Kabelsalat
Das Internet zum Anfassen!
Wir sind ständig online, ziehen Daten aus der Cloud, alles funktioniert wireless. Was das heißt, hat Andrew Blum nie richtig verstanden. Als ein Eichhörnchen das Internetkabel in seinem Garten anknabbert, wird...
Wir sind ständig online, ziehen Daten aus der Cloud, alles funktioniert wireless. Was das heißt, hat Andrew Blum nie richtig verstanden. Als ein Eichhörnchen das Internetkabel in seinem Garten anknabbert, wird...
Leider schon ausverkauft
Buch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Kabelsalat “
Das Internet zum Anfassen!
Wir sind ständig online, ziehen Daten aus der Cloud, alles funktioniert wireless. Was das heißt, hat Andrew Blum nie richtig verstanden. Als ein Eichhörnchen das Internetkabel in seinem Garten anknabbert, wird ihm klar: Das Internet ist ein Ding zum Anfassen. Er folgt dem Kabel und eine faszinierende Reise zu den verborgenen Orten und Knotenpunkten des World Wide Web beginnt: So analog ist digital.
Andrew Blum besucht die physischen Kathedralen der digitalen Welt und vollbringt das Wunder, dass wir uns das »Zauberding« Internet endlich vorstellen können. Er führt uns beispielsweise durch den DE-CIX in Frankfurt, einen gigantischen Knotenpunkt, den fast alle deutschen Mails auf ihrem Weg in die Welt passieren. In die monumentalen Datenspeicher von Google, Microsoft und Facebook, die ganzen Städten gleichen und in denen Nanosekunden eine Ewigkeit bedeuten. Und wir sehen Kabel, die in abgeschiedenen Küstenorten im Ozean verschwinden, wo sie am Meeresgrund die Kontinente miteinander verbinden. Letztlich ist das Internet so real wie jedes Straßen- oder Eisenbahnnetz zuvor - und genauso angreifbar. Wir alle sind online. Wir sollten wissen, was das bedeutet.
Wir sind ständig online, ziehen Daten aus der Cloud, alles funktioniert wireless. Was das heißt, hat Andrew Blum nie richtig verstanden. Als ein Eichhörnchen das Internetkabel in seinem Garten anknabbert, wird ihm klar: Das Internet ist ein Ding zum Anfassen. Er folgt dem Kabel und eine faszinierende Reise zu den verborgenen Orten und Knotenpunkten des World Wide Web beginnt: So analog ist digital.
Andrew Blum besucht die physischen Kathedralen der digitalen Welt und vollbringt das Wunder, dass wir uns das »Zauberding« Internet endlich vorstellen können. Er führt uns beispielsweise durch den DE-CIX in Frankfurt, einen gigantischen Knotenpunkt, den fast alle deutschen Mails auf ihrem Weg in die Welt passieren. In die monumentalen Datenspeicher von Google, Microsoft und Facebook, die ganzen Städten gleichen und in denen Nanosekunden eine Ewigkeit bedeuten. Und wir sehen Kabel, die in abgeschiedenen Küstenorten im Ozean verschwinden, wo sie am Meeresgrund die Kontinente miteinander verbinden. Letztlich ist das Internet so real wie jedes Straßen- oder Eisenbahnnetz zuvor - und genauso angreifbar. Wir alle sind online. Wir sollten wissen, was das bedeutet.
Klappentext zu „Kabelsalat “
Das Internet ist ein Ding zum Anfassen.Wir sind ständig online, ziehen Daten aus der Cloud, alles funktioniert wireless. Was das heißt, hat Andrew Blum nie richtig verstanden. Doch als ein Eichhörnchen die Internetleitung in seinem Garten anknabbert, wird ihm klar: So analog ist digital.
Andrew folgt dem Kabel und eine faszinierende Reise zu den verborgenen Orten und Knotenpunkten des World Wide Web beginnt ...
Andrew Blum besucht die physischen Kathedralen der digitalen Welt und vollbringt das Wunder, dass wir uns das "Zauberding" Internet endlich vorstellen können. Er führt uns beispielsweise durch den DE-CIX in Frankfurt, einen gigantischen Knotenpunkt, den fast alle deutschen Mails auf ihrem Weg in die Welt passieren. In die monumentalen Datenspeicher von Google, Microsoft und Facebook, die ganzen Städten gleichen und in denen Nanosekunden eine Ewigkeit bedeuten. Und wir sehen Kabel, die in abgeschiedenen Küstenorten im Ozean verschwinden, wo sie am Meeresgrund die Kontinente miteinander verbinden. Letztlich ist das Internet so real wie jedes Straßen- oder Eisenbahnnetz zuvor - und genauso angreifbar. Wir alle sind online. Wir sollten wissen, was das bedeutet.
Lese-Probe zu „Kabelsalat “
Kabelsalat von Andrew Blum Aus dem Amerikanischen von Richard Barth
Prolog
An einem bitterkalten Wintertag vor einigen Jahren gab das Internet plötzlich den Geist auf. Nun ja, nicht das ganze Internet. Nur der Teil, der in einem staubigen Knäuel hinter meinem Wohnzimmersofa zu Hause ist. Das Knäuel besteht aus einem schwarzen Modem mit fünf grünen Lämpchen, einem blauen Telefonadapter von der Größe eines Buches und einem weißen W-LAN-Router mit einem leuchtenden Auge. An guten Tagen blinzeln die drei sich mit ihren Kontrolllämpchen gegenseitig fröhlich zu, zufrieden mit den aus der Wand kommenden Signalen. Aber an jenem Tag wirkte ihr Blinzeln gezwungen. Internetseiten bauten sich nur langsam und schubweise auf, und am Telefon - ich telefoniere über das Internet - klangen alle Anrufer, als wären sie auf Tauchstation. Falls in diesen Gehäusen Heinzelmännchen wohnten, dann schienen sie neuerdings öfter mal ein Nickerchen einzulegen. Vielleicht wollte der Router aber auch einfach mal abschalten.
Am nächsten Morgen kam ein Techniker vorbei: Das hätten wir gleich, meinte er. Er verband das Wohnzimmerende des Kabels mit einer Art Minitaschenlampe, die sich als elektrische Pfeife entpuppte, und begann, es auf der Suche nach der Störungsursache zurückzuverfolgen. Ich verfolgte mit, zuerst auf die Straße hinaus, dann in den Keller und schließlich durch eine Klappe in den Hinterhof. Dort fand sich, an eine Backsteinmauer geschraubt, ein rostiger, von einem Netz aus schwarzen Kabeln überzogener Schaltkasten. Der Techniker klemmte ein Kabel nach dem anderen ab und testete die Anschlüsse mit einem winzigen Lautsprecher, bis ein Pfeifen ertönte - der hörbare Beweis, dass zwischen hier und dort eine Verbindung bestand.
... mehr
Dann sandte er einen Blick gen Himmel, der nichts Gutes verhieß. Ein Eichhörnchen huschte über die Stromleitung zu einem panzergrauen Kasten, der wie ein Vogelhäuschen an einem Masten befestigt und von städtisch-kümmerlichem Wein umrankt war. Die Tiere würden an den Kabelhüllen knabbern, erklärte der Techniker. Dagegen könne man nichts machen, es sei denn, man würde den ganzen Hinterhof neu verkabeln. »Wahrscheinlich wird es von allein besser«, meinte er - und er behielt recht. Was mich jedoch erstaunte, war die physische Banalität des Ganzen. Immerhin ging es hier um das Internet, das leistungsfähigste Informationsnetzwerk aller Zeiten! Um ein Netz, über das man in Echtzeit mit jedem Ort der Welt kommunizieren kann! Das Revolutionen anzettelt! Um unseren ständigen Begleiter, Überbringer von Liebesbotschaften, Quell von Reichtümern und heiß geliebten Zeitvertreib. Außer Gefecht gesetzt von den Nagezähnen eines Brooklyner Eichhörnchens.
Ich mag technische Spielereien. Für eine Diskussion über das Internet als Medium und kulturelles Phänomen bin ich jederzeit zu haben. Meine Schwiegermutter fragt mich um Rat, wenn sie ein technisches Problem hat. Aber die Materialität der ganzen Sache - einer »Sache«, an der Eichhörnchen knabbern können, - hatte ich mir ehrlich gesagt nie klargemacht. Ich hatte einen Internetanschluss, aber woran war ich da eigentlich angeschlossen? Ein grünes Lämpchen an dem kleinen Kasten in meinem Wohnzimmer signalisierte, dass »das Internet« - ein zusammenhängendes, undifferenziertes Etwas - »an« war. Ich war »online«, aber was das konkret bedeutet, war mir ein Rätsel. Sicher, ich hatte den einen oder anderen Artikel gelesen, der von fabrikgroßen Rechenzentren voller Festplatten berichtete, irgendwo weit weg. Ich hatte so manches streikende Modem hinter dem Sofa hervorgekramt, aus- und wieder eingesteckt. Aber ansonsten war das Internet ein weißer Fleck auf meiner geistigen Landkarte - so weiß wie der Ozean für Kolumbus.
Diese, wie soll ich sagen, »digitale Kluft« weckte meine Neugier. Keine andere technische Erfindung prägt unseren Alltag stärker als das Internet. Es belebt und bevölkert alle Bildschirme, geschäftig und ausgelassen wie eine von Menschen wimmelnde Stadt. Zwei Milliarden Menschen nutzen tagtäglich in irgendeiner Form das Internet. Doch seine physische Realität ist trotz seiner gewaltigen Ausdehnungen völlig konturlos und ungreifbar: mehr Space als Cyber. Als der Protagonist von F. Scott Fitzgeralds Essay My Lost City zum ersten Mal auf dem Empire State Building steht, erkennt er niedergeschlagen, dass seine Stadt Grenzen hat. »Und mit der schrecklichen Erkenntnis, dass New York doch nur eine Stadt war und kein Universum, fiel das ganze Traumgebäude, das er in seiner Phantasie errichtet hatte, in sich zusammen wie ein Kartenhaus. « Mir wurde klar, dass auch mein Internet Grenzen hatte, auch wenn es seltsamerweise keine abstrakten, sondern physische Grenzen waren. Mein Internet zerfiel in tausend Stücke - im wahrsten Sinne des Wortes. Es bestand aus konkreten Einzelteilen und Orten. Es war einer Stadt viel ähnlicher, als ich gedacht hatte.
