Bastard / Kay Scarpetta Bd.18
Ein Kay-Scarpetta-Roman
Ein junger Mann bricht unvermittelt auf der Straße zusammen und stirbt. Im Gerichtsmedizinischen Institut von Dr. Kay Scarpetta stellt man rätselhafte Blutungen an der Leiche fest. Die einzig denkbare Erklärung: Der Mann hat bei der...
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Produktinformationen zu „Bastard / Kay Scarpetta Bd.18 “
Ein junger Mann bricht unvermittelt auf der Straße zusammen und stirbt. Im Gerichtsmedizinischen Institut von Dr. Kay Scarpetta stellt man rätselhafte Blutungen an der Leiche fest. Die einzig denkbare Erklärung: Der Mann hat bei der Einlieferung noch gelebt und ist erst im Kühlraum erfroren. Ein Skandal, der Kay Scarpettas Karriere für immer beenden könnte.
Klappentext zu „Bastard / Kay Scarpetta Bd.18 “
Ein junger Mann bricht auf der Straße zusammen und stirbt. Alles deutet auf einen Herzinfarkt hin. Doch im gerichtsmedizinischen Institut von Dr. Kay Scarpetta stellt man rätselhafte Blutungen an der Leiche fest. Die einzig denkbare Erklärung: Der Mann hat bei der Einlieferung noch gelebt und ist im Kühlraum jämmerlich erfroren. Ein Skandal, der Kay Scarpettas Karriere für immer beenden könnte ...
Lese-Probe zu „Bastard / Kay Scarpetta Bd.18 “
Bastard von Patricia Cornwell1
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In der Umkleidekabine für Mitarbeiterinnen werfe ich meinen schmutzigen OP-Anzug in den Eimer für kontaminierte Wäsche und ziehe meine restlichen Sachen und die Arztpantoffeln aus. Dabei frage ich mich, ob das Namensschild Colonel Scarpetta an meinem Spind wohl entfernt werden wird, sobald ich morgen früh nach Neuengland zurückgekehrt bin. Dieser Gedanke gefällt mir gar nicht. Denn eigentlich will ich nicht weg von hier.
Trotz der harten Ausbildung und der traurigen Tatsache, dass ich im Auftrag der amerikanischen Regierung täglich mit dem Tod zu tun hatte, hat das Leben auf dem Luftwaffenstützpunkt Dover auch seine Vorteile. Mein Aufenthalt ist erstaunlich ereignislos, ja sogar angenehm verlaufen. Ich werde
es vermissen, vor Morgengrauen in meinem spartanisch eingerichteten Zimmer aufzustehen, in eine Cargohose, ein Polohemd und Stiefel zu schlüpfen und durch Dunkelheit und Kälte quer über den Parkplatz zum Clubhaus am Golfplatz zu gehen, einen Kaffee zu trinken und etwas zu essen und anschließend mit dem Auto in ein Rechtsmedizinisches Institut zu fahren, in dem ich nichts zu sagen habe. Solange ich für den Armed Forces Medical Examiner (AFME), den obersten Rechtsmediziner der Streitkräfte, tätig bin, übe ich keine Leitungsfunktion aus. Eine ganze Reihe von Leuten steht in der Hierarchie über mir, weshalb ich nicht befugt bin, Entscheidungen von größerer Tragweite zu fällen, vorausgesetzt, ich werde überhaupt gefragt. Ein himmelweiter Unterschied zu Massachusetts, wo sich alle auf mich verlassen.
Es ist Montag, der 8. Februar. Die Wanduhr über den blitzblanken weißen Waschbecken zeigt 16:33. Die Zahl blinkt rot wie ein Warnsignal. In knapp neunzig Minuten soll ich bei CNN vor der Kamera stehen, um zu erklären, was ein forensischer Pathologieradiologe ist, warum ich mich dazu habe ausbilden lassen und welche Rolle der Luftwaffenstützpunkt in Dover, das Verteidigungsministerium
und das Weiße Haus dabei spielen. Ich bin inzwischen eine Mischung aus Rechtsmedizinerin und Reservistin beim AFME.
Seit den Anschlägen vom 11. September, dem amerikanischen Einmarsch im Irak und dem Truppeneinsatz in Afghanistan - um mich für die Sendung vorzubereiten, gehe ich in Gedanken die einzelnen Punkte durch, die ich nicht vergessen darf -, ist die Grenze zwischen dem militärischen
und zivilen Bereich wohl für immer durchlässig geworden. Nur eines der Beispiele, die ich vielleicht anführen werde:
Im letzten November wurden innerhalb von achtundvierzig Stunden dreizehn gefallene Soldaten aus dem Nahen Osten eingeflogen. Ebenso viele Tote wurden aus Fort Hood, Texas, hergebracht. Das Massensterben beschränkt sich also nicht mehr nur auf das eigentliche Schlachtfeld. Das Schlachtfeld
kann überall sein: unser Zuhause, unsere Schulen, unsere Kirchen und Passagiermaschinen, die Orte, wo wir arbeiten, einkaufen und Urlaub machen.
Ich krame in meinem Kosmetikkoffer und sortiere dabei noch einmal im Kopf meine Anmerkungen zu Themen wie 3D-bildgebende Radiologie, Magnetresonanztomographie und Computertomographie im Autopsiesaal. Außerdem darf ich nicht versäumen, zu betonen, dass mein neues Institut in Cambridge, Massachusetts, zwar als erste zivile Einrichtung in den Vereinigten Staaten virtuelle Autopsien durchführt, Baltimore jedoch als Nächstes folgen wird - ein Trend der Zukunft also. Die traditionelle Obduktion, bei der man munter drauflosschneidet, anschließend fotografiert und
hofft, dass man weder etwas vergessen noch selbst Spuren hinterlassen hat, wird dank entsprechender moderner Technologien erheblich effizienter und genauer werden. Und genau so sollte es auch sein.
