Karibikfeuer
Roman
Hermann sucht im Kuba des 19. Jahrhundert sein Glück. Er verliebt sich in die schöne Marisol, Tochter eines Brauereibesitzers. Der verlangt von Hermann, innerhalb eines Jahres ein Vermögen anzuhäufen. Doch dann steht plötzlich Wilma...
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Produktinformationen zu „Karibikfeuer “
Hermann sucht im Kuba des 19. Jahrhundert sein Glück. Er verliebt sich in die schöne Marisol, Tochter eines Brauereibesitzers. Der verlangt von Hermann, innerhalb eines Jahres ein Vermögen anzuhäufen. Doch dann steht plötzlich Wilma vor Hermann, seine alte Geliebte - mit einem Kind auf dem Arm.
Klappentext zu „Karibikfeuer “
Kuba im 19. Jahrhundert: Hier will der junge Hermann sein Glück machen und den Nachstellungen der hartnäckigen Wilma entfliehen, die versucht hat, ihn mit einer Intrige an sich zu fesseln. In Havanna findet Hermann Arbeit bei einem deutschen Kaufmann, der ihn nach Kräften fördert. Und er verliebt sich das erste Mal in seinem Leben in die schöne Marisol, Tochter eines kreolischen Brauereibesitzers. Dieser hat für seine Tochter eigentlich einen anderen Ehemann im Sinn und stellt dem jungen Deutschen ein Ultimatum: Hermann hat ein Jahr Zeit, um ein Vermögen anzuhäufen und sich so seiner Zukünftigen würdig zu erweisen. Mit Feuereifer stürzt er sich in diese Aufgabe, doch da steht eines Tages Wilma vor ihm in ihren Armen ein kleines Kind.
Lese-Probe zu „Karibikfeuer “
Karibikfeuer von Beatrice FabregasVORWORT
Die Neger auf dem Lande stehen auf einer ungemein tiefen Stufe der Cultur und dem Thiere wirklich sehr nahe. Daher sind sie erstens ungefährlicher, leichter zu regieren, und im Fall einer Revolution, nur im ersten Moment verderblich; und zweitens glücklicher, als man glaubt, da sie Freiheit, Lebensgenüsse usw. gar nicht kennen, für Nahrung, Kleidung und Wohnung nicht zu sorgen haben, und kein anderes Leiden fürchten als die Arbeit. Da diese aber im größten Theil des Jahres eine mäßige ist, so kann man wirklich den Zustand der Neger im Allgemeinen einen nicht unglücklichen nennen, glücklich will ich nicht sagen, da Menschen, auf so tiefer Bildungsstufe stehend, wohl nie glücklich genannt werden können ... Mich erstaunten ihr Schmutz, ihre Hässlichkeit und der fast immer wilde, tückische, aber dumme Ausdruck ihrer Gesichter. Sie leiden viel an krebsartigen Krankheiten. Die Disciplin ist streng.
Nachts werden sie in ihren Wohnungen eingeschlossen. Es giebt Pflanzer, die ihre Neger schlecht behandeln; doch fallen Emeuten ebenso oft gegen milde, wie gegen strenge Herren vor und scheinen daher weniger vom Haß gegen die Weisen als Herren, sondern als Veranlasser zur Arbeit zu entstehen.
Prolog
... mehr
Die Sonne färbte den Himmel rot und versah die zerzausten Königspalmen am Feldrand mit einem
Heiligenschein. Winzige bunte Vögel zuckten wie Schatten über die Plantagen. Es roch nach geschlagenem Zuckerrohr. Kein Duft eigentlich - Zuckerrohr ist nahezu geruchlos - , eher ein Gefühl, süß und klebrig, das sich auf Kleidung und Haare legte, in Nase und Kehle stieg, bis man glaubte, dieses Gefühl für den Rest des Lebens mit sich herumtragen zu müssen. Zusammen mit dem Staub des von Sonne und Hitze ausgedörrten Bodens legte es sich auf die Haut wie ein schwerer Mantel aus Erschöpfung und Schweiß. Obwohl der Abend nahte, war es auf den Zuckerrohrfeldern unweit von Trinidad nicht kühler geworden. Es gab keinen Wind, der die schweißfeuchte Haut trocknete, und erst recht keinen Regen, obwohl Sklaven und Herren ihn gleichermaßen herbeisehnten. Selbst die Karibikküste, von den hügeligen Plantagen gut zu sehen, lag unbewegt und starr wie Blei im Abendlicht.
Die Sklaven ließen die Macheten sinken, schauten zum Himmel, der dunkler, aber noch immer wolkenlos war. Sie wischten sich mit der Hand den brennenden Schweiß aus den Augen und schickten verzweifelte Blicke nach dort, wo die Orishas lebten, und flehten um ein wenig Nass, um ein paar Tropfen, die auf die Haut fielen, in die ausgedörrten Kehlen, die struppigen Haare, auf die rissige Haut. Manch einer wandte sich lieber an eine Ceiba, die als magischer Baum galt, und hielt jedes Säuseln in den Blättern für eine Nachricht der Götter. Wieder andere konnten den Blick gar nicht mehr heben. Mit geduckten Schultern und gebeugtem Nacken starrten sie auf den Boden, in der Hoffnung, eine Maja de Santa Maria zu erblicken. Auch diese Schlange, eine Boa, galt als magisch, doch sie tat zumeist nichts anderes, als in der Sonne zu liegen und bei der Erschütterung des Bodens durch menschliche Schritte ihren langen Körper in Sicherheit zu bringen. Nur wenige hatte die Maja de Santa Maria je gesehen, doch jeder hoffte darauf, weil es hieß, sie erfülle die geheimsten Wünsche.
Der weiße Herr stieg von seinem Pferd, würgte den Staub aus seiner Kehle, leckte ihn von den spröden Lippen. Auch er betrachtete den Himmel, doch er flehte die Götter nicht um Regen an. Die weißen Herren auf Kuba waren es nicht gewohnt, um etwas zu bitten. Und so versuchte er, Gott zu befehlen, es regnen zu lassen. Er schickte drohende Blicke gen Himmel, reckte die Fäuste, spuckte noch einmal in den Staub zu seinen Füßen und verfluchte dieses gottverdammte Land mit der sengenden Hitze, den seltenen Regengüssen, den Krankheiten, giftigen Tieren und Pflanzen und natürlich den Sklaven, die nichts anderes im Sinn hatten, als ihrem weißen Herrn zu schaden.