So ärgerlich der eichhörncheninduzierte Internetausfall war, so aufregend war das plötzliche Inerscheinungtreten der körperlichen Gestalt des Internets. Ich hatte schon immer ein besonderes Gespür für meine unmittelbare Umgebung, für die Welt um mich herum. Ich erinnere mich an Orte wie ein Musiker an Melodien oder ein Koch an Gerüche. Damit meine ich nicht nur, dass ich gern reise (das natürlich auch), sondern dass ich ständig mit meiner physischen Umgebung beschäftigt, bisweilen von ihr überwältigt bin. Ich habe das, was manche als guten »Sinn für Orte« beschreiben. Mir fällt auf, wie breit die Gehsteige in einer Stadt sind und wie das Licht auf unterschiedlichen Breitengraden beschaffen ist. Meine Erinnerungen sind fast immer eng mit bestimmten Orten verknüpft. Als Autor habe ich mich deshalb oft mit Architektur beschäftigt, doch was mich am meisten interessiert, sind nie die Gebäude selbst, sondern die von diesen Gebäuden geschaffenen Räume - die Summe aus Bauwerk, Kultur und Erinnerung; die Welt, in der wir leben.
Das Internet war von dieser Haltung immer ausgenommen, ein Sonderfall gewesen. Wenn ich den ganzen Tag vor dem Computerbildschirm saß und dann am Abend gewohnheitsmäßig auf jenen anderen, kleineren Bildschirm schaute, den ich stets in der Hosentasche hatte, dann akzeptierte ich, dass die Welt hinter dem Monitor sich grundsätzlich von der sinnlich erfahrbaren Welt um mich herum unterschied - so als wäre die Oberfläche dieser Bildschirme nicht transparent, sondern undurchsichtig, eine unüberwindliche Grenze zwischen zwei Dimensionen. Wer online war, war körperlos, reduziert auf Augen und Fingerkuppen. Daran gab es nichts zu rütteln. Es gab die virtuelle Welt und die physische, den Cyberspace und reale Orte - zwei abgeschlossenen Welten, die niemals zusammenkommen können.
Doch das Eichhörnchen öffnete mir wie im Märchen die Tür zu einem vormals unsichtbaren Reich hinter dem Bildschirm, einer Welt aus Kabeln und den Räumen dazwischen. Das angeknabberte Kabel war ein Hinweis auf die Möglichkeit, das Internet und die reale Welt wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen. Was, wenn das Internet kein unsichtbares Anderswo, sondern ein Irgendwo war? Denn so viel wusste ich: Das Kabel in meinem Hinterhof führte zu einem anderen Kabel, und dieses zu einem weiteren - in eine ganze Welt aus Kabeln, einem riesigen Kabelsalat. Das Internet war keine Datenwolke. Wer das glaubte, unterlag einer vorsätzlichen Selbsttäuschung. Und es war schon gar nicht drahtlos. Das Internet konnte schließlich nicht überall sein. Aber wo war es dann? Wenn ich dem Kabel folgte, wo würde es hinführen? Wie würde es dort aussehen? Welche Menschen würde ich dort antreffen? Was machten sie dort? Ich beschloss, dem Internet einen Besuch abzustatten.
* * *
Als der Senator Ted Stevens aus Alaska das Internet 2006 als ein »Rohrsystem« beschrieb, war es ein Leichtes, sich über ihn lustig zu machen. Während der Rest der Welt frohgemut Kurs auf die Zukunft nahm, schien er hoffnungslos in einer veralteten, naiven Weltsicht gefangen zu sein. Dabei hätte er es eigentlich besser wissen sollen. Als Vorsitzender des Handels-, Wissenschafts- und Verkehrsausschusses im US-Senat gehörte zu seinen Aufgaben die Aufsicht über die Telekommunikationsbranche. Und dann stellte er sich im Hart Building auf dem Capitol Hill ans Rednerpult und erklärte, man könne im Internet nicht einfach alles Mögliche abladen: »Es ist kein großer Lastwagen, sondern ein Rohrsystem, und wenn man nicht begreift, dass diese Rohre verstopfen können, und wenn sie verstopft sind und Sie eine Nachricht losschicken, dann steckt sie im Stau und wird aufgehalten - von all diesen Leuten, die das Rohr mit gewaltigen Mengen an Material überschwemmen ... gewaltigen Mengen an Material!« Die New York Times war angesichts der Ahnungslosigkeit des Senators ernsthaft besorgt. In Late-Night-Shows wurden Bilder von Kipplastern und Stahlrohren einander gegenübergestellt. DJs verarbeiteten seine Rede zu MashUps. Ich machte mich mit meiner Frau über ihn lustig.
Doch seit ich begonnen habe, jenes Kabel in unserem Hinterhof zurückzuverfolgen, bin ich der physischen Infrastruktur des Internets nun seit fast zwei Jahren auf den Fersen. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, dass das Internet an vielen verschiedenen Orten viele unterschiedliche Formen annimmt. Eines aber ist es unbestreitbar, und zwar fast überall: ein Rohrsystem. Es gibt Rohre, die auf dem Meeresgrund liegen und London und New York verbinden. Rohre, die Google und Facebook verbinden. Es gibt ganze Gebäude voller Rohre, und viele Hunderttausend Kilometer Straßen und Eisenbahnschienen, neben denen unterirdisch Rohre verlegt sind. Alles, was Sie online erledigen, wird per »Rohrpost« auf die Reise geschickt. In diesen Rohren verlaufen (in der Regel) Glasfaserkabel. Durch die Glasfasern pulsiert Licht. Und in diesen Lichtsignalen sind in zunehmendem Maße wir selbst verschlüsselt.
Das klingt wahrscheinlich alles ziemlich an den Haaren herbeigezogen und mysteriös. Als das Internet Mitte der neunziger Jahre seinen ersten Boom erlebte, haben wir es uns eher als einen konkreten Ort vorgestellt, eine Art Dorf. Doch mittlerweile sind die alten, geographischen Metaphern ziemlich durch. Kein Mensch bewegt sich heute noch im »Cyberspace« (höchstens um Krieg zu führen). Die Schilder, die den Weg zur »Datenautobahn « wiesen, sind längst verschrottet. Stattdessen ist das Internet in unserer Vorstellung nunmehr ein engmaschiges Geflecht, in dem jeder Ort von jedem anderen Ort aus problemlos erreichbar ist. Unsere Verbindung zur virtuellen Welt ist so unmittelbar wie lückenlos - wenn sie nicht gerade ausgefallen ist. Eine Website mag vorübergehend »offline« sein und unser häuslicher Internetanschluss störanfällig, aber dass man von einem Teil des Internets keine Verbindung zu einem anderen hat, kommt selten vor - so selten, dass das Internet überhaupt keine einzelnen Teile zu haben scheint.
Das vorherrschende Bild vom Internet ist eine Art waberndes elektronisches Sonnensystem, eine kosmische »Datenwolke «. Ich habe ein ganzes Regal voller Bücher über das Internet, und auf dem Umschlag prangt bei allen mehr oder weniger das gleiche Bild: ein Knäuel aus schwach leuchtenden
Linien, so rätselhaft wie die Milchstraße - oder das menschliche Gehirn. Ja, das Internet als physischen Gegenstand zu betrachten ist so aus der Mode gekommen, dass wir es kaum mehr als eine Maschine wahrnehmen, sondern eher als externe Festplatte für unser Gehirn. »Die Zukunft der Robotermenschen hat längst begonnen«, schrieb der Wissenschaftsjournalist Clive Thompson 2007. »Fast unbemerkt haben wir wichtige periphere Gehirnfunktionen an das Silizium um uns herum outgesourct.«
Dieses Gefühl kenne ich nur zu gut. Aber damit stellt sich für mich die Frage nach dem »Silizium um uns herum« nur umso drängender. Thompson meint offensichtlich unsere Computer, Smartphones, E-Book-Reader und sonstigen Geräte, die wir ständig griffbereit haben. Dazu gehört allerdings auch das Netzwerk dahinter - aber wo ist dieses Netz? Ich würde mich wesentlich besser dabei fühlen, mein Leben an Computer outzusourcen, wenn ich zumindest wüsste, wo die sich befinden, wer sie dort aufgestellt hat und wer sie kontrolliert. Die großen, globalen Geißeln der Menschheit, von Klimawandel und Müllbergen bis hin zu Lebensmittelknappheit und Armut, werden umso schlimmer, je weniger wir über sie Bescheid wissen. Trotzdem tun wir so, als wäre das Internet ein Hirngespinst.
Angesichts des tiefen Grabens zwischen der physischen Welt auf der einen und der unsichtbaren virtuellen Welt auf der anderen Seite fragte sich der Silicon-Valley-Philosoph Kevin Kelly, ob es nicht vielleicht einen Weg gibt, wie man sie wieder zusammendenken könnte. Er forderte die Leser seines Blogs auf, eine Skizze der Karte anzufertigen, die sie beim Internetsurfen im Kopf hätten. Das Ziel dieses »Internetkartierungsprojektes «, wie er es nannte, war eine »Volkskartographie«, mit der »irgendein Semiotiker oder Anthropologe vielleicht etwas anfangen kann«. Und tatsächlich erreichte ihn aus den elektronischen Weiten zwei Tage später die Nachricht einer Psychologin und Professorin für Medienwissenschaft an der Universität Buenos Aires mit Namen Mara Vanina Osés. Sie analysierte mehr als 50 der von Kelly gesammelten Zeichnungen und entwickelte ein Klassifikationsschema dafür, wie die Zeichner sich das Internet vorstellten: als Netz, Ring oder Stern; wolken- oder strahlenförmig; mit dem Zeichner im Zentrum, unten, rechts oder links. Im Wesentlichen lassen sich diese kognitiven Karten in zwei Kategorien einteilen: chaotische Darstellungen einer spinnennetzartigen Unendlichkeit, die einem Jackson Pollock- Gemälde glichen, oder Bilder vom Internet als »Dorf«, die aussehen wie die Zeichnung einer Stadt in einem Kinderbuch. Die Bilder sind aufschlussreich. Sie sagen viel darüber aus, wie bewusst uns unsere persönliche Art und Weise ist, das Netz zu nutzen. Was mich jedoch wundert ist, dass auf keinem einzigen der Bilder die Maschinen des Internets zu sehen sind. Das allgegenwärtige Silizium taucht nirgends auf. Es ist, als hätten wir Jahrtausende der kognitiven Kartographie, des kollektiven Bemühens um eine Ordnung der Welt, das sich bis zu Homer zurückverfolgen lässt, gegen eine gleichförmige, von allen real existierenden Orten losgelöste Welt eingetauscht. Die physische Realität des Netzes ist für uns nicht nur irreal - sie ist irrelevant. Wie die Volkskartographie Kellys deutlich aufgezeigt hat, ist das Internet eine Landschaft, die nur in unseren Köpfen existiert.