Ich bedaure, dass ich heute Abend nicht in World News auftreten werde, denn eigentlich würde ich dieses Gespräch lieber mit Diane Sawyer führen. Dass ich so häufig bei CNN zu sehen bin, bringt nämlich ein Problem mit sich: Wer zu bekannt ist, wird oft nicht mehr ernst genommen. Daran hätte
ich früher denken müssen. Das Interview könnte, wie mir plötzlich einfällt, ins Persönliche abgleiten, eine Gefahr, die ich gegenüber General Briggs hätte erwähnen sollen. Ebenso den Zwischenfall am heutigen Vormittag, als die aufgebrachte Mutter eines toten Soldaten mich am Telefon beschimpft,
mich der Diskriminierung beschuldigt und gedroht hat, sich mit ihren Beschwerden über mich an die Medien zu wenden.
Metall auf Metall, es knallt wie ein Schuss, als ich die Tür meines Spinds schließe. In der Hand einen Plastikkorb mit Olivenöl-Pflegeshampoo, einem Peeling aus fossilen Meeresalgen, einem Damenrasierer, einer Dose Rasiergel für empfindliche Haut, Flüssigseife, einem Waschlappen, einer Mundspülung, Zahnbürste, Nagelbürste und einem parfümierten Neutrogena-Öl, gehe ich über die hellbraunen Fliesen, die sich unter meinen nackten Füßen stets kühl anfühlen. In einer offenen Kabine baue ich meine Sachen in Reih und Glied auf dem gekachelten Sims auf und stelle das Wasser so heiß ein, wie ich es gerade noch aushalte. Ein harter Strahl prasselt auf mich herunter, während ich meinen Körper bewege, damit er mich auch überall erreicht. Erst hebe ich den Kopf, dann blicke ich zu Boden auf meine blassen Füße.
In der Hoffnung, dadurch meine angespannten Muskeln ein wenig zu lockern, lasse ich das Wasser meinen Nacken und meinen Hinterkopf bearbeiten. Dabei überlege ich, was ich heute Abend anziehen soll.
General Briggs - oder John, wie ich ihn nenne, wenn wir allein sind - möchte, dass ich Fliegerkleidung oder besser noch die blaue Uniform der Air Force trage. Ich bin dagegen und plädiere für Zivil, denn so kennen mich die Zuschauer von den meisten Fernsehinterviews her. Am besten ein schlichtes, dunkles Kostüm, eine elfenbeinfarbene Bluse mit Kragen und die dezente Breguet-Uhr mit Lederarmband, ein Geschenk meiner Nichte Lucy. Nicht die Blancpain mit dem überdimensionalen schwarzen Zifferblatt und der Keramikfassung, ebenfalls von Lucy, die ein Faible für technisch aufwendige und teure Uhren hat. Keine Hose, sondern Rock und Pumps, damit ich nicht bedrohlich und zugänglich wirke, ein Trick, den ich vor langer Zeit im Gerichtssaal gelernt habe.
Aus mir unbekannten Gründen wollen die Geschworenen meine Beine sehen, während ich tödliche Verletzungen und die qualvollen letzten Lebensminuten eines Opfers in allen drastischen anatomischen Einzelheiten schildere. Briggs wird mit meiner Garderobe unzufrieden sein. Doch wie ich ihm gestern Abend - im Fernsehen lief Baseball - bei ein paar Drinks erklärt habe, sollte ein Mann einer Frau nicht sagen, was sie anzuziehen hat. Außer er hieße Ralph Lauren.
Ein Luftzug durchdringt den Dampf in meiner Duschkabine, und ich glaube jemanden gehört zu haben. Sofort fühle ich mich gestört. Es könnte jede x-Beliebige sein. Eine Militärangehörige
- Ärztin oder nicht -, die berechtigt ist, sich in dieser streng zugangsbeschränkten Einrichtung aufzuhalten, auf die Toilette muss, ein Desinfektionsmittel braucht oder sich umziehen möchte. Ich denke an die Kolleginnen, mit denen ich gerade im großen Autopsiesaal zusammen war, und habe den Verdacht, dass es wieder einmal Captain Avallone ist. Sie hat sich den Großteil des Vormittags während der Computertomographie wie eine Klette an mich geheftet, als ob ich nach all den Lehrgängen nicht wüsste, wie man diese Untersuchung durchführt. Den restlichen Tag ist sie um meinen Arbeitsplatz geschlichen. Bestimmt ist sie gerade hereingekommen. Ich bin sogar ziemlich sicher, und ich spüre, wie Abneigung in mir aufsteigt. Verschwinde.
»Dr. Scarpetta?«, ruft ihre vertraute Stimme, die ohne Ausdruck und Leidenschaft ist und mich überallhin zu verfolgen scheint.
»Ein Anruf für Sie.«
»Ich habe gerade erst angefangen zu duschen«, überschreie ich das laute Wasserrauschen.
Auf diese Weise will ich ihr mitteilen, dass sie mich in Ruhe lassen soll. Bitte, ein kleines bisschen Privatsphäre. Ich möchte jetzt weder Captain Avallone noch sonst jemanden sehen. Und das liegt nicht daran, dass ich nackt bin.
