Jacobs hat gesagt, dass Sie mich bezahlen.«
Ich antwortete erneut mit einem Nicken, was zugleich aber auch schon meine ganze Reaktion auf diese unverschämte Forderung war und auch bleiben würde. Ich würde ganz gewiss niemanden für irgendetwas bezahlen, bevor ich nicht selbst bezahlt worden war. Falls dieser unverschämte Bengel nicht ohnehin log, um mich zu übervorteilen.
Was offensichtlich der Fall war, denn nach einigen weiteren Augenblicken scharrte er unbehaglich mit den Füßen und griff dann unter seine Jacke, um einen schmalen Briefumschlag aus der Innentasche zu ziehen. Mir fiel nicht nur auf, wie schmutzig seine Finger waren, sondern auch, dass seine Jacke mindestens eine Nummer zu groß war, wenn nicht mehr. Vermutlich gestohlen, wie auch seine übrigen Kleider. Aber das ging mich nichts an.
»Das hat er mir gegeben«, sagte er, als er mir mit einer zögerlichen Bewegung den Brief überreichte. »Und gesagt, dass ich einen Sixpence bekomme.«
Ich ignorierte auch diesen zweiten und schon deutlich weniger subtilen Versuch, mir ein bisschen Geld abzuluchsen, riss den Umschlag auf und las:
Mein lieber Mister Devlin,
alles hat sich inzwischen aufgeklärt und mein Verdacht sich
gottlob als unbegründet erwiesen, sodass ich Ihre Dienste nicht
mehr länger benötige. Einen Betrag in Höhe des vereinbarten
Honorars habe ich bereits auf Ihr Konto angewiesen.
Bitte verzeihen Sie, dass ich Ihre Zeit unnötig in Anspruch
genommen habe.
Mit den besten Wünschen
Ihr Stanley Jacobs
Ich starrte den Brief an, überflog ihn ein zweites Mal, starrte erneut auf die ebenso winzige wie akribische Handschrift und las ihn dann noch ein drittes Mal.
»Irgendwas nicht in Ordnung?«, wollte Chip wissen.
Mir war nicht klar, was das den Burschen anging, aber ich ertappte mich trotzdem dabei, ganz automatisch zu nicken. So konnte man es durchaus nennen.
Ich wusste nicht, ob diese fast schon kalligrafisch anmutende Notiz tatsächlich von Jacobs stammte, denn ich hatte ihn selbst nur ein einziges Mal und seine Handschrift noch nie zu Gesicht bekommen, doch ich erinnerte mich auch gut an seine eher joviale Art zu sprechen und sich zu geben, und weder die Wortwahl noch die schon fast überpräzise Schrift schienen mir zu einem Mann wie ihm zu passen.
Mein Verstand wollte mir (mit Recht) klarmachen, dass sich ein Mann wie Stanley Jacobs durchaus jemanden leisten konnte, der Dinge wie das Verfassen lästiger Notizen für ihn erledigte, aber das war längst nicht alles. Es gab keine Summe, auf die wir uns geeinigt hatten, und ich konnte mich auch nicht erinnern, ihm jemals meine Bankdaten genannt zu haben. Ich bevorzuge Barzahlung, und jetzt erinnerte ich mich auch, dass Jacobs zwischen zwei Schlucken Portwein wissend gelächelt und angemerkt hatte, dass die Steuer ja schließlich nicht alles wissen müsse und es ihn im Übrigen auch nichts angehe, was sie wusste und was nicht.
»Und diesen Brief hast du von Mister Jacobs persönlich bekommen? «, vergewisserte ich mich.
Chip hob die Schultern, und etwas klimperte in seiner Jackentasche. Ich sah ihn noch weitere zwei oder drei Sekunden lang auffordernd an, begriff schließlich, dass ich das auch noch zwei oder drei weitere Stunden lang tun konnte, ohne irgendeine andere Reaktion zu bekommen, und griff widerwillig in die Jackentasche, um einen Sixpence zutage zu fördern. Als Chip jedoch nach dem Geldstück greifen wollte, verbarg ich es blitzartig in der Faust und schüttelte den Kopf.
