Julia
Roman
Die Amerikanerin Julia entdeckt die Urfassung der Geschichte von Romeo und Julia und der Familien Tolomei und Salimbeni. Dann erfährt sie, dass sie Julia Tolomei heißt und ein Fluch auf ihr liegt. Sie reist nach Siena, um das Geheimnis zu lüften.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Julia “
Die Amerikanerin Julia entdeckt die Urfassung der Geschichte von Romeo und Julia und der Familien Tolomei und Salimbeni. Dann erfährt sie, dass sie Julia Tolomei heißt und ein Fluch auf ihr liegt. Sie reist nach Siena, um das Geheimnis zu lüften.
Klappentext zu „Julia “
Das Geheimnis um die größte Liebesgeschichte der Welt: Romeo und Julia.Ein altes Buch lockt die junge Amerikanerin Julia nach Italien: es ist die Urfassung des Romeo-und-Julia-Stoffes und es handelt von den verfeindeten Familien Tolomei und Salimbeni in Siena. Völlig überrascht stößt Julia auch auf die Warnung ihrer verstorbenen Mutter: bis heute liege ein Fluch auf den Familien - und damit auch auf ihr. Denn ihr wahrer Name ist Giulietta Tolomei. Auf der Suche nach ihrem Erbe spürt Julia, dass sie beobachtet und verfolgt wird. Während Siena dem Palio entgegenfiebert, gerät sie in höchste Gefahr. Wird der Fluch der Vergangenheit auch ihr zum Schicksal?
Lese-Probe zu „Julia “
Julia von Anne Fortier I. I
O wehe, weh mir! Was für Blut befleckt Die Steine hier an dieses Grabmals Schwelle?
Es dauerte eine Weile, bis ich wusste, wo ich anfangen sollte. Man könnte behaupten, dass meine Geschichte bereits vor über sechshundert Jahren mit einem Straßenraub in der mittelalterlichen Toskana begann oder erst viel später, mit einem Tanz und einem Kuss im Castello Salimbeni, als meine Eltern sich das erste Mal begegneten. All das jedoch erfuhr ich nur durch ein Ereignis, das mein Leben über Nacht veränderte und mich zwang, nach Italien zu reisen und mich auf die Suche nach der Vergangenheit zu begeben. Besagtes Ereignis war der Tod meiner Großtante Rose. Umberto brauchte drei Tage, um mich zu finden. Angesichts meiner Begabung in der Kunst des Verschwindens überrascht es mich, dass er es überhaupt schaffte. Wobei Umberto seit jeher die unheimliche Fähigkeit besitzt, meine Gedanken zu lesen und meine Schritte vorherzusagen. Außerdem gibt es in Virginia ja nur eine begrenzte Anzahl von Shakespeare-Sommercamps. Wie lange er dort an der Rückseite des Raumes stand und der Aufführung zusah, weiß ich nicht. Ich war wie immer hinter der Bühne und zu sehr mit den Kindern beschäftigt voller Sorge, ob sie ihren Text noch konnten und mit ihren Requisiten zurechtkamen , so dass ich nichts anderes um mich herum wahrnahm, bis der Vorhang fiel. Nach unserer Generalprobe am Nachmittag hatte jemand das Giftfläschchen verlegt, so dass Romeo nun mangels besserer Alternativen mit Tic-Tacs Selbstmord begehen musste. »Aber von denen bekomme ich Sodbrennen!«, beschwerte sich der Junge mit der ganzen anklagenden Angst eines Vierzehnjährigen. »Großartig!«, konterte ich und widerstand dem mütterlichen Drang, die Samtkappe auf seinem Kopf
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zurechtzurücken. »Dann kannst du dich besser in deine Rolle hineinversetzen.