Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe
Eine Poetik der Kindheit. Reden, Aufstätze, Vorlesungen
Paulus Hochgatterer, Schriftsteller und Kinderpsychiater, über seine "Poetik der Kindheit" - und die Notwendigkeit zu schreiben. Seit vielen Jahren teilt Hochgatterer seine Zeit zwischen seiner Tätigkeit in einem Krankenhaus in Österreich und seiner Arbeit...
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Klappentext zu „Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe “
Paulus Hochgatterer, Schriftsteller und Kinderpsychiater, über seine "Poetik der Kindheit" - und die Notwendigkeit zu schreiben. Seit vielen Jahren teilt Hochgatterer seine Zeit zwischen seiner Tätigkeit in einem Krankenhaus in Österreich und seiner Arbeit als Schriftsteller. Aus diesen zwei Seiten seines Lebens entstehen ganz besondere Texte. In den hier erstmals gesammelten Texten über Literatur erzählt er, was ihn zum Schreiben treibt: die Lust am Verbotenen, die Identifikation mit seinen Klienten, die Freude am Abschweifen, die Zwiesprache mit seinen Katzen ... und die Erkenntnis, dass wir immer von uns selbst sprechen, wenn wir von den Dingen sprechen.
Lese-Probe zu „Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe “
Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe von Paulus HochgattererWas macht die Pfefferpistole in der Villa Kunterbunt?
Sexualmetaphorik in der Kinderliteratur
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Soll von Metaphorik die Rede sein, so ist das meistens ein wenig wie Zitronen lutschen: Man weiß, dass es angeblich gesund ist, man fühlt sich zu Beginn auch erfrischt, und nach kurzer Zeit fängt dann alles an, sich zusammenzuziehen. Die Dinge verknoten sich zu kaum entwirrbaren Gebilden, und man landet im Nu dort, wo man in der Geisteswissenschaft im Grunde immer schon gelandet ist, bei der eigenen begrifflichen Insuffizienz. Man fragt sich also, wie das war mit Metapher und Metonymie, gräbt vielleicht aus der Erinnerung aus, dass man »das Blau« statt »der Himmel« sagen kann oder »der Stahl« statt »das Schwert« und es sich bei Letzterem zwar um eine martialische Metonymie, nichtsdestoweniger in beiden Fällen um Metonymien handelt, wohingegen man eine Metapher schafft, wenn man das arme Kamel zum »Wüstenschiff« macht. Das wiederum hat, so unsere Gedächtnisspur, zu tun mit dem Ausmaß an stofflicher Distanz zwischen dem symbolischen Begriff und dem Bezeichneten, was notwendigerweise zur bangen Frage führt, wie denn das Symbol unterzubringen ist zwischen Metapher und Metonymie, und ob über Metaphorik zu sprechen nicht auch heißt, sich mit »Signifikant « und »Signifikat« zu befassen, jenen eineiigen Zwillingen, von denen man weiß, dass man sie in diesem Leben nicht mehr auseinanderhalten wird können. Schrecken gebiert vorwiegend seinesgleichen, das ist einem vertraut und daher wehrt man sich erst gar nicht gegen die Erkenntnis, dass man selbst mit der Einordnung der metapherntheoretisch befassten Disziplinen wieder einmal seine liebe Not hat: Linguistik, Semiotik, Semantik, Syntaktik, Pragmatik, Grammatik - wer macht eigentlich was? Man stellt im Vorbeigehen eine alliterative Verwandtschaft zwischen »Sema«, dem Zeichen, und »Semen«, dem Samen, fest und beschließt, zu tun, was man im Angesicht der intellektuellen Niederlage sinnvollerweise tut: Man schlägt nach. Man nascht also bei Blumenberg, Cassirer, Chomsky, Eco, Lacan, Pasolini und wie sie alle heißen, jeweils nur kleine Häppchen, versteht sich, und endet dennoch wieder einmal dort, wo man bei derlei Gelegenheit regelmäßig endet; einerseits bei der - vor allem für einen pragmatischen Poeten - ziemlich beruhigenden Bemerkung des Philosophen Joachim Ritter, Theorie werde vorwiegend dann gemacht, wenn sonst nichts mehr zu machen sei; andererseits bei jenem Beispiel, mit dem Umberto Eco in seinem semiologischen Buch »Segno« (Zeichen) versucht, sich von der britischen Verstocktheit Bertrand Russells abzugrenzen und zugleich das logische Konstrukt des kontrafaktischen Konditionals zu erklären:
Die Implikation /Wenn meine Großmutter Räder hätte, wäre sie ein Auto/ ist in der Sprache des Logikkalküls dann wahr, wenn
a) meine Großmutter keine Räder hat und kein Auto ist;
b) meine Großmutter keine Räder hat, aber ein Auto ist;
c) meine Großmutter Räder hat und ein Auto ist.
Dass Wahrsein aus dem Blickwinkel der Logik mit Wahrsein auf Basis empirischer Annahmen nichts zu tun hat, mag man einräumen. Trotzdem ist es ein Stück schade, dass die Implikation ausgerechnet dann falsch ist, wenn
d) meine Großmutter Räder hat, aber kein Auto ist. Manche Großmütter haben nämlich Räder, zumindest eine Zeitlang, und sie sind in diesem Zustand definitiv kein Auto, sondern nur schwach oder ein bisschen gelähmt. Das war Herrn Eco möglicherweise nicht bewusst, und man darf das auch nicht erwarten. Bewusst war ihm hingegen sicher, dass dieser Satz nicht primär als Metapher angelegt ist, etwa für die Mobilität älterer Damen oder für den Erhaltungszustand mancher Automobile. Bewusst war ihm möglicherweise auch, dass das Beispiel trotzdem zur Metapher wird, nämlich genau dafür, dass Metaphorik wenig zu tun hat mit eindimensionalen semiologischen Zeichen-Bedeutungs-Konstrukten, sondern viel eher mit Vielfalt, Humor und dem Umgang mit Paradoxa. Das hat er uns allerdings verschwiegen, aber dass er uns gelegentlich Dinge verschweigt, ist uns ja spätestens seit dem »Namen der Rose« vertraut.
Immerhin sind wir bei zwei Dingen angelangt, die uns beschäftigen werden, das eine kurz und gleich, das andere ein wenig länger und später, beim Umgang mit Paradoxa und bei Großmüttern. Kurz und gleich, Paradoxa. Die Metapher stellt insofern in sich etwas wie ein kleines Paradoxon dar, als sie begrifflich auf sich selbst verweist, bedeutet der Terminus doch ursprünglich nichts anderes als etwas von A nach B tragen; in unserem Fall sind nun nicht Wasserkrüge oder Krankheiten gemeint, die den Besitzer wechseln, sondern eben Bedeutungen. Die Metapher ist zweitens insofern ein Paradoxon, als sie auf der einen Seite stets mit Verschiebung und Verdichtung zu tun hat, also mit jenen Mechanismen, die wir auch aus der Analyse unserer Träume kennen, auf der anderen Seite mit dem Eröffnen von Räumen für Mehrdeutigkeit und phantasmatisches Spiel mit Bildern und Begriffen. Die Metapher wird schließlich dadurch zum Paradoxon, dass sich anhand von ihr die beiden großen Fragen der sprachlichen Welterschließung stellen: »Wie sind die Dinge eigentlich zu benennen?« und »In welcher Weise manifestieren sich die Dinge durch Sprache?«; das heißt, die Metapher liegt gewissermaßen am Schnittpunkt von Semiotik und Hermeneutik. Semiotik, Hermeneutik: Schon sind wir wieder bei unserem Disziplinenproblem und damit beim Reflex, uns die Decke über den Kopf zu ziehen. Dort wollen wir allerdings letztlich auch hin, unter die Decke.
Davor noch ein kleiner Zwischenschritt. Die Metapher in ihrer paradoxen Vielschichtigkeit, in ihrer Rolle als Überträgerin von Bedeutung und als Evokateurin von Phantasmen ist natürlich - und dort wollen wir ebenfalls hin - vor allem eines: Sie ist - metaphorisch gesprochen - die Hebamme der Narration und die Hauptspeise der Poesie. Wenn es nun hier und heute um Erzählung und poetische Weltverzauberung im Zusammenhang mit Metaphorik geht und man sich in einer Situation befindet, in der man sich ein wenig Psychoanalyse leisten kann, fällt einem natürlich Sigmund Freud ein - »Jenseits des Lustprinzips« - und die Holzspule mit dem Bindfaden, die sein eineinhalbjähriger Enkel Ernst Wolfgang mit der Bemerkung »ooooo« (»fort«) im Gitterbett verschwinden lässt, um sie gleich darauf mit »da« wieder hervorzuholen, die letztlich zum Repräsentanten der abwesenden Mutter auf der einen und zu jener Spindel auf der anderen Seite wird, um die der junge Mann seine Traurigkeit windet. Die Mutter ist weg, das Gefühl ist mächtig vorhanden. An der Schwelle zur sprachlichen Eroberung der Welt wird daraus ein Symbol - »fort, da«. Der Großvater ist dabei und macht eine Geschichte daraus. Die Mutter des kleinen Knaben, Freuds Tochter Sophie, war übrigens vier Jahre später ganz fort, soll heißen, gestorben. Unmit telbar danach wurde der Todestrieb geboren; ob das eine ursächlich mit dem anderen zu tun hat, darüber streiten nach wie vor die wirklich gescheiten Menschen. Wir bleiben am Bett. Wir lassen die Mutter auch ganz und gar nicht sterben, sondern holen sie herbei, setzen sie an den Bettrand, drücken ihr ein Buch in die Hand und lassen sie vorlesen. Sie kennen die Szene. Die Mutter (oder der Vater) liest so lange vor, bis das Kind eingeschlafen ist oder das Kind erfolgreich so tut, als sei es eingeschlafen. Der vorlesende Elternteil verlässt (sofern selbst noch wach) auf Zehenspitzen Matratzenkante und Zimmer, und das Kind kann sich ungestört in seine Höhle zurückziehen oder in sein Schloss oder sich in eine Ballongondel setzen oder in ein Boot und über den Himmel fahren oder aufs Meer hinaus. So oder so, Höhle, Himmel oder Meer - das Kind befindet sich an einem Ort, der metaphorisch hochaufgeladen ist, voll von Bedeutung. Maurice Sendak nennt diesen Ort die »Nachtküche «.
»In der Nachtküche« beginnt damit, dass der kleine Micky durch heftiges Getöse aus dem Schlaf gerissen wird: Wumm, rumm, pumm, pumm. Natürlich können es theoretisch die Mistkübelmänner sein, die in der Nacht Lärm machen, oder ein Einbrecher oder die Polizisten, die den Einbrecher gerade fangen. Wahrscheinlich ist es jedoch ganz anders, Sie wissen es, ich weiß es, und Micky weiß es auch, wie man aus seinem Gesicht lesen kann und aus der Art und Weise, in der er schließlich »Ruhe!« brüllt. Eltern, die mit spezifischem Radau-Schlagen, psychoanalytisch mit Urszene-Machen, also mit Sex, beschäftigt sind, beeindruckt solcherlei in der Regel wenig, das ist bekannt. Micky, nicht faul und blöd schon gar nicht, begibt sich - sozusagen nach dem Motto: »Wenn zwei rumsen, freut sich der Dritte« - auf eine Reise, die letztlich ein Ziel hat: die libidinöse Besetzung der eigenen Körperoberfläche. (Micky weiß zwar nicht, dass es so heißt, aber das ist ihm egal.) Er steigt auf in die Luft, hoch über sein Bett, streift seinen Pyjama ab und fliegt splitternackt durchs Zimmer, vorbei am Mond und an der Tür zum elterlichen Schlafgemach, hinein in die Nachtküche.