»Tut mir leid, Ma'am. Aber Pete Marino will Sie unbedingt sprechen.«
Ihre gefühllose Stimme kommt näher.
»Dann muss er eben warten«, erwidere ich.
»Er sagt, es sei wichtig.«
»Können Sie ihn nicht fragen, was er will?«
»Er sagt nur, dass es wichtig ist, Ma'am.«
Ich verspreche, ihn so bald wie möglich zurückzurufen. Vermutlich klinge ich unhöflich, aber ich kann nicht immer charmant sein, auch wenn ich die besten Absichten habe. Pete Marino ist der Ermittler, mit dem ich mein halbes Leben lang zusammengearbeitet habe. Hoffentlich ist zu Hause nichts Schlimmes geschehen. Nein, wenn es ein Notfall wäre, würde er dafür sorgen, dass ich es sofort erführe. Wenn meinem Mann Benton oder Lucy etwas zugestoßen wäre oder es im
Cambridge Forensic Center, zu dessen Leiterin ich ernannt worden bin, ein ernstes Problem gegeben haben sollte, hätte Marino mir nicht einfach ausrichten lassen, dass er am Apparat und dass es wichtig sei.
Ich öffne weit den Mund, um den Geschmack nach verwesendem und verbranntem Menschenfleisch loszuwerden, der sich in meiner Kehle festgesetzt hat. Die Dampfwellen treiben mir den Gestank der Leiche, an der ich heute gearbeitet habe, bis tief in die Nebenhöhlen; Moleküle verfaulender Biomasse wirbeln um mich herum durch die Dusche. Ich schrubbe mir die Fingernägel mit antibakterieller Seife aus einer Flasche. Dasselbe Mittel benutze ich auch fürs Geschirr oder um an einem Tatort meine Stiefel zu desinfizieren. Dann putze ich Zähne, Zahnfleisch und Zunge mit Listerine-Mundspülung. Ich reinige mir die Nasenlöcher, so tief, wie ich hineinkomme,
schrubbe jeden Zentimeter meiner Haut ab und wasche mir anschließend nicht nur einmal, sondern zweimal die Haare. Doch der Geruch ist immer noch da. Es gelingt mir einfach nicht, ihn loszuwerden.
Der tote Soldat, um den ich mich gerade gekümmert habe, hieß Peter Gabriel, wie der Rockstar, nur dass dieser Peter Gabriel Private First Class, also Gefreiter, in der Army und noch nicht einmal einen Monat in der nordwestafghanischen Provinz Badghis im Einsatz gewesen ist, als ein am Straßenrand
deponierter Sprengsatz - zusammengebastelt aus einem Stück Abwasserrohr aus Plastik, vollgestopft mit C4-Plastiksprengstoff und verschlossen mit einer Kupferplatte - die Panzerung seines Humvee durchdrang, so dass es im Fahrzeuginneren geschmolzene Metallteile hagelte.
PFC Gabriel hat mich den Großteil meines letzten Tages hier in diesem riesigen, hochtechnisierten Institut in Anspruch genommen.
Der AFME befasst sich häufig mit Fällen, bei denen die Öffentlichkeit nie an uns denken würde: dem Attentat auf John F. Kennedy, den jüngsten DNA-Analysen der Zaren-Familie Romanow und der Mannschaft der C.S.S. H. L. Hunley, des konföderierten U-Boots, das während des Bürgerkriegs gesunken ist. Wir sind eine elitäre, aber kaum bekannte Truppe, deren Anfänge bis ins Jahr 1862 und ins Army Medical Museum zurückreichen, dessen Chirurgen den tödlich verwundeten Abraham Lincoln behandelt und später obduziert haben.
Alles Dinge, die ich bei CNN erwähnen sollte. Ich muss das Positive hervorheben und vergessen, was Mrs. Gabriel mir an den Kopf geworfen hat. Ich bin weder ein Ungeheuer noch eine Heuchlerin. Man darf der armen Frau ihren Zorn nicht zum Vorwurf machen, halte ich mir vor Augen. Immerhin hat sie gerade ihr einziges Kind verloren. Die Gabriels sind Afroamerikaner. Wie würdest du dich an ihrer Stelle fühlen, verdammt? Natürlich bist du keine Rassistin.
Wieder spüre ich, dass jemand im Raum ist. Jemand hat den Umkleideraum betreten, den ich inzwischen mit Nebel gefüllt habe wie ein Dampfbad. Wegen der Hitze habe ich kräftiges Herzklopfen.
»Dr. Scarpetta?«
Captain Avallone klingt nun nicht mehr so zögerlich, sondern eher, als hätte sie bedeutsame Nachrichten.
Ich stelle das Wasser ab, verlasse die Duschkabine und wickle mich in ein Handtuch. Captain Avallone ist ein undeutlich auszumachender Schemen, der im Dunst neben den Waschbecken und den mit Bewegungsmeldern ausgestatteten Händetrocknern verharrt. Ich erkenne nur ihr dunkles Haar, ihre khakifarbene Cargohose und das schwarze Polohemd mit dem aufgestickten gold-blauen Emblem.
»Pete Marino ...«, setzt sie an.
»Ich rufe ihn sofort zurück.«
Ich nehme mir ein zweites Handtuch vom Regal.
»Er ist hier, Ma'am.«
»Was soll das heißen, er ist hier?«
Fast rechne ich damit, dass er wie ein Geschöpf aus grauer Vorzeit im vom Dampf erfüllten Umkleideraum erscheint.