Dieses Buch ist die Chronik meiner Bemühungen, aus diesem Phantasieort einen realen zu machen. Es ist ein Reisebericht aus der physischen Welt. Das Internet mag allgegenwärtig erscheinen - und in vielerlei Hinsicht ist es das ja auch -, aber das bedeutet nicht, dass es keine Zentren hat. Die Vorstellung eines zusammenhängenden Ganzen ist eine Illusion. Das Internet besteht aus Datenautobahnen und Kreuzungen, riesigen Denkmälern und stillen Kapellen. Durch die Art und Weise, wie wir das Internet tagtäglich erleben, wird diese Geographie verschleiert, eingeebnet und bis zur Unkenntlichkeit beschleunigt. Um diesen Effekt auszugleichen und um das Internet als eigenständigen und zusammenhängenden physischen Ort wahrnehmen zu können, musste ich mein konventionelles Weltbild hinterfragen. Manchmal wechselt der Fokus dieses Buches zwischen einer einzigen Maschine und einem ganzen Kontinent, und manchmal beschäftige ich mich gleichzeitig mit den Nanodimensionen von optischen Schaltern und den erdumspannenden Dimensionen von Überseeleitungen. Häufig befasse ich mich mit winzigen Zeitspannen, im Bewusstsein, dass eine Reise durch das Internet in wenigen Millisekunden eine Vielzahl von Orten streifen kann. Doch sie ist und bleibt eine Reise.
In diesem Buch geht es um reale, auf Landkarten verzeichnete Orte: ihren Klang und ihren Geruch, ihre Vergangenheit voller spannender Geschichten, die technischen Details und die Menschen, die dort wohnen. Um die in zwei Hälften zerrissene Welt wieder zusammenzuflicken - und die physische und die virtuelle an einem Ort zu vereinen -, habe ich aufgehört, Internetadressen und virtuelle Orte aufzusuchen, und stattdessen reale Adressen und reale Orte besucht, um mir die brummenden Maschinen anzuschauen, die dort zu Hause sind. Ich habe meine Tastatur und mit ihr die Spiegelwelt von Google, Wikipedia und Blogosphäre hinter mir gelassen und bin in Flugzeuge und Züge eingestiegen. Ich bin über verlassene Landstraßen gefahren und bis an die Ränder von Kontinenten. Auf meiner Reise ins Innere des Internets habe ich versucht, meine persönliche Wahrnehmung des Netzes, wie es sich auf meinem Bildschirm zeigt, so weit als möglich hinter mir zu lassen, um zu seiner Materialität vorzudringen. Insofern war meine Suche nach »dem Internet« eine Suche nach der Realität, genauer gesagt nach einer bestimmten Spielart der Realität: nach den harten geographischen Fakten.
Das Internet scheint unendlich viele Ränder zu haben, aber es hat frappierend wenige Zentren. Vordergründig berichtet dieses Buch von meiner Reise zu diesen Zentren, zu den wichtigsten Orten des Internets. Ich habe gigantische Serverfarmen besucht, aber auch viele andere Orte: die digitalen Agoras, auf denen Netzwerke sich treffen, die Seekabel, die Kontinente miteinander verbinden, und die von Lichtblitzen durchzuckten Gebäude, in denen Glasfasern in Kupferrohren verlegt sind, die ursprünglich für Telegraphenkabel gedacht waren. Wenn Sie nicht zufällig zum kleinen Kreis der Netzwerkingenieure gehören, die mich oft herumgeführt haben, dann ist das bestimmt nicht das Internet, das sie kennen. Aber es ist definitiv das Internet, das Sie nutzen. Falls Sie heute irgendeine E-Mail erhalten oder irgendeine Internetseite aufgerufen haben - ja, falls Sie in diesem Augenblick eine E-Mail bekommen, sich gerade eine Internetseite auf ihrem Bildschirm aufbaut, oder Sie ein Buch herunterladen -, dann kann ich Ihnen garantieren, dass Sie in Kontakt mit diesen absolut realen Orten kommen. Zugegeben, das Internet ist eine seltsame Landschaft. Aber nichtsdestoweniger ist es eine Landschaft, wenn auch eine digitale. Denn bei allem Gerede von der völligen Ortsunabhängigkeit unseres digitalen Zeitalters: Wirft man einen Blick hinter die Kulissen, so sind die Netzwerke des Internets genauso eng an reale Orte gebunden wie es die Eisenbahn- und Telefonnetze seit jeher waren.
Das Internet besteht, stark vereinfacht ausgedrückt, aus Lichtimpulsen. Diese Impulse mögen wie Zauberei erscheinen, aber das sind sie nicht. Sie werden von leistungsfähigen Lasern ausgesandt, deren Stahlgehäuse sich (überwiegend) in unscheinbaren Gebäuden befinden. Die Laser existieren. Die Stahlgehäuse existieren. Die Gebäude existieren. Das Internet existiert - es ist ebenso physisch wie real, und es hat eine grundlegende Infrastruktur, einen »festen Grund«, wie Henry David Thoreau vom Walden Pond sagte. Ich habe diese Reise unternommen und dieses Buch geschrieben, weil ich versuchen wollte, die technischen Ablagerungen des modernen Lebens wegzuschwemmen, um den physischen Kern unserer digitalen Welt zutage zu fördern.
1
Eine Karte des Internets
An jenem Januartag, an dem ich in Milwaukee ankam, war es so kalt, dass selbst die Straßen ganz bleich waren. Entstanden ist die Stadt 1846 durch den Zusammenschluss dreier rivalisierender Siedlungen, die sich um einen breiten Hafen am westlichen Ufer des Michigansees gruppierten. Vier Jahre später stellte die Eisenbahnlinie nach Waukesha eine Verbindung zwischen Milwaukee und dem Hinterland her, zwischen den ertragreichen Weizenfeldern des Mittleren Westens und den wachsenden Städten im Osten. Schon bald wurden Rohstoffe in Milwaukee nicht nur verschifft, sondern auch verarbeitet: Hopfen zu Bier, Kühe zu Leder und Weizen zu Mehl. Dank des zunehmenden Erfolgs dieser Industrie - und des Zustroms deutscher Einwanderer - entwickelten sich diese ersten verarbeitenden Betriebe zu einer breit gefächerten, auf Präzisionsfertigung spezialisierten Industrie. Ihr Zentrum lag im Menomonee Valley, dessen moskitoverseuchte Sümpfe nach und nach trockengelegt und zur Wiege einer rasant wachsenden, kohlebefeuerten Industrie wurden. »Die Industrie Milwaukees ist weltbekannt«, schwärmte der im Rahmen des Federal Writers Project entstandene Wisconsin-Führer aus dem Jahr 1941. »Die Palette der in den gigantischen Fabriken dieser Stadt hergestellten Produkte reicht von 600 000 Kilogramm schweren Turbinen bis zu Teilen, die so klein sind, dass man sie nur mit Hilfe eines Vergrößerungsglases verarbeiten kann. Dampflöffelbagger aus Milwaukee haben den Panamakanal gegraben, Turbinen aus Milwaukee haben die gewaltige Energie der Niagarafälle nutzbar gemacht, Traktoren aus Milwaukee pflügen die Äcker der meisten Anbaugebiete der Erde, und in Milwaukee hergestellte Winkelzahnräder findet man in afrikanischen und mexikanischen Bergwerken, südamerikanischen Zuckerfabriken sowie japanischen, indischen und australischen Walzwerken. « Milwaukee hatte sich zum Mittelpunkt eines riesigen Industriekonglomerats entwickelt, das als »Werkstatt der Welt« galt.
Es sollte nicht ewig währen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die unbeweglichen Stahlschienen der Eisenbahn von den flexiblen Reifen der auf neu errichteten Straßen rollenden LKWs abgelöst. Die starren Netzwerke wurden beweglicher. Und im Menomonee Valley begann ein langsamer Abstieg, der die Entwicklung des verarbeitenden Sektors in den USA insgesamt widerspiegelte. Die Vereinigten Staaten wurden zu einem Land, das eher Ideen produziert als Dinge. Aus der »Werkstatt der Welt« wurde der »Rust Belt« - ein Musterbeispiel des Niedergangs. Milwaukees Fabriken wurden geschlossen - und schließlich, in jüngerer Zeit, zu Wohnanlagen mit Eigentumswohnungen umgebaut.
Doch die Industrie ist aus Milwaukee nicht komplett verschwunden. Es gibt sie noch, aber wie so vieles in amerikanischen Städten hat sie sich aus der Innenstadt hinaus in die Vororte verlagert. Eines frühen Morgens folgte ich ihrer Spur und befuhr von meinem Hotel im Zentrum aus eine menschenleere Straße, die in ein gerade erst entstandenes Industriegebiet im Nordwesten der Stadt führte. Ich kam an einem McDonald's, einem Denny's, einem Olive Garden- und einem IHOP-Restaurant vorbei und bog nach einem Honda-Händler links ab. Hoch über mir verlief eine Hochspannungsleitung, während der Wagen über ein Nebengleis holperte, das die zwanzig Kilometer zum Menomonee Valley zurückführte. An einer Reihe von glatten, breiten Vorstadtstraßen stieß ich hier auf eine Konzentration von Industriebetrieben, auf die William Harley und Arthur Davidson stolz gewesen wären. In einem Gebäude wurden Bierdosen hergestellt, in einem anderen Kugellager. Es gab Fabriken für Autoschlüssel, Flugzeugteile, Konstruktionsstahl, Widerstände, Kohlebürsten und Maskottchenkostüme sowie für Industrieschilder, auf denen Dinge standen wie »Beim Be- und Entladen Bremskeile verwenden«. Mein Ziel war das schmucke braune Gebäude gegenüber, auf das die riesigen Lettern »KN« gemalt waren.
Die Anfänge von Kubin-Nicholson reichen ins Jahr 1926 zurück. Damals hatte die Druckerei ihren Sitz in der South 1st Street und stellte im Siebdruckverfahren Kinoplakate her. Im Lauf der Zeit kamen Schilder für Metzger, Lebensmittelläden und Kaufhäuser hinzu. Später konzentrierte man sich auf Werbeplakate für Zigaretten, die in Milwaukee gedruckt und im ganzen Mittleren Westen aufgehängt wurden. Kubin-Nicholson bezeichnet sich als »Printers of the humongous«, als Spezialist für überdimensionierte Drucke. Die aktuell verwendete Druckmaschine - von der Größe eines Omnibusses - steht in einer riesigen Fabrikhalle. Mit der Montage war ein Team deutscher Ingenieure vier Monate lang beschäftigt, in denen sie jedes zweite Wochenende zu ihren Familien nach Hause flogen. Die Presse war eine echte Seltenheit. In den ganzen USA fand man keine zwanzig Stück von dieser Sorte. Und an diesem Morgen war sie frustrierend leise.