Der Junge verstand. »Ich kenne diesen Jacobs nicht«, bekannte er. »Er hat behauptet, das sei sein Name. Ein großer Kerl mit Backenbart und teuren Kleidern. Er hat Zigarren geraucht und nach Portwein gerochen.«
Was so ungefähr auf jeden zweiten Kaufmann und Bankier in dieser Stadt zutraf. Ich wiederholte mein Kopfschütteln.
»Aber mehr weiß ich nicht«, beharrte Chip. »Er hat Sie mir beschrieben und mir den Brief gegeben. Und gesagt, dass Sie mich bezahlen.«
Das sah ich zwar nicht ein, händigte ihm aber trotzdem den in Aussicht gestellten Sixpence aus und war nicht überrascht, als mir der Junge das Geldstück aus der Hand riss und dann zurücksprang. Ich wäre auch nicht überrascht gewesen, wäre er auf der Stelle verschwunden, doch Chip gab sich mit diesem kleinen Sicherheitsabstand zufrieden. Vielleicht spekulierte er ja auf einen weiteren Sixpence ... den er ganz bestimmt nicht bekommen würde. Ich griff trotzdem noch einmal wie zufällig in dieselbe Tasche und ließ die Hand auch darin. Ganz wie es zu erwarten gewesen war, setzte der Junge seine begonnene Flucht nicht fort, und in seinen Augen flammte neue Gier auf.
Sehr aufmerksam studierte ich den Text ein viertes Mal. Nichts daran war so ungewöhnlich, dass es nicht zu einem exzentrischen Kaufmann gepasst hätte, und doch schien er mir mit jedem Mal weniger überzeugend. »Wo hast du ihn getroffen? «
»Nicht weit von hier.« Chip machte eine wedelnde Geste überallhin, verstand wohl die Bedeutung, als meine Augenbraue ein weiteres Stück an meiner Stirn emporwanderte, und deutete daraufhin auf ein großes Backsteingebäude ein gutes Stück entfernt, und selbstverständlich auf der anderen Seite des Kanals mit seinem blubbernden Inhalt.
»Dort?«, fragte ich unüberhörbar zweifelnd. Meine Augen tränten jetzt wirklich, und jeder Zug aus der Zigarre hinterließ einen scharfen Nachgeschmack tief in meinem Rachen, den ich allenfalls von jenem billig verschnittenen Tabak kannte, wie man ihn in zwielichtigen Spelunken und ärmlichen Vierteln für ein paar Pennys erstehen konnte. Ich musste ein paarmal blinzeln, um das dreistöckige Gebäude klar zu erkennen, aber dadurch wurde es auch nicht ansehnlicher und schon gar nicht vertrauenswürdiger. Wie ein großer Teil der Häuser hier stand es leer und musste schon vor Jahren aufgegeben worden sein, wie die zahllosen eingeschlagenen Scheiben und herausgerissenen Türfüllungen bewiesen. Schon der bloße Anblick bereitete mir Unbehagen, und eigentlich wollte ich nichts weniger, als dorthin zu gehen.
Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, welcher Teufel Jacobs eigentlich geritten hatte, mich ausgerechnet hierher zu bestellen, in eine Gegend, die so heruntergekommen, leer und vor allem gefährlich war, dass ein so vornehmer Mann wie er eigentlich nicht einmal wissen sollte, dass es sie überhaupt gab. Er hatte mir etwas zeigen wollen, aber was? Tote Katzen und ersoffene Ratten?
Chip scharrte erneut mit den Füßen, und ich erwartete, dass er nun losgehen würde, um mir den Weg über den Kanal zu zeigen, aber der Junge druckste nur weiter herum. Schließlich zog ich einen zweiten Sixpence hervor, ließ aber auch ihn sofort wieder in der geschlossenen Faust verschwinden, sodass das verlockende Geldstück nur ganz kurz zwischen meinen Fingern aufblitzte, und das verstand sogar dieser gierige Bengel und setzte sich missmutig in Bewegung.