»Er erwartet Sie hinten in der Anlieferungszone, Ma'am«, teilt sie mir mit.
»Er wird Sie nach Eagles Rest fahren, damit Sie Ihre Sachen holen können.«
Sie sagt das, als würde ich vom FBI abtransportiert, weil ich verhaftet oder gefeuert worden bin.
»Ich habe Anweisung, Sie zu ihm zu bringen und Ihnen in jeglicher Hinsicht behilflich zu sein.«
Captain Avallone heißt mit Vornamen Sophia. Sie ist Angehörige der Army, hat gerade die Facharztausbildung zur Radiologin hinter sich und verhält sich stets militärisch korrekt und unterwürfig höflich, während sie sich um mich herumdrückt. Als ich meinen Kosmetikkoffer über den Fliesenboden trage, folgt sie mir auf den Fersen.
»Ich soll erst morgen abreisen, und mit Marino irgendwohin zu fahren war eigentlich nicht geplant«, erwidere ich.
»Ich kümmere mich um Ihr Auto, Ma'am. Soweit ich informiert bin, sollen Sie nicht selbst fahren ...«
»Haben Sie ihn gefragt, worum zum Teufel es geht?«
Ich hole Haarbürste und Deo aus dem Spind.
»Ich habe es versucht, Ma'am«, entgegnet sie.
»Aber er war nicht sehr gesprächig.«
Ein Großraumtransporter C-5 Galaxy im Landeanflug auf Bahn 19 dröhnt über meinen Kopf hinweg. Der Wind weht wie immer aus Süden.
Einer der vielen Grundsätze beim Fliegen, die ich von Lucy, die auch Helikopterpilotin ist, gelernt habe, lautet, dass die Nummern der Landebahnen gemäß ihrer Position auf dem Kompass vergeben werden. 19 steht zum Beispiel für 190 Grad, was bedeutet, dass 01 das entgegengesetzte Ende
ist. Die Gründe für dieses System sind der Bernoulli-Effekt und Newtons Gesetze der Bewegung, also die Geschwindigkeit, mit der Luft über eine Tragfläche streichen muss, und das Starten und Landen mit dem Wind, der in diesem Teil Delawares vom Meer her kommt. Hochdruck- und Tiefdruckgebiete, von Süden nach Norden. Tagein, tagaus bringen die Flugzeuge Leichen und schaffen sie wieder fort, auf einem schwarzgeteerten Band, das wie der Fluss Styx hinter
Port Mortuary verläuft.
Die haifischgraue Galaxy ist so lang wie ein Football-Feld und so gewaltig und schwer, dass sie am blassblauen Himmel mit seinen Federwolken, die die Piloten Stutenschweife nennen, stillzustehen scheint. Ich würde den Flugzeugtyp auch ohne Hinschauen erkennen, und zwar an seinem schrillen
Kreischen und Pfeifen. Inzwischen habe ich Erfahrung mit dem Geräusch von Triebwerken, die einhundertsechzigtausend Pfund Schubkraft erzeugen, und kann eine C-5 oder eine
C-17 schon aus vielen Kilometern Entfernung identifizieren.
Ich weiß auch einiges über Helikopter und Kipprotoren und bin in der Lage, einen Chinook von einem Black Hawk oder einem Osprey zu unterscheiden. Wenn ich bei schönem Wetter ein paar Minuten Zeit habe, setze ich mich auf eine Bank vor meiner Unterkunft und beobachte die Flugmaschinen
von Dover, als wären es exotische Geschöpfe wie Manatis, Elefanten oder prähistorische Vögel. Ich kann von ihrer schwerfälligen Dramatik, ihrem Dröhnen und den Schatten,
die sie im Vorüberfliegen werfen, nicht genug bekommen. Räder berühren, begleitet von Rauchwolken, so dicht in meiner Nähe den Boden, dass ich die Vibration in meinem Inneren spüre, als ich die Anlieferungszone mit ihren vier gewaltigen Toren, der hohen Sichtschutzmauer und den
Notstromgeneratoren durchquere. Dort parkt ein blauer Transporter, den ich noch nie zuvor gesehen habe.
Pete Marino macht keine Anstalten, sich zu rühren, mich zu begrüßen oder mir die Tür aufzuhalten, was alles oder nichts bedeuten kann. Er vergeudet seine Energie nicht mit Umgangsformen.
Solange ich mich erinnern kann, stand Charme oder gar Freundlichkeit bei ihm nie oben auf der Liste. Unsere erste Begegnung in der Gerichtsmedizin von Richmond, Virginia, liegt inzwischen über zwanzig Jahre zurück. Vielleicht habe ich ihn auch am Tatort eines Mordes kennengelernt. Ich weiß
es nicht mehr genau. Ich steige ein und klemme die Reisetasche zwischen die Füße. Mein Haar ist noch feucht vom Duschen. Offenbar findet er, dass ich zum Fürchten aussehe, und bildet sich
schweigend ein Urteil. Das erkenne ich stets an seinen Seitenblicken, mit denen er mich von Kopf bis Fuß mustert und die an gewissen Stellen hängenbleiben, die ihn nichts angehen.
Er mag es nicht, wenn ich meine AFME-Uniform, bestehend aus khakifarbener Cargohose, schwarzem Polohemd und Funktionsjacke, anhabe. Ich glaube, die wenigen Male, die er mich
in dieser Aufmachung erlebt hat, haben ihn eingeschüchtert.
»Wo hast du das Auto geklaut?«, frage ich ihn, während er rückwärts aus der Parkposition rangiert.