Die schwarze Tinte streikte. Der Drucker hatte jemanden vom technischen Support angerufen, der sich von Deutschland aus in die Maschine einloggen konnte, um der Störungsursache auf den Grund zu gehen. Ich saß hinter einer Glaswand im Warteraum und schaute dem Drucker dabei zu, wie er, einen langen Schraubenzieher in der Hand und ein schnurloses Telefon unters Kinn geklemmt, ins Innere der Presse spähte. Neben mir saß Markus Krisetya, der eigens aus Washington angereist war, um sicherzustellen, dass der für heute geplante Druck seinen Vorstellungen entsprach. Er wollte sich vergewissern, dass die Presse so eingestellt war, dass sie von jeder Farbe genau die richtige Menge Tinte auf dem Bogen im Posterformat verteilte. So etwas konnte man per E-Mail nicht erledigen. Kein digitaler Scan würde die Nuancen detailliert genug wiedergeben, und ein Kurierdienst wäre für die Feineinstellung, bei der nach dem Versuch-und-Irrtum-Prinzip Kleinigkeiten hin und her geändert werden, viel zu langsam. Es gebe eben Dinge, so Krisetya schulterzuckend, die man nach wie vor persönlich erledigen müsse. Umso überraschender war das angesichts dessen, was da gedruckt werden sollte: eine Karte des Internets.
Krisetya war der Kartograph. Jahr für Jahr erhoben seine Kollegen vom Marktforschungsunternehmen TeleGeography aus Washington DC bei Telekommunikationsfirmen auf der ganzen Welt die neuesten Daten zur Kapazität ihrer Datenübertragungsleitungen, zu ihren meistgenutzten Leitungswegen und zu ihren Expansionsplänen. Dabei greifen die Kartographen von TeleGeography weder auf ausgeklügelte Algorithmen noch auf eine firmeneigene Datenauswertungssoftware zurück. Sie bedienen sich der altmodischen Methode, mit Kontaktleuten in der Branche zu telefonieren, Vertrauen aufzubauen und dann genau im richtigen Augenblick ein paar Mutmaßungen anzustellen. Das Ergebnis dieser Arbeit fließt hauptsächlich in den großen, jährlich aktualisierten Bericht Global Internet Geography (GIG), den Telekommunikationsfirmen für schlappe 5495 Dollar käuflich erwerben können. Aus einem Teil der wichtigsten Daten jedoch erstellt Krisetya eine Reihe von Karten. Eine bildet das »Backbone« des Internets ab, die wichtigsten Verbindungen zwischen großen Städten. Eine andere visualisiert den durch das Netz fließenden Datenverkehr, indem sie Trillionen von Datenpaketen auf ein paar dickere und dünnere Linien eindampft. Eine dritte schließlich - die Karte, deren Druck an jenem Morgen in Milwaukee anstand - zeigt die zur weltweiten Datenübertragung eingesetzten Tiefseekabel, die physischen Verbindungen zweier Kontinente. All diese Karten bilden Zwischenräume ab, Verbindungsabschnitte, die in der Regel außerhalb unseres Gesichtsfeldes liegen. Die Länder und Kontinente sind auf diesen Karten Nebensache; im Mittelpunkt stehen die unendlichen Weiten dazwischen. Und doch sind diese Karten auch Abbildungen von greifbaren Dingen, von ganz konkreten Kabeln voller Glasfasern, die ihrerseits voller Licht sind - von jener Sorte erstaunlicher menschlicher Erfindungen, auf die man in Milwaukee stolz war.
Krisetya huldigte diesen Erfindungen mit den Mitteln seiner eigenen Handwerkskunst. Sobald der Entwurf einer Karte fertig war, schickte er ihn auf elektronischem Weg hierher nach Milwaukee und reiste ihm anschließend hinterher. Er übernachtete in irgendeinem zentral gelegenen Hotel, das gerade ein Sonderangebot hatte, und wenn er in aller Frühe hier heraus fuhr, hatte er nichts dabei außer einer Sporttasche und seinen Augen. Mit großen Maschinen kannte er sich aus. Nach dem Studium in den USA war er in sein Heimatland Indonesien zurückgegangen und hatte als Datenbankingenieur, hauptsächlich im Bergbau, gearbeitet. Jung, schlank, umgänglich, anpassungsfähig und abenteuerlustig, wie er war, tauchte er an den abgelegensten Orten irgendwo im Dschungel auf und machte sich ohne Umschweife daran, an den Großrechnern herumzubasteln. Als Junge hatte er anhand eines schwarzkopierten Regelwerks, das irgendwie den Weg in seine Heimatstadt Salatiga gefunden hatte, phantastische Karten von Dungeons & Dragons-Reichen gezeichnet. »Ich habe wahnsinnig gern Geschichten auf Papier gebannt und auf diese seltsame Art Entfernungen dargestellt«, erzählte er mir, während wir auf die nach wie vor stumme Druckmaschine blickten. »So hat meine Faszination für Karten ihren Anfang genommen.« Doch erst als er in die Vereinigten Staaten zurückkehrte, um einen Master in Internationale Beziehungen zu machen, gab ihm seine spätere Frau, die Geographie studierte, den Tipp, einen Kartographiekurs bei Mark Monmonier zu belegen, dem Autor des Kultbuchs Eins zu einer Million - Die Tricks und Lügen der Kartographen. Der Titel spielt darauf an, dass eine Karte nie einfach nur Orte abbildet, sondern immer bestimmte Interessen verfolgt und Mittel zum Zweck ist. Als Krisetya 1999 ein Job bei TeleGeography angeboten wurde, wusste er bereits, worum es gehen würde: Eine Karte ist die Projektion eines bestimmten Weltbilds - aber was hieß das in Bezug auf das Internet?
Mithilfe des technischen Supports in Deutschland gelang es dem Drucker schließlich, die riesige Maschine zum Leben zu erwecken, und die Vibrationen erschütterten die Türen - untscha, un-tscha, un-tscha. »Das klingt nach Papier!«, freute sich Krisetya. Der Probedruck lag auf einer großen Staffelei und wurde von Jupiterlampen ausgeleuchtet wie ein Patient auf dem Operationstisch. Krisetya nahm seine dicke Brille ab und ersetzte sie durch eine Lupe. Ich blickte ihm über die Schulter, die Augen im grellen Licht zusammengekniffen, und versuchte, mir ein Bild von der Welt zu machen, die diese Karte abbildete.
Es war eine Mercatorprojektion. Die Kontinente waren fett und schwarz, Staatengrenzen dagegen nur ganz dünn eingezeichnet, als wären sie nachträglich eingefügt worden. Starre rote und gelbe Linien durchzogen den Atlantik und den Pazifik, umrahmten in gezackten Bahnen die Kontinente des Südens und liefen an zentralen Orten zusammen: nördlich und südlich von New York, im Südwesten Englands, rings um Taiwan und im Roten Meer - wo sie so dicht beieinander lagen, dass sie einen einzigen dicken Streifen bildeten. Jede Linie stand für ein Kabel, das nur wenige Zentimeter Durchmesser hatte, aber Tausende Kilometer lang war. Würde man eines vom Meeresboden heraufholen und aufschneiden, so fände man innerhalb der harten Kunststoffhülle einen Kern aus stahlummantelten Glasfasern, die leicht rötlich schimmern und so dünn sind wie ein menschliches Haar. Auf der Karte sah so ein Kabel riesengroß aus; auf dem Meeresgrund wäre es nicht mehr als ein mit Schlamm bedeckter Gartenschlauch. Das elektronische globale Dorf schien auf dieser Karte mit der magnetischen Erdkugel zusammenzufallen.
Krisetya untersuchte jeden Quadratzentimeter des Probedrucks und wies auf kleine Mängel hin. Der Drucker verschob auf einer riesigen Steuerkonsole einzelne Regler nach oben und unten, wie ein Tontechniker an einem Mischpult. Alle paar Minuten lief die gigantische Presse an und spuckte einige Exemplare der neuesten Version aus. Dann sah Krisetya sie erneut Quadratzentimeter für Quadratzentimeter durch, bis er schließlich die Lupe sinken ließ und wortlos nickte. Der Drucker klebte ein leuchtorangefarbenes Etikett auf die Karte, und Krisetya signierte sie, wie ein Künstler, mit einem schwarzen Filzstift. Das war die definitive Druckvorlage, das Original der Darstellung der weltweiten Unterwasser-Telekommunikationslandschaft, circa 2010.
Die vernetzte Welt verspricht reibungslose Kommunikation - die Aufhebung des Raumes. Um die Karte in elektronischer Form nach Milwaukee zu übertragen, genügte es, eine E-Mail zu schicken. Aber die Karte selbst war keine JPEG- oder PDF-Datei und auch keine Google-Maps-Karte mit Zoomfunktion, sondern etwas Greifbares und Dauerhaftes - das auf synthetischem Papier der Firma Yupo gedruckt, jährlich aktualisiert, für 250 Dollar verkauft, in Pappröhren verpackt und in die ganze Welt verschickt wird. Die Karten zur physischen Infrastruktur des Internets von TeleGeography sind selbst Teil der physischen Welt. Sie stellen zwar das Internet dar, aber sie kommen von einem realen Ort - aus der 87th Street in Milwaukee, um genau zu sein, einem Ort, der einiges darüber zu erzählen hat, wie unsere heutige Welt entstanden ist.
Wer sich auf die Suche nach dem real greifbaren Internet macht, muss nach den Übergängen zwischen dem Festen und dem Flüssigen suchen. Er muss sich fragen: Was könnte überall erledigt werden, und was muss hier passieren? Eine der vielen Überraschungen auf meiner Suche nach dem Internet war, dass mir die Karten von TeleGeography in den nächsten eineinhalb Jahren in Internetgebäuden auf der ganzen Welt wiederbegegnen sollten - in Miami, Amsterdam, Lissabon, London und anderswo. In Plastikrahmen aus dem nächsten Schreibwarenladen gesteckt, gehören sie ebenso zum Inventar und Ambiente solcher Orte wie die braunen Pappkartons, die sich in den Ecken stapeln, oder die Überwachungskameras, die aus den Wänden hervorlugen. Die Karten haben in dieser Umgebung dieselbe Funktion wie die Farbstoffe, die etwas dynamisch Fließendes auf Papier bannen: Durch ihre bloße Existenz verleihen sie den Strömen und Wirbeln des physischen Internets klare Konturen.