Wir gingen dichter an dem stinkenden Kanal entlang, als mir lieb war. Die Ränder des künstlich angelegten Flusses waren längst von ätzenden Dämpfen und der erbarmungslosen Witterung Belfasts angegriffen und zum Teil sogar zerstört worden. Unter jedem zweiten oder dritten Schritt lösten sich Staub und zerbröckelnder Stein, manchmal ganze Trümmerlawinen, die mit einem heftigen Platschen im Wasser verschwanden, woraufhin nur zu oft ein Schwall noch übleren Gestanks folgte. Ich würde meine Kleider wechseln müssen, dachte ich missmutig, sobald ich zu Hause war; möglicherweise baden.
Falls ich wieder nach Hause kam. Mit einem Mal war ich gar nicht mehr so sicher, dass ich diesen Ort lebend verlassen würde.
Ich blieb stehen, als wir eine schmale Brücke erreichten, die in einem Bogen über die zischende Brühe hinwegführte, der den meisten kühn vorgekommen wäre, mir aber schier die Haare zu Berge stehen ließ. Es war nicht so, dass ich der Brücke nicht traute. Sie sah baufällig aus, stand aber nun schon seit mindestens einem Menschenalter hier und würde sicher auch noch einige weitere Minuten und meinem Gewicht standhalten. Aber allein der Gedanke, diese widerwärtige Brühe zu überqueren, war mir zuwider.
»Ich würde da nicht reingehen«, sagte Chip, fast als hätte er meine Gedanken gelesen. »Ist eine gefährliche Gegend. Hier ist schon so mancher einfach verschwunden.«
Vielleicht nur, um vor dem Jungen nicht das Gesicht zu verlieren, betrat ich, ohne zu zögern, den geländerlosen Steg und legte ein forsches Tempo vor. Ich ertappte mich dabei, die ganze Zeit über die Luft anzuhalten, und auf der anderen Seite angekommen entfernte ich mich rasch ein paar Schritte und blieb dann wieder stehen, um das Gebäude einer weiteren Musterung zu unterziehen. Es gefiel mir immer weniger. »Hier hast du ihn getroffen?«, fragte ich misstrauisch.
Statt zu antworten, starrte Chip meine geschlossene Faust an. Ich reichte ihm den Sixpence, der wie weggezaubert verschwand, und fügte warnend hinzu: »Und lass dir nicht einfallen, mich zu betrügen, Freundchen.«
Der Junge schüttelte den Kopf, und diesmal war das Klimpern so laut, als hätte er eine ganze Schlüsselfabrik in der Jackentasche. »Auf der anderen Seite. Ich war auf der Straße unterwegs, um mich mit ein paar Kumpel zu treffen, da hat er mich angesprochen. Hat mit seinem schicken Wagen am Straßenrand gehalten und mir den Brief und einen Sixpence ... ich meine den Brief gegeben und mir gesagt, dass ich einen Sixpence von Ihnen bekomme.«
Ich hatte Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken. Eigentlich sollte ich zornig werden, doch irgendwie beeindruckte mich diese ganz bestimmte Art von Unverschämtheit auch beinahe. »Ich sehe keine Straße«, widersprach ich trotzdem.
»Hinter dem Haus, auf der anderen Seite«, sagte Chip. »Wir können außen rumgehen, aber dann müssen wir das ganze Stück zurück. Und er ist auch gleich wieder abgefahren.«
Ich überlegte. Alles in mir sträubte sich dagegen, diese Ruine zu betreten, aber die Vorstellung, die ganze Strecke neben und über den Kanal wieder zurückzugehen, behagte mir noch viel weniger. Außerdem wollte ich vor dem Jungen nicht als Feigling dastehen.
»Dann zeig mir, wo du ihn getroffen hast.«
»Bestimmt?« War da plötzlich etwas Lauerndes in Chips Augen? »Ist nicht ganz ungefährlich.«
Ich paffte an meiner Zigarre und sah auf ihn hinab. Chip begriff, zog eine Grimasse und ging weiter.
