Jessica - Alles Glück hat seinen Preis
Band 9
Jessica nimmt Abschied von Australien und von ihrer geliebten Farm: Sie fährt nach England, um ihr ungewolltes Kind, diese "Schande", dort heimlich zur Welt zur bringen. Doch sie hat noch andere Gründe für ihre Reise: Sie möchte...
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Produktinformationen zu „Jessica - Alles Glück hat seinen Preis “
Jessica nimmt Abschied von Australien und von ihrer geliebten Farm: Sie fährt nach England, um ihr ungewolltes Kind, diese "Schande", dort heimlich zur Welt zur bringen. Doch sie hat noch andere Gründe für ihre Reise: Sie möchte endlich ihre Halbschwester kennenlernen. Vor allem aber will sie sich an ihrem Vater für das Unrecht rächen, das er einst an ihr begangen hat.
Lese-Probe zu „Jessica - Alles Glück hat seinen Preis “
Alles Glück hat seinen Preis von Ashley Carrington Prolog
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Es war seine letzte Nacht und seine letzte Chance, und er wusste es. Wenn es ihm diesmal nicht gelang, das Glück auf seine Seite zu locken und auch zu halten, stand es schlechter um ihn bestellt als vor anderthalb Jahren, als er seinen seidenbestrumpften Fuß auf australischen Boden gesetzt hatte, und das wollte etwas heißen. Die lange, fast fünf Monate währende Überfahrt mit dem Ostindiensegler hatte er wahrlich nicht aus Abenteuerlust oder aber aus einer exzentrischen Laune heraus angetreten. Es war eine Tat der Verzweiflung gewesen, auch wenn er sich das damals so nicht eingestanden hatte. Henry Thornton verdrängte die trüben Gedanken und sah sich im Hotelzimmer um, von dem aus man einen herrlichen Blick auf die schnell wachsende Stadt Sydney, ihren geschäftigen Hafen und die weite Bucht hatte, die unter Seeleuten und weit gereisten Kaufleuten als der schönste Naturhafen der Welt galt. Er hatte Angst vor dieser Nacht, doch er war ein Gentleman und so erzogen worden, sich derart gewöhnliche Gefühlsregungen nicht anmerken zu lassen, schon gar nicht, wenn es sich um etwas so Profanes wie Geld handelte. Vor dem Spiegel über der Waschkommode prüfte er eingehend sein Erscheinungsbild. Er sah einen äußerst attraktiven Mann von zweiundvierzig Jahren in einem eleganten mandelfarbenen Sommeranzug aus bestem Tuch. Die Krawatte war perfekt gebunden und das Rüschenhemd makellos weiß. Die goldenen Manschettenknöpfe mit dem eingravierten Familienwappen der Thorntons funkelten im Licht der Lampe, wie auch die Kette seiner Taschenuhr, die einen Bogen aus schimmerndem Gold über die linke Seite seiner Seidenweste beschrieb und in einer der Seitentaschen verschwand. Er drehte den Kopf leicht zur Seite, um sein Profil zu begutachten, und ihm war, als wäre er im Gesicht in letzter Zeit etwas schmaler geworden, und das Grau an seinen Schläfen schien tiefer in sein schwarzes Haar vorgedrungen zu sein. Doch alles in allem war er mit dem, was ihm im Spiegel entgegenblickte, sehr zufrieden. Wie es in ihm aussah, ging niemanden etwas an. Wenige Minuten später verließ Henry Thornton das neu errichtete Hotel Royal York, das mit seinen geräumigen und komfortabel eingerichteten Zimmern der zahlungskräftigeren Kundschaft vorbehalten war. Es stand am Ostufer von Sydney, der besseren Wohngegend, wo auch der Gouverneurspalast und die Häuser der wohlhabenden Kaufleute und mancher Offiziere zu finden waren. Besonders Letztere hatten es verstanden, rasch und skrupellos zu einem Vermögen zu kommen, indem sie kurz entschlossen die Macht an sich gerissen und die Kolonie zu ihrem Dukatenesel gemacht hatten. Es gab kaum ein Geschäft, an dem die Offiziere nicht profitierten, doch das einträglichste war das mit Rum, und sie besaßen das Monopol. Henry Thornton verzichtete auf die unnötige Ausgabe für eine Kutsche und machte sich im schwindenden Licht des scheidenden Tages auf den Weg zu Betsy's Place. Dieses Etablissement hatte sich nicht nur den Ruf erworben, das geschmackvollste Bordell mit den exquisitesten Freudenmädchen der ganzen Kolonie zu sein, sondern es war auch Treffpunkt derjenigen leidenschaftlichen Glücksspieler, die ihre Einsätze in Pfund machten und nicht in Pennies wie die Kartenspieler in den verräucherten Tavernen. Forschen Schrittes, aber ohne Anzeichen von Hast, ging er die Straße hinunter und überquerte die Brücke, die über einen Bach führte. Dieser kleine Wasserlauf trennte das ruhige und vornehmere Ostufer vom bedeutend geschäftigeren und dichter bebauten Westufer. Henry Thornton war immer wieder überrascht, wie schnell diese Sträflingskolonie in den letzten Jahren gewachsen war, ganz besonders Sydney. Wo vor nicht einmal einem Vierteljahrhundert die ersten Seeleute, Soldaten und Deportierten ihre Zelte aufgeschlagen und damit begonnen hatten, primitive Hütten aus Lehm und Flechtwerk zu errichten, fanden sich nun ganze Straßenzüge stattlicher Häuser, die solide gebaut waren, sowie eine immer rascher wachsende Zahl Lagerhallen, Speicher, Geschäfte, Werkstätten und öffentlicher Gebäude. Und waren in den Anfangsjahren Häuser aus massiven Ziegelsteinen eine Seltenheit gewesen, so traf man nun überall in der Stadt auf rote Backsteingebäude. Sydney war nicht länger ein elender, von verheerenden Naturkatastrophen und schrecklichen Hungersnöten heimgesuchter und vom Rest der Welt vergessener Ort, sondern das pulsierende Herz einer aufstrebenden Kolonie, in die nicht nur Sträflinge strömten; es kamen schon seit vielen Jahren auch geschäftstüchtige Kaufleute und freie Siedler, um in diesem neuen Land ihr Glück zu machen. So war Sydney zu einer geschäftigen, lärmenden Hafenstadt geworden, durch deren staubige Gassen und Straßen hoch beladene Fuhrwerke und Ochsengespanne rumpelten. Und die vielen Kutschen und offenen Wagen verrieten, dass es in Sydney und in den umliegenden Ortschaften viele vermögende Farmer und Kaufleute gab. An den Anblick von Sträflingen in Ketten und zerlumpter Kleidung und Aufseher, die mit Peitsche und Stock nicht gerade zimperlich umgingen, musste man sich dagegen erst gewöhnen. Manchen gelang es jedoch nie, dieses tägliche Elend als normalen Alltag einer Sträflingskolonie zu betrachten und gar nicht mehr bewusst wahrzunehmen. Kleine Werften, Bootsausbesserer, Segelmacher und Schiffsausrüster sowie Handelskontore waren auf der Westseite der Bucht zu finden - und auch das Lasterviertel der Stadt, das The Rocks genannt wurde, weil es sich gleich unterhalb vom Fort und den Unterkünften der Soldaten auf der felsigen Landzunge ausbreitete. Es war ein Labyrinth aus schäbigen Lehmhütten, Bretterschuppen, Zelten und vereinzelten Ziegelhäusern. In diesem Gewirr enger Gassen, die von Unrat, Exkrementen und Erbrochenem stanken, und verwinkelter Hinterhöfe reihte sich eine zwielichtige Taverne neben der anderen an Rum-Spelunken und Opiumhöhlen. Und wen es nach fleischlichen Genüssen gelüstete, fand in den Rocks jede Art der Befriedigung, wie ausgefallen die Wünsche auch sein mochten. Henry Thornton zog es vor, sich den schmutzigen Gassen fernzuhalten und einen Bogen um die Rocks zu schlagen. Glücklicherweise lag Betsy's Place ganz am Rand dieses quirligen, sündigen Viertels und in unmittelbarer Nähe des Forts. Das letzte Tageslicht erlosch jenseits der Cockle Bay, und die Nacht legte ihr schwarzes Tuch über die Küste, als er das solide Backsteinhaus von Betsy Fodder betrat und wenig später im Spielsalon an einem der Tische Platz nahm. Man hatte ihn schon erwartet. Getränke wurden bestellt und gebracht, scherzhafte Bemerkungen ausgetauscht, während man sich gegenseitig abzuschätzen versuchte, und Zigarren in Brand gesetzt. Und immer wieder gingen die Blicke zu den Karten, die in der Mitte des Tischs auf dem grünen Filz lagen und darauf warteten, sich zu guten und schlechten Blättern zusammenzufügen, um gleichermaßen Glück wie bittere Enttäuschung zu bringen. »Gentlemen, wir sind uns über die Regeln einig?« »Sollte man annehmen, Lieutenant«, bekam der Frager spöttisch zur Antwort. »Ist ja nicht das erste Mal, dass wir an diesem Tisch sitzen und die Karten darüber entscheiden lassen, wer von uns Ihre Taschen füllt.« Fröhliches, zustimmendes Gelächter, doch nicht ohne eine Spur von Groll und Entschlossenheit, diesmal dafür zu sorgen, das Glück in dieser Nacht in die eigenen Karten zu zwingen. Noch einmal wurden die Gläser gefüllt und dann die Geldbeutel geöffnet. Man wollte sehen, was jeder in dieser Nacht zu verspielen bereit war. Innerhalb von wenigen Augenblicken glitzerten an jedem Platz kleine Säulen von Gold und Silber. Eine schnelle, elegante Handbewegung, und der Stapel Karten hatte sich in der Mitte des Tischs in einen halbkreisförmigen Fächer verwandelt. »Ermitteln wir den ersten Geber, Gentlemen.« Jeder zog eine Karte. Kreuz-As für Henry Thornton. Er lächelte. Ja, so war es richtig. Er brauchte Glück vom Start weg. Dies musste seine Nacht werden. »Sie beginnen, Henry«, sagte der Lieutenant und hob mit der gesunden linken Hand den rechten, halb lahmen Arm aus der Schlinge und legte ihn auf den Tisch. Viel konnte der Offizier mit seinem zerschossenen Arm nicht mehr anfangen, aber seine Finger waren immer noch in der Lage, ein gutes Blatt zu halten - oder mit einem schlechten beim eiskalten Bluffen nicht zu zittern. Henry Thornton schob die Karten zusammen, begann zu mischen und teilte aus. Die Karten flogen lautlos über den grünen Filz und vor die Säulen aus Gold und Silber. »Ihre Einsätze, Gentlemen!« Das raue Gelächter aus der Bar im Nebenraum und die hellen Stimmen verführerischer Frauen traten in den Hintergrund zurück und wurden zu einer dumpfen Geräuschkulisse, die sich ihrer bewussten Wahrnehmung entzog. Das Spiel begann. Es wogte Stunde um Stunde wie eine Seeschlacht hin und her. Erst gegen Morgen fiel das letzte Blatt aufgedeckt auf den Tisch. Mit brennenden, blutunterlaufenen Augen starrte Henry Thornton auf die Karten. Seine Nackenmuskeln schienen zuckende Feuerstränge zu sein, und hinter seiner Stirn pochte ein unerträglicher Schmerz. Doch in seinem Gesicht bewegte sich kein Muskel. »Gratulation, Lieutenant«, sagte er äußerlich völlig beherrscht, während er sah, wie der Offizier mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen die Gold- und Silbermünzen einstrich - und seine goldene Taschenuhr an sich nahm. »Schätze, es war nicht ganz Ihre Nacht, Henry.« Scheinbar ungerührt zuckte Henry Thornton mit den Schultern und erhob sich. »Es wird auch wieder andere Nächte geben. Gentlemen, es war mir ein Vergnügen«, sagte er, blickte mit einem leichten Nicken in die Runde und verließ den Spielsalon. Die Sonne warf ihr erstes Licht auf die spiegelglatte Oberfläche der Bucht. Wie goldene Lanzen bohrten sich die Sonnenstrahlen in das Dunkel über dem Wasser. Er ging zum Fort hinauf, atmete die frische Morgenluft tief ein und fragte sich, was nun werden sollte. Er hatte nicht nur sein letztes Geld verloren, sondern auch noch seine goldene Taschenuhr. Henry Parcival Gaylord Thornton war erledigt, in Sydney, am Ende der Welt, bis auf den letzten Penny abgebrannt. Ein selbstironisches Lächeln trat auf sein Gesicht. Viel hatte er in diesen anderthalb Jahren, die er sich in der Kolonie he rumgetrieben hatte, wahrlich nicht erreicht. Aber er war sicher, doch immerhin für sich in Anspruch nehmen zu können, dass er der einzige Lord war, der in Australien gestrandet war.