« Erst, als hinterher das Licht wieder anging und die Kinder mich auf die Bühne zerrten, um mich dort mit Dankbarkeit zu überschütten, bemerkte ich die vertraute Gestalt, die hinten in der Nähe des Ausgangs stand und mich über das applaudierende Publikum hinweg betrachtete. Mit seinem dunklen Anzug und der Krawatte wirkte Umberto so ernst und stattlich, dass er aus der Menge hervorstach wie ein einzelner Halm der Zivilisation aus einem urzeitlichen Sumpf. Das war schon immer so gewesen. Seit ich mich erinnern konnte, hatte er niemals auch nur ein einziges Kleidungsstück getragen, das als leger zu bezeichnen war. Khakishorts und Golfhemden galten bei Umberto als die Bekleidung von Männern, die keinerlei Tugenden mehr besaßen nicht einmal Schamgefühl. Als der Ansturm dankbarer Eltern nach einer Weile abebbte und ich endlich die Bühne verlassen konnte, wurde ich noch kurz vom Programmdirektor aufgehalten, der mich an den Schultern packte und herzlich schüttelte. Er kannte mich zu gut, um eine Umarmung zu wagen. »Gut gemacht, Julia«, rief er laut, »Sie haben wirklich ein Händchen für die jungen Leute! Ich darf doch nächsten Sommer wieder mit Ihnen rechnen?« »Auf jeden Fall«, log ich im Weitergehen. »Ich werde zur Stelle sein.« Als ich endlich auf Umberto zutrat, suchte ich vergeblich nach dem kleinen Funken Glück, der für gewöhnlich in seinen Augenwinkeln stand, wenn er mich nach langer Zeit wiedersah. Diesmal aber konnte ich nicht einmal die Spur eines Lächelns entdecken. Plötzlich begriff ich, warum er gekommen war. Während ich wortlos in seine Umarmung sank, wünschte ich, es stünde in meiner Macht, die Realität wie eine Sanduhr auf den Kopf zu stellen. Ach, wäre das Leben doch keine endliche Angelegenheit, sondern stattdessen ein ewiger Kreislauf, in den man immer wieder durch ein kleines Loch im Universum zurückkehren könnte. »Weine nicht, Principessa«, flüsterte er in mein Haar hinein, »das hätte sie nicht gewollt. Wir können nicht alle ewig leben. Sie war zweiundachtzig.« »Ich weiß, aber ...« Ich trat einen Schritt zurück und wischte mir die Augen. »War Janice da?« Wie immer, wenn der Name meiner Zwillingsschwester fiel, verengten sich Umbertos Augen. »Was glaubst du denn?« Erst jetzt aus der Nähe sah ich, dass er angeschlagen und deprimiert wirkte, als hätte er sich die letzten paar Abende in den Schlaf getrunken. Doch vielleicht war das eine ganz normale Reaktion. Was sollte ohne Tante Rose aus Umberto werden? Seit ich denken konnte, waren die beiden einander in einer Notgemeinschaft aus Moneten und Muskeln verbunden gewesen sie hatte die alternde belle gespielt, er den geduldigen Butler , und trotz ihrer Differenzen hatte keiner von beiden je daran gedacht, ein Leben ohne den anderen zu wagen. Der Lincoln parkte diskret drüben neben der Lagerfeuerstelle, und kein Mensch bekam mit, wie Umberto meinen alten Rucksack in den Kofferraum legte, eher er mir mit maßvoller Feierlichkeit die hintere Tür aufhielt. »Ich möchte vorne sitzen. Bitte.« Unter missbilligendem Kopfschütteln öffnete er mir nun die Beifahrertür. »Ich wusste, dass das alles irgendwann zu Ende gehen würde.« Dabei hatte es niemals an Tante Rose gelegen, dass ihr Verhältnis so förmlich blieb. Ja, Umberto war ihr Angestellter, aber sie behandelte ihn stets wie ein Familienmitglied. Was von ihm jedoch nie erwidert wurde. Jedes Mal, wenn Tante Rose vorschlug, Umberto solle sich doch zu uns anderen an den Tisch setzen, bedachte er sie bloß mit einem erstaunten, aber nachsichtigen Blick, als würde er sich immer wieder von neuem darüber wundern, wieso sie ihn ständig dazu aufforderte und seine Einstellung zu diesem Thema einfach nicht begriff. Er nahm alle seine Mahlzeiten in der Küche ein. Das war seit jeher so gewesen und würde auch so bleiben. Nicht einmal der Herrgott der von Tante Rose mit wachsender Verzweiflung beschworen wurde konnte ihn dazu bringen, sich zu uns zu setzen, auch wenn es sich um Festtage handelte. Tante Rose entschuldigte Umbertos Eigenheit immer als typisch europäisch und blendete dann geschickt zu einem Vortrag über Tyrannei, Freiheit und Unabhängigkeit über, der unweigerlich darin gipfelte, dass sie mit der Gabel auf uns deutete und fauchte: »Und genau aus diesem Grund werden wir in den Ferien nicht nach Europa fliegen. Vor allem nicht nach Italien. Basta!