Das Gebäude war riesig und strahlte etwas ebenso Abweisendes wie fast Heimtückisches aus. Trotz der zahlreichen Fenster, in denen es schon seit Jahren kein Glas mehr gab, herrschte in seinem Inneren nahezu vollkommene Finsternis und ein Gestank, der im wortwörtlichen Sinne atemberaubend war. Ich sog so stark an meiner Zigarre, dass ich husten musste, doch diesmal funktionierte der Trick nicht, und der Tabakqualm machte es eher noch schlimmer. Es stank nach geronnenem Blut und nassem Fell und Öl und Ruß und Wagenschmiere und verdorbenen Lebensmitteln, nach Katzenpisse und faulendem Wasser und hundert anderen Dingen, die allesamt unangenehm waren und in ihrer Summe augenblicklich erneut ein Gefühl latenter Übelkeit in mir weckten. Ich verspürte ein Rumoren in den Eingeweiden, das das Potenzial hatte, bei der geringsten unvorsichtigen Bewegung zu etwas weit Unangenehmerem zu werden.
»Passen Sie auf, wo Sie hintreten«, warnte Chip. »Hier kann man leicht zu Schaden kommen.«
Ich trat erst einmal nirgendwohin, sondern blieb stehen, damit sich meine Augen an das schwache Licht gewöhnen konnten. Ich hatte ein vages Gefühl von Weite, das mich zugleich aber auch zu erdrücken schien, so absurd es mir auch selbst vorkam. Chip hatte recht. Ich sollte nicht nur aufpassen, wo ich hintrat, sondern auf dem Absatz kehrtmachen und von diesem unheimlichen Ort verschwinden, so schnell ich nur konnte. Sollte dieser dahergelaufene Straßenjunge doch von mir denken, was er wollte!
Stattdessen blinzelte ich ein paarmal heftig, und um zusätzliche Zeit zu gewinnen, fragte ich: »Was war das hier früher einmal?«
»Weiß nicht. Ein Schlachthof. Vielleicht. Oder sie haben hier nur die Felle und die Haut verarbeitet. Warum?«
Eine ehemalige Gerberei würde zumindest den aufdringlichen Geruch nach Chemikalien und Tod erklären, aber eigentlich konnte ich nicht einmal genau sagen, warum ich diese Frage überhaupt gestellt hatte, denn es interessierte mich auch nicht. Über den Niedergang Belfasts in dem ständig von Hungerkatastrophen bedrohten Irland waren schon zahllose kluge Artikel verfasst und viele noch klügere Bücher geschrieben worden, eloquente Abhandlungen über die Gründe besagten Niedergangs und düstere Warnungen, dass alles nur noch viel schlimmer werden konnte. Die einen meinten, dass nur eine engere Anlehnung Irlands an das englische Parlament helfen könnte, den drohenden Niedergang zu verhindern, die anderen kämpften für eine eigene Verfassung und Selbstverwaltung oder sogar die völlige Loslösung vom Britischen Empire, in der sie die einzige Chance sahen, Irland in eine bessere Zukunft führen zu können.
Ich war für mich selbst schon zu einer viel simpleren Erklärung gekommen: Die Dinge änderten sich, unerbittlich und immer und unaufhaltsam, und jeder musste für sich sehen, wie er mit diesem Wandel der Zeiten zurechtkam. So einfach war das.
Meine Augen hatten sich umgestellt. Ich sah immer noch nicht viel, aber wenigstens genug, um nicht unversehens in einen jäh aufklaffenden Abgrund zu stürzen oder mich an irgendeiner heimtückischen Kante aufzuspießen, die auf mich lauerte.
Es gab keine Abgründe. Der Boden war massiv und mit einer klebrigen schwarzen Schicht bedeckt, auf der unsere Schritte unangenehme Sauggeräusche verursachten. In dem wenigen Licht, das meinen Augen blieb, erkannte ich kaum mehr als gedrungene finstere Umrisse, die gefährlichen Raubtieren gleich in der ewigen Dämmerung lauerten. Wie eiserne Spinnweben hingen Ketten von der Decke, die sich höher über unseren Köpfen erhob, als mein Blick reichte, und irgendwo tropfte regelmäßig eine Flüssigkeit; kein Wasser, eher etwas Dickflüssigeres. Obwohl es bei Weitem nicht das erste Mal war, dass ich einen solch heruntergekommenen Ort sah, hatte ich das Gefühl, eine vollkommen fremde Welt zu betreten, einen Winkel der Schöpfung, in dem Menschen nicht willkommen waren und auch nicht sein sollten.