AUSTRALIEN November 1809
1
Meile um Meile zog sich die sandige Straße, von den eisenbeschlagenen Rädern klobiger Siedlerfuhrwerke mit tiefen Spurrillen durchzogen und von sintflutartigen Regengüssen ausgewaschen, durch das australische Buschland nach Nordwesten. Die Sonne brannte noch immer mit scheinbar unverminderter Kraft vom Himmel. Dabei stand sie doch schon tief über den zerklüfteten Bergzügen der Blue Mountains, die der britischen Strafkolonie New South Wales nach Westen hin eine natürliche Grenze setzten. Zumindest vorläufig noch. In den einundzwanzig Jahren, die seit der Gründung durch die erste Sträflingsflotte vergangen waren, war es keinem noch so Wagemutigen gelungen, diese schroffe Bergkette zu überqueren. Doch früher oder später würde einer Expedition schon der Erfolg beschieden sein, einen Weg über die Blue Mountains zu finden, und dann würden die Siedler nicht mehr nur nach Norden und Süden, sondern auch tiefer nach Westen vordringen. Unter den Hufen der beiden Pferde, deren Reiter die Tiere in einem zügigen Tempo über den einsamen Buschpfad lenkten, wirbelte rotbrauner Sand auf, der die Landschaft in dieser Gegend, zwei Tagesritte von Sydney entfernt, bestimmte. Die Staubfahne, die sie wie einen Schleier hinter sich herzogen, hielt sich lange in der warmen Luft des späten Nachmittags, ehe der Staub zu Boden sank und sich auf das struppige Gras und die Dornenbüsche legte, die ihren Weg säumten. Die weiten Ebenen und sanften Hügelketten am Hawkesbury River und die primitiven Straßen und Pfade, die durch diesen westlichen Teil der Kolonie führten, waren Jessica Brading und ihrem Verwalter Ian McIntosh so vertraut wie die eigenen Gesichtszüge. Jessica liebte dieses noch immer wilde und im Sommer sonnendurchglühte Land unter dem Kreuz des Südens, an dessen kaum erforschte Küste sie vor zehn Jahren als deportierter Sträfling gespült worden war, mehr tot als lebendig. New South Wales war ihre Heimat geworden, ganz besonders dieses weite Buschland am Hawkesbury River, wo sich ihre Farm Seven Hills über viele tausend Morgen Äcker, Weiden und Felder erstreckte. Die Liebe zu diesem Land war keine neue Erkenntnis. Doch selten war sich Jessica der Faszination des australischen Busches so sehr bewusst gewesen wie an diesem Spätnachmittag. Ihr Inspektionsritt zu den Außenweiden hatte sie und Ian seit den frühen Morgenstunden im Sattel gehalten, doch ihr war nicht eine Minute dieses anstrengenden Ritts zu viel gewesen. Die sandige Buschstraße führte durch ein kleines Waldstück. Jessica und Ian tauchten in den Schatten hoher, graustämmiger Eukalyptusbäume ein. Den intensiven aromatischen Duft, den diese immergrünen Bäume verströmten, hatten sie schon aus einiger Entfernung wahrgenommen. Nun hüllte er sie ein. Es war ein in der Wärme erfrischender, belebender Duft, der die relative Kühle des Schattens nachdrücklich zu Bewusstsein brachte. Als sie wenig später aus dem kleinen Eukalyptuswald herauskamen, schreckten sie einen Schwarm Kookaburras auf, der sich auf den Ästen einer Schirmakazie niedergelassen hatte. Mit wildem Flügelschlag und lautem Geschrei, das dem menschlichen Gelächter verblüffend ähnlich klang, sodass die Siedler sie auch Lachvögel nannten, ergriff der Schwarm vor den herannahenden Reitern die Flucht. In das scheinbare Gelächter der Kookaburras mischte sich das glockenhelle Trällern von einigen schwarzen Currawongs. Die Vogelstimmen waren weithin zu hören. Der Weg schlängelte sich nun durch eine Hügelkette. Jessica gab einer spontanen Regung nach und lenkte Adrian, ihren prächtigen Wallach, nach links und den Hang von einem der Hügel hinauf, der alle anderen überragte und den Namen Macklin's Bulge trug. Ian McIntosh, der die ganze Zeit mit ihr auf einer Höhe geritten war, lachte kurz auf, als hätte er damit gerechnet, und folgte ihr so geistesgegenwärtig, dass Jessica ihm gerade eine Pferdehalslänge voraus war, als sie die Kuppe der Anhöhe erreichten. Hier zügelten sie ihre Pferde. Ian wusste, weshalb Jessica Macklin's Bulge hinaufgeritten war: Von seiner runden Spitze hatte man einen ausgezeichneten Blick auf das Herzstück von Seven Hills. »Was für ein Land!«, rief Jessica unwillkürlich, beide Hände auf das Sattelhorn gelegt. Sie trug dunkelbraune, derbe Reithosen, wie sie für einen langen Ausritt in den Busch nötig waren, und eine weite Bluse aus blauem, einfachem Kattun. Die Schlichtheit ihrer Kleidung vermochte jedoch nicht über die anmutigen Formen dieser jungen, noch nicht dreißigjährigen Frau hinwegzutäuschen. Rotbrauner Staub fand sich in ihrem blonden, lockigen Haar, das im Nacken von einem dunkelbraunen Haarband zusammengehalten wurde und ihr bis auf die schlanken Schultern fiel. Staub und Schweiß vermischten sich auch auf ihrem zart geschnittenen Gesicht, das wenig über die Stärke ihres Charakters aussagte, dafür aber dem Betrachter das eigentümliche Gefühl vermittelte, in ein Antlitz zu schauen, das eine ganz besondere Ausstrahlung besaß, eine Schönheit, die sich nicht allein in äußeren Attributen niederschlug, sondern von innen kam. Und in ihren Augen, die so geheimnisvoll grün wie das Wasser einer stillen Lagune in tropischen Gefilden leuchteten, lagen Sanftmut und Härte zugleich. »Was für ein Land!«, sagte Jessica noch einmal. »Ja, ein wunderbares Land«, pflichtete Ian ihr bei. »Und doch nicht für jedermann geschaffen.« »Aber für uns.« Er lächelte. »Mit Sicherheit, Jessica.« Ian McIntosh war ein groß gewachsener, kräftig gebauter Mann mit einem offenen, sympathischen Gesicht, das vom Leben unter freiem Himmel gezeichnet war. Seine blassblauen Augen bildeten einen interessanten Kontrast zu seiner sonnengebräunten Haut und seinem gleichfalls dunklen Haar. Von seinen neununddreißig Jahren hatte er über ein Drittel in Australien verbracht und war beim Aufbau von Seven Hills von Anfang an mit dabei gewesen. Die ersten fünf Jahre als irischer Sträfling und Zwangsarbeiter, nach seiner vorzeitigen Begnadigung dann als Aufseher und später sogar als Verwalter. Jessica verdankte Ian McIntosh, der schon der Freund ihres Mannes gewesen war, sehr viel. Er war weitaus mehr für sie als nur ein fähiger Verwalter, dessen eigene geschäftliche Unternehmungen ihn längst in die Lage versetzten, sich selbst eine Farm zu kaufen und sein eigener Herr zu sein. Er war ein verlässlicher Freund und eine unverzichtbare Stütze. Ohne seinen moralischen und tatkräftigen Beistand hätte sie nach dem Tod ihres Mannes, der nun schon einige Jahre zurücklag, den Boden unter den Füßen verloren - und vielleicht sogar Seven Hills. Sieben sanft ansteigende und abfallende Hügel bildeten das Herzstück der Farm, das nun vor ihren Augen lag, und hatten ihr ihren Namen verliehen. Umgeben von meilenweiten Viehweiden, Feldern und Äckern, deren Bewässerungssystem vorbildlich für alle Farmen im Siedlungsgebiet am Hawkesbury war, befand sich auf der mit zweihundert Fuß höchsten dieser sieben Erhebungen, unweit des breiten Flusses und knappe drei Meilen von Macklin's Bulge entfernt, auf der ausgedehnten Kuppe der Hof mit seinen vielen Nebengebäuden und der dahinter liegenden sichelförmigen Siedlung der Farmarbeiter. Sie waren in ihrer Mehrzahl Emanzipisten, also ehemalige Sträflinge, die entweder begnadigt worden waren oder aber ihre Strafe bis auf den letzten Tag verbüßt hatten. Das Feuer, das vor über einem Jahr hier gewütet hatte, hatte das Herrenhaus und fast alle Schuppen, Scheunen und Stallungen vernichtet. Doch bis auf das Farmhaus, von dem noch immer die Fundamente aus schweren Feldsteinen sowie die Reste der beiden Kamine standen, waren inzwischen sämtliche Gebäude wieder aufgebaut - und zwar größer und solider, als sie es vorher gewesen waren. Dies war ein Gewaltakt an Arbeit gewesen und hatte viel Geld verschlungen. Für den Neubau des Haupthauses hatten ihre Finanzen jedoch nicht mehr gereicht, da ihr ehrgeiziges Unternehmen Brading's, das bestsortierte Kaufhaus in der ganzen Kolonie, gleichfalls enorme Summen verschlungen hatte. Nach dem Feuer hatte es sogar eine Zeit lang so ausgesehen, als könnte sie ihren Ruin nur dadurch abwenden, dass sie Brading's verkaufte. Diese Krise hatte sie jedoch gemeistert, wenn der Preis auch fast unerträglich hoch war, den sie dafür hatte zahlen müssen. Jetzt endlich begann ihr Geschäft in Sydney Gewinne abzuwerfen. Jessica versuchte nicht daran zu denken, dass ihr Ehrgeiz, sowohl die Farm wieder aufzubauen als auch ihr Unternehmen in Sydney zu retten, zu einer Kette verhängnisvoller und erniedrigender Ereignisse geführt hatte. Und das abscheulichste dieser Ereignisse, das ihr qualvolles Geheimnis war und auch ihr Geheimnis bleiben musste, drohte alles zu zerstören, woran ihr Herz hing: die Liebe ihrer Kinder Edward und Victoria, die Achtung der anderen Siedler und, wie sie fürchtete, auch den Respekt und die tiefe Zuneigung von Captain Patrick Rourke und Ian. Vor allem Ian durfte nie, nie im Leben von diesem schrecklichen Geheimnis erfahren. Er würde zum Mörder werden, dessen war sie sicher. Mit aller Kraft bemühte sie sich, die Gedanken an das, was sie würde tun müssen, aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen. »Ich kann so alt werden, wie ich will, Ian, niemals werde ich es überdrüssig sein, die Äcker und Weiden und Felder und den Hawkesbury zu sehen. Seven Hills ist mir so vertraut wie die Stimmen meiner Kinder, und dennoch ist mir jedes Mal, wenn das Land so vor mir liegt wie jetzt, als entdeckte ich etwas Wunderbares zum ersten Mal. Verstehen Sie, was ich meine?