»Eine Leihgabe von Civil Air.«
Seine Antwort verrät mir wenigstens, dass Lucy nichts zugestoßen ist.
Der Privatterminal am nördlichen Ende der Startbahn wird von Zivilisten benutzt, die die Genehmigung haben, auf dem Luftwaffenstützpunkt zu landen. Also hat meine Nichte Marino hierhergeflogen, und ich überlege, ob sie mich damit haben überraschen wollen. Sie sind unangekündigt erschienen, um mir den morgigen Linienflug zu ersparen und
mich endlich nach Hause zu bringen. Wunschdenken. Weil das nicht der Grund sein kann, suche ich in Marinos derbem Gesicht nach der Antwort und lasse sein Äußeres auf mich wirken wie bei der ersten Musterung eines Patienten. Turnschuhe, Jeans, eine mit Fleece gefütterte Harley-Davidson-
Jacke, die er schon seit Ewigkeiten besitzt, eine Baseballkappe mit dem Emblem der Yankees, die er, da er nun im Revier der Red Sox lebt, auf eigene Gefahr trägt, und seine altmodische
Nickelbrille.
Ich kann nicht erkennen, ob er sich das schüttere graue Haar heute abrasiert hat, aber er ist frisch gewaschen und verhältnismäßig gepflegt. Außerdem hat er weder ein vom Whiskey gerötetes Gesicht noch einen aufgedunsenen Bierbauch. Seine Augen sind nicht blutunterlaufen, seine Hände ruhig.
Ich rieche auch keine Zigaretten. Also ist er noch immer sauber, und das in mehr als einer Hinsicht. Marino hat eine solche Menge von Problemen, dass er sie aneinanderreihen könnte wie die Waggons eines Zuges, der durch die unbefriedeten Gebiete seiner angeborenen Neigungen rattert: Sex, Alkohol, Tabak, Essen, Fluchen, Vorurteile, Faulheit. Vermutlich sollte ich noch mangelnde Wahrheitsliebe hinzufügen. Wenn es ihm in den Kram passt, weicht er aus oder lügt wie gedruckt.
»Ich nehme an, Lucy ist beim Hubschrauber ...«, beginne ich.
»Weißt du, dass die sich hier geheimniskrämerischer anstellen als bei der gottverdammten CIA, wenn du gerade an einem Fall arbeitest?«, unterbricht er mich, während wir in den Purple Heart Drive einbiegen.
»Dir hätte die Bude abbrennen können, ohne dass dir jemand ein Sterbenswörtchen gesagt hätte. Fünfmal habe ich angerufen. Also musste ich eine Managemententscheidung treffen und bin mit Lucy hergeflogen.«
»Es wäre sehr hilfreich, wenn du mir den Grund dafür verraten würdest.«
»Niemand wollte dich stören, während du den Soldaten aus Worcester untersucht hast«, fügt er zu meiner Überraschung hinzu.
PFC Gabriel stammte aus Worcester, Massachusetts, und ich kann mir nicht erklären, woher Marino weiß, welchen Fall ich hier in Dover auf dem Tisch hatte. Das hätte ihm niemand verraten dürfen. Alles, was wir hier in Port Mortuary tun, ist mit äußerster Diskretion zu behandeln, wenn nicht gar streng geheim. Ich frage mich, ob die Mutter des gefallenen Soldaten ihre Drohung wahr gemacht und sich an die Medien gewandt hat. Hat sie sich bei der Presse beschwert, die weiße Gerichtsmedizinerin, die ihren Sohn obduziert habe, sei eine Rassistin?
Ehe ich nachhaken kann, spricht Marino weiter.
»Offenbar ist er der erste Kriegstote aus Worcester, weshalb sich die Journalistenmeute vor Ort daraufgestürzt hat. Wir hatten einige Anrufe. Anscheinend haben die Leute nicht ganz durchgeblickt und geglaubt, dass jeder Tote mit Wohnort in Massachusetts bei uns landet.«
»Man möchte meinen, die Reporter müssten inzwischen wissen, dass alle Gefallenen direkt hierher nach Dover gebracht werden«, entgegne ich.
»Bist du sicher, dass das die Erklärung für das Medienecho ist?«
»Warum?« Er betrachtet mich. »Kannst du dir eine andere vorstellen, von der ich nichts ahne?«
Aus dem Amerikanischen von Karin Dufner
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Hoffmann und Campe Verlag
In der Umkleidekabine für Mitarbeiterinnen werfe ich meinen schmutzigen OP-Anzug in den Eimer für kontaminierte Wäsche und ziehe meine restlichen Sachen und die Arztpantoffeln aus. Dabei frage ich mich, ob das Namensschild Colonel Scarpetta an meinem Spind wohl entfernt werden wird, sobald ich morgen früh nach Neuengland zurückgekehrt bin. Dieser Gedanke gefällt mir gar nicht. Denn eigentlich will ich nicht weg von hier.