Das irritierte mich. Ich hielt mich vollkommen zu Recht für einen rationalen Menschen, zu dem solcherlei krudes Zeug gar nicht passte. Aber ich wurde das unangenehme Gefühl, hier vollkommen fehl am Platz zu sein, auch nicht los.
»Wohin?«, fragte ich knapp. Selbst an diesem einzelnen Wort war etwas ... unpassend, als wäre allein der Klang einer menschlichen Stimme an diesem Ort ein Frevel, der nicht ungesühnt bleiben konnte.
Ich ahnte Chips deutende Geste mehr, als dass ich sie sah. Eine der Ketten rasselte, als hätte er sie berührt, doch das konnte nicht sein, denn er stand ein gutes Stück entfernt. »Wir müssen durch die Halle und dann einfach die Treppe runter.«
Seltsamerweise klang seine Stimme nicht annähernd so deplatziert wie meine eigene, sah man von einem leicht metallischen Unterton ab, als redete er mit Stimmbändern aus Eisen. Sicher eine Folge der verwirrenden Akustik dieses Ortes.
»Dann geh voraus.«
Diese Worte wiederum klangen wieder falsch. Allmählich wurde mir dieser Ort wirklich unheimlich.
Ich wartete, bis sich Chip vor mir in Bewegung gesetzt hatte, was von einem neuerlichen und diesmal lang anhaltenden Kettenrasseln begleitet wurde, und nun sah ich, dass sich etliche der dicken Kettenbündel bewegten. Vielleicht ein Luftzug, den wir mit unserem Eintreten ausgelöst hatten.
Ich folgte dem Jungen, aber ich fiel auch mit jedem Schritt, den er machte, ein wenig weiter zurück, denn ich trat nur sehr behutsam auf, schon wegen der unangenehmen Geräusche, die ich dabei verursachte.
»Was wollte Jacobs Ihnen denn eigentlich hier zeigen?«, fragte Chip, nachdem wir vielleicht ein Drittel der großen Halle durchquert hatten. Auch er ging jetzt etwas langsamer, aber es wollte mir einfach nicht gelingen, wirklich zu ihm aufzuholen. Ich hatte das verrückte Gefühl, dass sich der Junge immer gerade außerhalb meines Blickfelds hielt; ganz egal, wie schnell oder langsam ich auch ging.
»Warum fragst du das?«, erwiderte ich. Das unheimliche Gefühl, einen monströsen Schatten irgendwo in der Dunkelheit über mir entlanghuschen zu sehen, ergriff mich.
»War nur neugierig«, sagte Chip. Er blieb nun doch stehen und strich in Gedanken über eine der Ketten, die neben ihm von der Decke hingen. Als hier noch gearbeitet worden war, hatten sie vielleicht dazu gedient, tote Schweine und Rinder- hälften zu transportieren oder schwere Maschinenteile zu bewegen. Jetzt mochten sie weit sinisteren Zwecken dienen, über die ich gar nicht nachdenken wollte. »Ist schon ein komischer Ort, nicht?«
Mir wäre durchaus eine andere Bezeichnung dafür eingefallen, aber ich schwieg.
Chip betastete eine der Ketten, folgte ihr mit Blicken, bis sie in der Dunkelheit über uns verschwand, und zog prüfend daran. Ich wünschte mir, er hätte das nicht getan. Chip selbst vermutlich auch, denn die Kette geriet ins Pendeln, berührte ihn sacht an der Wange und hinterließ einen langen Schmierer aus Rost und Öl darauf. »Ob sie es wohl gewusst haben?«
»Was?«
»All diese Tiere, die hier getötet worden sind. Das müssen Tausende gewesen sein.«
»Man sagt, dass Tiere die Angst der anderen riechen«, bestätigte ich, bekam aber nur ein neuerliches Kopfschütteln zur Antwort. Und ein noch länger anhaltendes Kettenrasseln.