« In ihrer Stimme lagen Stolz und ein fast andächtiges Staunen. Staunen über die weite und wilde Schönheit dieses Landes sowie Staunen darüber, dass all das, so weit ihr Auge reichte, ihr Besitz war. New South Wales erschien ihr immer wieder als wildes Paradies: voller Verheißungen und Wunder, aber auch voller Gefahren und Wildheit. Und es war diese Herausforderung, die das Leben in diesem Teil der jungen Kolonie so reizvoll machte und nie langweilig werden ließ - nämlich der nie endende Kampf gegen die Naturgewalten wie Flutkatastrophen und Buschbrände, Dürrezeiten und Stürme. Man musste sich immer wieder aufs Neue behaupten und durfte sich von keinem noch so bitteren Rückschlag beirren lassen, seinen Weg zu gehen. Gelang einem das, wurde man so hart wie das Land, und dann war auf einmal alles einfacher und klarer, wie der Himmel über einem, und man hatte das berauschende Gefühl, dass nichts im Leben mehr unerreichbar war. »Und ob ich Sie verstehe, Jessica. Ich hätte es nicht besser beschreiben können«, sagte er und tätschelte seinem schwarzen Hengst Hector den Hals. Er war in dem Land genauso tief verwurzelt wie sie. Er konnte sich nicht vorstellen, von Seven Hills wegzugehen. Zusammen mit Jessicas späterem Ehemann hatte er die ersten Morgen Land am Hawkesbury gerodet und der Wildnis die Farm Stück für Stück abgerungen. Als Steve dann Jessica geheiratet hatte und wenige Jahre später bei einem heimtückischen Anschlag getötet worden war, war ihm der Gedanke an eine eigene Farm noch viel weniger gekommen. Und in den Jahren, die diesem Unglück gefolgt waren, hatten sich seine Bindungen noch mehr vertieft. Seven Hills war auch sein Lebenswerk. Doch es war nicht allein die Farm, die ihn hielt. Es war auch Jessica, die eines Verwalters schon längst nicht mehr bedurfte. Sie hatte mittlerweile bewiesen, dass sie diese große Farm ausgezeichnet zu führen wusste und es mit jedem cleveren Kaufmann aufnehmen konnte, was ihre anderen Geschäfte anging, die sie mit großem Eifer und bewundernswerter Tüchtigkeit betrieb. Nein, es war nicht Seven Hills allein. Es war Jessica, die einen mindestens so großen Stellenwert in seinem Leben einnahm. Und wie sehr wünschte er sich, dass sie endlich begann, in ihm nicht nur den Verwalter und treuen Freund zu sehen, sondern auch den Mann Ian McIntosh, der sie immer geliebt hatte, ohne es sich anmerken zu lassen, und der sie immer lieben würde. Er hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass aus ihrer Zuneigung zu ihm eines Tages mehr erwachsen würde, das sie auch als Mann und Frau zusammenbrachte ... Die Sonne schickte ihr warmes Licht, das sich über den Bergen von blendender Helle in ein feuriges Rotgold verwandelte, auf den Hawkesbury und die Hügel von Seven Hills herunter. Die Pferde schnaubten ungeduldig. Sie rochen den heimatlichen Stall, den Wassertrog und das Futter, das sie keine drei Meilen entfernt erwartete. Jessica atmete die Luft, die vom Geruch der warmen Erde, der trockenen Sträucher und vom Duft der Eukalyptusbäume erfüllt war, tief ein. »Mein Gott, wie werde ich das alles in England vermissen!«, kam es ihr unbedacht über die Lippen. Sie erschrak über ihre eigenen Worte und wünschte, sie könnte sie zurücknehmen. Doch es war geschehen. Ian zuckte zusammen, als hätte ihn ein Insekt gestochen. Sein Kopf fuhr zu ihr herum, und in seinen Augen stand ein Ausdruck völliger Verständnislosigkeit, als er fragte: »Was sagten Sie, Jessica? England?« Er musste sich verhört oder sie sich versprochen haben. Doch als er ihr betroffenes Gesicht sah, wusste er, dass nichts von beidem zutraf. Sie hatte England gesagt und auch England gemeint. Jessica vermochte ihm nicht in die Augen zu schauen und wich seinem ungläubigen Blick schnell aus. »Ja, ich ... ich ...« Sie unterbrach sich, weil sie den Satz nicht aussprechen konnte, ohne vorher geschluckt zu haben. »Ich habe mich entschlossen, nach England zu reisen.«
»Nein, das glaube ich nicht!«, stieß er mit einem heftigen Kopfschütteln hervor. »Keine Sorge, ich habe nicht vor, in England zu bleiben, Ian«, sagte sie und bemühte sich, ihrer Stimme einen scherzhaften Klang zu geben. »Ich unternehme nichts weiter als einen Ausflug in meine Vergangenheit, und da diese alles andere als ...« Ian ließ sie nicht ausreden. »Ein Ausflug! Was soll der Unsinn? «, rief er ärgerlich. »Mein Gott, dieses gottverdammte Land, das uns nach Australien verbannt hat, liegt am anderen Ende der Welt. Es sind zwanzigtausend Meilen! Das können Sie unmöglich tun!« »Ich habe mich aber dazu entschlossen!« Ian sah sie eindringlich, beschwörend an. »Sagen Sie, dass es ein Scherz ist, Jessica. Sie können doch unmöglich nach England zurückwollen ... nach allem, was man Ihnen dort angetan hat und was Sie hier erreicht haben. Und ich dachte, Sie liebten dieses Land? Ist Seven Hills denn nicht Ihre Heimat? « Es tat ihr weh, ihn so sprechen zu hören. »Natürlich ist es das, und wie sehr ich dieses Land liebe, wissen Sie doch ganz genau, Ian!«, antwortete sie nicht ohne Schärfe. »Eben deshalb macht es keinen Sinn.« »Für Sie vielleicht nicht.« »Was treibt Sie nach England?«, fragte er. Jessica schwieg. Sie hatte all die Wochen Angst vor diesem Gespräch mit ihm und besonders vor dieser Frage gehabt, und sosehr sie sich auch das Gehirn zermartert hatte, sie hatte keine vernünftige Antwort darauf finden können, zumindest keine, die es gestattet hätte, ihren wahren Grund vor ihm geheim zu halten.
»Ich verstehe es nicht. Also erklären Sie es mir!«, drängte er. »Vielleicht verstehe ich dann, was Sie nach zehn Jahren in einem Land wollen, das Sie unschuldig durch die Gefängnishölle von Newgate hat gehen lassen und dessen einzige Gnade darin bestand, Sie nicht zu hängen, sondern zu Deportation zu begnadigen. Ein Land, in dem Sie sich so verloren und fremd vorkommen werden wie ein Känguru in den Straßen von London!« Sie fühlte sich zu Unrecht angegriffen, und sie ließ sich zu einer aggressiven Antwort hinreißen. »Wo steht geschrieben, dass man immer alles erklären muss? Es reicht ja wohl, dass ich weiß, warum ich dieses tue und jenes lasse!« Und im selben Moment war ihr klar, dass sie nichts Falscheres hätte sagen können. Ian erblasste. Eine Ohrfeige von ihr hätte ihn nicht tiefer verletzen können. Sein Gesicht verlor den verständnislosen, um Aufklärung bittenden Ausdruck. Es verschloss sich wie eine schwere Tür, die zufiel und verriegelt wurde. Seine Gestalt straffte sich. Seine Hände packten die Zügel fester. Stocksteif saß er im Sattel. »Sie haben recht, Jessica. Sie sind mir keine Erklärung und keine Rechenschaft schuldig«, erwiderte er mit kühler Reserviertheit, in der seine Bitterkeit über ihre Zurechtweisung noch deutlich genug mitschwang. »Entschuldigen Sie, dass ich mir eine Freiheit herausgenommen habe, die mir nicht zusteht.« Die innere Hitze der Betroffenheit durchflutete sie. Das Blut schoss ihr ins Gesicht. Ihre Wangen brannten, als ständen sie in Flammen. »Ian, so habe ich es nicht gemeint ...«, begann sie entschuldigend. »Ich habe schon verstanden«, sagte er schroff und trieb Hector mit leichtem Schenkeldruck an. Willig und begierig, die letzten Meilen bis zum Stall endlich hinter sich zu bringen, setzte sich der Hengst in Bewegung. »Ian, so warten Sie doch!«, rief sie ihm nach. Er antwortete nicht, sondern preschte den Hang hinunter und galoppierte davon. Jessica ließ die Schultern hängen und hatte Tränen in den Augen. Ian war der Letzte, den sie verletzen wollte. Und doch blieb ihr keine andere Wahl, wenn sie ihn vor sich selbst schützen und ihr Geheimnis bewahren wollte. Sie biss sich auf die Lippen. Dann ritt auch sie weiter. Doch der Zauber dieses Tages war verflogen. Hoffentlich kam bald Nachricht von ihrem Anwalt William Hutchinson aus Sydney. Die Zeit drängte. 2 Eine sandige Auffahrt, von Natursteinen eingefasst, führte in einem anmutig geschwungenen Bogen die Anhöhe von Seven Hills hinauf. Ian war schon längst vom Pferd gesprungen und in einem der Gebäude verschwunden, als Jessica Adrian vor den Stallungen zum Stehen brachte und aus dem Sattel sprang. Sie warf Frederick, dem blonden Stallburschen, die Zügel zu. »Und? Wie geht es Shane und Morris da draußen?«, erkundigte er sich nach den beiden Männern, die auf einer der Außenweiden von Seven Hills über eine Herde von mehreren hundert Schafen wachten. »Gut«, gab Jessica kurz angebunden zurück.
Frederick warf ihr einen verwunderten Blick zu, stellte jedoch keine weiteren Fragen, sondern führte den Wallach am Zügel in den Stall. »Auwei, das klang ja nicht so, als hätten die beiden einen vergnüglichen Tag im Sattel verbracht, alter Freund«, sagte er leise zu Adrian. »Habe mir schon so was gedacht, als der Ire mit finsterem Gesicht herangejagt kam und mich fast über den Haufen geritten hat. Ich wünschte, du könntest mir deine Version von dem heutigen Ausritt von Missis Brading und unserem Verwalter erzählen, Adrian. Aber wie ich das so sehe, wirst du deiner Herrin verschwiegen die Treue halten, nicht wahr?« Als hätte er ihn verstanden, warf Adrian den Kopf hoch und trabte mit einem fröhlichen Wiehern auf seine geräumige Box zu. Frederick seufzte. »Ja, das habe ich mir gedacht«, sagte er und hätte es selbst nicht anders gehalten. Jessica ging über den Hof, nickte einigen Männern und Frauen zu und verschwand im geräumigen Verwalterhaus, das sie seit dem verheerenden Brand mit ihren beiden Kindern, ihrer persönlichen Zofe Anne Howard und ihrer Köchin Lisa Reed bewohnte. Eigentlich stand es Ian zu. Doch dieser hatte es sofort geräumt und darauf bestanden, dass sie es so lange bewohnte, bis das neue Haupthaus gebaut war. Er war in eine frei stehende Feldarbeiterhütte gezogen, mehr als einmal beteuernd, dass ihm die schlichte Unterkunft nicht das Geringste ausmachte. Ihm war es sogar gelungen, es so klingen zu lassen, als ersparte ihm die Nähe zu den mehr als vier Dutzend Männern und Frauen, die auf Seven Hills lebten und auf Jessica Bradings Lohnliste standen, eine Menge unnützer Lauferei. Es war typisch Ian. Sie war froh, dass ihr Sohn Edward, der im nächsten Monat kurz vor Weihnachten acht Jahre alt wurde, sich noch irgendwo in einer Werkstatt oder Stallung herumtrieb. Er war ihr ganzer Stolz, ein praktisch veranlagter Junge von rascher Auffassungsgabe. Er war der geborene Farmer und glücklich, dass er und seine Schwester schon mehrere Monate lang keinen Schulunterricht mehr hatten, nämlich seit ihre gestrenge und altjüngferliche Hauslehrerin Catherine Hazelwood, vom einfachen Leben auf der einsam gelegenen Farm abgestoßen, nach Sydney zurückgekehrt war. Dagegen war Victoria, die mit ihren sechseinhalb Jahren zu Jessicas großem Bedauern so wenig zupackende Energie an den Tag legte und noch so verträumt war wie eh und je, traurig, auch wenn Catherine Hazelwood nach Allan Whitman, den sie als Hauslehrer beide respektiert und geliebt hatten, eine große Enttäuschung gewesen war. Denn bei aller Unzulänglichkeit der »dürren Krähe«, wie Edward Miss Hazelwood hinter ihrem Rücken abfällig zu nennen pflegte, war ihr Unterricht doch stets eine willkommene Flucht aus dem für Victoria uninteressanten, langweiligen Alltag auf der Farm gewesen, eine Flucht in die sie viel stärker faszinierende Welt der Bücher, der Gedanken und der Fantasie. So war sie sich nun meist selbst überlassen, besonders in den arbeitsintensiven Sommermonaten, die vor ihnen lagen, getröstet in ihrer Einsamkeit nur von ihren Malstiften und Zeichnungen, die ihr so wichtig waren wie ihrem bodenstämmigen Bruder die Weiden und Koppeln und Werkstätten und Scheunen der Farm. Die Tür zu Victorias Zimmer war offen. Jessica blieb im Eingang stehen. Ihre Tochter hockte, mit einem luftigen Musselin kleidchen und sauberen Schnallenschuhen bekleidet, auf dem Boden und malte, während sie eine Melodie vor sich hin summte, die genauso ihrer Fantasie entsprang wie ihr Bild.