Die Nachtküche ist in Wahrheit eine Backstube, und wie es sich für eine ordentliche Backstube gehört, herrscht dort, auch wenn es draußen finster ist, emsiger Betrieb. Die drei rotnasigen Bäcker, die einander aufs Haar gleichen, sehen aus wie Oliver Hardy, der Dicke aus »Dick und Doof«, das heißt, sie wirken ziemlich gemütlich, humorvoll und zugleich verlässlich. Der textil unbedeckte oder, so unsere metaphorologische Annahme, äußerlich libidinös unterbesetzte Micky plumpst direkt in den Kuchenteig, wird von den drei Bäckern untergehoben, eingerührt und schließlich ins Backrohr geschoben. Nach einer Weile taucht er wiederum auf, eingehüllt in einen Overall aus Kuchenteig, der ihm an den Leib gebacken ist, und fühlt sich anscheinend ziemlich wohl. Dermaßen konturiert in seinem Selbst, baut er sich aus einem Klumpen Brotteig, der ebenfalls dort herumliegt, ein kleines Propellerflugzeug und fliegt los.
Natürlich ist die Sache mit dem Fliegen seit Erica Jong ein wenig abgenützt und natürlich kann ein phalloides Propellerflugzeug aus Brotteig auch einmal schlicht ein Propellerflugzeug aus Brotteig sein - charmanter sind freilich andere Varianten. Micky, denke ich, tut, was frisch oberflächenbesetzte Mickys mit ihrer Hülle zu tun pflegen - er bedient sich ihrer; und natürlich hat das, ist er doch auch davor von einem Triumvirat bearbeitet worden, einen spezifisch männlichen Akzent. Indem er sich autoerotisch betätigt, fliegt er immer weiter empor und erreicht, am Scheitel seiner Bahn, eine riesige Milchflasche. In dieselbe stürzt er sich lustvoll hinein, sinkt bis zum Grund, streift dabei seinen Kuchenteiganzug ab und schwimmt nackt, wie er ursprünglich war, wieder an die Oberfläche. Vom Rand der Flasche gießt er daraufhin Milch hinab in den Kuchenteig, den die Bäcker dort unten bereithalten.
Eine große Milchflasche ist natürlich in erster Linie eine große Milchflasche und Milch selbst eine Metapher für die wunderbare Zeit, in der die Welt noch in die Mundhöhle und in den Bauch hineingepasst hat. Micky meint es jedoch vielleicht ein bisschen anders, wenn er nach seiner Milchverschüttung oben auf dem Rand der Flasche steht, am Kulminationspunkt der ganzen Geschichte seinen kleinen Hahn in die Welt reckt und selbst laut »Kiiiikerikiiii!« schreit. So wird unmissverständlich klar, dass ihm mithilfe von Kuchenteig, Propellerflugzeug und Milchverspritzen vor allem auch eines gelungen ist - die libidinöse Besetzung seines Genitales. Die drei Oliver-Hardy- Klone sind sichtlich glücklich darüber, schlagen den angereicherten Kuchenteig noch einmal auf, und Micky fliegt durch die ausklingende Nacht zurück in die Federn. Im Original: Er glitt hinunter sehr tief, sprang in sein Bett, war trocken, schlief. Hoppala. Man stutzt ein wenig. War trocken, schlief - ?? -Möglicherweise gab's bei unserem Micky ursprünglich eine kleine Schwierigkeit mit der Frage, welche Flüssigkeiten da in der Küche der Nacht abgemischt werden sollen. Egal. Jetzt ist jedenfalls alles in Butter, der Hahn hat gekräht, nichts ist passiert, wie es heißt, und Micky steht bereit für neue Taten. Masturbatorische Aktivität scheint dem Kind zu helfen, sich schrittweise aus der Dyade mit der Mutter zu lösen. Das Training der Fähigkeit, sich unabhängig von anderen und ohne äußere Hilfe lustvolle Befriedigung zu verschaffen, erzeugt und festigt libidinös besetzte Teilrepräsentanzen des kindlichen Selbst, lässt somit Keime für autonome Ich-Funktionen sprießen. Andererseits entsteht durch das Erleben der Kompetenz autoerotischen Lustgewinnes und durch die damit verbundenen positiven narzisstischen Gefühle offenbar gelegentlich die Angst, alle anderen von dieser Welt wegzuverschlingen. Vor allem, wenn aggressive Impulse mit ins Spiel kommen, kann das passieren. So zumindest das Modell von antiquierten Menschen, die noch an die Existenz von Dyaden, Repräsentanzen oder eines kindlichen Selbst glauben. Max ist damit einverstanden, er kennt das. Max hat, so scheint es, Fenichel und Kohut und Binswanger und all die restlichen wilden Kerle gelesen. Wenn ihm danach ist, zu zeigen, dass wahr ist, was sie geschrieben haben, schlüpft er in seinen Wolfspelz. Max ist sozusagen der Micky von Maurice Sendaks »Wo die wilden Kerle wohnen« oder »Where the Wild Things Are«, wie es im Original noch besser heißt - die wilden Sachen, von denen man nicht so recht sagen kann, wie autonom lebendig sie eigentlich sind. Der Wolfspelz, den Max trägt, wenn er Nägel mit Köpfen in die Wand schlägt oder wie ein kleiner Teufel mit der Gabel Jagd auf den Terrier macht, sieht zwar nicht mehr aus wie Mickys Körperhülle aus Kuchenteig, aber so wirklich wie ein Wolfspelz in Wahrheit auch nicht. Eher wie ein Schlafanzug mit Batman- Ohren und Krallen an Händen und Füßen, könnte man sagen, oder, wenn man vor lauter Suche nach Sexualmetaphern schon den total einseitigen Blick gekriegt hat, wie ein Ganzkörperkondom mit hinten einem langen Schwanz dran. Letzterer ist konkret vorhanden, daher unstrittig und wird durch das ganze Buch hindurch getragen, egal, ob man ihn symbolisch befrachtet oder nicht. Max jedenfalls sagt an jenem denkwürdigen Abend in seinem libidinösen Furor zur Mutter: »Ich fress' dich auf«, und weil Mütter das nicht so gern haben, wird er ohne Essen ins Bett geschickt. Das wiederum haben kleine geschwänzte Kostümwölfe mit überbordenden Einverleibungsgelüsten nicht gern, und sie lassen daher auf der Stelle erst recht allerhand wachsen, Bäume in den Himmel zum Beispiel oder die Wände, die dann so weit werden wie die ganze Welt oder ein großes Meer. Über selbiges segelt der kleine wilde Kerl bis an jenen Ort, wo die wirklich wilden Kerle wohnen. Sie sehen aus wie riesige Böcke, Stiere und Hähne, die natürlich alles, was sie phallisch-aggressiv vorzustrecken haben, auch tatsächlich vorstrecken, gewaltige Hörner an Kopf und Nase, gefährliche Krallen und Zähne und diese hervorquellenden Augen, die eigentlich das Fürchterlichste von allem sind. Außerdem brüllen sie, dass einem ganz anders zumute wird. Max freilich ist schlau und weiß, dass man derartige Ansammlungen randalierender Halbstarker, die man zu allem Pech noch aus sich selbst herausexternalisiert hat, nur in den Griff kriegt, wenn man ihnen demonstriert, dass man die Fähigkeit zur absoluten Kontrolle besitzt. Also zähmte er sie mit seinem Zaubertrick: Er starrte in ihre gelben Augen, ohne ein einziges Mal zu zwinkern. Wer so etwas kann, ist natürlich der wildeste Kerl von allen, wird zum König ernannt und auch ordnungsgemäß mit Krone und Zepter ausgestattet. Unter Max' Kommando tanzt man nun ganz fürchterlich, singt gemeinsam den Mond an und hängt sich nebeneinander auf Bäume. Bald ist klar, dass die Sache funktioniert und die ehedem unzivilisierten Herrschaften brav gehorchen, mit anderen Worten, dass der junge Mann sein libidinös-aggressives Wirrwarr im Griff hat. Das ist nun der Augenblick, an dem Max, erstens, die wilden Kerle ohne Essen ins Bett schickt und, zweitens, der verführerische Duft nach guten Speisen von weither quer durch die Welt zu ihm dringt. Mama ruft.
Die Gefahr, die Mutter aus wölfischer Verschlingungsliebe zu verputzen, besteht offensichtlich nicht mehr, auch wenn der Pelz noch getragen wird; man kann zurück zu ihr. Max steigt in sein Boot und lässt seine Triebgenossen, die ihn nun ihrerseits zum Fressen gernhaben, auf ihrem Eiland allein. Er segelt durch die Nacht, bis er wieder in seinem Zimmer landet. Dort steht das Essen auf dem Tisch und ist noch warm. Und die Moral von der Geschicht'? - Die Mischung aus libidinöser Selbstbesetzung und aggressivem Triebimpuls, selbst wenn man sowohl gewissermaßen ganz in sein Genitale hineinschlüpft als auch ganz, ganz wild ist, heißt nicht, dass man notwendigerweise dabei die Mutter auffrisst, im Gegenteil: Sie überlebt, und am Ende steht das Essen auf dem Tisch. Jetzt wissen wir, warum sich das Buch so gut verkauft.
Lektüre ist unser Thema. Lust ist es auch. Das Lesen ist Broterwerbsquelle für Schriftsteller, Legasthenietrainer und Zeitungskolporteure, Druckmittel ehrgeiziger Lehrer oder überforderter Eltern, Untersuchungssegment von Pisa-Studien und primäres Kriterium für die Berechnung von Alphabetisierungsraten. Lesen heißt Wissen erwerben, Austauschfähigkeit herstellen, sich in der Welt verankern. Vor allem bedeutet Lesen jedoch eines: lustvoll innere Bilder erzeugen. Oder, in der Sprache, wie Micky und Max sie mögen: Lesen heißt libidinöse Besetzung des eigenen Imaginationsvermögens. Libidinöse Besetzungen des Eigenen passieren im Sinne der Individuation, das bedeutet, sie sind immer einerseits dazu da, sich eben des Eigenen ein Stück sicherer zu werden, andererseits, sich vom anderen, dem Nicht-Eigenen, abzugren zen. Möglicherweise ist Letzteres der Grund dafür, dass in so vielen Kinderbüchern das für Kinder primäre Nicht-Eigene, nämlich die Eltern, nicht vorkommen; oder höchstens indirekt, in Form von Koitallärm oder nachgetragenem Abendessen, wie wir eben gehört haben. Vielleicht hat das aber auch mit den schlechten Erfahrungen zu tun, die Maurice Sendak mit seinen Eltern gemacht hat - oder ich mit meinen, wodurch ich, verursacht durch das Regulativ meines Unbewussten, gar nicht anders konnte, als elternfreie Bücher auszuwählen. So oder so - ganz an der Oberfläche: Kinderbücher, in denen Eltern vorkommen, haben eine leichte Inklination zum Öden. Oder: Wo Imaginationsvermögen libidinös besetzt wird, haben Eltern nichts verloren. Ja, vorlesen dürfen sie, in Ordnung. Mütter in Kinderbüchern sind also öd, Väter ebenso, und Großmütter, muss man sagen, sind, sofern sie nicht Räder haben oder sich in Apfelbäumen aufhalten, auch nicht das Schärfste. Anders in »Der Räuber Hotzenplotz« (von Otfried Preußler).