Trotz der harten Ausbildung und der traurigen Tatsache, dass ich im Auftrag der amerikanischen Regierung täglich mit dem Tod zu tun hatte, hat das Leben auf dem Luftwaffenstützpunkt Dover auch seine Vorteile. Mein Aufenthalt ist erstaunlich ereignislos, ja sogar angenehm verlaufen. Ich werde
es vermissen, vor Morgengrauen in meinem spartanisch eingerichteten Zimmer aufzustehen, in eine Cargohose, ein Polohemd und Stiefel zu schlüpfen und durch Dunkelheit und Kälte quer über den Parkplatz zum Clubhaus am Golfplatz zu gehen, einen Kaffee zu trinken und etwas zu essen und anschließend mit dem Auto in ein Rechtsmedizinisches Institut zu fahren, in dem ich nichts zu sagen habe. Solange ich für den Armed Forces Medical Examiner (AFME), den obersten Rechtsmediziner der Streitkräfte, tätig bin, übe ich keine Leitungsfunktion aus. Eine ganze Reihe von Leuten steht in der Hierarchie über mir, weshalb ich nicht befugt bin, Entscheidungen von größerer Tragweite zu fällen, vorausgesetzt, ich werde überhaupt gefragt. Ein himmelweiter Unterschied zu Massachusetts, wo sich alle auf mich verlassen.
Es ist Montag, der 8. Februar. Die Wanduhr über den blitzblanken weißen Waschbecken zeigt 16:33. Die Zahl blinkt rot wie ein Warnsignal. In knapp neunzig Minuten soll ich bei CNN vor der Kamera stehen, um zu erklären, was ein forensischer Pathologieradiologe ist, warum ich mich dazu habe ausbilden lassen und welche Rolle der Luftwaffenstützpunkt in Dover, das Verteidigungsministerium
und das Weiße Haus dabei spielen. Ich bin inzwischen eine Mischung aus Rechtsmedizinerin und Reservistin beim AFME.
Seit den Anschlägen vom 11. September, dem amerikanischen Einmarsch im Irak und dem Truppeneinsatz in Afghanistan - um mich für die Sendung vorzubereiten, gehe ich in Gedanken die einzelnen Punkte durch, die ich nicht vergessen darf -, ist die Grenze zwischen dem militärischen
und zivilen Bereich wohl für immer durchlässig geworden. Nur eines der Beispiele, die ich vielleicht anführen werde:
Im letzten November wurden innerhalb von achtundvierzig Stunden dreizehn gefallene Soldaten aus dem Nahen Osten eingeflogen. Ebenso viele Tote wurden aus Fort Hood, Texas, hergebracht. Das Massensterben beschränkt sich also nicht mehr nur auf das eigentliche Schlachtfeld. Das Schlachtfeld
kann überall sein: unser Zuhause, unsere Schulen, unsere Kirchen und Passagiermaschinen, die Orte, wo wir arbeiten, einkaufen und Urlaub machen.
Ich krame in meinem Kosmetikkoffer und sortiere dabei noch einmal im Kopf meine Anmerkungen zu Themen wie 3D-bildgebende Radiologie, Magnetresonanztomographie und Computertomographie im Autopsiesaal. Außerdem darf ich nicht versäumen, zu betonen, dass mein neues Institut in Cambridge, Massachusetts, zwar als erste zivile Einrichtung in den Vereinigten Staaten virtuelle Autopsien durchführt, Baltimore jedoch als Nächstes folgen wird - ein Trend der Zukunft also. Die traditionelle Obduktion, bei der man munter drauflosschneidet, anschließend fotografiert und
hofft, dass man weder etwas vergessen noch selbst Spuren hinterlassen hat, wird dank entsprechender moderner Technologien erheblich effizienter und genauer werden. Und genau so sollte es auch sein.
Ich bedaure, dass ich heute Abend nicht in World News auftreten werde, denn eigentlich würde ich dieses Gespräch lieber mit Diane Sawyer führen. Dass ich so häufig bei CNN zu sehen bin, bringt nämlich ein Problem mit sich: Wer zu bekannt ist, wird oft nicht mehr ernst genommen. Daran hätte
ich früher denken müssen. Das Interview könnte, wie mir plötzlich einfällt, ins Persönliche abgleiten, eine Gefahr, die ich gegenüber General Briggs hätte erwähnen sollen. Ebenso den Zwischenfall am heutigen Vormittag, als die aufgebrachte Mutter eines toten Soldaten mich am Telefon beschimpft,
mich der Diskriminierung beschuldigt und gedroht hat, sich mit ihren Beschwerden über mich an die Medien zu wenden.
Metall auf Metall, es knallt wie ein Schuss, als ich die Tür meines Spinds schließe. In der Hand einen Plastikkorb mit Olivenöl-Pflegeshampoo, einem Peeling aus fossilen Meeresalgen, einem Damenrasierer, einer Dose Rasiergel für empfindliche Haut, Flüssigseife, einem Waschlappen, einer Mundspülung, Zahnbürste, Nagelbürste und einem parfümierten Neutrogena-Öl, gehe ich über die hellbraunen Fliesen, die sich unter meinen nackten Füßen stets kühl anfühlen. In einer offenen Kabine baue ich meine Sachen in Reih und Glied auf dem gekachelten Sims auf und stelle das Wasser so heiß ein, wie ich es gerade noch aushalte. Ein harter Strahl prasselt auf mich herunter, während ich meinen Körper bewege, damit er mich auch überall erreicht. Erst hebe ich den Kopf, dann blicke ich zu Boden auf meine blassen Füße.
In der Hoffnung, dadurch meine angespannten Muskeln ein wenig zu lockern, lasse ich das Wasser meinen Nacken und meinen Hinterkopf bearbeiten. Dabei überlege ich, was ich heute Abend anziehen soll.