* * *
Zu dem Zeitpunkt, als das Eichhörnchen ein Kabel in unserem Hinterhof in Brooklyn durchbiss, hatte ich nur eine ganz leise Ahnung, wie das Internet aufgebaut war. Ich nahm an, dass mein Internetanbieter irgendwo einen zentralen Netzknoten hatte, vielleicht auf Long Island, wo die Firmenzentrale stand? Aber von dort aus verzweigten sich die Pfade in meiner Vorstellung in alle Richtungen, und die Bits sprangen wie Tischtennisbälle durch Dutzende, wenn nicht Hunderte von Rohren - unzählige Rohre, aber was hieß das schon, da konnte man ebenso gut sagen: gar keine. Ich hatte von einem »Internet-Backbone« gehört, aber nur ganz bruchstückhaft, und wenn es wirklich so wichtig wäre, nahm ich an, hätte ich mehr darüber gehört. Zumindest wäre es gelegentlich verstopft oder defekt gewesen oder wäre verkauft worden. Was internationale Verbindungen über Seekabel betraf, so hatten sie für mich etwas Phantastisches, wie etwas aus einem Roman von Jules Verne. Das Internet war - anders als es auf meinem ständig präsenten Bildschirm den Anschein hatte - eher eine Idee als etwas Greifbares. Das einzig Konkrete, wovon ich eine klare Vorstellung hatte, waren die großen Rechenzentren, von denen ich in Zeitschriften Bilder gesehen hatte. Sie sahen alle gleich aus: mit Linoleum ausgelegte Böden, dicke Kabelbündel und blinkende Lichter. Die Aussagekraft dieser Bilder lag nicht in ihrer Verschiedenartigkeit, sondern in ihrer Einförmigkeit. Sie vermittelten den Eindruck, dass unsichtbar hinter diesen Maschinen eine unendliche Reihe weiterer Maschinen stand. Nach allem, was ich wusste (aber was wusste ich schon?), waren das die Teile, aus denen das Internet bestand. Wonach suchte ich dann eigentlich?
Meine Reise auf den Spuren des Internets begann somit gezwungenermaßen im virtuellen Raum. Ich stellte Netzwerktechnikern die immer gleichen Fragen: Wie war das Netz aufgebaut? Was sollte ich mir anschauen? Wohin sollte ich reisen? Ich begann, eine Route auszuarbeiten, eine Liste von Städten und Ländern, Monumenten und Zentren. Doch dabei stolperte ich alsbald über eine noch grundsätzlichere Frage zum Netz der Netze: Was ist das überhaupt, ein Netzwerk? Ich habe eines bei mir zu Hause, Verizon hat eines, Banken und Schulen haben welche - wer hat heutzutage kein Netzwerk? Einige erstreckten sich auf Gebäude, andere auf Städte, manche auf die ganze Welt. Von meinem Schreibtisch aus schien es, dass all diese Netzwerke zum Wohle aller relativ friedlich koexistierten. Aber wie fügten sie sich da draußen in der realen Welt rein physisch zusammen?
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 beim Albrecht Knaus Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Dann sandte er einen Blick gen Himmel, der nichts Gutes verhieß. Ein Eichhörnchen huschte über die Stromleitung zu einem panzergrauen Kasten, der wie ein Vogelhäuschen an einem Masten befestigt und von städtisch-kümmerlichem Wein umrankt war. Die Tiere würden an den Kabelhüllen knabbern, erklärte der Techniker. Dagegen könne man nichts machen, es sei denn, man würde den ganzen Hinterhof neu verkabeln. »Wahrscheinlich wird es von allein besser«, meinte er - und er behielt recht. Was mich jedoch erstaunte, war die physische Banalität des Ganzen. Immerhin ging es hier um das Internet, das leistungsfähigste Informationsnetzwerk aller Zeiten! Um ein Netz, über das man in Echtzeit mit jedem Ort der Welt kommunizieren kann! Das Revolutionen anzettelt! Um unseren ständigen Begleiter, Überbringer von Liebesbotschaften, Quell von Reichtümern und heiß geliebten Zeitvertreib. Außer Gefecht gesetzt von den Nagezähnen eines Brooklyner Eichhörnchens.
Ich mag technische Spielereien. Für eine Diskussion über das Internet als Medium und kulturelles Phänomen bin ich jederzeit zu haben. Meine Schwiegermutter fragt mich um Rat, wenn sie ein technisches Problem hat. Aber die Materialität der ganzen Sache - einer »Sache«, an der Eichhörnchen knabbern können, - hatte ich mir ehrlich gesagt nie klargemacht. Ich hatte einen Internetanschluss, aber woran war ich da eigentlich angeschlossen? Ein grünes Lämpchen an dem kleinen Kasten in meinem Wohnzimmer signalisierte, dass »das Internet« - ein zusammenhängendes, undifferenziertes Etwas - »an« war. Ich war »online«, aber was das konkret bedeutet, war mir ein Rätsel. Sicher, ich hatte den einen oder anderen Artikel gelesen, der von fabrikgroßen Rechenzentren voller Festplatten berichtete, irgendwo weit weg. Ich hatte so manches streikende Modem hinter dem Sofa hervorgekramt, aus- und wieder eingesteckt. Aber ansonsten war das Internet ein weißer Fleck auf meiner geistigen Landkarte - so weiß wie der Ozean für Kolumbus.
Diese, wie soll ich sagen, »digitale Kluft« weckte meine Neugier. Keine andere technische Erfindung prägt unseren Alltag stärker als das Internet. Es belebt und bevölkert alle Bildschirme, geschäftig und ausgelassen wie eine von Menschen wimmelnde Stadt. Zwei Milliarden Menschen nutzen tagtäglich in irgendeiner Form das Internet. Doch seine physische Realität ist trotz seiner gewaltigen Ausdehnungen völlig konturlos und ungreifbar: mehr Space als Cyber. Als der Protagonist von F. Scott Fitzgeralds Essay My Lost City zum ersten Mal auf dem Empire State Building steht, erkennt er niedergeschlagen, dass seine Stadt Grenzen hat. »Und mit der schrecklichen Erkenntnis, dass New York doch nur eine Stadt war und kein Universum, fiel das ganze Traumgebäude, das er in seiner Phantasie errichtet hatte, in sich zusammen wie ein Kartenhaus. « Mir wurde klar, dass auch mein Internet Grenzen hatte, auch wenn es seltsamerweise keine abstrakten, sondern physische Grenzen waren. Mein Internet zerfiel in tausend Stücke - im wahrsten Sinne des Wortes. Es bestand aus konkreten Einzelteilen und Orten. Es war einer Stadt viel ähnlicher, als ich gedacht hatte.
So ärgerlich der eichhörncheninduzierte Internetausfall war, so aufregend war das plötzliche Inerscheinungtreten der körperlichen Gestalt des Internets. Ich hatte schon immer ein besonderes Gespür für meine unmittelbare Umgebung, für die Welt um mich herum. Ich erinnere mich an Orte wie ein Musiker an Melodien oder ein Koch an Gerüche. Damit meine ich nicht nur, dass ich gern reise (das natürlich auch), sondern dass ich ständig mit meiner physischen Umgebung beschäftigt, bisweilen von ihr überwältigt bin. Ich habe das, was manche als guten »Sinn für Orte« beschreiben. Mir fällt auf, wie breit die Gehsteige in einer Stadt sind und wie das Licht auf unterschiedlichen Breitengraden beschaffen ist. Meine Erinnerungen sind fast immer eng mit bestimmten Orten verknüpft. Als Autor habe ich mich deshalb oft mit Architektur beschäftigt, doch was mich am meisten interessiert, sind nie die Gebäude selbst, sondern die von diesen Gebäuden geschaffenen Räume - die Summe aus Bauwerk, Kultur und Erinnerung; die Welt, in der wir leben.
Das Internet war von dieser Haltung immer ausgenommen, ein Sonderfall gewesen. Wenn ich den ganzen Tag vor dem Computerbildschirm saß und dann am Abend gewohnheitsmäßig auf jenen anderen, kleineren Bildschirm schaute, den ich stets in der Hosentasche hatte, dann akzeptierte ich, dass die Welt hinter dem Monitor sich grundsätzlich von der sinnlich erfahrbaren Welt um mich herum unterschied - so als wäre die Oberfläche dieser Bildschirme nicht transparent, sondern undurchsichtig, eine unüberwindliche Grenze zwischen zwei Dimensionen. Wer online war, war körperlos, reduziert auf Augen und Fingerkuppen. Daran gab es nichts zu rütteln. Es gab die virtuelle Welt und die physische, den Cyberspace und reale Orte - zwei abgeschlossenen Welten, die niemals zusammenkommen können.
Doch das Eichhörnchen öffnete mir wie im Märchen die Tür zu einem vormals unsichtbaren Reich hinter dem Bildschirm, einer Welt aus Kabeln und den Räumen dazwischen. Das angeknabberte Kabel war ein Hinweis auf die Möglichkeit, das Internet und die reale Welt wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen. Was, wenn das Internet kein unsichtbares Anderswo, sondern ein Irgendwo war? Denn so viel wusste ich: Das Kabel in meinem Hinterhof führte zu einem anderen Kabel, und dieses zu einem weiteren - in eine ganze Welt aus Kabeln, einem riesigen Kabelsalat. Das Internet war keine Datenwolke. Wer das glaubte, unterlag einer vorsätzlichen Selbsttäuschung. Und es war schon gar nicht drahtlos. Das Internet konnte schließlich nicht überall sein. Aber wo war es dann? Wenn ich dem Kabel folgte, wo würde es hinführen? Wie würde es dort aussehen? Welche Menschen würde ich dort antreffen? Was machten sie dort? Ich beschloss, dem Internet einen Besuch abzustatten.
* * *
Als der Senator Ted Stevens aus Alaska das Internet 2006 als ein »Rohrsystem« beschrieb, war es ein Leichtes, sich über ihn lustig zu machen. Während der Rest der Welt frohgemut Kurs auf die Zukunft nahm, schien er hoffnungslos in einer veralteten, naiven Weltsicht gefangen zu sein. Dabei hätte er es eigentlich besser wissen sollen. Als Vorsitzender des Handels-, Wissenschafts- und Verkehrsausschusses im US-Senat gehörte zu seinen Aufgaben die Aufsicht über die Telekommunikationsbranche. Und dann stellte er sich im Hart Building auf dem Capitol Hill ans Rednerpult und erklärte, man könne im Internet nicht einfach alles Mögliche abladen: »Es ist kein großer Lastwagen, sondern ein Rohrsystem, und wenn man nicht begreift, dass diese Rohre verstopfen können, und wenn sie verstopft sind und Sie eine Nachricht losschicken, dann steckt sie im Stau und wird aufgehalten - von all diesen Leuten, die das Rohr mit gewaltigen Mengen an Material überschwemmen ... gewaltigen Mengen an Material!« Die New York Times war angesichts der Ahnungslosigkeit des Senators ernsthaft besorgt. In Late-Night-Shows wurden Bilder von Kipplastern und Stahlrohren einander gegenübergestellt. DJs verarbeiteten seine Rede zu MashUps. Ich machte mich mit meiner Frau über ihn lustig.