Er ließ die Reitpeitsche gleich in der Eingangshalle fallen, und ein schwarzes Mädchen in weißer Schürze eilte hinzu, hob sie auf und wischte den Staub ab. Im Patio ließ sich der Herr auf einem gepolsterten Korbstuhl nieder, und schon kam ein anderes schwarzes Mädchen in weißer Schürze und brachte ihm ein großes Glas mit eisgekühltem Batido.
Und der Herr trank seinen Batido de Coco, ein Mischgetränk aus Kuh- und Kokosmilch, in einem Zug aus und gab dem Mädchen ein Zeichen, ihm ein lauwarmes Bad zu bereiten. Währenddessen saß er im Patio, die Beine weit von sich gestreckt, mit den Fingern ungeduldig auf den Tisch trommelnd, und lauschte in die hereinbrechende Nacht, deren Geräusche ihm auch nach all den Jahren hier noch fremd waren.
Und dann hörte der Herr das eine, welches ihm Schauer über den Rücken schickte. Das eine, das er zu gern verboten hätte, was er aber nicht vermochte. Das eine, über das er keine Macht hatte: die Trommeln der Santeria.
Und er wusste, dass ein geheimes Ritual begonnen hatte. Ein Ritual, das er nicht kannte, nicht einschätzen konnte, aber von dem er gehört hatte, dass eine Kraft in ihm wohnte, die ausreichte, Menschen zu töten. Sogar weiße Herren. Er hörte die Trommeln und roch den Rauch, der in einer dünnen Säule über den Hütten der Sklaven aufstieg. Ein Huhn gackerte wild und verstummte plötzlich, und die Luft war erfüllt von einem Raunen und Summen, einem Tuscheln und Brummen, dem sich der Herr nicht verschließen konnte. Das Fingertrommeln wurde heftiger, unregelmäßiger. Und als nach endlos langer Zeit das schwarze Mädchen kam, um ihn ins Bad zu führen, hatte er Angst. Der weiße Herr hörte, wie die schwarze Sklavin mit der anderen schwarzen Bademagd tuschelte. Ein paar verstohlene Worte nur, aber er hatte sie verstanden: Eine würde kommen. Mädchen oder junge Frau. Schon bald. Und dann würde alles anders werden.
ERSTER TEIL
Europa
Erstes Kapitel
Würzburg, im Frühjahr 1858
Du darfst mich küssen! Na, los doch!« Wilma spitzte die Lippen, schob das Kinn nach vorn und
schloss die Augen. Ihr bodenlanges Kleid, das nach der neuesten Mode geschneidert war und einen mit Rosshaar versteiften Unterrock hatte, war so ausladend, dass Hermann befürchtete, Wilma würde nach vorn überkippen, geradewegs in seine Arme fallen und ihm mit der albernen Blümchenhaube im Gesicht herumwischen. Er trat einen Schritt zurück und dachte: Sie sehen so verkniffen aus, ihre Lippen. Verkniffen und zugleich lüstern feucht. Er verabscheute den Gedanken, seinen Mund auf diesen zusammengepressten, feuchten Strich drücken zu müssen. Mit hängenden Armen sah er sich unsicher in dem dunklen Flur um und wusste nicht, was er tun sollte. Sein Blick blieb an der Treppe hängen, die ins Obergeschoss führte. Doch da kam niemand. Das ganze Haus lag still.
Wilma blinzelte. »Na, los doch! Hast du nicht gelernt, dass man gehorchen muss, wenn eine Dame befiehlt?« Sie reckte das Kinn noch ein Stück weiter in seine Richtung. Hermann trat von einem Fuß auf den anderen und betete darum, dass irgendwas oder irgendwer Wilma aufschreckte. Wilma pustete ihn an, so dass er ihren Atem riechen konnte. Veilchenpastillen, dachte er. Sie lutscht Veilchenpastillen. Abneigung schüttelte seinen mageren Leib. Seine Mutter hatte Veilchenpastillen geliebt. Immerzu hatte sie davon gegessen. Bis sie selbst wie ein Veilchen gerochen hatte. Nur zum Schluss nicht, da war sie verkohlt, wie Hermann noch nie einen Menschen gesehen hatte. Und die Zähne, die selbst wie kleine weiße Veilchenpastillen in ihrem Mund geleuchtet hatten, die waren entblößt bis auf das verbrannte Zahnfleisch und offen zu einem letzten Schrei.
Hermann fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen. »Was ist jetzt?«, fragte Wilma, öffnete die Augen und betrachtete ihn enttäuscht von oben bis unten.
»Eine Dame«, stammelte Hermann. »Eine richtige, vornehme Dame, die küsst nicht jeden.«
Wilmas Gesicht erstarrte, die feuchten Lippen kräuselten sich. »Willst du mir was von Vornehmheit erzählen?«, zischte sie und fuhr ihm mit den langen Fingernägeln über den Arm.
Schnell schüttelte er den Kopf und setzte ein falsches Lächeln auf. Er hob den Finger wie ein Schulmeister: »Eine richtige Dame, die lässt sich erobern. Die wartet auf einen Prinzen, der sie aus dem Turm befreit. Eine, die sich gleich küssen lässt, die nimmt dem Mann die Freude an der Eroberung.«
Jetzt lächelte Wilma. »Erobern willst du mich also?« Hermann schluckte. Es sah aus, als würde er nicken. »Ach, du bist zu süß! Geradezu putzig bist du.« Wilmas Gesicht kam dicht an das seine heran. Hermann verzog den Mund. Veilchenpastillen, dachte er wieder. Wenn sie wenigstens keine Veilchenpastillen lutschen würde.
Er hielt die Luft an und stieß sie dann in einem Schwall aus.
»Oh!« Wilma lachte. »Da muss wohl jemand seine ganze Beherrschung aufbringen.« Ihr Finger kitzelte Hermann unter dem Kinn. »Sag, findest du mich so begehrenswert, dass dir die Luft wegbleibt?«
Hermann trat einen Schritt zurück und nickte. Warum kommt niemand?, dachte er. Den ganzen Tag laufen Leute durch den Vorsaal. Und jetzt, da ich jemanden brauche, kommt keiner!