Einen Moment lang stand Jessica ganz still da, den Blick auf ihre blonde, zartgliedrige Tochter gerichtet, die so völlig anders war als Edward und sie selbst. Sie war wie ein zarter, bunt schillernder und leicht verletzlicher Schmetterling inmitten einer Herde temperamentvoller, kraftstrotzender Vollblüter. Jessica schämte sich plötzlich, als ihr bewusst wurde, wie sehr sie sich eine Tochter nach ihrem Ebenbild wünschte und wie sehr sie es bedauerte, dass Victoria ihren hohen Ansprüchen nicht gerecht wurde und im Gegensatz zu den Töchtern anderer, befreundeter Siedler am Hawkesbury so absolut kein Interesse für das Leben auf der Farm zeigte. Es ist nicht richtig, diese Maßstäbe anzulegen und sie daran zu messen. Jedenfalls jetzt noch nicht. Ich muss ihr Zeit lassen. Sie ist einfach anders. Mit dem Alter wird gewiss das Interesse und die Ernsthaftigkeit kommen, die eine junge Frau in diesem harten Land braucht, um zu bestehen und einen aufrechten Mann fürs Leben zu finden. Jessica ging dabei ganz selbstverständlich davon aus, dass dieser Mann, der ihre Tochter eines Tages zu seiner Frau machen würde, der Sohn eines der benachbarten Farmer sein würde. Lisa Reed tauchte im Flur auf. Die stämmige Köchin, die ihr Reich mit eiserner Hand regierte und von nie erlahmender Kraft schien, strahlte über das zerfurchte Gesicht. »Die gnädige Frau ist zurück! Da kann ich ja das Abendessen richten!« Victoria wachte beim Klang der Stimme aus ihrem Tagtraum auf und blickte zur Tür. Ihr verträumter Gesichtsausdruck verwandelte sich in ein glückliches Lächeln. »Mom! Schaust du dir mein neues Bild an?« »Ich komme gleich, mein Kind«, sagte Jessica und wandte sich dann Lisa Reed zu. »Bitte sagen Sie Anne, sie soll sich bereithalten. Ich bin völlig durchgeschwitzt und möchte mich waschen und frische Kleider anziehen.« »Natürlich, gnädige Frau. Ich werde höchstpersönlich dafür Sorge tragen, dass der Zuber in Ihrem Waschkabinett so rasch wie möglich mit heißem Wasser gefüllt wird!«, versicherte die Köchin. »Lauwarm reicht bei diesen Temperaturen vollkommen, Lisa. Und überlassen Sie das ruhig Anne«, trug sie ihr mit unüberhörbarem Nachdruck auf. Lisa Reed fiel es noch immer schwer, Anne nicht wie das unerfahrene, verschüchterte und völlig überarbeitete Küchenmädchen zu behandeln, das sie einmal unter ihrem herrischen Regime gewesen war. Anne hatte es bei ihr nicht länger ausgehalten, und Jessica hatte sie von der Tyrannei der Köchin befreit, indem sie das Mädchen kurz entschlossen zu ihrer Zofe erklärt hatte, ohne zu wissen, ob Anne dazu auch nur das geringste Geschick mitbrachte. Damals war das nur eine Ausrede gewesen, um Lisa Reed nicht die Wahrheit sagen zu müssen. Und eigentlich hatte sie einer Zofe auch gar nicht bedurft. Bis dahin war sie noch immer gut allein zurechtgekommen. Doch schon bald hatte sich die spontane Entscheidung als großer Glücksfall erwiesen, denn Anne, mittlerweile eine junge Frau von achtzehn Jahren, hatte sich zu einer ausgezeichneten Zofe entwickelt und ging ganz in ihrer Tätigkeit auf. Und manchmal fragte sich Jessica, wie sie vorher bloß ohne Anne zurechtgekommen war, mit der sie ein herzliches Vertrauensverhältnis verband. Eine Zofe wie Anne war nicht nur ein Luxus, sondern ein Geschenk des Schicksals, wie ein Freund, auf dessen Treue man blindlings bauen konnte. Jessica sah den Schatten, der sich über das Gesicht der mit Mitte vierzig schon völlig ergrauten Köchin legte. Um ihren Worten nachträglich noch die zurechtweisende Schärfe zu nehmen, fügte Jessica mit einem Lächeln schmeichelnd hinzu: »Anne ist sehr tüchtig, und ich schätze sie so sehr als Zofe, wie ich Sie als beste Köchin zu beiden Seiten des Hawkesbury schätze. Man merkt eben doch, wenn jemand durch Ihre harte Schule gegangen ist, Lisa.« Lisa Reeds Gesicht hellte sich sofort wieder auf. »Man muss den Baum biegen, solange er jung ist, gnädige Frau. Ich versuche immer, mein Bestes zu geben. Ich werde Anne Bescheid sagen.« Jessica nickte ihr zu und bezweifelte, dass das jetzt noch nötig war. Anne hatte sie bestimmt schon gehört und wusste selbst, wonach ihrer Herrin nach einem derart langen Inspektionsritt der Sinn stand. Aber das behielt sie für sich, während sie sich einen Augenblick zu Victoria auf den Boden setzte. Ihr Interesse am Geplapper ihrer Tochter, die ihr ihr Bild erklärte, schwand jedoch schnell. Es waren Fantasieblumen, die in einem Fantasieland blühten. Sie waren Victoria recht gut gelungen, wenn man ihr Alter bedachte. Dennoch hätte es Jessica zehnmal lieber gesehen, wenn Victoria Ställe und Scheunen oder die Pferdekoppel gemalt hätte. Aber noch lieber wäre es ihr gewesen, wenn ihre Tochter statt zu malen ihre Zeit bei Edward und den Farmarbeitern verbringen würde. Mit ihren bald sieben Jahren konnte sie noch nicht einmal die zehn besten Reitpferde von Seven Hills auseinanderhalten, geschweige denn ihre besten Milchkühe und die Zugochsen für die schweren Fuhrwerke. Edward dagegen hatte schon mit fünf Jahren jedes Tier im Stall und auf der Koppel beim Namen nennen können, sofern es einen Namen hatte, die Zuchtböcke eingeschlossen. » ... und das hier ist die Blume der verzauberten Prinzessin«, sagte Victoria und deutete auf eine Blume, deren Blätter wie kleine Kronen aussahen. »Warum malst du nicht mal ein schönes Bild vom Hof, Victoria?«, fragte Jessica. »Oder von der Schafschur?« Ihre Tochter verzog das Gesicht und rümpfte die Nase. »Die Tiere stinken so, Mom, und die Männer auch.« »Schafe stinken nicht, mein Kind, sie haben nur, wie jedes Lebewesen, ihren eigenen Geruch«, erwiderte Jessica missbilligend. »Und bei der Arbeit zu schwitzen ist nichts Ehrenrühriges. Man kann sich hinterher waschen. Dafür gibt es Wasser und Seife.« »Aber nicht gegen das Geschrei und die Angst der Tiere«, behauptete sich Victoria diesmal. »Ich finde es so gemein, wie sie die Schafe auf den Rücken werfen und so schnell scheren, dass sie ihnen immer wieder in die Haut schneiden und sie bluten lassen.« Jessica hatte Mühe, nicht ihre Geduld zu verlieren und ihre Tochter nicht noch schärfer zurechtzuweisen. »Das sieht schlimmer aus, als es in Wirklichkeit ist. Schafe haben unter ihrer Wolle nun mal eine empfindliche Haut. Doch diese kleinen Schnittwunden heilen schnell. Und wir brauchen die Wolle, mein Kind, dafür haben wir ja die Schafzucht. Würden wir die Schafe nicht scheren, könnte ich dir nicht so hübsche Kleider schneidern lassen.« Victoria sah an sich hinunter und strich über den herrlich glatten Stoff. »Das wäre nicht so schlimm«, sagte sie dann nach kurzem Zögern, denn sie liebte hübsche Kleider und achtete stets darauf, sich nicht schmutzig zu machen - ganz im Gegensatz zu ihrem Bruder. »Es wäre auch kein Geld für Malstifte da!« Victoria senkte schuldbewusst den Kopf und biss sich auf die Unterlippe, erwiderte aber nichts. Jessica war alles andere als stolz darauf, wie sie den kindlichen Illusionen ihrer Tochter begegnet war. Aber Victoria musste einfach lernen, mit beiden Beinen auf dem Boden der Realität zu stehen, und die hieß Seven Hills. Es war ihre Pflicht als Mutter, sie darauf vorzubereiten, dass das Leben nicht durch Träumen zu bewältigen war, nicht hier in Australien, und sie musste lernen, dass ihr als Brading-Tochter und -Erbin nicht zu Blumen verzauberte Prinzessinnen und Prinzen begegnen würden, sondern viel eher verlogene Mitgiftjäger, halsabschneiderische Händler, neidvolle Mütter und Töchter von weniger erfolgreichen Farmen als Seven Hills sowie Farmarbeiter und Hauspersonal, das jede Schwäche sofort zum eigenen Vorteil zu nutzen versuchte. Das traurige Schweigen ihrer Tochter ging ihr dennoch ans Herz. Versöhnlich sagte sie deshalb: »Du kannst wirklich wunderbar mit den Malstiften umgehen, mein Kind. Warum malst du nicht mal ein Bild von meinem Lieblingspferd? Du würdest mir damit eine große Freude machen.« Victoria hob den Kopf. »Ich ... ich kann es versuchen. Aber du musst mir zeigen, welches Pferd das ist.« »Adrian natürlich.« »Ich weiß nicht, welches Pferd Adrian ist«, gestand Victoria ein, und in ihren Augen war ein schuldbewusster Ausdruck. »Die Pferde sehen für mich alle gleich aus.« Jessica hielt ihren aufkommenden Unmut über die totale Unkenntnis ihrer Tochter mühsam zurück. »Du brauchst nur zu fragen, Victoria. Jeder auf Seven Hills kann dir zeigen, wer Adrian ist. Nun ja, offensichtlich doch nicht jeder.« Victoria errötete. »Am besten gehst du morgen mit Edward hinunter auf die Koppel.« Jessica unterdrückte einen schweren Seufzer und stand auf. »Es wird Zeit, dass ich mich wasche. Sei so gut und such deinen Bruder. Sag ihm, dass ich nicht zulassen werde, dass er zu spät zum Abendessen kommt, und dann auch noch ungewaschen! Ich erwarte, dass er sich mit sauberen Sachen zu uns an den Tisch setzt.« »Ja, Mom«, sagte Victoria folgsam und huschte aus dem Zimmer. Immerhin habe ich keine Probleme mit Victoria, was Sauberkeit und adrette Kleidung betrifft, dachte Jessica, während sie den Flur hinunterging und sich in ihr Zimmer begab, wo Anne schon auf sie wartete. Der Badezuber im Waschkabinett war bereits mit Wasser gefüllt, und sie hatte auch schon frische Leibwäsche auf dem Bett ausgebreitet. Anne spürte, dass ihrer Herrin der Sinn nicht nach Unterhaltung stand, und verhielt sich dementsprechend. Sie half Jessica mit flinken Händen beim Entkleiden, gab etwas vom kostbaren Badesalz ins Wasser und hielt sich stumm, aber mit einem freundlichen Lächeln auf dem Gesicht zu ihrer Verfügung. Das Bad tat Jessica gut, körperlich wie seelisch. Sie schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und spürte, wie ihr Körper sich entspannte. Die Enttäuschung, die Victoria ihr bereitet hatte, schwand schnell dahin und machte der Zuversicht Platz, dass ihre Tochter sich schon noch rechtzeitig fangen und eine richtige Brading werden würde. Was jedoch Ian anging, blieb sie innerlich angespannt und voller Bangen. Würde er sich beim Abendessen etwas anmerken lassen und sie vor ihren Kindern zur Rede stellen? Wenn er in solch einer finsteren Stimmung war, war ihm das sehr wohl zuzutrauen.