Die Geschichte beginnt damit, dass Kasperls Großmutter auf der Bank vor ihrem Häuschen in der Sonne sitzt. Zwischen ihren gespreizten Beinen hält sie eine funkelnagelneue Kaffeemühle (die sie von Kasperl und seinem Freund Seppel zum Geburtstag bekommen hat). Wenn man daran kurbelte, spielte sie »Alles neu macht der Mai«, das war Großmutters Lieblingslied. Seit Großmutter die neue Kaffeemühle hatte, machte ihr das Kaffemahlen solchen Spaß, dass sie doppelt so viel Kaffee trank wie früher. - Großmutter!, möchte man rufen, und ansonsten kommt es, wie es kommen muss: Es knackt im Gebüsch, und Großmutter rückt verwundert an ihrem Zwicker. Vor ihr stand ein fremder Mann mit einem struppigen schwarzen Bart und einer schrecklichen Hakennase im Gesicht. Auf dem Kopf trug er einen Schlapphut, an dem eine krumme Feder steckte, und in der rechten Hand hielt er eine Pistole. Mit der Linken zeigte er auf Großmutters Kaffeemühle. »Her damit, sage ich!« Großmutter wehrt sich eine Weile, dann sieht sie, dass in dem breiten Ledergürtel des Mannes ein Säbel und sieben Messer steckten. Sie erblasst und ihr Widerstand schwindet. Dann hebt der Mann auch noch die Pistole und richtet sie auf sie. Da tat Großmutter einen tiefen Seufzer und gab sie ihm. Was hätte sie sonst auch tun sollen? Der Räuber nimmt das großmütterliche Wunderding an sich und lässt es in seinem Schnappsack (!) verschwinden. Danach trägt er Großmutter auf, bis 199 zu zählen, dann dürfe sie seinetwegen um Hilfe rufen. Der Räuber verschwindet, nicht ohne ihr zum Abschied ein letztes Mal seine Pistole unter die Nase gehalten zu haben. Großmutter braucht eine gute Weile, bis sie zu zählen beginnen kann, und in der Aufregung verzählte sie sich so oft, dass sie mindestens ein Dutzend Mal wieder von vorne anfangen musste. Am Schluss tut sie dann doch, was sich für eine Dame in einer derartigen Situation geziemt: Sie stößt einen gellenden Hilferuf aus und fällt in Ohnmacht. Kein Kommentar, ist man versucht zu sagen und möchte die Großmutter und Herrn Hotzenplotz am liebsten mit ihrer gemeinsam geteilten Erfahrung allein lassen. Das geht denn doch nicht. Das Über-Ich verlangt nach seinem Recht. Die Obrigkeit muss her. Wachtmeister Dimpfelmoser kommt mit Pickelhaube und Polizeisäbel und schreibt die ganze Sache auf. Wir nehmen unsererseits zu Protokoll, dass es sich bei Großmutter anscheinend um ein ziemlich schlecht getarntes Objekt ödipalen Begehrens vonseiten des Kasperl-Seppel-Duos handelt, samt dazugehöriger Kaffeemühle, wohingegen dieser Hotzen plotz vermutlich in Personalunion beides repräsentiert, sowohl die abgewehrten sexuellen Triebimpulse Kasperl-Seppels, die extern in einen echten wilden Kerl hineingetan werden müssen, als auch den väterlichen Feind, der massiv mit Waffen und schlechten Eigenschaften ausgestattet werden muss, um ihn gleichermaßen massiv bekämpfen zu können. Dass in diesem »sowohl als auch« unübersehbar ein Ansatz von Identifikation und damit der Beginn der Lösung der ganzen Geschichte steckt, entgeht uns nicht.
Sie, die ganze Geschichte, kann ich jetzt nicht erzählen, dafür ist sie zu lang. Außerdem kennen Sie sie ohnehin alle. Bleiben wir also kursorisch-metaphorisch und zum Beispiel bei den Anfängen. Im zweiten Band, »Neues vom Räuber Hotzenplotz «, hat Großmutter zwar längst ihre Kaffeemühle wiederbekommen, dreht aber grad nicht an der Kurbel, sondern tut, was brave, anständige Großmütter so tun, sie kocht. Genauer, sie kocht, weil sie ja, noch einmal, ein schlecht getarntes Objekt ödipalen Begehrens ist, selbstverständlich für das Kasperl-Seppel- Duo, und sie kocht - hat sie doch in der Symbolik-Stunde »Was kochen Objekte ödipalen Begehrens ihren Verehrern am besten?« gut aufgepasst - Bratwürste mit Sauerkraut. Wie es der Triebteufel so haben will, beschlägt ihr Zwicker just in jenem Augenblick, in dem der Räuber Hotzenplotz, unzulässigerweise in der Uniform des Wachtmeisters Dimpfelmoser, bei der Tür hereinkommt. Die Verwechslung will also geschehen, zumindest optisch, gibt es doch im ganzen Städtchen keinen einzigen Menschen außer dem Wachtmeister, der einen blauen Rock mit silbernen Knöpfen besitzt. Akustisch ist es ein wenig anders. Die Stimme kam Großmutter zwar bekannt vor, doch es war nicht Herrn Dimpfelmosers Stimme. »Wer kann das wohl sein?«, überlegte sie. Und vor lauter Überlegen vergaß sie vollkommen, den Zwicker abzuwischen und wieder aufzusetzen. Langes Überlegen kann im Angesicht triebhaften Begehrens nur schlecht sein, ist man versucht zu schließen, und zum Verhalten der Großmutter möchte man meinen, da wäre sie doch besser gleich bei der Variante mit der Kaffeemühle geblieben. Hotzenplotz hat jedenfalls durch die Uniform-Verkleidung - die, so nebenbei, bereits eine zumindest rudimentäre Identifikation mit dem Arm des Gesetzes bedeutet - sein Aufgebot an phallischen Symbolen von zehn (steife Feder, Pfefferpistole, Räubersäbel, sieben Messer) in bemerkenswert radikaler Weise auf zwei, den Polizeisäbel und den Pickel der Pickelhaube, reduziert (die mächtige Hakennase im bärtigen Gesicht rechnen wir nicht ein; keiner kann im Ernst verlangen, dass er sie sich plastisch wegkorrigieren lässt). Andererseits ist er halt immer noch ein Räuber, außerdem frisch aus dem Gefängnis entlassen und daher triebbefriedigungsmäßig ziemlich unterversorgt. Er lässt also die Würste nicht im Kraut, sondern vertilgte sie ratzeputz, dass es nur so schnurpste. Es waren im ganzen neun Stück. Neun Stück, da sind wir wieder ziemlich im Bereich des metaphorischen Plansolls, wobei über das Gewicht von Bratwürsten im Vergleich zu Messern und Pfefferpistolen gesondert zu diskutieren wäre. Hotzenplotz nötigt Großmutter jedenfalls, bei der ganzen Aktion, die am Ende auch nicht ohne Befleckung des Tischtuches abgeht, am Tische sitzend zuzuschauen. Purer Sadismus, mag man einerseits sagen, andererseits könnten diejenigen, die mit ihren Sympathien schon eindeutig ins Lager des Räubers übergelaufen sind, darauf verweisen, es könne sich dabei genauso gut um etwas wie ein externalisiertes Sublimierungsfragment handeln.
Die Großmutter selbst scheint sich ihrer Funktion als abgespaltene und ausgelagerte Kulturleistung des wilden Mannes bewusst zu sein, bleibt sie doch gesittet sitzen, bis er fertig ist. Erst dann fällt sie in Ohnmacht.
Kasperl und Seppel dürften übrigens ahnen, was läuft, denn sie verdächtigen zuerst einmal Großmutter selbst, sich die Würste zu Gemüte geführt zu haben. So völlig falsch liegen sie dabei nicht, ist man versucht zu sagen, vor allem, wenn man den Beginn von »Hotzenplotz 3« kennt. Großmutter macht sich an einem schönen Herbsttag ans Wäscheaufhängen, als der wegen guter Führung vorzeitig aus dem Gefängnis entlassene und inzwischen völlig geläuterte Hotzenplotz zwischen den Büschen auftaucht. Als einziges Epitheton seiner triebhaften Räuberexistenz trägt er übrigens jene krumme Feder am Hut; keine Pfefferpistole mehr, keine Messer, kein Säbel; auch keine Würste weit und breit. Ob Großmutter das passt, weiß man vorerst nicht so recht. »Sind Sie schon wieder einmal in meinem Garten, Herr Hotzenplotz?«
Der Räuber nickte und wollte aus seinem Versteck hervorkommen. Großmutter griff nach dem Sack mit den Wäscheklammern. »Keine Bewegung!«, rief sie, »sonst haue ich Ihnen den Klammernsack um die Ohren, dass Sie in keinen Hut mehr hineinpassen - Hände hoch!« Hotzenplotz konnte nicht ahnen, dass Großmutter neuerdings vor dem Einschlafen immer Räubergeschichten las. Bitte sehr, die Dame macht sich schlau. Jemand, der Räubergeschichten liest, interessiert sich für Räuber, und jemandem, der selbiges vor dem Einschlafen immer tut, ist wohl vor allem an der libidinösen Besetzung des eigenen Räuberimaginationsvermögens gelegen. Wenn dann der reale Bösewicht wegen guter Führung vorzeitig entlassen wird und sozusagen sämtliche erektilen Teile auf dem Schrott lässt, wirft das alles großmütterlich Imaginierte gründlich durcheinander. Großmutter reagiert dementsprechend, überlistet den Hoffentlich-noch-Räuber mittels eines reichlich plumpen Zwicker-Tricks und sperrt ihn in die Waschküche. Weshalb sie dann trotzdem in Ohmacht fällt, bleibt ein wenig rätselhaft. Vielleicht sind es ihre Phantasien darüber, was sie mit dem unter Verschluss genommenen Maskulinum jetzt tun könnte, die sie (buchstäblich) übermannen und schwummerig werden lassen: Kaffee mahlen, Bratwürste mit Sauerkraut kochen, et cetera, et cetera. Vielleicht ist das mit der Ohnmacht inzwischen auch ganz einfach Gewohnheit geworden. Hotzenplotz, metaphorologisch zu Ende gebracht: Großmütter haben unklare Beziehungen zu Räubern; Räuber haben unklare Beziehungen zu Zauberern mit gleich langen Nasen, aber viel längeren Zaubererhüten; froschartige Amphibien werden in schöne Feen mit floralen Namen verwandelt; Polizeiwachtmeister wickelt man mehrmals in lange Feuerwehrschläuche und Hotzenplotze sperrt man am liebsten in Spritzenhäuser. Den Zauberer Zwackelmann bringt letztlich der Absturz seines Zauberstabes um, und die Witwe Schlotterbeck, die aus Kristallkugeln liest, sieht, wenn man ehrlich ist, ein wenig aus wie eine in die Jahre gekommene Dame aus dem horizontalen Gewerbe. Dass sie mit Vorliebe dicke Zigarren raucht, räumt man ihr als kleine metaphorische Reminiszenz gerne ein.
Wie sich das auf der metaphorischen Ebene schließlich mit den Kopfbedeckungen von Kasperl und Seppel verhält, ist sowieso eines der großen ungelösten Rätsel dieser Welt. Sind Zipfelmütze und Seppelhut, jene symbiotischen Symbolzwillinge, in erster Linie als die beiden Bauteile des männlichen Geschlechtsorganes zu verstehen oder doch als seine beiden bekannten Daseinszustände: lang, kurz? Keiner kann es sagen. Am Ende sitzen jedenfalls alle um einen Tisch, einträchtig, und Pickelhaube, Räuberhut mit steifer Feder und Säbel hat man ein wenig zwänglich auf den Kleiderständer hinsublimiert. Alles ist klar. Hotzenplotz wird Frau Schlotterbeck nehmen, Läuterung hin oder her, die Halbwelt ist schließlich immer schon lieber unter sich geblieben, und die Großmutter wird sich wohl oder übel an den Wachtmeister halten und am Abend im Bett ihre Räubergeschichten lesen.