Mittlerweile war es ihm unerträglich, Wilma anschauen zu müssen. Dieses aufgebauschte Haar, das ihr unter der Blümchenhaube wie Hundeschwänze vom Kopf abstand. Die kleinen, eng zusammenstehenden Augen, die vor Heimtücke ganz dunkel werden konnten. Darunter die Nase, viel zu groß. Wie eine Karnevalsnase hockte sie in Wilmas Gesicht. Und die schmalen Lippen, die sich gern zu einem Strich verzogen und die langen Zähne verbargen. »Ich ... ich muss nach Titine sehen«, stammelte er schließlich, drehte sich zum und rannte davon. Hinter sich hörte er Wilmas empörtes Schnauben: »Titine, immer Titine. Du willst ein Mann sein? Eine Amme bist du!«
Hermann hetzte die Treppe nach oben, nahm zwei Stufen zugleich, eilte durch den Gang und riss endlich die Tür zu seiner kleinen Kammer auf, die er sich mit Titine teilte.
Titine saß auf einem Stuhl nahe beim Fenster, wandte sich zu ihrem Bruder um. Ihr Gesicht war von einer Gaslaterne beschienen.
Hermann umarmte die Kleine, presste ihren schmalen Kopf an seine Brust, strich sanft über ihre dünnen Schultern. »Geht es dir gut?«, fragte er.
Titine löste sich aus seiner Umarmung, hielt den Kopf ein wenig schief, betrachtete den Bruder aus ihren sehr hellen Augen und lächelte.
»Es geht dir gut!« Hermann atmete auf. »Hast du der Frau Doktor wieder so lange helfen müssen?«
Wieder neigte Titine den Kopf leicht zur rechten Seite. »Also ja. Es ist nicht recht von der Frau Doktor, eine Zwölfjährige so lange schuften zu lassen.«
Titine zuckte mit den Achseln. »Das ist nicht schlimm, mach dir keine Sorgen«, bedeutete diese Geste, die nur Hermann verstand.
Zweites Kapitel
Sie waren erst seit ein paar Wochen im Hause des Apothekers Dehmel in Würzburg. Gleich nach dem
Brand waren sie hierhergekommen. Der Brand. Er hatte ihr Leben verändert, hatte sie aus der gewohnten Bahn geschleudert wie ein Straßenjunge seinen Lumpenball. Seither, seit dem Brand, sprach Titine nicht mehr. Sie, die früher immerzu geplappert und gekichert hatte, war in jener Nacht verstummt. Die Nacht, in der sie alles verloren hatten. Die Eltern, das Zuhause, die Zukunft. Dankbar mussten sie sein, dass Doktor Dehmel, ein alter Freund des Vaters, sie aufgenommen hatte. Natürlich war es nicht zu dessen Schaden; das hatte Hermann sogleich begriffen. Einen billigen Lehrjungen, einen guten Gehilfen hatte er sich mit ihm ins Haus geholt. Und mit Titine ein stummes Kind, gerade gut für die einfachen Arbeiten und nicht in der Lage, sich dagegen zu wehren.
»Denkst du ... denkst du oft an Zuhause?«, fragte er leise. Titine senkte den Kopf. Ihre schmalen Schultern zuckten. »Nicht weinen, meine Kleine. Bitte weine nicht.«
Er zog sie in seine Arme und strich ihr sanft über den Rücken. »Nicht weinen«, wiederholte er und musste aufpassen, dass seine eigenen Tränen nicht auf ihr weißblondes Haar fielen.
Der Brand. Es gab keinen Tag, an dem er nicht daran dachte. An das Prasseln und Knistern, an das Geräusch, als die Balken brachen, das Glas aus den Scheiben sprang, an den Rauch, der in den Augen brannte, sich wie ein Kloß in die Kehle setzte und keinen Platz für den Atem ließ. Wenn ich doch nur nicht..., dachte Hermann. Hätte ich doch bloß nicht!
Dann schob er den Gedanken rasch zur Seite. Er durfte nicht verzweifeln. Er war der Einzige, den Titine noch hatte. Am Tag nach dem Brand, als er verdreckt und hustend auf einem Stein vor den noch immer qualmenden Überresten des Hauses gesessen hatte, da hatte er sich geschworen, alles wiedergutzumachen. Er hatte geschworen, sich um Titine zu kümmern, sie niemals allein zu lassen, ihr Vater, Mutter und Bruder zu sein.
Später war die Droschke des Bestatters gekommen. Zwei Männer in schwarzen Jacken und Vatermördern hatten Särge abgeladen. Sie waren in die Ruine des verbrannten Hauses gegangen, waren mit den Särgen wieder herausgetreten. Der eine hatte sich geschüttelt. Der andere war bleich wie ein Leichentuch gewesen. Als sie den zweiten Sarg an Hermann vorbeitrugen, sagte der eine: »Wird schon wieder.«
Aber Hermann wusste, dass es nie wieder werden würde. Und dass es seine Schuld war. Eine Schuld, die ihn fast erdrückte, die ihn wünschen ließ, auch er würde in einem Kiefernholzsarg auf die Droschke geladen. Aber er lebte. Und Titine lebte ebenfalls. Bevor die Tränen kamen, stand er auf, drehte sich noch einmal zu der Ruine um, seufzte und ging zur Nachbarin.
»Sie spricht nicht«, sagte die Frau mit mütterlicher Stimme und drückte das kleine Mädchen sanft an ihren riesigen Busen. »Der Brand hat ihr die Sprache verschlagen.«
Besorgt wirkte sie. »Selbst vor der Öllampe ist sie zurückgezuckt, und sie hält Abstand von den Herdflammen. Verständlich, ihre Furcht vor dem Feuer. Was hast du jetzt vor, Hermann?«
Der Junge zuckte mit den Achseln. »Ich werde mich um sie kümmern«, sagte er.
»Wovon willst du leben? Wo wollt ihr wohnen? Sie braucht sicher einen Arzt.«
Abermals zuckte Hermann mit den Achseln. Er fühlte sich plötzlich so müde, so unendlich müde, sterbensmüde. Mit der Hand fuhr er sich über die Augen. »Es wird schon werden«, sprach er nach, was der Bestatter ihm zugeraunt hatte.
Die Nachbarin musterte ihn. Ihr Gesicht wurde vom Mitleid in die Breite gezogen. »Bleibt erst einmal hier. Für ein paar Tage wenigstens. Bis sich alles gefunden hat. Die Kleine, sie muss zur Ruhe kommen.«
Hermann hatte genickt. Ja. Zur Ruhe kommen. Zur ewigen Ruhe. Wie er sich danach sehnte! Es war ganz einfach. Er musste nur den Weg hinter dem Haus ein Stück weiter gehen. Bis hinein in den Wald. Ein Strick würde sich finden. Den über einen Ast geworfen und eine Schlinge geknüpft. So, wie der alte Hauser im letzten Jahr. Er musste nur ein paar Meter auf den Baum klettern und dann springen. Es war ganz einfach. Und er war so müde. Da fiel sein Blick auf Titine.