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Es war seine letzte Nacht und seine letzte Chance, und er wusste es. Wenn es ihm diesmal nicht gelang, das Glück auf seine Seite zu locken und auch zu halten, stand es schlechter um ihn bestellt als vor anderthalb Jahren, als er seinen seidenbestrumpften Fuß auf australischen Boden gesetzt hatte, und das wollte etwas heißen. Die lange, fast fünf Monate währende Überfahrt mit dem Ostindiensegler hatte er wahrlich nicht aus Abenteuerlust oder aber aus einer exzentrischen Laune heraus angetreten. Es war eine Tat der Verzweiflung gewesen, auch wenn er sich das damals so nicht eingestanden hatte. Henry Thornton verdrängte die trüben Gedanken und sah sich im Hotelzimmer um, von dem aus man einen herrlichen Blick auf die schnell wachsende Stadt Sydney, ihren geschäftigen Hafen und die weite Bucht hatte, die unter Seeleuten und weit gereisten Kaufleuten als der schönste Naturhafen der Welt galt. Er hatte Angst vor dieser Nacht, doch er war ein Gentleman und so erzogen worden, sich derart gewöhnliche Gefühlsregungen nicht anmerken zu lassen, schon gar nicht, wenn es sich um etwas so Profanes wie Geld handelte. Vor dem Spiegel über der Waschkommode prüfte er eingehend sein Erscheinungsbild. Er sah einen äußerst attraktiven Mann von zweiundvierzig Jahren in einem eleganten mandelfarbenen Sommeranzug aus bestem Tuch. Die Krawatte war perfekt gebunden und das Rüschenhemd makellos weiß. Die goldenen Manschettenknöpfe mit dem eingravierten Familienwappen der Thorntons funkelten im Licht der Lampe, wie auch die Kette seiner Taschenuhr, die einen Bogen aus schimmerndem Gold über die linke Seite seiner Seidenweste beschrieb und in einer der Seitentaschen verschwand. Er drehte den Kopf leicht zur Seite, um sein Profil zu begutachten, und ihm war, als wäre er im Gesicht in letzter Zeit etwas schmaler geworden, und das Grau an seinen Schläfen schien tiefer in sein schwarzes Haar vorgedrungen zu sein. Doch alles in allem war er mit dem, was ihm im Spiegel entgegenblickte, sehr zufrieden. Wie es in ihm aussah, ging niemanden etwas an. Wenige Minuten später verließ Henry Thornton das neu errichtete Hotel Royal York, das mit seinen geräumigen und komfortabel eingerichteten Zimmern der zahlungskräftigeren Kundschaft vorbehalten war. Es stand am Ostufer von Sydney, der besseren Wohngegend, wo auch der Gouverneurspalast und die Häuser der wohlhabenden Kaufleute und mancher Offiziere zu finden waren. Besonders Letztere hatten es verstanden, rasch und skrupellos zu einem Vermögen zu kommen, indem sie kurz entschlossen die Macht an sich gerissen und die Kolonie zu ihrem Dukatenesel gemacht hatten. Es gab kaum ein Geschäft, an dem die Offiziere nicht profitierten, doch das einträglichste war das mit Rum, und sie besaßen das Monopol. Henry Thornton verzichtete auf die unnötige Ausgabe für eine Kutsche und machte sich im schwindenden Licht des scheidenden Tages auf den Weg zu Betsy's Place. Dieses Etablissement hatte sich nicht nur den Ruf erworben, das geschmackvollste Bordell mit den exquisitesten Freudenmädchen der ganzen Kolonie zu sein, sondern es war auch Treffpunkt derjenigen leidenschaftlichen Glücksspieler, die ihre Einsätze in Pfund machten und nicht in Pennies wie die Kartenspieler in den verräucherten Tavernen. Forschen Schrittes, aber ohne Anzeichen von Hast, ging er die Straße hinunter und überquerte die Brücke, die über einen Bach führte. Dieser kleine Wasserlauf trennte das ruhige und vornehmere Ostufer vom bedeutend geschäftigeren und dichter bebauten Westufer. Henry Thornton war immer wieder überrascht, wie schnell diese Sträflingskolonie in den letzten Jahren gewachsen war, ganz besonders Sydney. Wo vor nicht einmal einem Vierteljahrhundert die ersten Seeleute, Soldaten und Deportierten ihre Zelte aufgeschlagen und damit begonnen hatten, primitive Hütten aus Lehm und Flechtwerk zu errichten, fanden sich nun ganze Straßenzüge stattlicher Häuser, die solide gebaut waren, sowie eine immer rascher wachsende Zahl Lagerhallen, Speicher, Geschäfte, Werkstätten und öffentlicher Gebäude. Und waren in den Anfangsjahren Häuser aus massiven Ziegelsteinen eine Seltenheit gewesen, so traf man nun überall in der Stadt auf rote Backsteingebäude. Sydney war nicht länger ein elender, von verheerenden Naturkatastrophen und schrecklichen Hungersnöten heimgesuchter und vom Rest der Welt vergessener Ort, sondern das pulsierende Herz einer aufstrebenden Kolonie, in die nicht nur Sträflinge strömten; es kamen schon seit vielen Jahren auch geschäftstüchtige Kaufleute und freie Siedler, um in diesem neuen Land ihr Glück zu machen. So war Sydney zu einer geschäftigen, lärmenden Hafenstadt geworden, durch deren staubige Gassen und Straßen hoch beladene Fuhrwerke und Ochsengespanne rumpelten. Und die vielen Kutschen und offenen Wagen verrieten, dass es in Sydney und in den umliegenden Ortschaften viele vermögende Farmer und Kaufleute gab. An den Anblick von Sträflingen in Ketten und zerlumpter Kleidung und Aufseher, die mit Peitsche und Stock nicht gerade zimperlich umgingen, musste man sich dagegen erst gewöhnen. Manchen gelang es jedoch nie, dieses tägliche Elend als normalen Alltag einer Sträflingskolonie zu betrachten und gar nicht mehr bewusst wahrzunehmen. Kleine Werften, Bootsausbesserer, Segelmacher und Schiffsausrüster sowie Handelskontore waren auf der Westseite der Bucht zu finden - und auch das Lasterviertel der Stadt, das The Rocks genannt wurde, weil es sich gleich unterhalb vom Fort und den Unterkünften der Soldaten auf der felsigen Landzunge ausbreitete. Es war ein Labyrinth aus schäbigen Lehmhütten, Bretterschuppen, Zelten und vereinzelten Ziegelhäusern. In diesem Gewirr enger Gassen, die von Unrat, Exkrementen und Erbrochenem stanken, und verwinkelter Hinterhöfe reihte sich eine zwielichtige Taverne neben der anderen an Rum-Spelunken und Opiumhöhlen. Und wen es nach fleischlichen Genüssen gelüstete, fand in den Rocks jede Art der Befriedigung, wie ausgefallen die Wünsche auch sein mochten. Henry Thornton zog es vor, sich den schmutzigen Gassen fernzuhalten und einen Bogen um die Rocks zu schlagen. Glücklicherweise lag Betsy's Place ganz am Rand dieses quirligen, sündigen Viertels und in unmittelbarer Nähe des Forts. Das letzte Tageslicht erlosch jenseits der Cockle Bay, und die Nacht legte ihr schwarzes Tuch über die Küste, als er das solide Backsteinhaus von Betsy Fodder betrat und wenig später im Spielsalon an einem der Tische Platz nahm. Man hatte ihn schon erwartet. Getränke wurden bestellt und gebracht, scherzhafte Bemerkungen ausgetauscht, während man sich gegenseitig abzuschätzen versuchte, und Zigarren in Brand gesetzt. Und immer wieder gingen die Blicke zu den Karten, die in der Mitte des Tischs auf dem grünen Filz lagen und darauf warteten, sich zu guten und schlechten Blättern zusammenzufügen, um gleichermaßen Glück wie bittere Enttäuschung zu bringen. »Gentlemen, wir sind uns über die Regeln einig?« »Sollte man annehmen, Lieutenant«, bekam der Frager spöttisch zur Antwort. »Ist ja nicht das erste Mal, dass wir an diesem Tisch sitzen und die Karten darüber entscheiden lassen, wer von uns Ihre Taschen füllt.« Fröhliches, zustimmendes Gelächter, doch nicht ohne eine Spur von Groll und Entschlossenheit, diesmal dafür zu sorgen, das Glück in dieser Nacht in die eigenen Karten zu zwingen. Noch einmal wurden die Gläser gefüllt und dann die Geldbeutel geöffnet. Man wollte sehen, was jeder in dieser Nacht zu verspielen bereit war. Innerhalb von wenigen Augenblicken glitzerten an jedem Platz kleine Säulen von Gold und Silber. Eine schnelle, elegante Handbewegung, und der Stapel Karten hatte sich in der Mitte des Tischs in einen halbkreisförmigen Fächer verwandelt. »Ermitteln wir den ersten Geber, Gentlemen.« Jeder zog eine Karte. Kreuz-As für Henry Thornton. Er lächelte. Ja, so war es richtig. Er brauchte Glück vom Start weg. Dies musste seine Nacht werden. »Sie beginnen, Henry«, sagte der Lieutenant und hob mit der gesunden linken Hand den rechten, halb lahmen Arm aus der Schlinge und legte ihn auf den Tisch. Viel konnte der Offizier mit seinem zerschossenen Arm nicht mehr anfangen, aber seine Finger waren immer noch in der Lage, ein gutes Blatt zu halten - oder mit einem schlechten beim eiskalten Bluffen nicht zu zittern. Henry Thornton schob die Karten zusammen, begann zu mischen und teilte aus. Die Karten flogen lautlos über den grünen Filz und vor die Säulen aus Gold und Silber. »Ihre Einsätze, Gentlemen!« Das raue Gelächter aus der Bar im Nebenraum und die hellen Stimmen verführerischer Frauen traten in den Hintergrund zurück und wurden zu einer dumpfen Geräuschkulisse, die sich ihrer bewussten Wahrnehmung entzog. Das Spiel begann. Es wogte Stunde um Stunde wie eine Seeschlacht hin und her. Erst gegen Morgen fiel das letzte Blatt aufgedeckt auf den Tisch. Mit brennenden, blutunterlaufenen Augen starrte Henry Thornton auf die Karten. Seine Nackenmuskeln schienen zuckende Feuerstränge zu sein, und hinter seiner Stirn pochte ein unerträglicher Schmerz. Doch in seinem Gesicht bewegte sich kein Muskel. »Gratulation, Lieutenant«, sagte er äußerlich völlig beherrscht, während er sah, wie der Offizier mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen die Gold- und Silbermünzen einstrich - und seine goldene Taschenuhr an sich nahm. »Schätze, es war nicht ganz Ihre Nacht, Henry.« Scheinbar ungerührt zuckte Henry Thornton mit den Schultern und erhob sich. »Es wird auch wieder andere Nächte geben. Gentlemen, es war mir ein Vergnügen«, sagte er, blickte mit einem leichten Nicken in die Runde und verließ den Spielsalon. Die Sonne warf ihr erstes Licht auf die spiegelglatte Oberfläche der Bucht. Wie goldene Lanzen bohrten sich die Sonnenstrahlen in das Dunkel über dem Wasser. Er ging zum Fort hinauf, atmete die frische Morgenluft tief ein und fragte sich, was nun werden sollte. Er hatte nicht nur sein letztes Geld verloren, sondern auch noch seine goldene Taschenuhr. Henry Parcival Gaylord Thornton war erledigt, in Sydney, am Ende der Welt, bis auf den letzten Penny abgebrannt. Ein selbstironisches Lächeln trat auf sein Gesicht. Viel hatte er in diesen anderthalb Jahren, die er sich in der Kolonie he rumgetrieben hatte, wahrlich nicht erreicht. Aber er war sicher, doch immerhin für sich in Anspruch nehmen zu können, dass er der einzige Lord war, der in Australien gestrandet war.