Andere Menschen haben es nicht notwendig, am Abend im Bett Räubergeschichten zu lesen. Etwa Menschen, die mit ihren Geräuschen Mickys und Maxe zu allerlei Reisen veranlassen, oder zum Beispiel Astrid Lindgrens »Pippi Langstrumpf«. (Pippi ist die Größte, ohne Frage, und daher ist es gut, mit ihr aufzuhören.)
Pippi Langstrumpf tut erstens am Abend im Bett, was man als anständiger Mensch dort vor allem tut, nämlich schlafen. Und zwar schläft sie so, wie die Leute in Guatemala es tun, die Füße auf dem Kopfpolster und den Kopf tief unter der Decke. Zweitens braucht sie sowieso keine Räubergeschichten, denn sie rupft ihr Hühnchen mit Räubern in der Realität, das heißt, sie fesselt diejenigen, die an ihre Schatztruhe wollen, und setzt sie hoch auf Kästen, und wenn sie dann ganz artig geworden sind, schenkt sie ihnen ein Goldstück. Dass Pippi unter der Decke liest, ist übrigens eher unwahrscheinlich, wo sie doch von der Verschriftlichung von Dingen insgesamt nicht allzu viel hält und außerdem zum Beispiel den Buchstaben I noch nicht beherrscht.
Libidinöse Besetzung des Eigenen im Sinne der Individuation war das Stichwort, speziell die libidinöse Besetzung des eigenen Imaginationsvermögens. Wenn es jemanden gibt, der uns genau das, libidinöse Besetzung des Eigenen im Sinne der Individuation, fulminant vorführt, so ist es Pippi Langstrumpf. Lustvoll wird gedacht, geturnt, gedichtet, geklettert, geputzt, geflunkert, werden Kekse gebacken und hohle Bäume erforscht, werden Lehrerinnen genervt und böse Buben auf Äste gehängt. Lustvoll wird im Zirkus der »schdarke Adolf« vermöbelt, und das ist eine winzige historische Fußnote wert, wurde das Buch doch in den Jahren 1943 und 44 geschrieben. Symbolisch stellt wohl nichts besser Pippis polyvalente libidinöse Energie dar als die Villa Kunterbunt, jenes Haus am Rande der kleinen, kleinen Stadt, in dem sie, umgeben von einem verwilderten Garten, einem Affen und einem Pferd, wohnt. Alles ist ein wenig schief und zugleich ziemlich geheimnisvoll, das Wasser kommt aus einer Gießkanne, die auf der Veranda hängt, gescheuert wird einmal im Jahr (vielleicht), und wenn einem danach ist, spielt man drinnen »Boden nicht berühren « - was ohne Zweifel einer Vorstufe des Fliegens gleichkommt. Die Eltern sind weg, das fällt auf, ist doch Pippi erst neun; allerdings sollten die Eltern auch weg sein, das wurde uns eben erst eingeredet. Pippi hatte keine Mutter und keinen Vater und eigentlich war das sehr schön, denn so war niemand da, der ihr sagen konnte, dass sie zu Bett gehen sollte, gerade wenn sie mitten im schönsten Spiel war, und niemand, der sie zwingen konnte, Lebertran zu nehmen, wenn sie lieber Bonbons essen wollte. Das sieht man ein; die Art und Weise, in der die Eltern weggetan werden, ist freilich bemerkenswert. Die Mutter sei gestorben, heißt es, als Pippi noch ein ganz kleines Ding war, das in der Wiege lag und so furchtbar schrie, dass es niemand in ihrer Nähe aushalten konnte. Pippi glaubte, dass ihre Mutter nun oben im Himmel sei und durch ein kleines Loch auf ihr Kind runterschaute, und Pippi winkte oft zu ihr hinauf und sagte: »Hab keine Angst um mich! Ich komm schon zurecht!« Pippis Vater ist Schiffskapitän, segelt über die Meere, und Pippi glaubt, er sei inzwischen König über alle (Pippi sieht man die politisch unkorrekte Formulierung nach) Neger geworden. »Meine Mama ist ein Engel und mein Papa ist ein Negerkönig. Es gibt wahrhaftig nicht viele Kinder, die so feine Eltern haben!«, pflegte Pippi sehr stolz zu sagen. »Und wenn mein Papa sich nur ein Schiff bauen kann, dann kommt er und holt mich, und dann werde ich eine Negerprinzessin.« Astrid Lindgren hat offenbar ihren Freud gelesen.
An dieser Stelle, wie an vielen anderen auch, kommt es übrigens zu dem Phänomen, dass durch Metaphern (Engel im Himmel, Negerkönig auf einer fernen Insel) Imaginationsräume eröffnet werden, die es letztlich nicht so wesentlich machen, ob Pippis Mutter tatsächlich tot ist oder nur von ihr wegimaginiert wurde. Die Metapher bewirkt beides - sie macht einerseits den Tod der Mutter erträglich und sie erlaubt es - umgekehrt -, die Mutter sterben zu lassen. In diesem Sinn besitzt sie eine Brückenfunktion und tut, was sie verspricht: metapherein - hinübertragen.
Apropos Metapher: Man könnte jetzt natürlich über die Frage reden, was es eigentlich mit diesen Strümpfen auf sich hat und mit den Strumpfbändern, die Pippi ständig trägt, und ob es sich bei einem langen Strumpf primär um ein Ding handelt, das dazu da ist, dass ein anderes langes Ding, also ein Bein, in es hineingetan wird, geradeso wie beim Schwert und der ... Hülse. Man könnte auch über die Rolle von Thomas und Annika als Repräsentanten sowohl von Über-Ich-Anteilen als auch von abgespaltenen Ängsten reden oder über die Frage: Wofür stehen eigentlich Herr Nilsson, das Äffchen, und der Gute Onkel, das Pferd? Man kann allerdings auch noch ganz geschwind über eine andere, metaphorisch höchst sonderbare Sache reden, den Spunk. Als Thomas und Annika eines Morgens zu Pippi kommen, saß sie mitten auf dem Küchentisch mit Herrn Nilsson, dem kleinen Affen, im Arm und einem glücklichen Lächeln auf den Lippen. (...) »Stellt euch vor«, sagte Pippi, »stellt euch bloß mal vor, dass ich es gefunden habe! Gerade ich und niemand anders!« Was hat Pippi gefunden? »Ein neues Wort«, sagte Pippi, »ein funkelnagelneues Wort. (...) Ein wunderschönes Wort, eins der besten, die ich je gehört habe. (...) Spunk!« »Spunk?«, fragte Thomas, »was bedeutet das?« »Wenn ich das bloß wüsste«, sagte Pippi, »das Einzige, was ich weiß, ist, dass es nicht Staubsauger bedeutet.«
Sie denkt nach: Ist ein Spunk die oberste Spitze einer blau angestrichenen Fahnenstange? Oder das Geräusch, wenn einem der Matsch zwischen den Zehen hochquillt? Ist Spunk teuer? Schmeckt er gut? Schließlich starten Pippi und ihre Freunde eine kleine Spunkfindungs-Expedition. Spunk sei ausverkauft, behauptet das Fräulein in der Konditorei, das noch nie etwas von Spunk gehört hatte, aber nicht zugeben wollte, dass ihr Geschäft nicht eine ebenso gute Auswahl hatte wie alle anderen. Der Eisenwarenverkäufer verwechselt Spunk mit einer Harke, und der Doktor meint, nein, Spunk sei in diesem Fall nicht zu diagnostizieren, und selbst wenn es so eine Krankheit gäbe, würde sie Pippi unter Garantie nicht befallen. Nachdem Spunk auch kein aus dem Zoo entwichenes wildes Tier ist, wie zwei erschrockene Damen vermuten, beschließen die drei Freunde, wieder nach Hause zu reiten. Sie hocken ein wenig ratlos auf der Veranda, als es passiert. Über Pippis Gesicht breitete sich ein seliges Lächeln. »Ich weiß, das ist ein Spunk.« »Bist du ganz sicher?«, fragte Thomas. »Glaubst du etwa nicht, dass ich einen Spunk erkenne, wenn ich einen vor mir hab? Hast du jemals im Leben etwas derartig Spunkartiges gesehen?« Was ist nun ein Spunk? Was hat Pippi da vor sich? Einen kleinen grünlich metallischen Käfer. »Mein lieber kleiner Spunk«, sagte Pippi zärtlich, »(...) wir sind in der ganzen Stadt herumgejagt, um einen Spunk zu finden, und dann ist er die ganze Zeit direkt vor der Villa Kunterbunt gewesen.« Sehr fein. Ein Begriff findet seine Bedeutung, ein Ding erhält einen Namen. Wir befinden uns somit am Schnittpunkt von Semiotik und Hermeneutik, dort wo angeblich die Metapher entsteht. Schön für die Metapher, aber was hat Spunk nun mit unserem Thema zu tun? - Libidinöse Besetzung des Eigenen, in Ordnung - Sprache, Imaginationsfähigkeit, auf Pferden herumreiten. Aber sonst? Was bedeutet »Spunk« eigentlich? - Im Deutschen gar nichts; auch im Schwedischen und in den anderen skandinavischen Sprachen ist es nicht verzeichnet. Im Englischen allerdings wird man fündig. Im »Oxford Dictionary« lesen wir: »spunk - Mut, Mumm«, im großen Wörterbuch von »Collins«: »spunk - Mut, Mumm, Courage (im britischen Slang: Soße)«, und im »Wordsworth Dictionary of Sex« schließlich: »spunk - a slang term for semen (which has subsequently come to mean also courage)«, ein Mundartausdruck für Sperma also, der in der Folge auch die Bedeutung Mut, Mumm, Courage erhalten hat. Jetzt wissen wir, was Pippi dermaßen in Verzückung versetzt. Soße. Sperma. Quatsch!, ist man versucht zu sagen, Pippi mag wissen, dass man in Guatemala verkehrt herum im Bett liegt und dass in den Schulen Australiens den ganzen Tag »Lustifikation « auf dem Stundenplan steht, aber Slangausdrücke für Sperma kennt sie mit Sicherheit genauso wenig wie ihre jungen Leser. Na gut. Mit der Stoa und einem ihrer Zentralbegriffe, dem »logos spermatikos«, dem Leben spendenden Wort, wird sich auch nicht sie, sondern höchstens Astrid Lindgren beschäftigt haben. Freud hat sie, Pippi, nicht gelesen und Sophokles noch weniger. Was sie allerdings da ab Seite 249 mit ihrem Vater aufführt, der ihr im Baströckchen gegenübertritt, die Königskrone auf dem Kopf und den Speer in der Hand - na schau dir das an! Ob das mit Wiedersehensfreude allein zu erklären ist? Am Ende beißt sie ihn sogar in die Nase! Schluss! Ich vertraue auf die libidinöse Besetzung Ihrer Imaginationsfähigkeit, meine Damen und Herren, und darauf, dass Sie bei nächster Gelegenheit nachblättern werden. Ansonsten müsste ich Ihnen die Sache ja vorlesen, und dafür ist jetzt wirklich keine Zeit mehr.
© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag, Wien
Soll von Metaphorik die Rede sein, so ist das meistens ein wenig wie Zitronen lutschen: Man weiß, dass es angeblich gesund ist, man fühlt sich zu Beginn auch erfrischt, und nach kurzer Zeit fängt dann alles an, sich zusammenzuziehen. Die Dinge verknoten sich zu kaum entwirrbaren Gebilden, und man landet im Nu dort, wo man in der Geisteswissenschaft im Grunde immer schon gelandet ist, bei der eigenen begrifflichen Insuffizienz. Man fragt sich also, wie das war mit Metapher und Metonymie, gräbt vielleicht aus der Erinnerung aus, dass man »das Blau« statt »der Himmel« sagen kann oder »der Stahl« statt »das Schwert« und es sich bei Letzterem zwar um eine martialische Metonymie, nichtsdestoweniger in beiden Fällen um Metonymien handelt, wohingegen man eine Metapher schafft, wenn man das arme Kamel zum »Wüstenschiff« macht. Das wiederum hat, so unsere Gedächtnisspur, zu tun mit dem Ausmaß an stofflicher Distanz zwischen dem symbolischen Begriff und dem Bezeichneten, was notwendigerweise zur bangen Frage führt, wie denn das Symbol unterzubringen ist zwischen Metapher und Metonymie, und ob über Metaphorik zu sprechen nicht auch heißt, sich mit »Signifikant « und »Signifikat« zu befassen, jenen eineiigen Zwillingen, von denen man weiß, dass man sie in diesem Leben nicht mehr auseinanderhalten wird können. Schrecken gebiert vorwiegend seinesgleichen, das ist einem vertraut und daher wehrt man sich erst gar nicht gegen die Erkenntnis, dass man selbst mit der Einordnung der metapherntheoretisch befassten Disziplinen wieder einmal seine liebe Not hat: Linguistik, Semiotik, Semantik, Syntaktik, Pragmatik, Grammatik - wer macht eigentlich was? Man stellt im Vorbeigehen eine alliterative Verwandtschaft zwischen »Sema«, dem Zeichen, und »Semen«, dem Samen, fest und beschließt, zu tun, was man im Angesicht der intellektuellen Niederlage sinnvollerweise tut: Man schlägt nach. Man nascht also bei Blumenberg, Cassirer, Chomsky, Eco, Lacan, Pasolini und wie sie alle heißen, jeweils nur kleine Häppchen, versteht sich, und endet dennoch wieder einmal dort, wo man bei derlei Gelegenheit regelmäßig endet; einerseits bei der - vor allem für einen pragmatischen Poeten - ziemlich beruhigenden Bemerkung des Philosophen Joachim Ritter, Theorie werde vorwiegend dann gemacht, wenn sonst nichts mehr zu machen sei; andererseits bei jenem Beispiel, mit dem Umberto Eco in seinem semiologischen Buch »Segno« (Zeichen) versucht, sich von der britischen Verstocktheit Bertrand Russells abzugrenzen und zugleich das logische Konstrukt des kontrafaktischen Konditionals zu erklären:
Die Implikation /Wenn meine Großmutter Räder hätte, wäre sie ein Auto/ ist in der Sprache des Logikkalküls dann wahr, wenn
a) meine Großmutter keine Räder hat und kein Auto ist;
b) meine Großmutter keine Räder hat, aber ein Auto ist;
c) meine Großmutter Räder hat und ein Auto ist.
Dass Wahrsein aus dem Blickwinkel der Logik mit Wahrsein auf Basis empirischer Annahmen nichts zu tun hat, mag man einräumen. Trotzdem ist es ein Stück schade, dass die Implikation ausgerechnet dann falsch ist, wenn
d) meine Großmutter Räder hat, aber kein Auto ist. Manche Großmütter haben nämlich Räder, zumindest eine Zeitlang, und sie sind in diesem Zustand definitiv kein Auto, sondern nur schwach oder ein bisschen gelähmt. Das war Herrn Eco möglicherweise nicht bewusst, und man darf das auch nicht erwarten. Bewusst war ihm hingegen sicher, dass dieser Satz nicht primär als Metapher angelegt ist, etwa für die Mobilität älterer Damen oder für den Erhaltungszustand mancher Automobile. Bewusst war ihm möglicherweise auch, dass das Beispiel trotzdem zur Metapher wird, nämlich genau dafür, dass Metaphorik wenig zu tun hat mit eindimensionalen semiologischen Zeichen-Bedeutungs-Konstrukten, sondern viel eher mit Vielfalt, Humor und dem Umgang mit Paradoxa. Das hat er uns allerdings verschwiegen, aber dass er uns gelegentlich Dinge verschweigt, ist uns ja spätestens seit dem »Namen der Rose« vertraut.
Immerhin sind wir bei zwei Dingen angelangt, die uns beschäftigen werden, das eine kurz und gleich, das andere ein wenig länger und später, beim Umgang mit Paradoxa und bei Großmüttern. Kurz und gleich, Paradoxa. Die Metapher stellt insofern in sich etwas wie ein kleines Paradoxon dar, als sie begrifflich auf sich selbst verweist, bedeutet der Terminus doch ursprünglich nichts anderes als etwas von A nach B tragen; in unserem Fall sind nun nicht Wasserkrüge oder Krankheiten gemeint, die den Besitzer wechseln, sondern eben Bedeutungen. Die Metapher ist zweitens insofern ein Paradoxon, als sie auf der einen Seite stets mit Verschiebung und Verdichtung zu tun hat, also mit jenen Mechanismen, die wir auch aus der Analyse unserer Träume kennen, auf der anderen Seite mit dem Eröffnen von Räumen für Mehrdeutigkeit und phantasmatisches Spiel mit Bildern und Begriffen. Die Metapher wird schließlich dadurch zum Paradoxon, dass sich anhand von ihr die beiden großen Fragen der sprachlichen Welterschließung stellen: »Wie sind die Dinge eigentlich zu benennen?« und »In welcher Weise manifestieren sich die Dinge durch Sprache?«; das heißt, die Metapher liegt gewissermaßen am Schnittpunkt von Semiotik und Hermeneutik. Semiotik, Hermeneutik: Schon sind wir wieder bei unserem Disziplinenproblem und damit beim Reflex, uns die Decke über den Kopf zu ziehen. Dort wollen wir allerdings letztlich auch hin, unter die Decke.
Davor noch ein kleiner Zwischenschritt. Die Metapher in ihrer paradoxen Vielschichtigkeit, in ihrer Rolle als Überträgerin von Bedeutung und als Evokateurin von Phantasmen ist natürlich - und dort wollen wir ebenfalls hin - vor allem eines: Sie ist - metaphorisch gesprochen - die Hebamme der Narration und die Hauptspeise der Poesie. Wenn es nun hier und heute um Erzählung und poetische Weltverzauberung im Zusammenhang mit Metaphorik geht und man sich in einer Situation befindet, in der man sich ein wenig Psychoanalyse leisten kann, fällt einem natürlich Sigmund Freud ein - »Jenseits des Lustprinzips« - und die Holzspule mit dem Bindfaden, die sein eineinhalbjähriger Enkel Ernst Wolfgang mit der Bemerkung »ooooo« (»fort«) im Gitterbett verschwinden lässt, um sie gleich darauf mit »da« wieder hervorzuholen, die letztlich zum Repräsentanten der abwesenden Mutter auf der einen und zu jener Spindel auf der anderen Seite wird, um die der junge Mann seine Traurigkeit windet. Die Mutter ist weg, das Gefühl ist mächtig vorhanden. An der Schwelle zur sprachlichen Eroberung der Welt wird daraus ein Symbol - »fort, da«. Der Großvater ist dabei und macht eine Geschichte daraus. Die Mutter des kleinen Knaben, Freuds Tochter Sophie, war übrigens vier Jahre später ganz fort, soll heißen, gestorben. Unmit telbar danach wurde der Todestrieb geboren; ob das eine ursächlich mit dem anderen zu tun hat, darüber streiten nach wie vor die wirklich gescheiten Menschen. Wir bleiben am Bett. Wir lassen die Mutter auch ganz und gar nicht sterben, sondern holen sie herbei, setzen sie an den Bettrand, drücken ihr ein Buch in die Hand und lassen sie vorlesen. Sie kennen die Szene. Die Mutter (oder der Vater) liest so lange vor, bis das Kind eingeschlafen ist oder das Kind erfolgreich so tut, als sei es eingeschlafen. Der vorlesende Elternteil verlässt (sofern selbst noch wach) auf Zehenspitzen Matratzenkante und Zimmer, und das Kind kann sich ungestört in seine Höhle zurückziehen oder in sein Schloss oder sich in eine Ballongondel setzen oder in ein Boot und über den Himmel fahren oder aufs Meer hinaus. So oder so, Höhle, Himmel oder Meer - das Kind befindet sich an einem Ort, der metaphorisch hochaufgeladen ist, voll von Bedeutung. Maurice Sendak nennt diesen Ort die »Nachtküche «.
»In der Nachtküche« beginnt damit, dass der kleine Micky durch heftiges Getöse aus dem Schlaf gerissen wird: Wumm, rumm, pumm, pumm. Natürlich können es theoretisch die Mistkübelmänner sein, die in der Nacht Lärm machen, oder ein Einbrecher oder die Polizisten, die den Einbrecher gerade fangen. Wahrscheinlich ist es jedoch ganz anders, Sie wissen es, ich weiß es, und Micky weiß es auch, wie man aus seinem Gesicht lesen kann und aus der Art und Weise, in der er schließlich »Ruhe!« brüllt. Eltern, die mit spezifischem Radau-Schlagen, psychoanalytisch mit Urszene-Machen, also mit Sex, beschäftigt sind, beeindruckt solcherlei in der Regel wenig, das ist bekannt. Micky, nicht faul und blöd schon gar nicht, begibt sich - sozusagen nach dem Motto: »Wenn zwei rumsen, freut sich der Dritte« - auf eine Reise, die letztlich ein Ziel hat: die libidinöse Besetzung der eigenen Körperoberfläche. (Micky weiß zwar nicht, dass es so heißt, aber das ist ihm egal.) Er steigt auf in die Luft, hoch über sein Bett, streift seinen Pyjama ab und fliegt splitternackt durchs Zimmer, vorbei am Mond und an der Tür zum elterlichen Schlafgemach, hinein in die Nachtküche.
Die Nachtküche ist in Wahrheit eine Backstube, und wie es sich für eine ordentliche Backstube gehört, herrscht dort, auch wenn es draußen finster ist, emsiger Betrieb. Die drei rotnasigen Bäcker, die einander aufs Haar gleichen, sehen aus wie Oliver Hardy, der Dicke aus »Dick und Doof«, das heißt, sie wirken ziemlich gemütlich, humorvoll und zugleich verlässlich. Der textil unbedeckte oder, so unsere metaphorologische Annahme, äußerlich libidinös unterbesetzte Micky plumpst direkt in den Kuchenteig, wird von den drei Bäckern untergehoben, eingerührt und schließlich ins Backrohr geschoben. Nach einer Weile taucht er wiederum auf, eingehüllt in einen Overall aus Kuchenteig, der ihm an den Leib gebacken ist, und fühlt sich anscheinend ziemlich wohl. Dermaßen konturiert in seinem Selbst, baut er sich aus einem Klumpen Brotteig, der ebenfalls dort herumliegt, ein kleines Propellerflugzeug und fliegt los.