»Ich muss weg, muss mich kümmern«, erklärte er. Die Nachbarin nickte. »Für ein paar Tage geht es hier schon. Lass dir Zeit, Junge.«
Hermann lief durch sein Heimatstädtchen, setzte Schritt für Schritt, ohne so recht zu wissen, was er tun sollte.
Arbeit suchen. Ein Dach über dem Kopf finden. Essen und Trinken für Titine. Wie machte man das? Er fühlte sich plötzlich, als sei er selbst noch ein Kind. Gerade siebzehn Jahre zählte er. Bisher war er zur Schule gegangen. Bald, nach der Matura, wäre er auf die Universität gewechselt und hätte Pharmazie studiert, denn seit kurzem gab es in Würzburg einen Studiengang dafür. Später hätte er die Apotheke des Vaters übernommen, hätte geheiratet und Kinder bekommen. Titine hätte auch geheiratet und Kinder bekommen. Und am Sonntag wären sie alle nach dem Kirchgang bei den Eltern zum Essen gewesen. So war es geplant gewesen. Jetzt war alles anders. Jetzt hatte es den Brand gegeben. Und er war ein großer Junge, der sehr viel wusste über die chemischen Elemente, aber nichts über das Leben. Und niemand war da, den er hätte fragen können.
In den Hosentaschen ballte er die Fäuste. Aus Verzweiflung. Manchmal schüttelte er im Gehen den Kopf und erschrak über den Rauchgeruch, der aus seinen Haaren aufstieg. Noch immer. Obwohl er sich zwei Mal den Kopf gewaschen hatte. Ob er den Geruch jemals loswerden würde? Er lief durch die Stadt, den Kopf gesenkt, und sah die mitleidigen Blicke nicht, die die Leute ihm zuwarfen. Manch einer blieb stehen, um zu fragen, wie es denn gehe, aber Hermann sah nichts und niemanden, sondern setzte einen Schritt vor den anderen. Wieder und immer wieder. Nicht einmal den Zeitungsjungen beachtete er, der sich eine Ausgabe vor die Brust hielt und mit markerschütternder Stimme die Neuigkeit ausrief: »Brand in der Paracelsus-Apotheke. Zwei Tote« - und urplötzlich verstummte, als er Hermann vorbeilaufen sah.
Auf dem Marktplatz blieb er stehen. Direkt vor der Markt-Apotheke. Sein Vater hatte die zweite Apotheke hier in der Stadt besessen, die Paracelsus-Apotheke. Unten, im Erdgeschoss des Hauses. Nun würde er niemals mehr hinter der großen Holztheke stehen, die Mutter würde niemals mehr Pulver und Salben anrühren. Ohne sich einen Plan zurechtgelegt zu haben, betrat Hermann die Markt-Apotheke.
Das Gesicht des alten Medizinalrats verzog sich mitleidig; Hermann konnte sehen, wie sein Monokel verrutschte, aus dem Auge glitt und erst auf der Nase zum Halten kam.
»Na, Junge, brauchst du etwas?«, fragte er. »Sag es ruhig; du kannst alles haben. Das bin ich deinem Vater schuldig. Er war ein guter Kollege.«
»Danke«, erwiderte Hermann. »Arbeit suche ich. Könnt Ihr womöglich einen Lehrling brauchen?«
Der Medizinalrat schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Junge. Ich bin alt. Zum Jahresende schließe ich den Laden hier. Die Zeiten sind schlecht.« Er klopfte mit seinem Spazierstock, den er seit einiger Zeit auch während der Arbeit benutzte, auf den Boden. »Meine Beine wollen nicht mehr so recht. Und erst die Augen! Ohne mein Monokel bin ich beinahe blind.« Er tastete nach dem Glas, welches er vor dem rechten Auge hatte, und rückte daran herum.
Hermann nickte, als hätte er die Antwort schon im Voraus gewusst. »Danke trotzdem«, sagte er.
»Brauchst du nichts?« Der Medizinalrat war hinter der Theke hervorgetreten. »Brandsalbe vielleicht? Eine Mullbinde? Etwas für den Hals?«
Hermann schüttelte den Kopf und griff nach der Türklinke. Der Medizinalrat stand mit hängenden Schultern da. »Warte!«, rief er, verschwand in dem Hinterraum und kam mit einem Stück Lavendelseife und zwei Döschen Veilchenpastillen zurück.
»Da, nimm wenigstens das.«
»Danke!«, sagte Hermann und konnte nicht nach den Veilchenpastillen fassen.
»Was ist?«
»Meine Mutter. Sie hat diese Pastillen immer gelutscht.« »Verstehe.« Der Medizinalrat ließ die beiden Döschen in seinem Kittel verschwinden, zog eine Schublade auf und holte Hustenbonbons hervor.
Hermann schüttelte den Kopf, doch der Medizinalrat wirkte so jämmerlich betroffen, dass er schließlich die Hand nach den Bonbons ausstreckte. Da lächelte der alte Mann. »Wenn du wieder etwas brauchen solltest, komm ruhig vorbei.«
Hermann huschte weiter durch die Stadt. Er fragte in einem Kolonialwarengeschäft nach Arbeit und erntete ein Seufzen. In einer Druckerei hatte der Besitzer Tränen in den Augen, aber keine Arbeit. Im Sägewerk reichte ein Blick auf seine schmale Gestalt, um ihn fortzuschicken, und der Bauer, den er als Letztes fragte, besah sich Hermanns Hände, ehe er den Kopf schüttelte.