AUSTRALIEN November 1809
1
Meile um Meile zog sich die sandige Straße, von den eisenbeschlagenen Rädern klobiger Siedlerfuhrwerke mit tiefen Spurrillen durchzogen und von sintflutartigen Regengüssen ausgewaschen, durch das australische Buschland nach Nordwesten. Die Sonne brannte noch immer mit scheinbar unverminderter Kraft vom Himmel. Dabei stand sie doch schon tief über den zerklüfteten Bergzügen der Blue Mountains, die der britischen Strafkolonie New South Wales nach Westen hin eine natürliche Grenze setzten. Zumindest vorläufig noch. In den einundzwanzig Jahren, die seit der Gründung durch die erste Sträflingsflotte vergangen waren, war es keinem noch so Wagemutigen gelungen, diese schroffe Bergkette zu überqueren. Doch früher oder später würde einer Expedition schon der Erfolg beschieden sein, einen Weg über die Blue Mountains zu finden, und dann würden die Siedler nicht mehr nur nach Norden und Süden, sondern auch tiefer nach Westen vordringen. Unter den Hufen der beiden Pferde, deren Reiter die Tiere in einem zügigen Tempo über den einsamen Buschpfad lenkten, wirbelte rotbrauner Sand auf, der die Landschaft in dieser Gegend, zwei Tagesritte von Sydney entfernt, bestimmte. Die Staubfahne, die sie wie einen Schleier hinter sich herzogen, hielt sich lange in der warmen Luft des späten Nachmittags, ehe der Staub zu Boden sank und sich auf das struppige Gras und die Dornenbüsche legte, die ihren Weg säumten. Die weiten Ebenen und sanften Hügelketten am Hawkesbury River und die primitiven Straßen und Pfade, die durch diesen westlichen Teil der Kolonie führten, waren Jessica Brading und ihrem Verwalter Ian McIntosh so vertraut wie die eigenen Gesichtszüge. Jessica liebte dieses noch immer wilde und im Sommer sonnendurchglühte Land unter dem Kreuz des Südens, an dessen kaum erforschte Küste sie vor zehn Jahren als deportierter Sträfling gespült worden war, mehr tot als lebendig. New South Wales war ihre Heimat geworden, ganz besonders dieses weite Buschland am Hawkesbury River, wo sich ihre Farm Seven Hills über viele tausend Morgen Äcker, Weiden und Felder erstreckte. Die Liebe zu diesem Land war keine neue Erkenntnis. Doch selten war sich Jessica der Faszination des australischen Busches so sehr bewusst gewesen wie an diesem Spätnachmittag. Ihr Inspektionsritt zu den Außenweiden hatte sie und Ian seit den frühen Morgenstunden im Sattel gehalten, doch ihr war nicht eine Minute dieses anstrengenden Ritts zu viel gewesen. Die sandige Buschstraße führte durch ein kleines Waldstück. Jessica und Ian tauchten in den Schatten hoher, graustämmiger Eukalyptusbäume ein. Den intensiven aromatischen Duft, den diese immergrünen Bäume verströmten, hatten sie schon aus einiger Entfernung wahrgenommen. Nun hüllte er sie ein. Es war ein in der Wärme erfrischender, belebender Duft, der die relative Kühle des Schattens nachdrücklich zu Bewusstsein brachte. Als sie wenig später aus dem kleinen Eukalyptuswald herauskamen, schreckten sie einen Schwarm Kookaburras auf, der sich auf den Ästen einer Schirmakazie niedergelassen hatte. Mit wildem Flügelschlag und lautem Geschrei, das dem menschlichen Gelächter verblüffend ähnlich klang, sodass die Siedler sie auch Lachvögel nannten, ergriff der Schwarm vor den herannahenden Reitern die Flucht. In das scheinbare Gelächter der Kookaburras mischte sich das glockenhelle Trällern von einigen schwarzen Currawongs. Die Vogelstimmen waren weithin zu hören. Der Weg schlängelte sich nun durch eine Hügelkette. Jessica gab einer spontanen Regung nach und lenkte Adrian, ihren prächtigen Wallach, nach links und den Hang von einem der Hügel hinauf, der alle anderen überragte und den Namen Macklin's Bulge trug. Ian McIntosh, der die ganze Zeit mit ihr auf einer Höhe geritten war, lachte kurz auf, als hätte er damit gerechnet, und folgte ihr so geistesgegenwärtig, dass Jessica ihm gerade eine Pferdehalslänge voraus war, als sie die Kuppe der Anhöhe erreichten. Hier zügelten sie ihre Pferde. Ian wusste, weshalb Jessica Macklin's Bulge hinaufgeritten war: Von seiner runden Spitze hatte man einen ausgezeichneten Blick auf das Herzstück von Seven Hills. »Was für ein Land!«, rief Jessica unwillkürlich, beide Hände auf das Sattelhorn gelegt. Sie trug dunkelbraune, derbe Reithosen, wie sie für einen langen Ausritt in den Busch nötig waren, und eine weite Bluse aus blauem, einfachem Kattun. Die Schlichtheit ihrer Kleidung vermochte jedoch nicht über die anmutigen Formen dieser jungen, noch nicht dreißigjährigen Frau hinwegzutäuschen. Rotbrauner Staub fand sich in ihrem blonden, lockigen Haar, das im Nacken von einem dunkelbraunen Haarband zusammengehalten wurde und ihr bis auf die schlanken Schultern fiel. Staub und Schweiß vermischten sich auch auf ihrem zart geschnittenen Gesicht, das wenig über die Stärke ihres Charakters aussagte, dafür aber dem Betrachter das eigentümliche Gefühl vermittelte, in ein Antlitz zu schauen, das eine ganz besondere Ausstrahlung besaß, eine Schönheit, die sich nicht allein in äußeren Attributen niederschlug, sondern von innen kam. Und in ihren Augen, die so geheimnisvoll grün wie das Wasser einer stillen Lagune in tropischen Gefilden leuchteten, lagen Sanftmut und Härte zugleich. »Was für ein Land!«, sagte Jessica noch einmal. »Ja, ein wunderbares Land«, pflichtete Ian ihr bei. »Und doch nicht für jedermann geschaffen.« »Aber für uns.« Er lächelte. »Mit Sicherheit, Jessica.« Ian McIntosh war ein groß gewachsener, kräftig gebauter Mann mit einem offenen, sympathischen Gesicht, das vom Leben unter freiem Himmel gezeichnet war. Seine blassblauen Augen bildeten einen interessanten Kontrast zu seiner sonnengebräunten Haut und seinem gleichfalls dunklen Haar. Von seinen neununddreißig Jahren hatte er über ein Drittel in Australien verbracht und war beim Aufbau von Seven Hills von Anfang an mit dabei gewesen. Die ersten fünf Jahre als irischer Sträfling und Zwangsarbeiter, nach seiner vorzeitigen Begnadigung dann als Aufseher und später sogar als Verwalter. Jessica verdankte Ian McIntosh, der schon der Freund ihres Mannes gewesen war, sehr viel. Er war weitaus mehr für sie als nur ein fähiger Verwalter, dessen eigene geschäftliche Unternehmungen ihn längst in die Lage versetzten, sich selbst eine Farm zu kaufen und sein eigener Herr zu sein. Er war ein verlässlicher Freund und eine unverzichtbare Stütze. Ohne seinen moralischen und tatkräftigen Beistand hätte sie nach dem Tod ihres Mannes, der nun schon einige Jahre zurücklag, den Boden unter den Füßen verloren - und vielleicht sogar Seven Hills. Sieben sanft ansteigende und abfallende Hügel bildeten das Herzstück der Farm, das nun vor ihren Augen lag, und hatten ihr ihren Namen verliehen. Umgeben von meilenweiten Viehweiden, Feldern und Äckern, deren Bewässerungssystem vorbildlich für alle Farmen im Siedlungsgebiet am Hawkesbury war, befand sich auf der mit zweihundert Fuß höchsten dieser sieben Erhebungen, unweit des breiten Flusses und knappe drei Meilen von Macklin's Bulge entfernt, auf der ausgedehnten Kuppe der Hof mit seinen vielen Nebengebäuden und der dahinter liegenden sichelförmigen Siedlung der Farmarbeiter. Sie waren in ihrer Mehrzahl Emanzipisten, also ehemalige Sträflinge, die entweder begnadigt worden waren oder aber ihre Strafe bis auf den letzten Tag verbüßt hatten. Das Feuer, das vor über einem Jahr hier gewütet hatte, hatte das Herrenhaus und fast alle Schuppen, Scheunen und Stallungen vernichtet. Doch bis auf das Farmhaus, von dem noch immer die Fundamente aus schweren Feldsteinen sowie die Reste der beiden Kamine standen, waren inzwischen sämtliche Gebäude wieder aufgebaut - und zwar größer und solider, als sie es vorher gewesen waren. Dies war ein Gewaltakt an Arbeit gewesen und hatte viel Geld verschlungen. Für den Neubau des Haupthauses hatten ihre Finanzen jedoch nicht mehr gereicht, da ihr ehrgeiziges Unternehmen Brading's, das bestsortierte Kaufhaus in der ganzen Kolonie, gleichfalls enorme Summen verschlungen hatte. Nach dem Feuer hatte es sogar eine Zeit lang so ausgesehen, als könnte sie ihren Ruin nur dadurch abwenden, dass sie Brading's verkaufte. Diese Krise hatte sie jedoch gemeistert, wenn der Preis auch fast unerträglich hoch war, den sie dafür hatte zahlen müssen. Jetzt endlich begann ihr Geschäft in Sydney Gewinne abzuwerfen. Jessica versuchte nicht daran zu denken, dass ihr Ehrgeiz, sowohl die Farm wieder aufzubauen als auch ihr Unternehmen in Sydney zu retten, zu einer Kette verhängnisvoller und erniedrigender Ereignisse geführt hatte. Und das abscheulichste dieser Ereignisse, das ihr qualvolles Geheimnis war und auch ihr Geheimnis bleiben musste, drohte alles zu zerstören, woran ihr Herz hing: die Liebe ihrer Kinder Edward und Victoria, die Achtung der anderen Siedler und, wie sie fürchtete, auch den Respekt und die tiefe Zuneigung von Captain Patrick Rourke und Ian. Vor allem Ian durfte nie, nie im Leben von diesem schrecklichen Geheimnis erfahren. Er würde zum Mörder werden, dessen war sie sicher. Mit aller Kraft bemühte sie sich, die Gedanken an das, was sie würde tun müssen, aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen. »Ich kann so alt werden, wie ich will, Ian, niemals werde ich es überdrüssig sein, die Äcker und Weiden und Felder und den Hawkesbury zu sehen. Seven Hills ist mir so vertraut wie die Stimmen meiner Kinder, und dennoch ist mir jedes Mal, wenn das Land so vor mir liegt wie jetzt, als entdeckte ich etwas Wunderbares zum ersten Mal. Verstehen Sie, was ich meine?