Doch seit ich begonnen habe, jenes Kabel in unserem Hinterhof zurückzuverfolgen, bin ich der physischen Infrastruktur des Internets nun seit fast zwei Jahren auf den Fersen. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, dass das Internet an vielen verschiedenen Orten viele unterschiedliche Formen annimmt. Eines aber ist es unbestreitbar, und zwar fast überall: ein Rohrsystem. Es gibt Rohre, die auf dem Meeresgrund liegen und London und New York verbinden. Rohre, die Google und Facebook verbinden. Es gibt ganze Gebäude voller Rohre, und viele Hunderttausend Kilometer Straßen und Eisenbahnschienen, neben denen unterirdisch Rohre verlegt sind. Alles, was Sie online erledigen, wird per »Rohrpost« auf die Reise geschickt. In diesen Rohren verlaufen (in der Regel) Glasfaserkabel. Durch die Glasfasern pulsiert Licht. Und in diesen Lichtsignalen sind in zunehmendem Maße wir selbst verschlüsselt.
Das klingt wahrscheinlich alles ziemlich an den Haaren herbeigezogen und mysteriös. Als das Internet Mitte der neunziger Jahre seinen ersten Boom erlebte, haben wir es uns eher als einen konkreten Ort vorgestellt, eine Art Dorf. Doch mittlerweile sind die alten, geographischen Metaphern ziemlich durch. Kein Mensch bewegt sich heute noch im »Cyberspace« (höchstens um Krieg zu führen). Die Schilder, die den Weg zur »Datenautobahn « wiesen, sind längst verschrottet. Stattdessen ist das Internet in unserer Vorstellung nunmehr ein engmaschiges Geflecht, in dem jeder Ort von jedem anderen Ort aus problemlos erreichbar ist. Unsere Verbindung zur virtuellen Welt ist so unmittelbar wie lückenlos - wenn sie nicht gerade ausgefallen ist. Eine Website mag vorübergehend »offline« sein und unser häuslicher Internetanschluss störanfällig, aber dass man von einem Teil des Internets keine Verbindung zu einem anderen hat, kommt selten vor - so selten, dass das Internet überhaupt keine einzelnen Teile zu haben scheint.
Das vorherrschende Bild vom Internet ist eine Art waberndes elektronisches Sonnensystem, eine kosmische »Datenwolke «. Ich habe ein ganzes Regal voller Bücher über das Internet, und auf dem Umschlag prangt bei allen mehr oder weniger das gleiche Bild: ein Knäuel aus schwach leuchtenden
Linien, so rätselhaft wie die Milchstraße - oder das menschliche Gehirn. Ja, das Internet als physischen Gegenstand zu betrachten ist so aus der Mode gekommen, dass wir es kaum mehr als eine Maschine wahrnehmen, sondern eher als externe Festplatte für unser Gehirn. »Die Zukunft der Robotermenschen hat längst begonnen«, schrieb der Wissenschaftsjournalist Clive Thompson 2007. »Fast unbemerkt haben wir wichtige periphere Gehirnfunktionen an das Silizium um uns herum outgesourct.«
Dieses Gefühl kenne ich nur zu gut. Aber damit stellt sich für mich die Frage nach dem »Silizium um uns herum« nur umso drängender. Thompson meint offensichtlich unsere Computer, Smartphones, E-Book-Reader und sonstigen Geräte, die wir ständig griffbereit haben. Dazu gehört allerdings auch das Netzwerk dahinter - aber wo ist dieses Netz? Ich würde mich wesentlich besser dabei fühlen, mein Leben an Computer outzusourcen, wenn ich zumindest wüsste, wo die sich befinden, wer sie dort aufgestellt hat und wer sie kontrolliert. Die großen, globalen Geißeln der Menschheit, von Klimawandel und Müllbergen bis hin zu Lebensmittelknappheit und Armut, werden umso schlimmer, je weniger wir über sie Bescheid wissen. Trotzdem tun wir so, als wäre das Internet ein Hirngespinst.
Angesichts des tiefen Grabens zwischen der physischen Welt auf der einen und der unsichtbaren virtuellen Welt auf der anderen Seite fragte sich der Silicon-Valley-Philosoph Kevin Kelly, ob es nicht vielleicht einen Weg gibt, wie man sie wieder zusammendenken könnte. Er forderte die Leser seines Blogs auf, eine Skizze der Karte anzufertigen, die sie beim Internetsurfen im Kopf hätten. Das Ziel dieses »Internetkartierungsprojektes «, wie er es nannte, war eine »Volkskartographie«, mit der »irgendein Semiotiker oder Anthropologe vielleicht etwas anfangen kann«. Und tatsächlich erreichte ihn aus den elektronischen Weiten zwei Tage später die Nachricht einer Psychologin und Professorin für Medienwissenschaft an der Universität Buenos Aires mit Namen Mara Vanina Osés. Sie analysierte mehr als 50 der von Kelly gesammelten Zeichnungen und entwickelte ein Klassifikationsschema dafür, wie die Zeichner sich das Internet vorstellten: als Netz, Ring oder Stern; wolken- oder strahlenförmig; mit dem Zeichner im Zentrum, unten, rechts oder links. Im Wesentlichen lassen sich diese kognitiven Karten in zwei Kategorien einteilen: chaotische Darstellungen einer spinnennetzartigen Unendlichkeit, die einem Jackson Pollock- Gemälde glichen, oder Bilder vom Internet als »Dorf«, die aussehen wie die Zeichnung einer Stadt in einem Kinderbuch. Die Bilder sind aufschlussreich. Sie sagen viel darüber aus, wie bewusst uns unsere persönliche Art und Weise ist, das Netz zu nutzen. Was mich jedoch wundert ist, dass auf keinem einzigen der Bilder die Maschinen des Internets zu sehen sind. Das allgegenwärtige Silizium taucht nirgends auf. Es ist, als hätten wir Jahrtausende der kognitiven Kartographie, des kollektiven Bemühens um eine Ordnung der Welt, das sich bis zu Homer zurückverfolgen lässt, gegen eine gleichförmige, von allen real existierenden Orten losgelöste Welt eingetauscht. Die physische Realität des Netzes ist für uns nicht nur irreal - sie ist irrelevant. Wie die Volkskartographie Kellys deutlich aufgezeigt hat, ist das Internet eine Landschaft, die nur in unseren Köpfen existiert.
Dieses Buch ist die Chronik meiner Bemühungen, aus diesem Phantasieort einen realen zu machen. Es ist ein Reisebericht aus der physischen Welt. Das Internet mag allgegenwärtig erscheinen - und in vielerlei Hinsicht ist es das ja auch -, aber das bedeutet nicht, dass es keine Zentren hat. Die Vorstellung eines zusammenhängenden Ganzen ist eine Illusion. Das Internet besteht aus Datenautobahnen und Kreuzungen, riesigen Denkmälern und stillen Kapellen. Durch die Art und Weise, wie wir das Internet tagtäglich erleben, wird diese Geographie verschleiert, eingeebnet und bis zur Unkenntlichkeit beschleunigt. Um diesen Effekt auszugleichen und um das Internet als eigenständigen und zusammenhängenden physischen Ort wahrnehmen zu können, musste ich mein konventionelles Weltbild hinterfragen. Manchmal wechselt der Fokus dieses Buches zwischen einer einzigen Maschine und einem ganzen Kontinent, und manchmal beschäftige ich mich gleichzeitig mit den Nanodimensionen von optischen Schaltern und den erdumspannenden Dimensionen von Überseeleitungen. Häufig befasse ich mich mit winzigen Zeitspannen, im Bewusstsein, dass eine Reise durch das Internet in wenigen Millisekunden eine Vielzahl von Orten streifen kann. Doch sie ist und bleibt eine Reise.
In diesem Buch geht es um reale, auf Landkarten verzeichnete Orte: ihren Klang und ihren Geruch, ihre Vergangenheit voller spannender Geschichten, die technischen Details und die Menschen, die dort wohnen. Um die in zwei Hälften zerrissene Welt wieder zusammenzuflicken - und die physische und die virtuelle an einem Ort zu vereinen -, habe ich aufgehört, Internetadressen und virtuelle Orte aufzusuchen, und stattdessen reale Adressen und reale Orte besucht, um mir die brummenden Maschinen anzuschauen, die dort zu Hause sind. Ich habe meine Tastatur und mit ihr die Spiegelwelt von Google, Wikipedia und Blogosphäre hinter mir gelassen und bin in Flugzeuge und Züge eingestiegen. Ich bin über verlassene Landstraßen gefahren und bis an die Ränder von Kontinenten. Auf meiner Reise ins Innere des Internets habe ich versucht, meine persönliche Wahrnehmung des Netzes, wie es sich auf meinem Bildschirm zeigt, so weit als möglich hinter mir zu lassen, um zu seiner Materialität vorzudringen. Insofern war meine Suche nach »dem Internet« eine Suche nach der Realität, genauer gesagt nach einer bestimmten Spielart der Realität: nach den harten geographischen Fakten.
Das Internet scheint unendlich viele Ränder zu haben, aber es hat frappierend wenige Zentren. Vordergründig berichtet dieses Buch von meiner Reise zu diesen Zentren, zu den wichtigsten Orten des Internets. Ich habe gigantische Serverfarmen besucht, aber auch viele andere Orte: die digitalen Agoras, auf denen Netzwerke sich treffen, die Seekabel, die Kontinente miteinander verbinden, und die von Lichtblitzen durchzuckten Gebäude, in denen Glasfasern in Kupferrohren verlegt sind, die ursprünglich für Telegraphenkabel gedacht waren. Wenn Sie nicht zufällig zum kleinen Kreis der Netzwerkingenieure gehören, die mich oft herumgeführt haben, dann ist das bestimmt nicht das Internet, das sie kennen. Aber es ist definitiv das Internet, das Sie nutzen. Falls Sie heute irgendeine E-Mail erhalten oder irgendeine Internetseite aufgerufen haben - ja, falls Sie in diesem Augenblick eine E-Mail bekommen, sich gerade eine Internetseite auf ihrem Bildschirm aufbaut, oder Sie ein Buch herunterladen -, dann kann ich Ihnen garantieren, dass Sie in Kontakt mit diesen absolut realen Orten kommen. Zugegeben, das Internet ist eine seltsame Landschaft. Aber nichtsdestoweniger ist es eine Landschaft, wenn auch eine digitale. Denn bei allem Gerede von der völligen Ortsunabhängigkeit unseres digitalen Zeitalters: Wirft man einen Blick hinter die Kulissen, so sind die Netzwerke des Internets genauso eng an reale Orte gebunden wie es die Eisenbahn- und Telefonnetze seit jeher waren.