« Ich persönlich war ziemlich sicher, dass Umberto allein schon deswegen lieber in der Küche speiste, weil er seine eigene Gesellschaft dem, was wir zu bieten hatten, bei weitem vorzog. Während er gemütlich in der Küche saß und seine Opernmusik, seinen Wein und sein perfekt herangereiftes Stück Parmesan genoss, zankten wir Tante Rose, ich und Janice im zugigen Speisezimmer frierend vor uns hin. Hätte ich die Wahl gehabt, hätte ich ebenfalls den ganzen Tag in der Küche verbracht. Während wir nun durch das mondhelle Shenandoah Valley fuhren, berichtete mir Umberto von Tante Roses letzten Stunden. Sie war ganz friedlich im Schlaf gestorben, nachdem sie sich einen Abend lang all ihre Lieblingslieder von Dean Martin angehört hatte eine knisternde Platte nach der anderen. Nachdem der letzte Akkord des letzten Stücks verklungen war, hatte sie sich erhoben und die Verandatür zum Garten geöffnet, vielleicht, weil sie noch einmal den Duft des Geißblatts in sich aufsaugen wollte. Wie Umberto mir erzählte, stand sie dort eine Weile mit geschlossenen Augen, wobei die langen Spitzenvorhänge um ihren dürren Körper flatterten, ohne dabei das geringste Geräusch zu machen als wäre sie bereits ein Geist. »Habe ich das Richtige getan?«, fragte sie ihn damals sehr leise.
»Natürlich haben Sie das«, lautete seine diplomatische Antwort. Erst gegen Mitternacht bogen wir in Tante Roses Zufahrt ein. Umberto hatte mich bereits vorgewarnt, dass Janice am Nachmittag mit einem Taschenrechner und einer Flasche Champagner aus Florida eingetroffen war. Was jedoch nicht erklärte, warum direkt vor dem Eingang ein zweiter Sportwagen parkte. »Ich hoffe wirklich«, sagte ich, während ich meinen Rucksack aus dem Kofferraum hievte, ehe Umberto mir zuvorkommen konnte, »dass das nicht der Bestatter ist.« Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, verzog ich wegen meiner schnodderigen Ausdrucksweise das Gesicht. Eigentlich war es überhaupt nicht meine Art, so daherzureden. Das passierte nur, wenn ich in Hörweite meiner Schwester kam. Umberto, der nur einen raschen Seitenblick für den mysteriösen Wagen übrig hatte, zog seine Jacke auf eine Art zurecht, wie man es wohl mit einer kugelsicheren Weste tat, ehe man sich ins Kampfgetümmel stürzte. »Ich fürchte, es gibt viele Arten, mit dem Tod umzugehen.« Sobald wir Tante Roses Haus betreten hatten, begriff ich, was er meinte. All die großen Porträts in der Diele waren abgenommen und standen nun mit dem Rücken zur Wand wie Verbrecher vor einem Erschießungskommando. Die große venezianische Vase, die immer auf dem runden Tisch unter dem Lüster gethront hatte, war bereits verschwunden. »Hallo?«, rief ich laut, während in mir eine Welle der Wut hochstieg, wie ich sie seit meinem letzten Besuch nicht mehr empfunden hatte. »Noch jemand am Leben?« In dem stillen Haus hallte meine Stimme ein paar Sekunden lang nach, aber nachdem das Echo verklungen war, hörte ich oben auf dem Gang schnelle Schritte. Trotz dieses kurzen Anfalls von Hektik, den das schlechte Gewissen bei Janice auslöste, ließ sie sich ihren üblichen, wie in Zeitlupe inszenierten Auftritt auf der breiten Treppe keineswegs nehmen. Nach einer kurzen Pause für die Weltpresse warf sie ihr langes Haar mit träger Selbstzufriedenheit nach hinten und bedachte mich mit einem hochnäsigen Lächeln, ehe sie ihren Abstieg begann. »Und siehe da«, bemerkte sie mit honigsüßer, aber zugleich eiskalter Stimme, »unsere Virgitarierin ist gelandet.