« In ihrer Stimme lagen Stolz und ein fast andächtiges Staunen. Staunen über die weite und wilde Schönheit dieses Landes sowie Staunen darüber, dass all das, so weit ihr Auge reichte, ihr Besitz war. New South Wales erschien ihr immer wieder als wildes Paradies: voller Verheißungen und Wunder, aber auch voller Gefahren und Wildheit. Und es war diese Herausforderung, die das Leben in diesem Teil der jungen Kolonie so reizvoll machte und nie langweilig werden ließ - nämlich der nie endende Kampf gegen die Naturgewalten wie Flutkatastrophen und Buschbrände, Dürrezeiten und Stürme. Man musste sich immer wieder aufs Neue behaupten und durfte sich von keinem noch so bitteren Rückschlag beirren lassen, seinen Weg zu gehen. Gelang einem das, wurde man so hart wie das Land, und dann war auf einmal alles einfacher und klarer, wie der Himmel über einem, und man hatte das berauschende Gefühl, dass nichts im Leben mehr unerreichbar war. »Und ob ich Sie verstehe, Jessica. Ich hätte es nicht besser beschreiben können«, sagte er und tätschelte seinem schwarzen Hengst Hector den Hals. Er war in dem Land genauso tief verwurzelt wie sie. Er konnte sich nicht vorstellen, von Seven Hills wegzugehen. Zusammen mit Jessicas späterem Ehemann hatte er die ersten Morgen Land am Hawkesbury gerodet und der Wildnis die Farm Stück für Stück abgerungen. Als Steve dann Jessica geheiratet hatte und wenige Jahre später bei einem heimtückischen Anschlag getötet worden war, war ihm der Gedanke an eine eigene Farm noch viel weniger gekommen. Und in den Jahren, die diesem Unglück gefolgt waren, hatten sich seine Bindungen noch mehr vertieft. Seven Hills war auch sein Lebenswerk. Doch es war nicht allein die Farm, die ihn hielt. Es war auch Jessica, die eines Verwalters schon längst nicht mehr bedurfte. Sie hatte mittlerweile bewiesen, dass sie diese große Farm ausgezeichnet zu führen wusste und es mit jedem cleveren Kaufmann aufnehmen konnte, was ihre anderen Geschäfte anging, die sie mit großem Eifer und bewundernswerter Tüchtigkeit betrieb. Nein, es war nicht Seven Hills allein. Es war Jessica, die einen mindestens so großen Stellenwert in seinem Leben einnahm. Und wie sehr wünschte er sich, dass sie endlich begann, in ihm nicht nur den Verwalter und treuen Freund zu sehen, sondern auch den Mann Ian McIntosh, der sie immer geliebt hatte, ohne es sich anmerken zu lassen, und der sie immer lieben würde. Er hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass aus ihrer Zuneigung zu ihm eines Tages mehr erwachsen würde, das sie auch als Mann und Frau zusammenbrachte ... Die Sonne schickte ihr warmes Licht, das sich über den Bergen von blendender Helle in ein feuriges Rotgold verwandelte, auf den Hawkesbury und die Hügel von Seven Hills herunter. Die Pferde schnaubten ungeduldig. Sie rochen den heimatlichen Stall, den Wassertrog und das Futter, das sie keine drei Meilen entfernt erwartete. Jessica atmete die Luft, die vom Geruch der warmen Erde, der trockenen Sträucher und vom Duft der Eukalyptusbäume erfüllt war, tief ein. »Mein Gott, wie werde ich das alles in England vermissen!«, kam es ihr unbedacht über die Lippen. Sie erschrak über ihre eigenen Worte und wünschte, sie könnte sie zurücknehmen. Doch es war geschehen. Ian zuckte zusammen, als hätte ihn ein Insekt gestochen. Sein Kopf fuhr zu ihr herum, und in seinen Augen stand ein Ausdruck völliger Verständnislosigkeit, als er fragte: »Was sagten Sie, Jessica? England?« Er musste sich verhört oder sie sich versprochen haben. Doch als er ihr betroffenes Gesicht sah, wusste er, dass nichts von beidem zutraf. Sie hatte England gesagt und auch England gemeint. Jessica vermochte ihm nicht in die Augen zu schauen und wich seinem ungläubigen Blick schnell aus. »Ja, ich ... ich ...« Sie unterbrach sich, weil sie den Satz nicht aussprechen konnte, ohne vorher geschluckt zu haben. »Ich habe mich entschlossen, nach England zu reisen.«
»Nein, das glaube ich nicht!«, stieß er mit einem heftigen Kopfschütteln hervor. »Keine Sorge, ich habe nicht vor, in England zu bleiben, Ian«, sagte sie und bemühte sich, ihrer Stimme einen scherzhaften Klang zu geben. »Ich unternehme nichts weiter als einen Ausflug in meine Vergangenheit, und da diese alles andere als ...« Ian ließ sie nicht ausreden. »Ein Ausflug! Was soll der Unsinn? «, rief er ärgerlich. »Mein Gott, dieses gottverdammte Land, das uns nach Australien verbannt hat, liegt am anderen Ende der Welt. Es sind zwanzigtausend Meilen! Das können Sie unmöglich tun!« »Ich habe mich aber dazu entschlossen!« Ian sah sie eindringlich, beschwörend an. »Sagen Sie, dass es ein Scherz ist, Jessica. Sie können doch unmöglich nach England zurückwollen ... nach allem, was man Ihnen dort angetan hat und was Sie hier erreicht haben. Und ich dachte, Sie liebten dieses Land? Ist Seven Hills denn nicht Ihre Heimat? « Es tat ihr weh, ihn so sprechen zu hören. »Natürlich ist es das, und wie sehr ich dieses Land liebe, wissen Sie doch ganz genau, Ian!«, antwortete sie nicht ohne Schärfe. »Eben deshalb macht es keinen Sinn.« »Für Sie vielleicht nicht.« »Was treibt Sie nach England?«, fragte er. Jessica schwieg. Sie hatte all die Wochen Angst vor diesem Gespräch mit ihm und besonders vor dieser Frage gehabt, und sosehr sie sich auch das Gehirn zermartert hatte, sie hatte keine vernünftige Antwort darauf finden können, zumindest keine, die es gestattet hätte, ihren wahren Grund vor ihm geheim zu halten.
»Ich verstehe es nicht. Also erklären Sie es mir!«, drängte er. »Vielleicht verstehe ich dann, was Sie nach zehn Jahren in einem Land wollen, das Sie unschuldig durch die Gefängnishölle von Newgate hat gehen lassen und dessen einzige Gnade darin bestand, Sie nicht zu hängen, sondern zu Deportation zu begnadigen. Ein Land, in dem Sie sich so verloren und fremd vorkommen werden wie ein Känguru in den Straßen von London!« Sie fühlte sich zu Unrecht angegriffen, und sie ließ sich zu einer aggressiven Antwort hinreißen. »Wo steht geschrieben, dass man immer alles erklären muss? Es reicht ja wohl, dass ich weiß, warum ich dieses tue und jenes lasse!« Und im selben Moment war ihr klar, dass sie nichts Falscheres hätte sagen können. Ian erblasste. Eine Ohrfeige von ihr hätte ihn nicht tiefer verletzen können. Sein Gesicht verlor den verständnislosen, um Aufklärung bittenden Ausdruck. Es verschloss sich wie eine schwere Tür, die zufiel und verriegelt wurde. Seine Gestalt straffte sich. Seine Hände packten die Zügel fester. Stocksteif saß er im Sattel. »Sie haben recht, Jessica. Sie sind mir keine Erklärung und keine Rechenschaft schuldig«, erwiderte er mit kühler Reserviertheit, in der seine Bitterkeit über ihre Zurechtweisung noch deutlich genug mitschwang. »Entschuldigen Sie, dass ich mir eine Freiheit herausgenommen habe, die mir nicht zusteht.« Die innere Hitze der Betroffenheit durchflutete sie. Das Blut schoss ihr ins Gesicht. Ihre Wangen brannten, als ständen sie in Flammen. »Ian, so habe ich es nicht gemeint ...«, begann sie entschuldigend. »Ich habe schon verstanden«, sagte er schroff und trieb Hector mit leichtem Schenkeldruck an. Willig und begierig, die letzten Meilen bis zum Stall endlich hinter sich zu bringen, setzte sich der Hengst in Bewegung. »Ian, so warten Sie doch!«, rief sie ihm nach. Er antwortete nicht, sondern preschte den Hang hinunter und galoppierte davon. Jessica ließ die Schultern hängen und hatte Tränen in den Augen. Ian war der Letzte, den sie verletzen wollte. Und doch blieb ihr keine andere Wahl, wenn sie ihn vor sich selbst schützen und ihr Geheimnis bewahren wollte. Sie biss sich auf die Lippen. Dann ritt auch sie weiter. Doch der Zauber dieses Tages war verflogen. Hoffentlich kam bald Nachricht von ihrem Anwalt William Hutchinson aus Sydney. Die Zeit drängte. 2 Eine sandige Auffahrt, von Natursteinen eingefasst, führte in einem anmutig geschwungenen Bogen die Anhöhe von Seven Hills hinauf. Ian war schon längst vom Pferd gesprungen und in einem der Gebäude verschwunden, als Jessica Adrian vor den Stallungen zum Stehen brachte und aus dem Sattel sprang. Sie warf Frederick, dem blonden Stallburschen, die Zügel zu. »Und? Wie geht es Shane und Morris da draußen?«, erkundigte er sich nach den beiden Männern, die auf einer der Außenweiden von Seven Hills über eine Herde von mehreren hundert Schafen wachten. »Gut«, gab Jessica kurz angebunden zurück.
Frederick warf ihr einen verwunderten Blick zu, stellte jedoch keine weiteren Fragen, sondern führte den Wallach am Zügel in den Stall. »Auwei, das klang ja nicht so, als hätten die beiden einen vergnüglichen Tag im Sattel verbracht, alter Freund«, sagte er leise zu Adrian. »Habe mir schon so was gedacht, als der Ire mit finsterem Gesicht herangejagt kam und mich fast über den Haufen geritten hat. Ich wünschte, du könntest mir deine Version von dem heutigen Ausritt von Missis Brading und unserem Verwalter erzählen, Adrian. Aber wie ich das so sehe, wirst du deiner Herrin verschwiegen die Treue halten, nicht wahr?« Als hätte er ihn verstanden, warf Adrian den Kopf hoch und trabte mit einem fröhlichen Wiehern auf seine geräumige Box zu. Frederick seufzte. »Ja, das habe ich mir gedacht«, sagte er und hätte es selbst nicht anders gehalten. Jessica ging über den Hof, nickte einigen Männern und Frauen zu und verschwand im geräumigen Verwalterhaus, das sie seit dem verheerenden Brand mit ihren beiden Kindern, ihrer persönlichen Zofe Anne Howard und ihrer Köchin Lisa Reed bewohnte. Eigentlich stand es Ian zu. Doch dieser hatte es sofort geräumt und darauf bestanden, dass sie es so lange bewohnte, bis das neue Haupthaus gebaut war. Er war in eine frei stehende Feldarbeiterhütte gezogen, mehr als einmal beteuernd, dass ihm die schlichte Unterkunft nicht das Geringste ausmachte. Ihm war es sogar gelungen, es so klingen zu lassen, als ersparte ihm die Nähe zu den mehr als vier Dutzend Männern und Frauen, die auf Seven Hills lebten und auf Jessica Bradings Lohnliste standen, eine Menge unnützer Lauferei. Es war typisch Ian. Sie war froh, dass ihr Sohn Edward, der im nächsten Monat kurz vor Weihnachten acht Jahre alt wurde, sich noch irgendwo in einer Werkstatt oder Stallung herumtrieb. Er war ihr ganzer Stolz, ein praktisch veranlagter Junge von rascher Auffassungsgabe. Er war der geborene Farmer und glücklich, dass er und seine Schwester schon mehrere Monate lang keinen Schulunterricht mehr hatten, nämlich seit ihre gestrenge und altjüngferliche Hauslehrerin Catherine Hazelwood, vom einfachen Leben auf der einsam gelegenen Farm abgestoßen, nach Sydney zurückgekehrt war. Dagegen war Victoria, die mit ihren sechseinhalb Jahren zu Jessicas großem Bedauern so wenig zupackende Energie an den Tag legte und noch so verträumt war wie eh und je, traurig, auch wenn Catherine Hazelwood nach Allan Whitman, den sie als Hauslehrer beide respektiert und geliebt hatten, eine große Enttäuschung gewesen war. Denn bei aller Unzulänglichkeit der »dürren Krähe«, wie Edward Miss Hazelwood hinter ihrem Rücken abfällig zu nennen pflegte, war ihr Unterricht doch stets eine willkommene Flucht aus dem für Victoria uninteressanten, langweiligen Alltag auf der Farm gewesen, eine Flucht in die sie viel stärker faszinierende Welt der Bücher, der Gedanken und der Fantasie. So war sie sich nun meist selbst überlassen, besonders in den arbeitsintensiven Sommermonaten, die vor ihnen lagen, getröstet in ihrer Einsamkeit nur von ihren Malstiften und Zeichnungen, die ihr so wichtig waren wie ihrem bodenstämmigen Bruder die Weiden und Koppeln und Werkstätten und Scheunen der Farm. Die Tür zu Victorias Zimmer war offen. Jessica blieb im Eingang stehen. Ihre Tochter hockte, mit einem luftigen Musselin kleidchen und sauberen Schnallenschuhen bekleidet, auf dem Boden und malte, während sie eine Melodie vor sich hin summte, die genauso ihrer Fantasie entsprang wie ihr Bild.