Als er zurück zur Nachbarin kam, saß da ein Mann am Tisch. Einen, den Hermann früher schon gesehen hatte. Doktor Dehmel, Apotheker im nahen Würzburg. Titines Patenonkel und Freund des Vaters. Sein dicker Bauch wogte wie ein prallgefülltes Daunenkissen über dem Gürtel. Helle, weit auseinanderstehende Äuglein betrachteten Hermann von Kopf bis Fuß. Dann leckte sich Doktor Dehmel über die feuchten Lippen, holte aus und schlug Hermann auf die Schulter. »Na, sollst sehen, Junge, bald geht's wieder aufwärts.«
Die Nachbarin drückte seinen Arm. »Ist es nicht eine göttliche Fügung, dass der Herr Doktor gerade einen Lehrling in seiner Apotheke braucht?«
»Ja?«, fragte Hermann. »Eine göttliche Fügung?«
»Aber ja. So freu dich doch. Er ist gekommen, um euch abzuholen. Gleich, nachdem er von dem Unglück erfahren hat, ist er losgeeilt. So geht ihr jetzt nach Würzburg. Habt mit einem Schlag ein Dach und ein Auskommen. So freu dich doch, Junge.«
»Ja«, erwiderte Hermann. »Ich freue mich ja.« Und zugleich fühlte er sich so unsagbar müde, dass er nicht glaubte, es noch bis zur Mietkutsche zu schaffen. Nicht einmal die Lippen brachte er mehr auseinander. Er blickte zu Titine, die sich ängstlich an die Nachbarin presste. Ein Dach über dem Kopf, ein Auskommen. Ja, dachte Hermann. Jetzt habe ich doch, was wir brauchen. Und Apotheker kann ich obendrein lernen. So, wie es der Vater gewünscht hat. Aber die Freude wollte nicht in sein Herz, wollte nicht in seine Augen, nicht in seine Kehle. Die Nachbarin sah ihn auffordernd an; Doktor Dehmel fragte: »Na?«
Und Hermann erwiderte: »Ich freue mich.«
...
© 2012 Knaur Verlag
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Die Sonne färbte den Himmel rot und versah die zerzausten Königspalmen am Feldrand mit einem
Heiligenschein. Winzige bunte Vögel zuckten wie Schatten über die Plantagen. Es roch nach geschlagenem Zuckerrohr. Kein Duft eigentlich - Zuckerrohr ist nahezu geruchlos - , eher ein Gefühl, süß und klebrig, das sich auf Kleidung und Haare legte, in Nase und Kehle stieg, bis man glaubte, dieses Gefühl für den Rest des Lebens mit sich herumtragen zu müssen. Zusammen mit dem Staub des von Sonne und Hitze ausgedörrten Bodens legte es sich auf die Haut wie ein schwerer Mantel aus Erschöpfung und Schweiß. Obwohl der Abend nahte, war es auf den Zuckerrohrfeldern unweit von Trinidad nicht kühler geworden. Es gab keinen Wind, der die schweißfeuchte Haut trocknete, und erst recht keinen Regen, obwohl Sklaven und Herren ihn gleichermaßen herbeisehnten. Selbst die Karibikküste, von den hügeligen Plantagen gut zu sehen, lag unbewegt und starr wie Blei im Abendlicht.
Die Sklaven ließen die Macheten sinken, schauten zum Himmel, der dunkler, aber noch immer wolkenlos war. Sie wischten sich mit der Hand den brennenden Schweiß aus den Augen und schickten verzweifelte Blicke nach dort, wo die Orishas lebten, und flehten um ein wenig Nass, um ein paar Tropfen, die auf die Haut fielen, in die ausgedörrten Kehlen, die struppigen Haare, auf die rissige Haut. Manch einer wandte sich lieber an eine Ceiba, die als magischer Baum galt, und hielt jedes Säuseln in den Blättern für eine Nachricht der Götter. Wieder andere konnten den Blick gar nicht mehr heben. Mit geduckten Schultern und gebeugtem Nacken starrten sie auf den Boden, in der Hoffnung, eine Maja de Santa Maria zu erblicken. Auch diese Schlange, eine Boa, galt als magisch, doch sie tat zumeist nichts anderes, als in der Sonne zu liegen und bei der Erschütterung des Bodens durch menschliche Schritte ihren langen Körper in Sicherheit zu bringen. Nur wenige hatte die Maja de Santa Maria je gesehen, doch jeder hoffte darauf, weil es hieß, sie erfülle die geheimsten Wünsche.
Der weiße Herr stieg von seinem Pferd, würgte den Staub aus seiner Kehle, leckte ihn von den spröden Lippen. Auch er betrachtete den Himmel, doch er flehte die Götter nicht um Regen an. Die weißen Herren auf Kuba waren es nicht gewohnt, um etwas zu bitten. Und so versuchte er, Gott zu befehlen, es regnen zu lassen. Er schickte drohende Blicke gen Himmel, reckte die Fäuste, spuckte noch einmal in den Staub zu seinen Füßen und verfluchte dieses gottverdammte Land mit der sengenden Hitze, den seltenen Regengüssen, den Krankheiten, giftigen Tieren und Pflanzen und natürlich den Sklaven, die nichts anderes im Sinn hatten, als ihrem weißen Herrn zu schaden.
Er ließ die Reitpeitsche gleich in der Eingangshalle fallen, und ein schwarzes Mädchen in weißer Schürze eilte hinzu, hob sie auf und wischte den Staub ab. Im Patio ließ sich der Herr auf einem gepolsterten Korbstuhl nieder, und schon kam ein anderes schwarzes Mädchen in weißer Schürze und brachte ihm ein großes Glas mit eisgekühltem Batido.
Und der Herr trank seinen Batido de Coco, ein Mischgetränk aus Kuh- und Kokosmilch, in einem Zug aus und gab dem Mädchen ein Zeichen, ihm ein lauwarmes Bad zu bereiten. Währenddessen saß er im Patio, die Beine weit von sich gestreckt, mit den Fingern ungeduldig auf den Tisch trommelnd, und lauschte in die hereinbrechende Nacht, deren Geräusche ihm auch nach all den Jahren hier noch fremd waren.
Und dann hörte der Herr das eine, welches ihm Schauer über den Rücken schickte. Das eine, das er zu gern verboten hätte, was er aber nicht vermochte. Das eine, über das er keine Macht hatte: die Trommeln der Santeria.
Und er wusste, dass ein geheimes Ritual begonnen hatte. Ein Ritual, das er nicht kannte, nicht einschätzen konnte, aber von dem er gehört hatte, dass eine Kraft in ihm wohnte, die ausreichte, Menschen zu töten. Sogar weiße Herren. Er hörte die Trommeln und roch den Rauch, der in einer dünnen Säule über den Hütten der Sklaven aufstieg. Ein Huhn gackerte wild und verstummte plötzlich, und die Luft war erfüllt von einem Raunen und Summen, einem Tuscheln und Brummen, dem sich der Herr nicht verschließen konnte. Das Fingertrommeln wurde heftiger, unregelmäßiger. Und als nach endlos langer Zeit das schwarze Mädchen kam, um ihn ins Bad zu führen, hatte er Angst. Der weiße Herr hörte, wie die schwarze Sklavin mit der anderen schwarzen Bademagd tuschelte. Ein paar verstohlene Worte nur, aber er hatte sie verstanden: Eine würde kommen. Mädchen oder junge Frau. Schon bald. Und dann würde alles anders werden.