Natürlich ist die Sache mit dem Fliegen seit Erica Jong ein wenig abgenützt und natürlich kann ein phalloides Propellerflugzeug aus Brotteig auch einmal schlicht ein Propellerflugzeug aus Brotteig sein - charmanter sind freilich andere Varianten. Micky, denke ich, tut, was frisch oberflächenbesetzte Mickys mit ihrer Hülle zu tun pflegen - er bedient sich ihrer; und natürlich hat das, ist er doch auch davor von einem Triumvirat bearbeitet worden, einen spezifisch männlichen Akzent. Indem er sich autoerotisch betätigt, fliegt er immer weiter empor und erreicht, am Scheitel seiner Bahn, eine riesige Milchflasche. In dieselbe stürzt er sich lustvoll hinein, sinkt bis zum Grund, streift dabei seinen Kuchenteiganzug ab und schwimmt nackt, wie er ursprünglich war, wieder an die Oberfläche. Vom Rand der Flasche gießt er daraufhin Milch hinab in den Kuchenteig, den die Bäcker dort unten bereithalten.
Eine große Milchflasche ist natürlich in erster Linie eine große Milchflasche und Milch selbst eine Metapher für die wunderbare Zeit, in der die Welt noch in die Mundhöhle und in den Bauch hineingepasst hat. Micky meint es jedoch vielleicht ein bisschen anders, wenn er nach seiner Milchverschüttung oben auf dem Rand der Flasche steht, am Kulminationspunkt der ganzen Geschichte seinen kleinen Hahn in die Welt reckt und selbst laut »Kiiiikerikiiii!« schreit. So wird unmissverständlich klar, dass ihm mithilfe von Kuchenteig, Propellerflugzeug und Milchverspritzen vor allem auch eines gelungen ist - die libidinöse Besetzung seines Genitales. Die drei Oliver-Hardy- Klone sind sichtlich glücklich darüber, schlagen den angereicherten Kuchenteig noch einmal auf, und Micky fliegt durch die ausklingende Nacht zurück in die Federn. Im Original: Er glitt hinunter sehr tief, sprang in sein Bett, war trocken, schlief. Hoppala. Man stutzt ein wenig. War trocken, schlief - ?? -Möglicherweise gab's bei unserem Micky ursprünglich eine kleine Schwierigkeit mit der Frage, welche Flüssigkeiten da in der Küche der Nacht abgemischt werden sollen. Egal. Jetzt ist jedenfalls alles in Butter, der Hahn hat gekräht, nichts ist passiert, wie es heißt, und Micky steht bereit für neue Taten. Masturbatorische Aktivität scheint dem Kind zu helfen, sich schrittweise aus der Dyade mit der Mutter zu lösen. Das Training der Fähigkeit, sich unabhängig von anderen und ohne äußere Hilfe lustvolle Befriedigung zu verschaffen, erzeugt und festigt libidinös besetzte Teilrepräsentanzen des kindlichen Selbst, lässt somit Keime für autonome Ich-Funktionen sprießen. Andererseits entsteht durch das Erleben der Kompetenz autoerotischen Lustgewinnes und durch die damit verbundenen positiven narzisstischen Gefühle offenbar gelegentlich die Angst, alle anderen von dieser Welt wegzuverschlingen. Vor allem, wenn aggressive Impulse mit ins Spiel kommen, kann das passieren. So zumindest das Modell von antiquierten Menschen, die noch an die Existenz von Dyaden, Repräsentanzen oder eines kindlichen Selbst glauben. Max ist damit einverstanden, er kennt das. Max hat, so scheint es, Fenichel und Kohut und Binswanger und all die restlichen wilden Kerle gelesen. Wenn ihm danach ist, zu zeigen, dass wahr ist, was sie geschrieben haben, schlüpft er in seinen Wolfspelz. Max ist sozusagen der Micky von Maurice Sendaks »Wo die wilden Kerle wohnen« oder »Where the Wild Things Are«, wie es im Original noch besser heißt - die wilden Sachen, von denen man nicht so recht sagen kann, wie autonom lebendig sie eigentlich sind. Der Wolfspelz, den Max trägt, wenn er Nägel mit Köpfen in die Wand schlägt oder wie ein kleiner Teufel mit der Gabel Jagd auf den Terrier macht, sieht zwar nicht mehr aus wie Mickys Körperhülle aus Kuchenteig, aber so wirklich wie ein Wolfspelz in Wahrheit auch nicht. Eher wie ein Schlafanzug mit Batman- Ohren und Krallen an Händen und Füßen, könnte man sagen, oder, wenn man vor lauter Suche nach Sexualmetaphern schon den total einseitigen Blick gekriegt hat, wie ein Ganzkörperkondom mit hinten einem langen Schwanz dran. Letzterer ist konkret vorhanden, daher unstrittig und wird durch das ganze Buch hindurch getragen, egal, ob man ihn symbolisch befrachtet oder nicht. Max jedenfalls sagt an jenem denkwürdigen Abend in seinem libidinösen Furor zur Mutter: »Ich fress' dich auf«, und weil Mütter das nicht so gern haben, wird er ohne Essen ins Bett geschickt. Das wiederum haben kleine geschwänzte Kostümwölfe mit überbordenden Einverleibungsgelüsten nicht gern, und sie lassen daher auf der Stelle erst recht allerhand wachsen, Bäume in den Himmel zum Beispiel oder die Wände, die dann so weit werden wie die ganze Welt oder ein großes Meer. Über selbiges segelt der kleine wilde Kerl bis an jenen Ort, wo die wirklich wilden Kerle wohnen. Sie sehen aus wie riesige Böcke, Stiere und Hähne, die natürlich alles, was sie phallisch-aggressiv vorzustrecken haben, auch tatsächlich vorstrecken, gewaltige Hörner an Kopf und Nase, gefährliche Krallen und Zähne und diese hervorquellenden Augen, die eigentlich das Fürchterlichste von allem sind. Außerdem brüllen sie, dass einem ganz anders zumute wird. Max freilich ist schlau und weiß, dass man derartige Ansammlungen randalierender Halbstarker, die man zu allem Pech noch aus sich selbst herausexternalisiert hat, nur in den Griff kriegt, wenn man ihnen demonstriert, dass man die Fähigkeit zur absoluten Kontrolle besitzt. Also zähmte er sie mit seinem Zaubertrick: Er starrte in ihre gelben Augen, ohne ein einziges Mal zu zwinkern. Wer so etwas kann, ist natürlich der wildeste Kerl von allen, wird zum König ernannt und auch ordnungsgemäß mit Krone und Zepter ausgestattet. Unter Max' Kommando tanzt man nun ganz fürchterlich, singt gemeinsam den Mond an und hängt sich nebeneinander auf Bäume. Bald ist klar, dass die Sache funktioniert und die ehedem unzivilisierten Herrschaften brav gehorchen, mit anderen Worten, dass der junge Mann sein libidinös-aggressives Wirrwarr im Griff hat. Das ist nun der Augenblick, an dem Max, erstens, die wilden Kerle ohne Essen ins Bett schickt und, zweitens, der verführerische Duft nach guten Speisen von weither quer durch die Welt zu ihm dringt. Mama ruft.
Die Gefahr, die Mutter aus wölfischer Verschlingungsliebe zu verputzen, besteht offensichtlich nicht mehr, auch wenn der Pelz noch getragen wird; man kann zurück zu ihr. Max steigt in sein Boot und lässt seine Triebgenossen, die ihn nun ihrerseits zum Fressen gernhaben, auf ihrem Eiland allein. Er segelt durch die Nacht, bis er wieder in seinem Zimmer landet. Dort steht das Essen auf dem Tisch und ist noch warm. Und die Moral von der Geschicht'? - Die Mischung aus libidinöser Selbstbesetzung und aggressivem Triebimpuls, selbst wenn man sowohl gewissermaßen ganz in sein Genitale hineinschlüpft als auch ganz, ganz wild ist, heißt nicht, dass man notwendigerweise dabei die Mutter auffrisst, im Gegenteil: Sie überlebt, und am Ende steht das Essen auf dem Tisch. Jetzt wissen wir, warum sich das Buch so gut verkauft.
Lektüre ist unser Thema. Lust ist es auch. Das Lesen ist Broterwerbsquelle für Schriftsteller, Legasthenietrainer und Zeitungskolporteure, Druckmittel ehrgeiziger Lehrer oder überforderter Eltern, Untersuchungssegment von Pisa-Studien und primäres Kriterium für die Berechnung von Alphabetisierungsraten. Lesen heißt Wissen erwerben, Austauschfähigkeit herstellen, sich in der Welt verankern. Vor allem bedeutet Lesen jedoch eines: lustvoll innere Bilder erzeugen. Oder, in der Sprache, wie Micky und Max sie mögen: Lesen heißt libidinöse Besetzung des eigenen Imaginationsvermögens. Libidinöse Besetzungen des Eigenen passieren im Sinne der Individuation, das bedeutet, sie sind immer einerseits dazu da, sich eben des Eigenen ein Stück sicherer zu werden, andererseits, sich vom anderen, dem Nicht-Eigenen, abzugren zen. Möglicherweise ist Letzteres der Grund dafür, dass in so vielen Kinderbüchern das für Kinder primäre Nicht-Eigene, nämlich die Eltern, nicht vorkommen; oder höchstens indirekt, in Form von Koitallärm oder nachgetragenem Abendessen, wie wir eben gehört haben. Vielleicht hat das aber auch mit den schlechten Erfahrungen zu tun, die Maurice Sendak mit seinen Eltern gemacht hat - oder ich mit meinen, wodurch ich, verursacht durch das Regulativ meines Unbewussten, gar nicht anders konnte, als elternfreie Bücher auszuwählen. So oder so - ganz an der Oberfläche: Kinderbücher, in denen Eltern vorkommen, haben eine leichte Inklination zum Öden. Oder: Wo Imaginationsvermögen libidinös besetzt wird, haben Eltern nichts verloren. Ja, vorlesen dürfen sie, in Ordnung. Mütter in Kinderbüchern sind also öd, Väter ebenso, und Großmütter, muss man sagen, sind, sofern sie nicht Räder haben oder sich in Apfelbäumen aufhalten, auch nicht das Schärfste. Anders in »Der Räuber Hotzenplotz« (von Otfried Preußler).