Das Internet besteht, stark vereinfacht ausgedrückt, aus Lichtimpulsen. Diese Impulse mögen wie Zauberei erscheinen, aber das sind sie nicht. Sie werden von leistungsfähigen Lasern ausgesandt, deren Stahlgehäuse sich (überwiegend) in unscheinbaren Gebäuden befinden. Die Laser existieren. Die Stahlgehäuse existieren. Die Gebäude existieren. Das Internet existiert - es ist ebenso physisch wie real, und es hat eine grundlegende Infrastruktur, einen »festen Grund«, wie Henry David Thoreau vom Walden Pond sagte. Ich habe diese Reise unternommen und dieses Buch geschrieben, weil ich versuchen wollte, die technischen Ablagerungen des modernen Lebens wegzuschwemmen, um den physischen Kern unserer digitalen Welt zutage zu fördern.
1
Eine Karte des Internets
An jenem Januartag, an dem ich in Milwaukee ankam, war es so kalt, dass selbst die Straßen ganz bleich waren. Entstanden ist die Stadt 1846 durch den Zusammenschluss dreier rivalisierender Siedlungen, die sich um einen breiten Hafen am westlichen Ufer des Michigansees gruppierten. Vier Jahre später stellte die Eisenbahnlinie nach Waukesha eine Verbindung zwischen Milwaukee und dem Hinterland her, zwischen den ertragreichen Weizenfeldern des Mittleren Westens und den wachsenden Städten im Osten. Schon bald wurden Rohstoffe in Milwaukee nicht nur verschifft, sondern auch verarbeitet: Hopfen zu Bier, Kühe zu Leder und Weizen zu Mehl. Dank des zunehmenden Erfolgs dieser Industrie - und des Zustroms deutscher Einwanderer - entwickelten sich diese ersten verarbeitenden Betriebe zu einer breit gefächerten, auf Präzisionsfertigung spezialisierten Industrie. Ihr Zentrum lag im Menomonee Valley, dessen moskitoverseuchte Sümpfe nach und nach trockengelegt und zur Wiege einer rasant wachsenden, kohlebefeuerten Industrie wurden. »Die Industrie Milwaukees ist weltbekannt«, schwärmte der im Rahmen des Federal Writers Project entstandene Wisconsin-Führer aus dem Jahr 1941. »Die Palette der in den gigantischen Fabriken dieser Stadt hergestellten Produkte reicht von 600 000 Kilogramm schweren Turbinen bis zu Teilen, die so klein sind, dass man sie nur mit Hilfe eines Vergrößerungsglases verarbeiten kann. Dampflöffelbagger aus Milwaukee haben den Panamakanal gegraben, Turbinen aus Milwaukee haben die gewaltige Energie der Niagarafälle nutzbar gemacht, Traktoren aus Milwaukee pflügen die Äcker der meisten Anbaugebiete der Erde, und in Milwaukee hergestellte Winkelzahnräder findet man in afrikanischen und mexikanischen Bergwerken, südamerikanischen Zuckerfabriken sowie japanischen, indischen und australischen Walzwerken. « Milwaukee hatte sich zum Mittelpunkt eines riesigen Industriekonglomerats entwickelt, das als »Werkstatt der Welt« galt.
Es sollte nicht ewig währen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die unbeweglichen Stahlschienen der Eisenbahn von den flexiblen Reifen der auf neu errichteten Straßen rollenden LKWs abgelöst. Die starren Netzwerke wurden beweglicher. Und im Menomonee Valley begann ein langsamer Abstieg, der die Entwicklung des verarbeitenden Sektors in den USA insgesamt widerspiegelte. Die Vereinigten Staaten wurden zu einem Land, das eher Ideen produziert als Dinge. Aus der »Werkstatt der Welt« wurde der »Rust Belt« - ein Musterbeispiel des Niedergangs. Milwaukees Fabriken wurden geschlossen - und schließlich, in jüngerer Zeit, zu Wohnanlagen mit Eigentumswohnungen umgebaut.
Doch die Industrie ist aus Milwaukee nicht komplett verschwunden. Es gibt sie noch, aber wie so vieles in amerikanischen Städten hat sie sich aus der Innenstadt hinaus in die Vororte verlagert. Eines frühen Morgens folgte ich ihrer Spur und befuhr von meinem Hotel im Zentrum aus eine menschenleere Straße, die in ein gerade erst entstandenes Industriegebiet im Nordwesten der Stadt führte. Ich kam an einem McDonald's, einem Denny's, einem Olive Garden- und einem IHOP-Restaurant vorbei und bog nach einem Honda-Händler links ab. Hoch über mir verlief eine Hochspannungsleitung, während der Wagen über ein Nebengleis holperte, das die zwanzig Kilometer zum Menomonee Valley zurückführte. An einer Reihe von glatten, breiten Vorstadtstraßen stieß ich hier auf eine Konzentration von Industriebetrieben, auf die William Harley und Arthur Davidson stolz gewesen wären. In einem Gebäude wurden Bierdosen hergestellt, in einem anderen Kugellager. Es gab Fabriken für Autoschlüssel, Flugzeugteile, Konstruktionsstahl, Widerstände, Kohlebürsten und Maskottchenkostüme sowie für Industrieschilder, auf denen Dinge standen wie »Beim Be- und Entladen Bremskeile verwenden«. Mein Ziel war das schmucke braune Gebäude gegenüber, auf das die riesigen Lettern »KN« gemalt waren.
Die Anfänge von Kubin-Nicholson reichen ins Jahr 1926 zurück. Damals hatte die Druckerei ihren Sitz in der South 1st Street und stellte im Siebdruckverfahren Kinoplakate her. Im Lauf der Zeit kamen Schilder für Metzger, Lebensmittelläden und Kaufhäuser hinzu. Später konzentrierte man sich auf Werbeplakate für Zigaretten, die in Milwaukee gedruckt und im ganzen Mittleren Westen aufgehängt wurden. Kubin-Nicholson bezeichnet sich als »Printers of the humongous«, als Spezialist für überdimensionierte Drucke. Die aktuell verwendete Druckmaschine - von der Größe eines Omnibusses - steht in einer riesigen Fabrikhalle. Mit der Montage war ein Team deutscher Ingenieure vier Monate lang beschäftigt, in denen sie jedes zweite Wochenende zu ihren Familien nach Hause flogen. Die Presse war eine echte Seltenheit. In den ganzen USA fand man keine zwanzig Stück von dieser Sorte. Und an diesem Morgen war sie frustrierend leise.
Die schwarze Tinte streikte. Der Drucker hatte jemanden vom technischen Support angerufen, der sich von Deutschland aus in die Maschine einloggen konnte, um der Störungsursache auf den Grund zu gehen. Ich saß hinter einer Glaswand im Warteraum und schaute dem Drucker dabei zu, wie er, einen langen Schraubenzieher in der Hand und ein schnurloses Telefon unters Kinn geklemmt, ins Innere der Presse spähte. Neben mir saß Markus Krisetya, der eigens aus Washington angereist war, um sicherzustellen, dass der für heute geplante Druck seinen Vorstellungen entsprach. Er wollte sich vergewissern, dass die Presse so eingestellt war, dass sie von jeder Farbe genau die richtige Menge Tinte auf dem Bogen im Posterformat verteilte. So etwas konnte man per E-Mail nicht erledigen. Kein digitaler Scan würde die Nuancen detailliert genug wiedergeben, und ein Kurierdienst wäre für die Feineinstellung, bei der nach dem Versuch-und-Irrtum-Prinzip Kleinigkeiten hin und her geändert werden, viel zu langsam. Es gebe eben Dinge, so Krisetya schulterzuckend, die man nach wie vor persönlich erledigen müsse. Umso überraschender war das angesichts dessen, was da gedruckt werden sollte: eine Karte des Internets.
Krisetya war der Kartograph. Jahr für Jahr erhoben seine Kollegen vom Marktforschungsunternehmen TeleGeography aus Washington DC bei Telekommunikationsfirmen auf der ganzen Welt die neuesten Daten zur Kapazität ihrer Datenübertragungsleitungen, zu ihren meistgenutzten Leitungswegen und zu ihren Expansionsplänen. Dabei greifen die Kartographen von TeleGeography weder auf ausgeklügelte Algorithmen noch auf eine firmeneigene Datenauswertungssoftware zurück. Sie bedienen sich der altmodischen Methode, mit Kontaktleuten in der Branche zu telefonieren, Vertrauen aufzubauen und dann genau im richtigen Augenblick ein paar Mutmaßungen anzustellen. Das Ergebnis dieser Arbeit fließt hauptsächlich in den großen, jährlich aktualisierten Bericht Global Internet Geography (GIG), den Telekommunikationsfirmen für schlappe 5495 Dollar käuflich erwerben können. Aus einem Teil der wichtigsten Daten jedoch erstellt Krisetya eine Reihe von Karten. Eine bildet das »Backbone« des Internets ab, die wichtigsten Verbindungen zwischen großen Städten. Eine andere visualisiert den durch das Netz fließenden Datenverkehr, indem sie Trillionen von Datenpaketen auf ein paar dickere und dünnere Linien eindampft. Eine dritte schließlich - die Karte, deren Druck an jenem Morgen in Milwaukee anstand - zeigt die zur weltweiten Datenübertragung eingesetzten Tiefseekabel, die physischen Verbindungen zweier Kontinente. All diese Karten bilden Zwischenräume ab, Verbindungsabschnitte, die in der Regel außerhalb unseres Gesichtsfeldes liegen. Die Länder und Kontinente sind auf diesen Karten Nebensache; im Mittelpunkt stehen die unendlichen Weiten dazwischen. Und doch sind diese Karten auch Abbildungen von greifbaren Dingen, von ganz konkreten Kabeln voller Glasfasern, die ihrerseits voller Licht sind - von jener Sorte erstaunlicher menschlicher Erfindungen, auf die man in Milwaukee stolz war.