« Erst dann registrierte ich den männlichen Beigeschmack der Woche, der ihr dicht auf den Fersen folgte und dabei so aufgelöst und schwelläugig wirkte, wie man eben aussieht, wenn man eine Weile mit meiner Schwester allein war. »Ja, auch wenn es dich enttäuscht«, antwortete ich, während ich meinen Rucksack geräuschvoll zu Boden fallen ließ. »Kann ich dir helfen, das Haus von sämtlichen Wertsachen zu befreien, oder machst du das lieber allein?« Janices Lachen klang wie ein kleines Windspiel auf der nachbarlichen Veranda, das dort nur hängt, um einen zu ärgern. »Das ist Archie«, informierte sie mich auf ihre geschäftsmäßiglockere Art, »er wird uns für diesen ganzen Schrott zwanzig Riesen geben.« Ich blickte den beiden voller Abscheu entgegen. »Wie großzügig von ihm. Offensichtlich hat er eine Vorliebe für Müll.« Janice warf mir einen eisigen Blick zu, riss sich dann aber am Riemen. Sie wusste sehr gut, dass mir nicht das Geringste an ihrer guten Meinung lag und ihre Wut mich nur amüsierte. Ich bin vier Minuten vor ihr zur Welt gekommen. Egal, was sie tat oder sagte, ich würde immer vier Minuten älter sein. Obwohl Janice sich selbst als den Turbohasen und mich als mühsam vorankrabbelnden Igel sah, wussten wir beide, dass sie um mich herum so viele großspurige Haken schlagen konnte, wie sie wollte, und dennoch nie den winzigen Abstand zwischen uns aufholen konnte. »Tja«, meinte Archie mit Blick auf die Tür, »ich bin dann mal weg. War nett, Sie kennenzulernen, Julia Sie heißen doch Julia, nicht wahr? Janice hat mir alles über Sie erzählt ...« Er lachte nervös. »Also, lasst euch nicht unterkriegen! Macht Frieden, nicht Liebe, wie es so schön heißt.« Janice winkte Archie nach, bis er die Tür hinter sich zufallen ließ. Sobald er jedoch außer Hörweite war, verwandelte sich ihr Engelsgesicht wie bei einem Halloween-Hologramm in eine teuflische Fratze. »Schau mich nicht so an!«, fauchte sie. »Ich versuche nur, ein bisschen Geld für uns herauszuschlagen. Was man von dir ja nicht behaupten kann, oder?« »Ich habe auch nicht deine Art von ... Ausgaben.« Ich nickte zu ihren neuesten Errungenschaften hinüber, die sich unter dem engen Kleid rund und deutlich abzeichneten. »Sag mal, Janice, wie schaffen sie es eigentlich, dieses ganze Zeug in dich hineinzustopfen? Durch den Nabel?« »Sag mal, Julia«, äffte Janice mich nach, »wie fühlt es sich eigentlich an, nie etwas in sich reingestopft zu bekommen? Überhaupt nie!« »Entschuldigen Sie, meine Damen«, unterbrach uns Umberto und trat mit höflicher Miene zwischen uns, wie er es schon so viele Male zuvor getan hatte, »aber ich schlage vor, wir verlegen diesen spannenden Wortwechsel in die Bibliothek.« Bis wir Janice einholten, hatte sie sich bereits über Tante Roses Lieblingssessel drapiert und einen Gin Tonic auf dem Kissen abgestellt, das ich in meinem letzten Jahr an der Highschool mit einem Fuchsjagdmotiv bestickt hatte, während meine Schwester auf der Jagd nach zweibeiniger Beute war. »Was ist?« Sie blickte uns mit kaum verhohlener Abneigung entgegen. »Glaubt ihr nicht, dass sie mir die Hälfte ihrer alkoholischen Getränke hinterlassen hat?« Es war typisch Janice, einen Streit vom Zaun zu brechen, obwohl gerade jemand gestorben war. Ich wandte ihr den Rücken zu und ging zur Terrassentür hinüber. Draußen standen Tante Roses geliebte Terrakottatöpfe aufgereiht wie ein Spalier von Trauernden. Die Blüten hingen tief herab. Ein ungewohnter Anblick. Sonst hatte Umberto den Garten immer perfekt im Griff, aber vielleicht war ihm nun, da es seine Arbeitgeberin und dankbare Zuhörerin nicht mehr gab, auch die Freude an seiner Arbeit abhanden gekommen. »Es überrascht mich«, sagte Janice, während sie den Drink in ihrem Glas herumwirbeln ließ, »dass du noch da bist, Birdie. An deiner Stelle wäre ich längst in Vegas. Mit dem Silber.