Die Geschichte beginnt damit, dass Kasperls Großmutter auf der Bank vor ihrem Häuschen in der Sonne sitzt. Zwischen ihren gespreizten Beinen hält sie eine funkelnagelneue Kaffeemühle (die sie von Kasperl und seinem Freund Seppel zum Geburtstag bekommen hat). Wenn man daran kurbelte, spielte sie »Alles neu macht der Mai«, das war Großmutters Lieblingslied. Seit Großmutter die neue Kaffeemühle hatte, machte ihr das Kaffemahlen solchen Spaß, dass sie doppelt so viel Kaffee trank wie früher. - Großmutter!, möchte man rufen, und ansonsten kommt es, wie es kommen muss: Es knackt im Gebüsch, und Großmutter rückt verwundert an ihrem Zwicker. Vor ihr stand ein fremder Mann mit einem struppigen schwarzen Bart und einer schrecklichen Hakennase im Gesicht. Auf dem Kopf trug er einen Schlapphut, an dem eine krumme Feder steckte, und in der rechten Hand hielt er eine Pistole. Mit der Linken zeigte er auf Großmutters Kaffeemühle. »Her damit, sage ich!« Großmutter wehrt sich eine Weile, dann sieht sie, dass in dem breiten Ledergürtel des Mannes ein Säbel und sieben Messer steckten. Sie erblasst und ihr Widerstand schwindet. Dann hebt der Mann auch noch die Pistole und richtet sie auf sie. Da tat Großmutter einen tiefen Seufzer und gab sie ihm. Was hätte sie sonst auch tun sollen? Der Räuber nimmt das großmütterliche Wunderding an sich und lässt es in seinem Schnappsack (!) verschwinden. Danach trägt er Großmutter auf, bis 199 zu zählen, dann dürfe sie seinetwegen um Hilfe rufen. Der Räuber verschwindet, nicht ohne ihr zum Abschied ein letztes Mal seine Pistole unter die Nase gehalten zu haben. Großmutter braucht eine gute Weile, bis sie zu zählen beginnen kann, und in der Aufregung verzählte sie sich so oft, dass sie mindestens ein Dutzend Mal wieder von vorne anfangen musste. Am Schluss tut sie dann doch, was sich für eine Dame in einer derartigen Situation geziemt: Sie stößt einen gellenden Hilferuf aus und fällt in Ohnmacht. Kein Kommentar, ist man versucht zu sagen und möchte die Großmutter und Herrn Hotzenplotz am liebsten mit ihrer gemeinsam geteilten Erfahrung allein lassen. Das geht denn doch nicht. Das Über-Ich verlangt nach seinem Recht. Die Obrigkeit muss her. Wachtmeister Dimpfelmoser kommt mit Pickelhaube und Polizeisäbel und schreibt die ganze Sache auf. Wir nehmen unsererseits zu Protokoll, dass es sich bei Großmutter anscheinend um ein ziemlich schlecht getarntes Objekt ödipalen Begehrens vonseiten des Kasperl-Seppel-Duos handelt, samt dazugehöriger Kaffeemühle, wohingegen dieser Hotzen plotz vermutlich in Personalunion beides repräsentiert, sowohl die abgewehrten sexuellen Triebimpulse Kasperl-Seppels, die extern in einen echten wilden Kerl hineingetan werden müssen, als auch den väterlichen Feind, der massiv mit Waffen und schlechten Eigenschaften ausgestattet werden muss, um ihn gleichermaßen massiv bekämpfen zu können. Dass in diesem »sowohl als auch« unübersehbar ein Ansatz von Identifikation und damit der Beginn der Lösung der ganzen Geschichte steckt, entgeht uns nicht.
Sie, die ganze Geschichte, kann ich jetzt nicht erzählen, dafür ist sie zu lang. Außerdem kennen Sie sie ohnehin alle. Bleiben wir also kursorisch-metaphorisch und zum Beispiel bei den Anfängen. Im zweiten Band, »Neues vom Räuber Hotzenplotz «, hat Großmutter zwar längst ihre Kaffeemühle wiederbekommen, dreht aber grad nicht an der Kurbel, sondern tut, was brave, anständige Großmütter so tun, sie kocht. Genauer, sie kocht, weil sie ja, noch einmal, ein schlecht getarntes Objekt ödipalen Begehrens ist, selbstverständlich für das Kasperl-Seppel- Duo, und sie kocht - hat sie doch in der Symbolik-Stunde »Was kochen Objekte ödipalen Begehrens ihren Verehrern am besten?« gut aufgepasst - Bratwürste mit Sauerkraut. Wie es der Triebteufel so haben will, beschlägt ihr Zwicker just in jenem Augenblick, in dem der Räuber Hotzenplotz, unzulässigerweise in der Uniform des Wachtmeisters Dimpfelmoser, bei der Tür hereinkommt. Die Verwechslung will also geschehen, zumindest optisch, gibt es doch im ganzen Städtchen keinen einzigen Menschen außer dem Wachtmeister, der einen blauen Rock mit silbernen Knöpfen besitzt. Akustisch ist es ein wenig anders. Die Stimme kam Großmutter zwar bekannt vor, doch es war nicht Herrn Dimpfelmosers Stimme. »Wer kann das wohl sein?«, überlegte sie. Und vor lauter Überlegen vergaß sie vollkommen, den Zwicker abzuwischen und wieder aufzusetzen. Langes Überlegen kann im Angesicht triebhaften Begehrens nur schlecht sein, ist man versucht zu schließen, und zum Verhalten der Großmutter möchte man meinen, da wäre sie doch besser gleich bei der Variante mit der Kaffeemühle geblieben. Hotzenplotz hat jedenfalls durch die Uniform-Verkleidung - die, so nebenbei, bereits eine zumindest rudimentäre Identifikation mit dem Arm des Gesetzes bedeutet - sein Aufgebot an phallischen Symbolen von zehn (steife Feder, Pfefferpistole, Räubersäbel, sieben Messer) in bemerkenswert radikaler Weise auf zwei, den Polizeisäbel und den Pickel der Pickelhaube, reduziert (die mächtige Hakennase im bärtigen Gesicht rechnen wir nicht ein; keiner kann im Ernst verlangen, dass er sie sich plastisch wegkorrigieren lässt). Andererseits ist er halt immer noch ein Räuber, außerdem frisch aus dem Gefängnis entlassen und daher triebbefriedigungsmäßig ziemlich unterversorgt. Er lässt also die Würste nicht im Kraut, sondern vertilgte sie ratzeputz, dass es nur so schnurpste. Es waren im ganzen neun Stück. Neun Stück, da sind wir wieder ziemlich im Bereich des metaphorischen Plansolls, wobei über das Gewicht von Bratwürsten im Vergleich zu Messern und Pfefferpistolen gesondert zu diskutieren wäre. Hotzenplotz nötigt Großmutter jedenfalls, bei der ganzen Aktion, die am Ende auch nicht ohne Befleckung des Tischtuches abgeht, am Tische sitzend zuzuschauen. Purer Sadismus, mag man einerseits sagen, andererseits könnten diejenigen, die mit ihren Sympathien schon eindeutig ins Lager des Räubers übergelaufen sind, darauf verweisen, es könne sich dabei genauso gut um etwas wie ein externalisiertes Sublimierungsfragment handeln.
Die Großmutter selbst scheint sich ihrer Funktion als abgespaltene und ausgelagerte Kulturleistung des wilden Mannes bewusst zu sein, bleibt sie doch gesittet sitzen, bis er fertig ist. Erst dann fällt sie in Ohnmacht.
Kasperl und Seppel dürften übrigens ahnen, was läuft, denn sie verdächtigen zuerst einmal Großmutter selbst, sich die Würste zu Gemüte geführt zu haben. So völlig falsch liegen sie dabei nicht, ist man versucht zu sagen, vor allem, wenn man den Beginn von »Hotzenplotz 3« kennt. Großmutter macht sich an einem schönen Herbsttag ans Wäscheaufhängen, als der wegen guter Führung vorzeitig aus dem Gefängnis entlassene und inzwischen völlig geläuterte Hotzenplotz zwischen den Büschen auftaucht. Als einziges Epitheton seiner triebhaften Räuberexistenz trägt er übrigens jene krumme Feder am Hut; keine Pfefferpistole mehr, keine Messer, kein Säbel; auch keine Würste weit und breit. Ob Großmutter das passt, weiß man vorerst nicht so recht. »Sind Sie schon wieder einmal in meinem Garten, Herr Hotzenplotz?«
Der Räuber nickte und wollte aus seinem Versteck hervorkommen. Großmutter griff nach dem Sack mit den Wäscheklammern. »Keine Bewegung!«, rief sie, »sonst haue ich Ihnen den Klammernsack um die Ohren, dass Sie in keinen Hut mehr hineinpassen - Hände hoch!« Hotzenplotz konnte nicht ahnen, dass Großmutter neuerdings vor dem Einschlafen immer Räubergeschichten las. Bitte sehr, die Dame macht sich schlau. Jemand, der Räubergeschichten liest, interessiert sich für Räuber, und jemandem, der selbiges vor dem Einschlafen immer tut, ist wohl vor allem an der libidinösen Besetzung des eigenen Räuberimaginationsvermögens gelegen. Wenn dann der reale Bösewicht wegen guter Führung vorzeitig entlassen wird und sozusagen sämtliche erektilen Teile auf dem Schrott lässt, wirft das alles großmütterlich Imaginierte gründlich durcheinander. Großmutter reagiert dementsprechend, überlistet den Hoffentlich-noch-Räuber mittels eines reichlich plumpen Zwicker-Tricks und sperrt ihn in die Waschküche. Weshalb sie dann trotzdem in Ohmacht fällt, bleibt ein wenig rätselhaft. Vielleicht sind es ihre Phantasien darüber, was sie mit dem unter Verschluss genommenen Maskulinum jetzt tun könnte, die sie (buchstäblich) übermannen und schwummerig werden lassen: Kaffee mahlen, Bratwürste mit Sauerkraut kochen, et cetera, et cetera. Vielleicht ist das mit der Ohnmacht inzwischen auch ganz einfach Gewohnheit geworden. Hotzenplotz, metaphorologisch zu Ende gebracht: Großmütter haben unklare Beziehungen zu Räubern; Räuber haben unklare Beziehungen zu Zauberern mit gleich langen Nasen, aber viel längeren Zaubererhüten; froschartige Amphibien werden in schöne Feen mit floralen Namen verwandelt; Polizeiwachtmeister wickelt man mehrmals in lange Feuerwehrschläuche und Hotzenplotze sperrt man am liebsten in Spritzenhäuser. Den Zauberer Zwackelmann bringt letztlich der Absturz seines Zauberstabes um, und die Witwe Schlotterbeck, die aus Kristallkugeln liest, sieht, wenn man ehrlich ist, ein wenig aus wie eine in die Jahre gekommene Dame aus dem horizontalen Gewerbe. Dass sie mit Vorliebe dicke Zigarren raucht, räumt man ihr als kleine metaphorische Reminiszenz gerne ein.
Wie sich das auf der metaphorischen Ebene schließlich mit den Kopfbedeckungen von Kasperl und Seppel verhält, ist sowieso eines der großen ungelösten Rätsel dieser Welt. Sind Zipfelmütze und Seppelhut, jene symbiotischen Symbolzwillinge, in erster Linie als die beiden Bauteile des männlichen Geschlechtsorganes zu verstehen oder doch als seine beiden bekannten Daseinszustände: lang, kurz? Keiner kann es sagen. Am Ende sitzen jedenfalls alle um einen Tisch, einträchtig, und Pickelhaube, Räuberhut mit steifer Feder und Säbel hat man ein wenig zwänglich auf den Kleiderständer hinsublimiert. Alles ist klar. Hotzenplotz wird Frau Schlotterbeck nehmen, Läuterung hin oder her, die Halbwelt ist schließlich immer schon lieber unter sich geblieben, und die Großmutter wird sich wohl oder übel an den Wachtmeister halten und am Abend im Bett ihre Räubergeschichten lesen.
Andere Menschen haben es nicht notwendig, am Abend im Bett Räubergeschichten zu lesen. Etwa Menschen, die mit ihren Geräuschen Mickys und Maxe zu allerlei Reisen veranlassen, oder zum Beispiel Astrid Lindgrens »Pippi Langstrumpf«. (Pippi ist die Größte, ohne Frage, und daher ist es gut, mit ihr aufzuhören.)
Pippi Langstrumpf tut erstens am Abend im Bett, was man als anständiger Mensch dort vor allem tut, nämlich schlafen. Und zwar schläft sie so, wie die Leute in Guatemala es tun, die Füße auf dem Kopfpolster und den Kopf tief unter der Decke. Zweitens braucht sie sowieso keine Räubergeschichten, denn sie rupft ihr Hühnchen mit Räubern in der Realität, das heißt, sie fesselt diejenigen, die an ihre Schatztruhe wollen, und setzt sie hoch auf Kästen, und wenn sie dann ganz artig geworden sind, schenkt sie ihnen ein Goldstück. Dass Pippi unter der Decke liest, ist übrigens eher unwahrscheinlich, wo sie doch von der Verschriftlichung von Dingen insgesamt nicht allzu viel hält und außerdem zum Beispiel den Buchstaben I noch nicht beherrscht.