Krisetya huldigte diesen Erfindungen mit den Mitteln seiner eigenen Handwerkskunst. Sobald der Entwurf einer Karte fertig war, schickte er ihn auf elektronischem Weg hierher nach Milwaukee und reiste ihm anschließend hinterher. Er übernachtete in irgendeinem zentral gelegenen Hotel, das gerade ein Sonderangebot hatte, und wenn er in aller Frühe hier heraus fuhr, hatte er nichts dabei außer einer Sporttasche und seinen Augen. Mit großen Maschinen kannte er sich aus. Nach dem Studium in den USA war er in sein Heimatland Indonesien zurückgegangen und hatte als Datenbankingenieur, hauptsächlich im Bergbau, gearbeitet. Jung, schlank, umgänglich, anpassungsfähig und abenteuerlustig, wie er war, tauchte er an den abgelegensten Orten irgendwo im Dschungel auf und machte sich ohne Umschweife daran, an den Großrechnern herumzubasteln. Als Junge hatte er anhand eines schwarzkopierten Regelwerks, das irgendwie den Weg in seine Heimatstadt Salatiga gefunden hatte, phantastische Karten von Dungeons & Dragons-Reichen gezeichnet. »Ich habe wahnsinnig gern Geschichten auf Papier gebannt und auf diese seltsame Art Entfernungen dargestellt«, erzählte er mir, während wir auf die nach wie vor stumme Druckmaschine blickten. »So hat meine Faszination für Karten ihren Anfang genommen.« Doch erst als er in die Vereinigten Staaten zurückkehrte, um einen Master in Internationale Beziehungen zu machen, gab ihm seine spätere Frau, die Geographie studierte, den Tipp, einen Kartographiekurs bei Mark Monmonier zu belegen, dem Autor des Kultbuchs Eins zu einer Million - Die Tricks und Lügen der Kartographen. Der Titel spielt darauf an, dass eine Karte nie einfach nur Orte abbildet, sondern immer bestimmte Interessen verfolgt und Mittel zum Zweck ist. Als Krisetya 1999 ein Job bei TeleGeography angeboten wurde, wusste er bereits, worum es gehen würde: Eine Karte ist die Projektion eines bestimmten Weltbilds - aber was hieß das in Bezug auf das Internet?
Mithilfe des technischen Supports in Deutschland gelang es dem Drucker schließlich, die riesige Maschine zum Leben zu erwecken, und die Vibrationen erschütterten die Türen - untscha, un-tscha, un-tscha. »Das klingt nach Papier!«, freute sich Krisetya. Der Probedruck lag auf einer großen Staffelei und wurde von Jupiterlampen ausgeleuchtet wie ein Patient auf dem Operationstisch. Krisetya nahm seine dicke Brille ab und ersetzte sie durch eine Lupe. Ich blickte ihm über die Schulter, die Augen im grellen Licht zusammengekniffen, und versuchte, mir ein Bild von der Welt zu machen, die diese Karte abbildete.
Es war eine Mercatorprojektion. Die Kontinente waren fett und schwarz, Staatengrenzen dagegen nur ganz dünn eingezeichnet, als wären sie nachträglich eingefügt worden. Starre rote und gelbe Linien durchzogen den Atlantik und den Pazifik, umrahmten in gezackten Bahnen die Kontinente des Südens und liefen an zentralen Orten zusammen: nördlich und südlich von New York, im Südwesten Englands, rings um Taiwan und im Roten Meer - wo sie so dicht beieinander lagen, dass sie einen einzigen dicken Streifen bildeten. Jede Linie stand für ein Kabel, das nur wenige Zentimeter Durchmesser hatte, aber Tausende Kilometer lang war. Würde man eines vom Meeresboden heraufholen und aufschneiden, so fände man innerhalb der harten Kunststoffhülle einen Kern aus stahlummantelten Glasfasern, die leicht rötlich schimmern und so dünn sind wie ein menschliches Haar. Auf der Karte sah so ein Kabel riesengroß aus; auf dem Meeresgrund wäre es nicht mehr als ein mit Schlamm bedeckter Gartenschlauch. Das elektronische globale Dorf schien auf dieser Karte mit der magnetischen Erdkugel zusammenzufallen.
Krisetya untersuchte jeden Quadratzentimeter des Probedrucks und wies auf kleine Mängel hin. Der Drucker verschob auf einer riesigen Steuerkonsole einzelne Regler nach oben und unten, wie ein Tontechniker an einem Mischpult. Alle paar Minuten lief die gigantische Presse an und spuckte einige Exemplare der neuesten Version aus. Dann sah Krisetya sie erneut Quadratzentimeter für Quadratzentimeter durch, bis er schließlich die Lupe sinken ließ und wortlos nickte. Der Drucker klebte ein leuchtorangefarbenes Etikett auf die Karte, und Krisetya signierte sie, wie ein Künstler, mit einem schwarzen Filzstift. Das war die definitive Druckvorlage, das Original der Darstellung der weltweiten Unterwasser-Telekommunikationslandschaft, circa 2010.
Die vernetzte Welt verspricht reibungslose Kommunikation - die Aufhebung des Raumes. Um die Karte in elektronischer Form nach Milwaukee zu übertragen, genügte es, eine E-Mail zu schicken. Aber die Karte selbst war keine JPEG- oder PDF-Datei und auch keine Google-Maps-Karte mit Zoomfunktion, sondern etwas Greifbares und Dauerhaftes - das auf synthetischem Papier der Firma Yupo gedruckt, jährlich aktualisiert, für 250 Dollar verkauft, in Pappröhren verpackt und in die ganze Welt verschickt wird. Die Karten zur physischen Infrastruktur des Internets von TeleGeography sind selbst Teil der physischen Welt. Sie stellen zwar das Internet dar, aber sie kommen von einem realen Ort - aus der 87th Street in Milwaukee, um genau zu sein, einem Ort, der einiges darüber zu erzählen hat, wie unsere heutige Welt entstanden ist.
Wer sich auf die Suche nach dem real greifbaren Internet macht, muss nach den Übergängen zwischen dem Festen und dem Flüssigen suchen. Er muss sich fragen: Was könnte überall erledigt werden, und was muss hier passieren? Eine der vielen Überraschungen auf meiner Suche nach dem Internet war, dass mir die Karten von TeleGeography in den nächsten eineinhalb Jahren in Internetgebäuden auf der ganzen Welt wiederbegegnen sollten - in Miami, Amsterdam, Lissabon, London und anderswo. In Plastikrahmen aus dem nächsten Schreibwarenladen gesteckt, gehören sie ebenso zum Inventar und Ambiente solcher Orte wie die braunen Pappkartons, die sich in den Ecken stapeln, oder die Überwachungskameras, die aus den Wänden hervorlugen. Die Karten haben in dieser Umgebung dieselbe Funktion wie die Farbstoffe, die etwas dynamisch Fließendes auf Papier bannen: Durch ihre bloße Existenz verleihen sie den Strömen und Wirbeln des physischen Internets klare Konturen.
* * *
Zu dem Zeitpunkt, als das Eichhörnchen ein Kabel in unserem Hinterhof in Brooklyn durchbiss, hatte ich nur eine ganz leise Ahnung, wie das Internet aufgebaut war. Ich nahm an, dass mein Internetanbieter irgendwo einen zentralen Netzknoten hatte, vielleicht auf Long Island, wo die Firmenzentrale stand? Aber von dort aus verzweigten sich die Pfade in meiner Vorstellung in alle Richtungen, und die Bits sprangen wie Tischtennisbälle durch Dutzende, wenn nicht Hunderte von Rohren - unzählige Rohre, aber was hieß das schon, da konnte man ebenso gut sagen: gar keine. Ich hatte von einem »Internet-Backbone« gehört, aber nur ganz bruchstückhaft, und wenn es wirklich so wichtig wäre, nahm ich an, hätte ich mehr darüber gehört. Zumindest wäre es gelegentlich verstopft oder defekt gewesen oder wäre verkauft worden. Was internationale Verbindungen über Seekabel betraf, so hatten sie für mich etwas Phantastisches, wie etwas aus einem Roman von Jules Verne. Das Internet war - anders als es auf meinem ständig präsenten Bildschirm den Anschein hatte - eher eine Idee als etwas Greifbares. Das einzig Konkrete, wovon ich eine klare Vorstellung hatte, waren die großen Rechenzentren, von denen ich in Zeitschriften Bilder gesehen hatte. Sie sahen alle gleich aus: mit Linoleum ausgelegte Böden, dicke Kabelbündel und blinkende Lichter. Die Aussagekraft dieser Bilder lag nicht in ihrer Verschiedenartigkeit, sondern in ihrer Einförmigkeit. Sie vermittelten den Eindruck, dass unsichtbar hinter diesen Maschinen eine unendliche Reihe weiterer Maschinen stand. Nach allem, was ich wusste (aber was wusste ich schon?), waren das die Teile, aus denen das Internet bestand. Wonach suchte ich dann eigentlich?
Meine Reise auf den Spuren des Internets begann somit gezwungenermaßen im virtuellen Raum. Ich stellte Netzwerktechnikern die immer gleichen Fragen: Wie war das Netz aufgebaut? Was sollte ich mir anschauen? Wohin sollte ich reisen? Ich begann, eine Route auszuarbeiten, eine Liste von Städten und Ländern, Monumenten und Zentren. Doch dabei stolperte ich alsbald über eine noch grundsätzlichere Frage zum Netz der Netze: Was ist das überhaupt, ein Netzwerk? Ich habe eines bei mir zu Hause, Verizon hat eines, Banken und Schulen haben welche - wer hat heutzutage kein Netzwerk? Einige erstreckten sich auf Gebäude, andere auf Städte, manche auf die ganze Welt. Von meinem Schreibtisch aus schien es, dass all diese Netzwerke zum Wohle aller relativ friedlich koexistierten. Aber wie fügten sie sich da draußen in der realen Welt rein physisch zusammen?
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 beim Albrecht Knaus Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
... weniger
Autoren-Porträt von Andrew Blum
Blum, AndrewAndrew Blum, geboren 1977, ist Autor und freier Journalist, unter anderem schreibt er für »Wired«, »New York Times«, »Vanity Fair« und »The New Yorker«. Sein Interesse gilt vor allem Architektur-, Design-, Urbanitäts- und Technologiethemen. In seiner letzten Veröffentlichung, »Kabelsalat«, erkundete er die digitale Infrastruktur. Andrew Blum lebt in New York.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andrew Blum
- 2012, 1, 317 Seiten, mit farbigen Abbildungen, Maße: 14,2 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Barth, Richard
- Übersetzer: Richard Barth
- Verlag: Knaus
- ISBN-10: 3813503887
- ISBN-13: 9783813503883
- Erscheinungsdatum: 22.10.2012
Rezension zu „Kabelsalat “
"Dem Autor gelingt es (...), dem Leser einen völlig neuen Blick auf und in das Netz zu verschaffen. (...) Blum macht das Internet sichtbar."
Kommentar zu "Kabelsalat"
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Kabelsalat".
Kommentar verfassen