ERSTER TEIL
Europa
Erstes Kapitel
Würzburg, im Frühjahr 1858
Du darfst mich küssen! Na, los doch!« Wilma spitzte die Lippen, schob das Kinn nach vorn und
schloss die Augen. Ihr bodenlanges Kleid, das nach der neuesten Mode geschneidert war und einen mit Rosshaar versteiften Unterrock hatte, war so ausladend, dass Hermann befürchtete, Wilma würde nach vorn überkippen, geradewegs in seine Arme fallen und ihm mit der albernen Blümchenhaube im Gesicht herumwischen. Er trat einen Schritt zurück und dachte: Sie sehen so verkniffen aus, ihre Lippen. Verkniffen und zugleich lüstern feucht. Er verabscheute den Gedanken, seinen Mund auf diesen zusammengepressten, feuchten Strich drücken zu müssen. Mit hängenden Armen sah er sich unsicher in dem dunklen Flur um und wusste nicht, was er tun sollte. Sein Blick blieb an der Treppe hängen, die ins Obergeschoss führte. Doch da kam niemand. Das ganze Haus lag still.
Wilma blinzelte. »Na, los doch! Hast du nicht gelernt, dass man gehorchen muss, wenn eine Dame befiehlt?« Sie reckte das Kinn noch ein Stück weiter in seine Richtung. Hermann trat von einem Fuß auf den anderen und betete darum, dass irgendwas oder irgendwer Wilma aufschreckte. Wilma pustete ihn an, so dass er ihren Atem riechen konnte. Veilchenpastillen, dachte er. Sie lutscht Veilchenpastillen. Abneigung schüttelte seinen mageren Leib. Seine Mutter hatte Veilchenpastillen geliebt. Immerzu hatte sie davon gegessen. Bis sie selbst wie ein Veilchen gerochen hatte. Nur zum Schluss nicht, da war sie verkohlt, wie Hermann noch nie einen Menschen gesehen hatte. Und die Zähne, die selbst wie kleine weiße Veilchenpastillen in ihrem Mund geleuchtet hatten, die waren entblößt bis auf das verbrannte Zahnfleisch und offen zu einem letzten Schrei.
Hermann fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen. »Was ist jetzt?«, fragte Wilma, öffnete die Augen und betrachtete ihn enttäuscht von oben bis unten.
»Eine Dame«, stammelte Hermann. »Eine richtige, vornehme Dame, die küsst nicht jeden.«
Wilmas Gesicht erstarrte, die feuchten Lippen kräuselten sich. »Willst du mir was von Vornehmheit erzählen?«, zischte sie und fuhr ihm mit den langen Fingernägeln über den Arm.
Schnell schüttelte er den Kopf und setzte ein falsches Lächeln auf. Er hob den Finger wie ein Schulmeister: »Eine richtige Dame, die lässt sich erobern. Die wartet auf einen Prinzen, der sie aus dem Turm befreit. Eine, die sich gleich küssen lässt, die nimmt dem Mann die Freude an der Eroberung.«
Jetzt lächelte Wilma. »Erobern willst du mich also?« Hermann schluckte. Es sah aus, als würde er nicken. »Ach, du bist zu süß! Geradezu putzig bist du.« Wilmas Gesicht kam dicht an das seine heran. Hermann verzog den Mund. Veilchenpastillen, dachte er wieder. Wenn sie wenigstens keine Veilchenpastillen lutschen würde.
Er hielt die Luft an und stieß sie dann in einem Schwall aus.
»Oh!« Wilma lachte. »Da muss wohl jemand seine ganze Beherrschung aufbringen.« Ihr Finger kitzelte Hermann unter dem Kinn. »Sag, findest du mich so begehrenswert, dass dir die Luft wegbleibt?«
Hermann trat einen Schritt zurück und nickte. Warum kommt niemand?, dachte er. Den ganzen Tag laufen Leute durch den Vorsaal. Und jetzt, da ich jemanden brauche, kommt keiner!
Mittlerweile war es ihm unerträglich, Wilma anschauen zu müssen. Dieses aufgebauschte Haar, das ihr unter der Blümchenhaube wie Hundeschwänze vom Kopf abstand. Die kleinen, eng zusammenstehenden Augen, die vor Heimtücke ganz dunkel werden konnten. Darunter die Nase, viel zu groß. Wie eine Karnevalsnase hockte sie in Wilmas Gesicht. Und die schmalen Lippen, die sich gern zu einem Strich verzogen und die langen Zähne verbargen. »Ich ... ich muss nach Titine sehen«, stammelte er schließlich, drehte sich zum und rannte davon. Hinter sich hörte er Wilmas empörtes Schnauben: »Titine, immer Titine. Du willst ein Mann sein? Eine Amme bist du!«
Hermann hetzte die Treppe nach oben, nahm zwei Stufen zugleich, eilte durch den Gang und riss endlich die Tür zu seiner kleinen Kammer auf, die er sich mit Titine teilte.
Titine saß auf einem Stuhl nahe beim Fenster, wandte sich zu ihrem Bruder um. Ihr Gesicht war von einer Gaslaterne beschienen.
Hermann umarmte die Kleine, presste ihren schmalen Kopf an seine Brust, strich sanft über ihre dünnen Schultern. »Geht es dir gut?«, fragte er.
Titine löste sich aus seiner Umarmung, hielt den Kopf ein wenig schief, betrachtete den Bruder aus ihren sehr hellen Augen und lächelte.
»Es geht dir gut!« Hermann atmete auf. »Hast du der Frau Doktor wieder so lange helfen müssen?«
Wieder neigte Titine den Kopf leicht zur rechten Seite. »Also ja. Es ist nicht recht von der Frau Doktor, eine Zwölfjährige so lange schuften zu lassen.«
Titine zuckte mit den Achseln. »Das ist nicht schlimm, mach dir keine Sorgen«, bedeutete diese Geste, die nur Hermann verstand.