Libidinöse Besetzung des Eigenen im Sinne der Individuation war das Stichwort, speziell die libidinöse Besetzung des eigenen Imaginationsvermögens. Wenn es jemanden gibt, der uns genau das, libidinöse Besetzung des Eigenen im Sinne der Individuation, fulminant vorführt, so ist es Pippi Langstrumpf. Lustvoll wird gedacht, geturnt, gedichtet, geklettert, geputzt, geflunkert, werden Kekse gebacken und hohle Bäume erforscht, werden Lehrerinnen genervt und böse Buben auf Äste gehängt. Lustvoll wird im Zirkus der »schdarke Adolf« vermöbelt, und das ist eine winzige historische Fußnote wert, wurde das Buch doch in den Jahren 1943 und 44 geschrieben. Symbolisch stellt wohl nichts besser Pippis polyvalente libidinöse Energie dar als die Villa Kunterbunt, jenes Haus am Rande der kleinen, kleinen Stadt, in dem sie, umgeben von einem verwilderten Garten, einem Affen und einem Pferd, wohnt. Alles ist ein wenig schief und zugleich ziemlich geheimnisvoll, das Wasser kommt aus einer Gießkanne, die auf der Veranda hängt, gescheuert wird einmal im Jahr (vielleicht), und wenn einem danach ist, spielt man drinnen »Boden nicht berühren « - was ohne Zweifel einer Vorstufe des Fliegens gleichkommt. Die Eltern sind weg, das fällt auf, ist doch Pippi erst neun; allerdings sollten die Eltern auch weg sein, das wurde uns eben erst eingeredet. Pippi hatte keine Mutter und keinen Vater und eigentlich war das sehr schön, denn so war niemand da, der ihr sagen konnte, dass sie zu Bett gehen sollte, gerade wenn sie mitten im schönsten Spiel war, und niemand, der sie zwingen konnte, Lebertran zu nehmen, wenn sie lieber Bonbons essen wollte. Das sieht man ein; die Art und Weise, in der die Eltern weggetan werden, ist freilich bemerkenswert. Die Mutter sei gestorben, heißt es, als Pippi noch ein ganz kleines Ding war, das in der Wiege lag und so furchtbar schrie, dass es niemand in ihrer Nähe aushalten konnte. Pippi glaubte, dass ihre Mutter nun oben im Himmel sei und durch ein kleines Loch auf ihr Kind runterschaute, und Pippi winkte oft zu ihr hinauf und sagte: »Hab keine Angst um mich! Ich komm schon zurecht!« Pippis Vater ist Schiffskapitän, segelt über die Meere, und Pippi glaubt, er sei inzwischen König über alle (Pippi sieht man die politisch unkorrekte Formulierung nach) Neger geworden. »Meine Mama ist ein Engel und mein Papa ist ein Negerkönig. Es gibt wahrhaftig nicht viele Kinder, die so feine Eltern haben!«, pflegte Pippi sehr stolz zu sagen. »Und wenn mein Papa sich nur ein Schiff bauen kann, dann kommt er und holt mich, und dann werde ich eine Negerprinzessin.« Astrid Lindgren hat offenbar ihren Freud gelesen.
An dieser Stelle, wie an vielen anderen auch, kommt es übrigens zu dem Phänomen, dass durch Metaphern (Engel im Himmel, Negerkönig auf einer fernen Insel) Imaginationsräume eröffnet werden, die es letztlich nicht so wesentlich machen, ob Pippis Mutter tatsächlich tot ist oder nur von ihr wegimaginiert wurde. Die Metapher bewirkt beides - sie macht einerseits den Tod der Mutter erträglich und sie erlaubt es - umgekehrt -, die Mutter sterben zu lassen. In diesem Sinn besitzt sie eine Brückenfunktion und tut, was sie verspricht: metapherein - hinübertragen.
Apropos Metapher: Man könnte jetzt natürlich über die Frage reden, was es eigentlich mit diesen Strümpfen auf sich hat und mit den Strumpfbändern, die Pippi ständig trägt, und ob es sich bei einem langen Strumpf primär um ein Ding handelt, das dazu da ist, dass ein anderes langes Ding, also ein Bein, in es hineingetan wird, geradeso wie beim Schwert und der ... Hülse. Man könnte auch über die Rolle von Thomas und Annika als Repräsentanten sowohl von Über-Ich-Anteilen als auch von abgespaltenen Ängsten reden oder über die Frage: Wofür stehen eigentlich Herr Nilsson, das Äffchen, und der Gute Onkel, das Pferd? Man kann allerdings auch noch ganz geschwind über eine andere, metaphorisch höchst sonderbare Sache reden, den Spunk. Als Thomas und Annika eines Morgens zu Pippi kommen, saß sie mitten auf dem Küchentisch mit Herrn Nilsson, dem kleinen Affen, im Arm und einem glücklichen Lächeln auf den Lippen. (...) »Stellt euch vor«, sagte Pippi, »stellt euch bloß mal vor, dass ich es gefunden habe! Gerade ich und niemand anders!« Was hat Pippi gefunden? »Ein neues Wort«, sagte Pippi, »ein funkelnagelneues Wort. (...) Ein wunderschönes Wort, eins der besten, die ich je gehört habe. (...) Spunk!« »Spunk?«, fragte Thomas, »was bedeutet das?« »Wenn ich das bloß wüsste«, sagte Pippi, »das Einzige, was ich weiß, ist, dass es nicht Staubsauger bedeutet.«
Sie denkt nach: Ist ein Spunk die oberste Spitze einer blau angestrichenen Fahnenstange? Oder das Geräusch, wenn einem der Matsch zwischen den Zehen hochquillt? Ist Spunk teuer? Schmeckt er gut? Schließlich starten Pippi und ihre Freunde eine kleine Spunkfindungs-Expedition. Spunk sei ausverkauft, behauptet das Fräulein in der Konditorei, das noch nie etwas von Spunk gehört hatte, aber nicht zugeben wollte, dass ihr Geschäft nicht eine ebenso gute Auswahl hatte wie alle anderen. Der Eisenwarenverkäufer verwechselt Spunk mit einer Harke, und der Doktor meint, nein, Spunk sei in diesem Fall nicht zu diagnostizieren, und selbst wenn es so eine Krankheit gäbe, würde sie Pippi unter Garantie nicht befallen. Nachdem Spunk auch kein aus dem Zoo entwichenes wildes Tier ist, wie zwei erschrockene Damen vermuten, beschließen die drei Freunde, wieder nach Hause zu reiten. Sie hocken ein wenig ratlos auf der Veranda, als es passiert. Über Pippis Gesicht breitete sich ein seliges Lächeln. »Ich weiß, das ist ein Spunk.« »Bist du ganz sicher?«, fragte Thomas. »Glaubst du etwa nicht, dass ich einen Spunk erkenne, wenn ich einen vor mir hab? Hast du jemals im Leben etwas derartig Spunkartiges gesehen?« Was ist nun ein Spunk? Was hat Pippi da vor sich? Einen kleinen grünlich metallischen Käfer. »Mein lieber kleiner Spunk«, sagte Pippi zärtlich, »(...) wir sind in der ganzen Stadt herumgejagt, um einen Spunk zu finden, und dann ist er die ganze Zeit direkt vor der Villa Kunterbunt gewesen.« Sehr fein. Ein Begriff findet seine Bedeutung, ein Ding erhält einen Namen. Wir befinden uns somit am Schnittpunkt von Semiotik und Hermeneutik, dort wo angeblich die Metapher entsteht. Schön für die Metapher, aber was hat Spunk nun mit unserem Thema zu tun? - Libidinöse Besetzung des Eigenen, in Ordnung - Sprache, Imaginationsfähigkeit, auf Pferden herumreiten. Aber sonst? Was bedeutet »Spunk« eigentlich? - Im Deutschen gar nichts; auch im Schwedischen und in den anderen skandinavischen Sprachen ist es nicht verzeichnet. Im Englischen allerdings wird man fündig. Im »Oxford Dictionary« lesen wir: »spunk - Mut, Mumm«, im großen Wörterbuch von »Collins«: »spunk - Mut, Mumm, Courage (im britischen Slang: Soße)«, und im »Wordsworth Dictionary of Sex« schließlich: »spunk - a slang term for semen (which has subsequently come to mean also courage)«, ein Mundartausdruck für Sperma also, der in der Folge auch die Bedeutung Mut, Mumm, Courage erhalten hat. Jetzt wissen wir, was Pippi dermaßen in Verzückung versetzt. Soße. Sperma. Quatsch!, ist man versucht zu sagen, Pippi mag wissen, dass man in Guatemala verkehrt herum im Bett liegt und dass in den Schulen Australiens den ganzen Tag »Lustifikation « auf dem Stundenplan steht, aber Slangausdrücke für Sperma kennt sie mit Sicherheit genauso wenig wie ihre jungen Leser. Na gut. Mit der Stoa und einem ihrer Zentralbegriffe, dem »logos spermatikos«, dem Leben spendenden Wort, wird sich auch nicht sie, sondern höchstens Astrid Lindgren beschäftigt haben. Freud hat sie, Pippi, nicht gelesen und Sophokles noch weniger. Was sie allerdings da ab Seite 249 mit ihrem Vater aufführt, der ihr im Baströckchen gegenübertritt, die Königskrone auf dem Kopf und den Speer in der Hand - na schau dir das an! Ob das mit Wiedersehensfreude allein zu erklären ist? Am Ende beißt sie ihn sogar in die Nase! Schluss! Ich vertraue auf die libidinöse Besetzung Ihrer Imaginationsfähigkeit, meine Damen und Herren, und darauf, dass Sie bei nächster Gelegenheit nachblättern werden. Ansonsten müsste ich Ihnen die Sache ja vorlesen, und dafür ist jetzt wirklich keine Zeit mehr.
© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag, Wien
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Autoren-Porträt von Paulus Hochgatterer
Paulus Hochgatterrer, geboren 1961 in Amstetten/Niederösterreich, lebt als Kinderpsychiater und Schriftsteller in Wien. 2009 erhielt er den ersten "EU-Literaturpreis" und 2011 den Österreichischen Kunstpreis für Literatur.
Bibliographische Angaben
- Autor: Paulus Hochgatterer
- 2012, 205 Seiten, Maße: 13,3 x 20,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Deuticke
- ISBN-10: 3552061827
- ISBN-13: 9783552061828
- Erscheinungsdatum: 06.02.2012
Rezension zu „Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe “
"Paulus Hochgatterers Betrachtungen über die schöne Kunst des Schreibens sind kurzweilige Erzählungen, gespickt mit Anekdoten und Erinnerungen an die eigene Kindheit." Kristina Pfoser, Ö1, 01.02.2012"Neidlos muss man anerkennen: Paulus Hochgatterer ist offenbar nicht nur ein toller Schriftsteller, sondern auch ein hervorragender Redner." Wolfgang Huber-Lang, APA, 08.02.2012
"Der Band ist weit mehr als eine Sammlung von Gelegenheitsschriften. Alle Texte balancieren an der Grenze von Essays und Erzählung - und sind damit selbst ein Stück Literatur." Cornelius Hell, Die Presse, 03.03.2012
"Der Österreicher kann erzählen, und wie er das kann! Er schwärmt, er liebt, er lamentiert, er greift an, ohne eine Spur von Langweilertum. ... Seine Essays über die Kindheit sind ein Riesenglück, denn sie sind verdammt lustig, verdammt ernst und verdammt schmerzhaft." Martin Becker, WDR2 Passagen, 27.03.2012
Kommentar zu "Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe"
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