General Briggs - oder John, wie ich ihn nenne, wenn wir allein sind - möchte, dass ich Fliegerkleidung oder besser noch die blaue Uniform der Air Force trage. Ich bin dagegen und plädiere für Zivil, denn so kennen mich die Zuschauer von den meisten Fernsehinterviews her. Am besten ein schlichtes, dunkles Kostüm, eine elfenbeinfarbene Bluse mit Kragen und die dezente Breguet-Uhr mit Lederarmband, ein Geschenk meiner Nichte Lucy. Nicht die Blancpain mit dem überdimensionalen schwarzen Zifferblatt und der Keramikfassung, ebenfalls von Lucy, die ein Faible für technisch aufwendige und teure Uhren hat. Keine Hose, sondern Rock und Pumps, damit ich nicht bedrohlich und zugänglich wirke, ein Trick, den ich vor langer Zeit im Gerichtssaal gelernt habe.
Aus mir unbekannten Gründen wollen die Geschworenen meine Beine sehen, während ich tödliche Verletzungen und die qualvollen letzten Lebensminuten eines Opfers in allen drastischen anatomischen Einzelheiten schildere. Briggs wird mit meiner Garderobe unzufrieden sein. Doch wie ich ihm gestern Abend - im Fernsehen lief Baseball - bei ein paar Drinks erklärt habe, sollte ein Mann einer Frau nicht sagen, was sie anzuziehen hat. Außer er hieße Ralph Lauren.
Ein Luftzug durchdringt den Dampf in meiner Duschkabine, und ich glaube jemanden gehört zu haben. Sofort fühle ich mich gestört. Es könnte jede x-Beliebige sein. Eine Militärangehörige
- Ärztin oder nicht -, die berechtigt ist, sich in dieser streng zugangsbeschränkten Einrichtung aufzuhalten, auf die Toilette muss, ein Desinfektionsmittel braucht oder sich umziehen möchte. Ich denke an die Kolleginnen, mit denen ich gerade im großen Autopsiesaal zusammen war, und habe den Verdacht, dass es wieder einmal Captain Avallone ist. Sie hat sich den Großteil des Vormittags während der Computertomographie wie eine Klette an mich geheftet, als ob ich nach all den Lehrgängen nicht wüsste, wie man diese Untersuchung durchführt. Den restlichen Tag ist sie um meinen Arbeitsplatz geschlichen. Bestimmt ist sie gerade hereingekommen. Ich bin sogar ziemlich sicher, und ich spüre, wie Abneigung in mir aufsteigt. Verschwinde.
»Dr. Scarpetta?«, ruft ihre vertraute Stimme, die ohne Ausdruck und Leidenschaft ist und mich überallhin zu verfolgen scheint.
»Ein Anruf für Sie.«
»Ich habe gerade erst angefangen zu duschen«, überschreie ich das laute Wasserrauschen.
Auf diese Weise will ich ihr mitteilen, dass sie mich in Ruhe lassen soll. Bitte, ein kleines bisschen Privatsphäre. Ich möchte jetzt weder Captain Avallone noch sonst jemanden sehen. Und das liegt nicht daran, dass ich nackt bin.
»Tut mir leid, Ma'am. Aber Pete Marino will Sie unbedingt sprechen.«
Ihre gefühllose Stimme kommt näher.
»Dann muss er eben warten«, erwidere ich.
»Er sagt, es sei wichtig.«
»Können Sie ihn nicht fragen, was er will?«
»Er sagt nur, dass es wichtig ist, Ma'am.«
Ich verspreche, ihn so bald wie möglich zurückzurufen. Vermutlich klinge ich unhöflich, aber ich kann nicht immer charmant sein, auch wenn ich die besten Absichten habe. Pete Marino ist der Ermittler, mit dem ich mein halbes Leben lang zusammengearbeitet habe. Hoffentlich ist zu Hause nichts Schlimmes geschehen. Nein, wenn es ein Notfall wäre, würde er dafür sorgen, dass ich es sofort erführe. Wenn meinem Mann Benton oder Lucy etwas zugestoßen wäre oder es im
Cambridge Forensic Center, zu dessen Leiterin ich ernannt worden bin, ein ernstes Problem gegeben haben sollte, hätte Marino mir nicht einfach ausrichten lassen, dass er am Apparat und dass es wichtig sei.
Ich öffne weit den Mund, um den Geschmack nach verwesendem und verbranntem Menschenfleisch loszuwerden, der sich in meiner Kehle festgesetzt hat. Die Dampfwellen treiben mir den Gestank der Leiche, an der ich heute gearbeitet habe, bis tief in die Nebenhöhlen; Moleküle verfaulender Biomasse wirbeln um mich herum durch die Dusche. Ich schrubbe mir die Fingernägel mit antibakterieller Seife aus einer Flasche. Dasselbe Mittel benutze ich auch fürs Geschirr oder um an einem Tatort meine Stiefel zu desinfizieren. Dann putze ich Zähne, Zahnfleisch und Zunge mit Listerine-Mundspülung. Ich reinige mir die Nasenlöcher, so tief, wie ich hineinkomme,
schrubbe jeden Zentimeter meiner Haut ab und wasche mir anschließend nicht nur einmal, sondern zweimal die Haare. Doch der Geruch ist immer noch da. Es gelingt mir einfach nicht, ihn loszuwerden.
Der tote Soldat, um den ich mich gerade gekümmert habe, hieß Peter Gabriel, wie der Rockstar, nur dass dieser Peter Gabriel Private First Class, also Gefreiter, in der Army und noch nicht einmal einen Monat in der nordwestafghanischen Provinz Badghis im Einsatz gewesen ist, als ein am Straßenrand
deponierter Sprengsatz - zusammengebastelt aus einem Stück Abwasserrohr aus Plastik, vollgestopft mit C4-Plastiksprengstoff und verschlossen mit einer Kupferplatte - die Panzerung seines Humvee durchdrang, so dass es im Fahrzeuginneren geschmolzene Metallteile hagelte.