Zweites Kapitel
Sie waren erst seit ein paar Wochen im Hause des Apothekers Dehmel in Würzburg. Gleich nach dem
Brand waren sie hierhergekommen. Der Brand. Er hatte ihr Leben verändert, hatte sie aus der gewohnten Bahn geschleudert wie ein Straßenjunge seinen Lumpenball. Seither, seit dem Brand, sprach Titine nicht mehr. Sie, die früher immerzu geplappert und gekichert hatte, war in jener Nacht verstummt. Die Nacht, in der sie alles verloren hatten. Die Eltern, das Zuhause, die Zukunft. Dankbar mussten sie sein, dass Doktor Dehmel, ein alter Freund des Vaters, sie aufgenommen hatte. Natürlich war es nicht zu dessen Schaden; das hatte Hermann sogleich begriffen. Einen billigen Lehrjungen, einen guten Gehilfen hatte er sich mit ihm ins Haus geholt. Und mit Titine ein stummes Kind, gerade gut für die einfachen Arbeiten und nicht in der Lage, sich dagegen zu wehren.
»Denkst du ... denkst du oft an Zuhause?«, fragte er leise. Titine senkte den Kopf. Ihre schmalen Schultern zuckten. »Nicht weinen, meine Kleine. Bitte weine nicht.«
Er zog sie in seine Arme und strich ihr sanft über den Rücken. »Nicht weinen«, wiederholte er und musste aufpassen, dass seine eigenen Tränen nicht auf ihr weißblondes Haar fielen.
Der Brand. Es gab keinen Tag, an dem er nicht daran dachte. An das Prasseln und Knistern, an das Geräusch, als die Balken brachen, das Glas aus den Scheiben sprang, an den Rauch, der in den Augen brannte, sich wie ein Kloß in die Kehle setzte und keinen Platz für den Atem ließ. Wenn ich doch nur nicht..., dachte Hermann. Hätte ich doch bloß nicht!
Dann schob er den Gedanken rasch zur Seite. Er durfte nicht verzweifeln. Er war der Einzige, den Titine noch hatte. Am Tag nach dem Brand, als er verdreckt und hustend auf einem Stein vor den noch immer qualmenden Überresten des Hauses gesessen hatte, da hatte er sich geschworen, alles wiedergutzumachen. Er hatte geschworen, sich um Titine zu kümmern, sie niemals allein zu lassen, ihr Vater, Mutter und Bruder zu sein.
Später war die Droschke des Bestatters gekommen. Zwei Männer in schwarzen Jacken und Vatermördern hatten Särge abgeladen. Sie waren in die Ruine des verbrannten Hauses gegangen, waren mit den Särgen wieder herausgetreten. Der eine hatte sich geschüttelt. Der andere war bleich wie ein Leichentuch gewesen. Als sie den zweiten Sarg an Hermann vorbeitrugen, sagte der eine: »Wird schon wieder.«
Aber Hermann wusste, dass es nie wieder werden würde. Und dass es seine Schuld war. Eine Schuld, die ihn fast erdrückte, die ihn wünschen ließ, auch er würde in einem Kiefernholzsarg auf die Droschke geladen. Aber er lebte. Und Titine lebte ebenfalls. Bevor die Tränen kamen, stand er auf, drehte sich noch einmal zu der Ruine um, seufzte und ging zur Nachbarin.
»Sie spricht nicht«, sagte die Frau mit mütterlicher Stimme und drückte das kleine Mädchen sanft an ihren riesigen Busen. »Der Brand hat ihr die Sprache verschlagen.«
Besorgt wirkte sie. »Selbst vor der Öllampe ist sie zurückgezuckt, und sie hält Abstand von den Herdflammen. Verständlich, ihre Furcht vor dem Feuer. Was hast du jetzt vor, Hermann?«
Der Junge zuckte mit den Achseln. »Ich werde mich um sie kümmern«, sagte er.
»Wovon willst du leben? Wo wollt ihr wohnen? Sie braucht sicher einen Arzt.«
Abermals zuckte Hermann mit den Achseln. Er fühlte sich plötzlich so müde, so unendlich müde, sterbensmüde. Mit der Hand fuhr er sich über die Augen. »Es wird schon werden«, sprach er nach, was der Bestatter ihm zugeraunt hatte.
Die Nachbarin musterte ihn. Ihr Gesicht wurde vom Mitleid in die Breite gezogen. »Bleibt erst einmal hier. Für ein paar Tage wenigstens. Bis sich alles gefunden hat. Die Kleine, sie muss zur Ruhe kommen.«
Hermann hatte genickt. Ja. Zur Ruhe kommen. Zur ewigen Ruhe. Wie er sich danach sehnte! Es war ganz einfach. Er musste nur den Weg hinter dem Haus ein Stück weiter gehen. Bis hinein in den Wald. Ein Strick würde sich finden. Den über einen Ast geworfen und eine Schlinge geknüpft. So, wie der alte Hauser im letzten Jahr. Er musste nur ein paar Meter auf den Baum klettern und dann springen. Es war ganz einfach. Und er war so müde. Da fiel sein Blick auf Titine.
»Ich muss weg, muss mich kümmern«, erklärte er. Die Nachbarin nickte. »Für ein paar Tage geht es hier schon. Lass dir Zeit, Junge.«
Hermann lief durch sein Heimatstädtchen, setzte Schritt für Schritt, ohne so recht zu wissen, was er tun sollte.
Arbeit suchen. Ein Dach über dem Kopf finden. Essen und Trinken für Titine. Wie machte man das? Er fühlte sich plötzlich, als sei er selbst noch ein Kind. Gerade siebzehn Jahre zählte er. Bisher war er zur Schule gegangen. Bald, nach der Matura, wäre er auf die Universität gewechselt und hätte Pharmazie studiert, denn seit kurzem gab es in Würzburg einen Studiengang dafür. Später hätte er die Apotheke des Vaters übernommen, hätte geheiratet und Kinder bekommen. Titine hätte auch geheiratet und Kinder bekommen. Und am Sonntag wären sie alle nach dem Kirchgang bei den Eltern zum Essen gewesen. So war es geplant gewesen. Jetzt war alles anders. Jetzt hatte es den Brand gegeben. Und er war ein großer Junge, der sehr viel wusste über die chemischen Elemente, aber nichts über das Leben. Und niemand war da, den er hätte fragen können.
In den Hosentaschen ballte er die Fäuste. Aus Verzweiflung. Manchmal schüttelte er im Gehen den Kopf und erschrak über den Rauchgeruch, der aus seinen Haaren aufstieg. Noch immer. Obwohl er sich zwei Mal den Kopf gewaschen hatte. Ob er den Geruch jemals loswerden würde? Er lief durch die Stadt, den Kopf gesenkt, und sah die mitleidigen Blicke nicht, die die Leute ihm zuwarfen. Manch einer blieb stehen, um zu fragen, wie es denn gehe, aber Hermann sah nichts und niemanden, sondern setzte einen Schritt vor den anderen. Wieder und immer wieder. Nicht einmal den Zeitungsjungen beachtete er, der sich eine Ausgabe vor die Brust hielt und mit markerschütternder Stimme die Neuigkeit ausrief: »Brand in der Paracelsus-Apotheke. Zwei Tote« - und urplötzlich verstummte, als er Hermann vorbeilaufen sah.