« Umberto gab ihr keine Antwort. Er hatte schon vor Jahren aufgehört, direkt mit Janice zu sprechen. Stattdessen sah er mich an. »Die Beerdigung ist morgen.« »Ich kann nicht fassen«, meinte Janice, die ein Bein über die Armlehne baumeln ließ, »dass du das alles organisiert hast, ohne uns zu fragen.« »Sie wollte es so.« »Sonst noch was, das wir wissen sollten?« Janice befreite sich aus der Umarmung des Sessels und strich ihr Kleid glatt. »Ich nehme an, wir bekommen trotzdem alle unseren Anteil? Sie hat sich doch wohl nicht in irgendeine schräge Stiftung für verwaiste Haustiere verliebt, oder so was in der Art?« »Jetzt halt mal die Luft an«, sagte ich in scharfem Ton. Für ein, zwei Sekunden sah es tatsächlich so aus, als hätte ich Janice damit in ihre Schranken verwiesen. Dann schüttelte sie meine Worte ab, wie sie es immer tat, und griff ein weiteres Mal nach der Ginflasche. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, ihr dabei zuzusehen, wie sie die Ungeschickte spielte und dann erstaunt die perfekt gezupften Augenbrauen hochzog, um anzudeuten, dass sie keineswegs vorgehabt hatte, sich so viel einzuschenken. Während die Sonne am Horizont sank, würde Janice bald in einen Liegestuhl sinken und es anderen überlassen, die großen Fragen des Lebens zu beantworten, solange sie ihr nur ihre Drinks brachten. Soweit ich mich erinnern konnte, war sie schon immer so gewesen: unersättlich. Als wir noch Kinder waren, reagierte Tante Rose stets mit einem erfreuten Lachen und dem Ausruf: »Würde man dieses Mädchen in ein Gefängnis aus Lebkuchen sperren, könnte sie sich problemlos einen Weg in die Freiheit fressen!« Als wäre Janices Gier ein Grund, stolz auf sie zu sein. Allerdings stand Tante Rose nun mal an der Spitze der Nahrungskette und hatte im Gegensatz zu mir nichts zu befürchten. Seit ich 18
Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2010
»Natürlich haben Sie das«, lautete seine diplomatische Antwort. Erst gegen Mitternacht bogen wir in Tante Roses Zufahrt ein. Umberto hatte mich bereits vorgewarnt, dass Janice am Nachmittag mit einem Taschenrechner und einer Flasche Champagner aus Florida eingetroffen war. Was jedoch nicht erklärte, warum direkt vor dem Eingang ein zweiter Sportwagen parkte. »Ich hoffe wirklich«, sagte ich, während ich meinen Rucksack aus dem Kofferraum hievte, ehe Umberto mir zuvorkommen konnte, »dass das nicht der Bestatter ist.« Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, verzog ich wegen meiner schnodderigen Ausdrucksweise das Gesicht. Eigentlich war es überhaupt nicht meine Art, so daherzureden. Das passierte nur, wenn ich in Hörweite meiner Schwester kam. Umberto, der nur einen raschen Seitenblick für den mysteriösen Wagen übrig hatte, zog seine Jacke auf eine Art zurecht, wie man es wohl mit einer kugelsicheren Weste tat, ehe man sich ins Kampfgetümmel stürzte. »Ich fürchte, es gibt viele Arten, mit dem Tod umzugehen.« Sobald wir Tante Roses Haus betreten hatten, begriff ich, was er meinte. All die großen Porträts in der Diele waren abgenommen und standen nun mit dem Rücken zur Wand wie Verbrecher vor einem Erschießungskommando. Die große venezianische Vase, die immer auf dem runden Tisch unter dem Lüster gethront hatte, war bereits verschwunden. »Hallo?