»Das meine ich nicht. Ob sie wohl von uns gewusst haben?«
»Von uns?«
»Es waren nur Tiere, aber auch sie haben die Welt rings um sich herum bestimmt irgendwie wahrgenommen.« Chip machte ein übertrieben nachdenkliches Gesicht. »Ich frage mich, ob all diese Kreaturen davon wissen, dass es da noch eine andere Spezies gibt, die mitten unter ihnen lebt ... und die viel intelligenter ist als sie und viel gefährlicher.«
Für einen vermeintlichen Straßenjungen, als den ich Chip eingeschätzt hatte, waren das sehr seltsame Gedanken. »Was soll das?«, fragte ich misstrauisch.
»Ich denke nur so«, erwiderte Chip. »Wie erstaunt sie wohl wären, wenn sie es wüssten. Und ob sie wohl fähig wären, sich zu wehren.«
»Wehren?«
»Gegen das Schicksal. Gegen uns.«
»Was soll der Unsinn?«, fragte ich noch einmal und fügte noch schärfer hinzu. »Geh weiter.«
Chip sah sehr ernst zu mir hoch. »Wirklich?«
»Geh weiter«, sagte ich noch einmal. »Und ich warne dich.
Wenn du irgendetwas Dummes versuchst, dann wirst du es bereuen.«
Chip sah fast ein bisschen traurig aus. »Wohl kaum«, seufzte er ... und verschwand.
»Sie hätten Jacobs' Geld nehmen und nach Hause gehen sollen«, sagte er.Vielleicht sagte er es auch nicht wirklich, denn so wie er selbst plötzlich verschwunden war, hörte ich nur noch das Klirren der Ketten, in dem diese Worte irgendwie mitzuschwingen schienen.
Ich blinzelte, schüttelte den Kopf und blinzelte noch einmal. Was war nur mit mir los? Hatte ich zu viel von den schädlichen Dämpfen eingeatmet? Und wo war dieser verdammte Bengel?
Zwei- oder dreimal rief ich Chips Namen und bekam nur ein anhaltendes Kettenrasseln zur Antwort, nicht einmal das Echo meiner eigenen Stimme. Ich war nahe daran, einfach die Halle zu durchqueren und nach der Treppe zu suchen, von der Chip gesprochen hatte, verwarf diesen Gedanken aber auch fast schneller wieder, als er mir gekommen war. Ich konnte immer noch nicht viel sehen, aber schon die bloße Vorstellung, mich in diesem unheimlichen Gebäude zu verlaufen, ließ mir die Knie weich werden. Wir waren zwar schon fast in der Mitte der Halle angelangt, aber ich ging lieber einen langen Weg zurück, den ich kannte, als eine vermeintliche Abkürzung zu wählen, die zur Todesfalle werden konnte.
Zur Sicherheit rief ich noch einmal nach Chip, dann drehte ich mich um und machte mich auf den Rückweg ...
... oder hätte es getan, wäre er noch da gewesen.
Ich konnte ihn nicht finden. Es war verblüffend (und ein bisschen beunruhigend): Ich war mir sicher, nicht mehr als zwanzig oder fünfundzwanzig Schritte weit gegangen zu sein, und doch sah ich nichts als von Schatten und pendelnden Ketten erfüllte Weite, die mir schier die Luft abzuschnüren schien.
Originalausgabe © 2014 INK verlegt durch Egmont Verlagsgesellschaften mbH, Köln.
... weniger
Autoren-Porträt von Wolfgang Hohlbein
Wolfgang Hohlbein wurde 1953 in Weimar geboren und ist Deutschlands erfolgreichster Fantasy-Autor. Der Durchbruch gelang ihm 1983 mit dem preisgekrönten Jugendbuch "Märchenmond". Inzwischen hat er 150 Bestseller mit einer Gesamtauflage von über 40 Millionen Büchern verfasst. 2012 erhielt er den internationalen Literaturpreis NUX.
Bibliographische Angaben
- Autor: Wolfgang Hohlbein
- Altersempfehlung: Ab 16 Jahre
- 2014, 640 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Ink
- ISBN-10: 3863960661
- ISBN-13: 9783863960667
- Erscheinungsdatum: 04.02.2014
Kommentar zu "Der zehnte Kreis / Irondead Bd.1"
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Der zehnte Kreis / Irondead Bd.1".
Kommentar verfassen