Auf dem Marktplatz blieb er stehen. Direkt vor der Markt-Apotheke. Sein Vater hatte die zweite Apotheke hier in der Stadt besessen, die Paracelsus-Apotheke. Unten, im Erdgeschoss des Hauses. Nun würde er niemals mehr hinter der großen Holztheke stehen, die Mutter würde niemals mehr Pulver und Salben anrühren. Ohne sich einen Plan zurechtgelegt zu haben, betrat Hermann die Markt-Apotheke.
Das Gesicht des alten Medizinalrats verzog sich mitleidig; Hermann konnte sehen, wie sein Monokel verrutschte, aus dem Auge glitt und erst auf der Nase zum Halten kam.
»Na, Junge, brauchst du etwas?«, fragte er. »Sag es ruhig; du kannst alles haben. Das bin ich deinem Vater schuldig. Er war ein guter Kollege.«
»Danke«, erwiderte Hermann. »Arbeit suche ich. Könnt Ihr womöglich einen Lehrling brauchen?«
Der Medizinalrat schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Junge. Ich bin alt. Zum Jahresende schließe ich den Laden hier. Die Zeiten sind schlecht.« Er klopfte mit seinem Spazierstock, den er seit einiger Zeit auch während der Arbeit benutzte, auf den Boden. »Meine Beine wollen nicht mehr so recht. Und erst die Augen! Ohne mein Monokel bin ich beinahe blind.« Er tastete nach dem Glas, welches er vor dem rechten Auge hatte, und rückte daran herum.
Hermann nickte, als hätte er die Antwort schon im Voraus gewusst. »Danke trotzdem«, sagte er.
»Brauchst du nichts?« Der Medizinalrat war hinter der Theke hervorgetreten. »Brandsalbe vielleicht? Eine Mullbinde? Etwas für den Hals?«
Hermann schüttelte den Kopf und griff nach der Türklinke. Der Medizinalrat stand mit hängenden Schultern da. »Warte!«, rief er, verschwand in dem Hinterraum und kam mit einem Stück Lavendelseife und zwei Döschen Veilchenpastillen zurück.
»Da, nimm wenigstens das.«
»Danke!«, sagte Hermann und konnte nicht nach den Veilchenpastillen fassen.
»Was ist?«
»Meine Mutter. Sie hat diese Pastillen immer gelutscht.« »Verstehe.« Der Medizinalrat ließ die beiden Döschen in seinem Kittel verschwinden, zog eine Schublade auf und holte Hustenbonbons hervor.
Hermann schüttelte den Kopf, doch der Medizinalrat wirkte so jämmerlich betroffen, dass er schließlich die Hand nach den Bonbons ausstreckte. Da lächelte der alte Mann. »Wenn du wieder etwas brauchen solltest, komm ruhig vorbei.«
Hermann huschte weiter durch die Stadt. Er fragte in einem Kolonialwarengeschäft nach Arbeit und erntete ein Seufzen. In einer Druckerei hatte der Besitzer Tränen in den Augen, aber keine Arbeit. Im Sägewerk reichte ein Blick auf seine schmale Gestalt, um ihn fortzuschicken, und der Bauer, den er als Letztes fragte, besah sich Hermanns Hände, ehe er den Kopf schüttelte.
Als er zurück zur Nachbarin kam, saß da ein Mann am Tisch. Einen, den Hermann früher schon gesehen hatte. Doktor Dehmel, Apotheker im nahen Würzburg. Titines Patenonkel und Freund des Vaters. Sein dicker Bauch wogte wie ein prallgefülltes Daunenkissen über dem Gürtel. Helle, weit auseinanderstehende Äuglein betrachteten Hermann von Kopf bis Fuß. Dann leckte sich Doktor Dehmel über die feuchten Lippen, holte aus und schlug Hermann auf die Schulter. »Na, sollst sehen, Junge, bald geht's wieder aufwärts.«
Die Nachbarin drückte seinen Arm. »Ist es nicht eine göttliche Fügung, dass der Herr Doktor gerade einen Lehrling in seiner Apotheke braucht?«
»Ja?«, fragte Hermann. »Eine göttliche Fügung?«
»Aber ja. So freu dich doch. Er ist gekommen, um euch abzuholen. Gleich, nachdem er von dem Unglück erfahren hat, ist er losgeeilt. So geht ihr jetzt nach Würzburg. Habt mit einem Schlag ein Dach und ein Auskommen. So freu dich doch, Junge.«
»Ja«, erwiderte Hermann. »Ich freue mich ja.« Und zugleich fühlte er sich so unsagbar müde, dass er nicht glaubte, es noch bis zur Mietkutsche zu schaffen. Nicht einmal die Lippen brachte er mehr auseinander. Er blickte zu Titine, die sich ängstlich an die Nachbarin presste. Ein Dach über dem Kopf, ein Auskommen. Ja, dachte Hermann. Jetzt habe ich doch, was wir brauchen. Und Apotheker kann ich obendrein lernen. So, wie es der Vater gewünscht hat. Aber die Freude wollte nicht in sein Herz, wollte nicht in seine Augen, nicht in seine Kehle. Die Nachbarin sah ihn auffordernd an; Doktor Dehmel fragte: »Na?«
Und Hermann erwiderte: »Ich freue mich.«
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Autoren-Porträt von Beatrice Fabregas
Beatrice Fabregas arbeitete viele Jahre als Werbetexterin und Journalistin und ist heute als Buchhändlerin tätig. Sie reist gerne, und Kuba war und ist ihr Sehnsuchtsland, das sie immer wieder gern aufsucht.
Bibliographische Angaben
- Autor: Beatrice Fabregas
- 2012, 550 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Knaur
- ISBN-10: 3426652838
- ISBN-13: 9783426652831
Rezension zu „Karibikfeuer “
"Beatrice Fabregas hat einen faszinierenden Roman über das Leben auf der Karibik-Insel Kuba geschrieben. Besonders die Farbenpracht der Insel und die scheinbare Leichtigkeit des Lebens hat die Autorin sehr gut umgesetzt und versteht es, dies den Lesern als üppige Bilder näher zu bringen." (Rita Dell'Agnese) Histo-couch.de, 01.07.2012
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