«, rief ich laut, während in mir eine Welle der Wut hochstieg, wie ich sie seit meinem letzten Besuch nicht mehr empfunden hatte. »Noch jemand am Leben?« In dem stillen Haus hallte meine Stimme ein paar Sekunden lang nach, aber nachdem das Echo verklungen war, hörte ich oben auf dem Gang schnelle Schritte. Trotz dieses kurzen Anfalls von Hektik, den das schlechte Gewissen bei Janice auslöste, ließ sie sich ihren üblichen, wie in Zeitlupe inszenierten Auftritt auf der breiten Treppe keineswegs nehmen. Nach einer kurzen Pause für die Weltpresse warf sie ihr langes Haar mit träger Selbstzufriedenheit nach hinten und bedachte mich mit einem hochnäsigen Lächeln, ehe sie ihren Abstieg begann. »Und siehe da«, bemerkte sie mit honigsüßer, aber zugleich eiskalter Stimme, »unsere Virgitarierin ist gelandet.« Erst dann registrierte ich den männlichen Beigeschmack der Woche, der ihr dicht auf den Fersen folgte und dabei so aufgelöst und schwelläugig wirkte, wie man eben aussieht, wenn man eine Weile mit meiner Schwester allein war. »Ja, auch wenn es dich enttäuscht«, antwortete ich, während ich meinen Rucksack geräuschvoll zu Boden fallen ließ. »Kann ich dir helfen, das Haus von sämtlichen Wertsachen zu befreien, oder machst du das lieber allein?« Janices Lachen klang wie ein kleines Windspiel auf der nachbarlichen Veranda, das dort nur hängt, um einen zu ärgern. »Das ist Archie«, informierte sie mich auf ihre geschäftsmäßiglockere Art, »er wird uns für diesen ganzen Schrott zwanzig Riesen geben.« Ich blickte den beiden voller Abscheu entgegen. »Wie großzügig von ihm. Offensichtlich hat er eine Vorliebe für Müll.« Janice warf mir einen eisigen Blick zu, riss sich dann aber am Riemen. Sie wusste sehr gut, dass mir nicht das Geringste an ihrer guten Meinung lag und ihre Wut mich nur amüsierte. Ich bin vier Minuten vor ihr zur Welt gekommen. Egal, was sie tat oder sagte, ich würde immer vier Minuten älter sein. Obwohl Janice sich selbst als den Turbohasen und mich als mühsam vorankrabbelnden Igel sah, wussten wir beide, dass sie um mich herum so viele großspurige Haken schlagen konnte, wie sie wollte, und dennoch nie den winzigen Abstand zwischen uns aufholen konnte. »Tja«, meinte Archie mit Blick auf die Tür, »ich bin dann mal weg. War nett, Sie kennenzulernen, Julia Sie heißen doch Julia, nicht wahr? Janice hat mir alles über Sie erzählt ...« Er lachte nervös. »Also, lasst euch nicht unterkriegen! Macht Frieden, nicht Liebe, wie es so schön heißt.« Janice winkte Archie nach, bis er die Tür hinter sich zufallen ließ. Sobald er jedoch außer Hörweite war, verwandelte sich ihr Engelsgesicht wie bei einem Halloween-Hologramm in eine teuflische Fratze. »Schau mich nicht so an!«, fauchte sie. »Ich versuche nur, ein bisschen Geld für uns herauszuschlagen. Was man von dir ja nicht behaupten kann, oder?« »Ich habe auch nicht deine Art von ... Ausgaben.« Ich nickte zu ihren neuesten Errungenschaften hinüber, die sich unter dem engen Kleid rund und deutlich abzeichneten. »Sag mal, Janice, wie schaffen sie es eigentlich, dieses ganze Zeug in dich hineinzustopfen? Durch den Nabel?« »Sag mal, Julia«, äffte Janice mich nach, »wie fühlt es sich eigentlich an, nie etwas in sich reingestopft zu bekommen? Überhaupt nie!« »Entschuldigen Sie, meine Damen«, unterbrach uns Umberto und trat mit höflicher Miene zwischen uns, wie er es schon so viele Male zuvor getan hatte, »aber ich schlage vor, wir verlegen diesen spannenden Wortwechsel in die Bibliothek.« Bis wir Janice einholten, hatte sie sich bereits über Tante Roses Lieblingssessel drapiert und einen Gin Tonic auf dem Kissen abgestellt, das ich in meinem letzten Jahr an der Highschool mit einem Fuchsjagdmotiv bestickt hatte, während meine Schwester auf der Jagd nach zweibeiniger Beute war. »Was ist?