Einen Moment lang stand Jessica ganz still da, den Blick auf ihre blonde, zartgliedrige Tochter gerichtet, die so völlig anders war als Edward und sie selbst. Sie war wie ein zarter, bunt schillernder und leicht verletzlicher Schmetterling inmitten einer Herde temperamentvoller, kraftstrotzender Vollblüter. Jessica schämte sich plötzlich, als ihr bewusst wurde, wie sehr sie sich eine Tochter nach ihrem Ebenbild wünschte und wie sehr sie es bedauerte, dass Victoria ihren hohen Ansprüchen nicht gerecht wurde und im Gegensatz zu den Töchtern anderer, befreundeter Siedler am Hawkesbury so absolut kein Interesse für das Leben auf der Farm zeigte. Es ist nicht richtig, diese Maßstäbe anzulegen und sie daran zu messen. Jedenfalls jetzt noch nicht. Ich muss ihr Zeit lassen. Sie ist einfach anders. Mit dem Alter wird gewiss das Interesse und die Ernsthaftigkeit kommen, die eine junge Frau in diesem harten Land braucht, um zu bestehen und einen aufrechten Mann fürs Leben zu finden. Jessica ging dabei ganz selbstverständlich davon aus, dass dieser Mann, der ihre Tochter eines Tages zu seiner Frau machen würde, der Sohn eines der benachbarten Farmer sein würde. Lisa Reed tauchte im Flur auf. Die stämmige Köchin, die ihr Reich mit eiserner Hand regierte und von nie erlahmender Kraft schien, strahlte über das zerfurchte Gesicht. »Die gnädige Frau ist zurück! Da kann ich ja das Abendessen richten!« Victoria wachte beim Klang der Stimme aus ihrem Tagtraum auf und blickte zur Tür. Ihr verträumter Gesichtsausdruck verwandelte sich in ein glückliches Lächeln. »Mom! Schaust du dir mein neues Bild an?« »Ich komme gleich, mein Kind«, sagte Jessica und wandte sich dann Lisa Reed zu. »Bitte sagen Sie Anne, sie soll sich bereithalten. Ich bin völlig durchgeschwitzt und möchte mich waschen und frische Kleider anziehen.« »Natürlich, gnädige Frau. Ich werde höchstpersönlich dafür Sorge tragen, dass der Zuber in Ihrem Waschkabinett so rasch wie möglich mit heißem Wasser gefüllt wird!«, versicherte die Köchin. »Lauwarm reicht bei diesen Temperaturen vollkommen, Lisa. Und überlassen Sie das ruhig Anne«, trug sie ihr mit unüberhörbarem Nachdruck auf. Lisa Reed fiel es noch immer schwer, Anne nicht wie das unerfahrene, verschüchterte und völlig überarbeitete Küchenmädchen zu behandeln, das sie einmal unter ihrem herrischen Regime gewesen war. Anne hatte es bei ihr nicht länger ausgehalten, und Jessica hatte sie von der Tyrannei der Köchin befreit, indem sie das Mädchen kurz entschlossen zu ihrer Zofe erklärt hatte, ohne zu wissen, ob Anne dazu auch nur das geringste Geschick mitbrachte. Damals war das nur eine Ausrede gewesen, um Lisa Reed nicht die Wahrheit sagen zu müssen. Und eigentlich hatte sie einer Zofe auch gar nicht bedurft. Bis dahin war sie noch immer gut allein zurechtgekommen. Doch schon bald hatte sich die spontane Entscheidung als großer Glücksfall erwiesen, denn Anne, mittlerweile eine junge Frau von achtzehn Jahren, hatte sich zu einer ausgezeichneten Zofe entwickelt und ging ganz in ihrer Tätigkeit auf. Und manchmal fragte sich Jessica, wie sie vorher bloß ohne Anne zurechtgekommen war, mit der sie ein herzliches Vertrauensverhältnis verband. Eine Zofe wie Anne war nicht nur ein Luxus, sondern ein Geschenk des Schicksals, wie ein Freund, auf dessen Treue man blindlings bauen konnte. Jessica sah den Schatten, der sich über das Gesicht der mit Mitte vierzig schon völlig ergrauten Köchin legte. Um ihren Worten nachträglich noch die zurechtweisende Schärfe zu nehmen, fügte Jessica mit einem Lächeln schmeichelnd hinzu: »Anne ist sehr tüchtig, und ich schätze sie so sehr als Zofe, wie ich Sie als beste Köchin zu beiden Seiten des Hawkesbury schätze. Man merkt eben doch, wenn jemand durch Ihre harte Schule gegangen ist, Lisa.« Lisa Reeds Gesicht hellte sich sofort wieder auf. »Man muss den Baum biegen, solange er jung ist, gnädige Frau. Ich versuche immer, mein Bestes zu geben. Ich werde Anne Bescheid sagen.« Jessica nickte ihr zu und bezweifelte, dass das jetzt noch nötig war. Anne hatte sie bestimmt schon gehört und wusste selbst, wonach ihrer Herrin nach einem derart langen Inspektionsritt der Sinn stand. Aber das behielt sie für sich, während sie sich einen Augenblick zu Victoria auf den Boden setzte. Ihr Interesse am Geplapper ihrer Tochter, die ihr ihr Bild erklärte, schwand jedoch schnell. Es waren Fantasieblumen, die in einem Fantasieland blühten. Sie waren Victoria recht gut gelungen, wenn man ihr Alter bedachte. Dennoch hätte es Jessica zehnmal lieber gesehen, wenn Victoria Ställe und Scheunen oder die Pferdekoppel gemalt hätte. Aber noch lieber wäre es ihr gewesen, wenn ihre Tochter statt zu malen ihre Zeit bei Edward und den Farmarbeitern verbringen würde. Mit ihren bald sieben Jahren konnte sie noch nicht einmal die zehn besten Reitpferde von Seven Hills auseinanderhalten, geschweige denn ihre besten Milchkühe und die Zugochsen für die schweren Fuhrwerke. Edward dagegen hatte schon mit fünf Jahren jedes Tier im Stall und auf der Koppel beim Namen nennen können, sofern es einen Namen hatte, die Zuchtböcke eingeschlossen. » ... und das hier ist die Blume der verzauberten Prinzessin«, sagte Victoria und deutete auf eine Blume, deren Blätter wie kleine Kronen aussahen. »Warum malst du nicht mal ein schönes Bild vom Hof, Victoria?«, fragte Jessica. »Oder von der Schafschur?« Ihre Tochter verzog das Gesicht und rümpfte die Nase. »Die Tiere stinken so, Mom, und die Männer auch.« »Schafe stinken nicht, mein Kind, sie haben nur, wie jedes Lebewesen, ihren eigenen Geruch«, erwiderte Jessica missbilligend. »Und bei der Arbeit zu schwitzen ist nichts Ehrenrühriges. Man kann sich hinterher waschen. Dafür gibt es Wasser und Seife.« »Aber nicht gegen das Geschrei und die Angst der Tiere«, behauptete sich Victoria diesmal. »Ich finde es so gemein, wie sie die Schafe auf den Rücken werfen und so schnell scheren, dass sie ihnen immer wieder in die Haut schneiden und sie bluten lassen.« Jessica hatte Mühe, nicht ihre Geduld zu verlieren und ihre Tochter nicht noch schärfer zurechtzuweisen. »Das sieht schlimmer aus, als es in Wirklichkeit ist. Schafe haben unter ihrer Wolle nun mal eine empfindliche Haut. Doch diese kleinen Schnittwunden heilen schnell. Und wir brauchen die Wolle, mein Kind, dafür haben wir ja die Schafzucht. Würden wir die Schafe nicht scheren, könnte ich dir nicht so hübsche Kleider schneidern lassen.« Victoria sah an sich hinunter und strich über den herrlich glatten Stoff. »Das wäre nicht so schlimm«, sagte sie dann nach kurzem Zögern, denn sie liebte hübsche Kleider und achtete stets darauf, sich nicht schmutzig zu machen - ganz im Gegensatz zu ihrem Bruder. »Es wäre auch kein Geld für Malstifte da!« Victoria senkte schuldbewusst den Kopf und biss sich auf die Unterlippe, erwiderte aber nichts. Jessica war alles andere als stolz darauf, wie sie den kindlichen Illusionen ihrer Tochter begegnet war. Aber Victoria musste einfach lernen, mit beiden Beinen auf dem Boden der Realität zu stehen, und die hieß Seven Hills. Es war ihre Pflicht als Mutter, sie darauf vorzubereiten, dass das Leben nicht durch Träumen zu bewältigen war, nicht hier in Australien, und sie musste lernen, dass ihr als Brading-Tochter und -Erbin nicht zu Blumen verzauberte Prinzessinnen und Prinzen begegnen würden, sondern viel eher verlogene Mitgiftjäger, halsabschneiderische Händler, neidvolle Mütter und Töchter von weniger erfolgreichen Farmen als Seven Hills sowie Farmarbeiter und Hauspersonal, das jede Schwäche sofort zum eigenen Vorteil zu nutzen versuchte. Das traurige Schweigen ihrer Tochter ging ihr dennoch ans Herz. Versöhnlich sagte sie deshalb: »Du kannst wirklich wunderbar mit den Malstiften umgehen, mein Kind. Warum malst du nicht mal ein Bild von meinem Lieblingspferd? Du würdest mir damit eine große Freude machen.« Victoria hob den Kopf. »Ich ... ich kann es versuchen. Aber du musst mir zeigen, welches Pferd das ist.« »Adrian natürlich.« »Ich weiß nicht, welches Pferd Adrian ist«, gestand Victoria ein, und in ihren Augen war ein schuldbewusster Ausdruck. »Die Pferde sehen für mich alle gleich aus.« Jessica hielt ihren aufkommenden Unmut über die totale Unkenntnis ihrer Tochter mühsam zurück. »Du brauchst nur zu fragen, Victoria. Jeder auf Seven Hills kann dir zeigen, wer Adrian ist. Nun ja, offensichtlich doch nicht jeder.« Victoria errötete. »Am besten gehst du morgen mit Edward hinunter auf die Koppel.« Jessica unterdrückte einen schweren Seufzer und stand auf. »Es wird Zeit, dass ich mich wasche. Sei so gut und such deinen Bruder. Sag ihm, dass ich nicht zulassen werde, dass er zu spät zum Abendessen kommt, und dann auch noch ungewaschen! Ich erwarte, dass er sich mit sauberen Sachen zu uns an den Tisch setzt.« »Ja, Mom«, sagte Victoria folgsam und huschte aus dem Zimmer. Immerhin habe ich keine Probleme mit Victoria, was Sauberkeit und adrette Kleidung betrifft, dachte Jessica, während sie den Flur hinunterging und sich in ihr Zimmer begab, wo Anne schon auf sie wartete. Der Badezuber im Waschkabinett war bereits mit Wasser gefüllt, und sie hatte auch schon frische Leibwäsche auf dem Bett ausgebreitet. Anne spürte, dass ihrer Herrin der Sinn nicht nach Unterhaltung stand, und verhielt sich dementsprechend. Sie half Jessica mit flinken Händen beim Entkleiden, gab etwas vom kostbaren Badesalz ins Wasser und hielt sich stumm, aber mit einem freundlichen Lächeln auf dem Gesicht zu ihrer Verfügung. Das Bad tat Jessica gut, körperlich wie seelisch. Sie schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und spürte, wie ihr Körper sich entspannte. Die Enttäuschung, die Victoria ihr bereitet hatte, schwand schnell dahin und machte der Zuversicht Platz, dass ihre Tochter sich schon noch rechtzeitig fangen und eine richtige Brading werden würde. Was jedoch Ian anging, blieb sie innerlich angespannt und voller Bangen. Würde er sich beim Abendessen etwas anmerken lassen und sie vor ihren Kindern zur Rede stellen? Wenn er in solch einer finsteren Stimmung war, war ihm das sehr wohl zuzutrauen.
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Autoren-Porträt von Ashley Carrington
Mit einer Gesamtauflage in Deutschland von fast 6 Millionen zählt Rainer M. Schröder, alias Ashley Carrington, zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftstellern von Jugendbüchern sowie historischen Gesellschaftsromanen für Erwachsene. Letztere erscheinen seit 1984 unter seinem zweiten, im Pass eingetragenen Namen Ashley Carrington.Rainer M. Schröder lebt Atlanta in den USA.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ashley Carrington
- 2013, 1, 304 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863650255
- ISBN-13: 9783863650254
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