« Sie blickte uns mit kaum verhohlener Abneigung entgegen. »Glaubt ihr nicht, dass sie mir die Hälfte ihrer alkoholischen Getränke hinterlassen hat?« Es war typisch Janice, einen Streit vom Zaun zu brechen, obwohl gerade jemand gestorben war. Ich wandte ihr den Rücken zu und ging zur Terrassentür hinüber. Draußen standen Tante Roses geliebte Terrakottatöpfe aufgereiht wie ein Spalier von Trauernden. Die Blüten hingen tief herab. Ein ungewohnter Anblick. Sonst hatte Umberto den Garten immer perfekt im Griff, aber vielleicht war ihm nun, da es seine Arbeitgeberin und dankbare Zuhörerin nicht mehr gab, auch die Freude an seiner Arbeit abhanden gekommen. »Es überrascht mich«, sagte Janice, während sie den Drink in ihrem Glas herumwirbeln ließ, »dass du noch da bist, Birdie. An deiner Stelle wäre ich längst in Vegas. Mit dem Silber.« Umberto gab ihr keine Antwort. Er hatte schon vor Jahren aufgehört, direkt mit Janice zu sprechen. Stattdessen sah er mich an. »Die Beerdigung ist morgen.« »Ich kann nicht fassen«, meinte Janice, die ein Bein über die Armlehne baumeln ließ, »dass du das alles organisiert hast, ohne uns zu fragen.« »Sie wollte es so.« »Sonst noch was, das wir wissen sollten?« Janice befreite sich aus der Umarmung des Sessels und strich ihr Kleid glatt. »Ich nehme an, wir bekommen trotzdem alle unseren Anteil? Sie hat sich doch wohl nicht in irgendeine schräge Stiftung für verwaiste Haustiere verliebt, oder so was in der Art?« »Jetzt halt mal die Luft an«, sagte ich in scharfem Ton. Für ein, zwei Sekunden sah es tatsächlich so aus, als hätte ich Janice damit in ihre Schranken verwiesen. Dann schüttelte sie meine Worte ab, wie sie es immer tat, und griff ein weiteres Mal nach der Ginflasche. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, ihr dabei zuzusehen, wie sie die Ungeschickte spielte und dann erstaunt die perfekt gezupften Augenbrauen hochzog, um anzudeuten, dass sie keineswegs vorgehabt hatte, sich so viel einzuschenken. Während die Sonne am Horizont sank, würde Janice bald in einen Liegestuhl sinken und es anderen überlassen, die großen Fragen des Lebens zu beantworten, solange sie ihr nur ihre Drinks brachten. Soweit ich mich erinnern konnte, war sie schon immer so gewesen: unersättlich. Als wir noch Kinder waren, reagierte Tante Rose stets mit einem erfreuten Lachen und dem Ausruf: »Würde man dieses Mädchen in ein Gefängnis aus Lebkuchen sperren, könnte sie sich problemlos einen Weg in die Freiheit fressen!« Als wäre Janices Gier ein Grund, stolz auf sie zu sein. Allerdings stand Tante Rose nun mal an der Spitze der Nahrungskette und hatte im Gegensatz zu mir nichts zu befürchten. Seit ich 18
Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2010
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Autoren-Porträt von Anne Fortier
Anne Fortier wuchs in Dänemark auf, wo sie im Fach Ideengeschichte promovierte. In Amerika lehrte siePhilosophie und Europäische Geschichte an verschiedenen Universitäten. Sie fühlt sich auf beiden Seiten desAtlantiks zu Hause. So, wie Shakespeares Tragödie Vorlage für ihren Bestseller'Julia' war, macht sie nun Homers 'Ilias' zum Ausgangspunkt ihres neuen Romans 'Die geheimen Schwestern'.
Bibliographische Angaben
- Autor: Anne Fortier
- 2011, 6. Auflage, 638 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Birgit Moosmüller
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596185564
- ISBN-13: 9783596185566
- Erscheinungsdatum: 10.05.2011
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