PFC Gabriel hat mich den Großteil meines letzten Tages hier in diesem riesigen, hochtechnisierten Institut in Anspruch genommen.
Der AFME befasst sich häufig mit Fällen, bei denen die Öffentlichkeit nie an uns denken würde: dem Attentat auf John F. Kennedy, den jüngsten DNA-Analysen der Zaren-Familie Romanow und der Mannschaft der C.S.S. H. L. Hunley, des konföderierten U-Boots, das während des Bürgerkriegs gesunken ist. Wir sind eine elitäre, aber kaum bekannte Truppe, deren Anfänge bis ins Jahr 1862 und ins Army Medical Museum zurückreichen, dessen Chirurgen den tödlich verwundeten Abraham Lincoln behandelt und später obduziert haben.
Alles Dinge, die ich bei CNN erwähnen sollte. Ich muss das Positive hervorheben und vergessen, was Mrs. Gabriel mir an den Kopf geworfen hat. Ich bin weder ein Ungeheuer noch eine Heuchlerin. Man darf der armen Frau ihren Zorn nicht zum Vorwurf machen, halte ich mir vor Augen. Immerhin hat sie gerade ihr einziges Kind verloren. Die Gabriels sind Afroamerikaner. Wie würdest du dich an ihrer Stelle fühlen, verdammt? Natürlich bist du keine Rassistin.
Wieder spüre ich, dass jemand im Raum ist. Jemand hat den Umkleideraum betreten, den ich inzwischen mit Nebel gefüllt habe wie ein Dampfbad. Wegen der Hitze habe ich kräftiges Herzklopfen.
»Dr. Scarpetta?«
Captain Avallone klingt nun nicht mehr so zögerlich, sondern eher, als hätte sie bedeutsame Nachrichten.
Ich stelle das Wasser ab, verlasse die Duschkabine und wickle mich in ein Handtuch. Captain Avallone ist ein undeutlich auszumachender Schemen, der im Dunst neben den Waschbecken und den mit Bewegungsmeldern ausgestatteten Händetrocknern verharrt. Ich erkenne nur ihr dunkles Haar, ihre khakifarbene Cargohose und das schwarze Polohemd mit dem aufgestickten gold-blauen Emblem.
»Pete Marino ...«, setzt sie an.
»Ich rufe ihn sofort zurück.«
Ich nehme mir ein zweites Handtuch vom Regal.
»Er ist hier, Ma'am.«
»Was soll das heißen, er ist hier?«
Fast rechne ich damit, dass er wie ein Geschöpf aus grauer Vorzeit im vom Dampf erfüllten Umkleideraum erscheint.
»Er erwartet Sie hinten in der Anlieferungszone, Ma'am«, teilt sie mir mit.
»Er wird Sie nach Eagles Rest fahren, damit Sie Ihre Sachen holen können.«
Sie sagt das, als würde ich vom FBI abtransportiert, weil ich verhaftet oder gefeuert worden bin.
»Ich habe Anweisung, Sie zu ihm zu bringen und Ihnen in jeglicher Hinsicht behilflich zu sein.«
Captain Avallone heißt mit Vornamen Sophia. Sie ist Angehörige der Army, hat gerade die Facharztausbildung zur Radiologin hinter sich und verhält sich stets militärisch korrekt und unterwürfig höflich, während sie sich um mich herumdrückt. Als ich meinen Kosmetikkoffer über den Fliesenboden trage, folgt sie mir auf den Fersen.
»Ich soll erst morgen abreisen, und mit Marino irgendwohin zu fahren war eigentlich nicht geplant«, erwidere ich.
»Ich kümmere mich um Ihr Auto, Ma'am. Soweit ich informiert bin, sollen Sie nicht selbst fahren ...«
»Haben Sie ihn gefragt, worum zum Teufel es geht?«
Ich hole Haarbürste und Deo aus dem Spind.
»Ich habe es versucht, Ma'am«, entgegnet sie.
»Aber er war nicht sehr gesprächig.«
Ein Großraumtransporter C-5 Galaxy im Landeanflug auf Bahn 19 dröhnt über meinen Kopf hinweg. Der Wind weht wie immer aus Süden.
Einer der vielen Grundsätze beim Fliegen, die ich von Lucy, die auch Helikopterpilotin ist, gelernt habe, lautet, dass die Nummern der Landebahnen gemäß ihrer Position auf dem Kompass vergeben werden. 19 steht zum Beispiel für 190 Grad, was bedeutet, dass 01 das entgegengesetzte Ende
ist. Die Gründe für dieses System sind der Bernoulli-Effekt und Newtons Gesetze der Bewegung, also die Geschwindigkeit, mit der Luft über eine Tragfläche streichen muss, und das Starten und Landen mit dem Wind, der in diesem Teil Delawares vom Meer her kommt. Hochdruck- und Tiefdruckgebiete, von Süden nach Norden. Tagein, tagaus bringen die Flugzeuge Leichen und schaffen sie wieder fort, auf einem schwarzgeteerten Band, das wie der Fluss Styx hinter
Port Mortuary verläuft.
Die haifischgraue Galaxy ist so lang wie ein Football-Feld und so gewaltig und schwer, dass sie am blassblauen Himmel mit seinen Federwolken, die die Piloten Stutenschweife nennen, stillzustehen scheint. Ich würde den Flugzeugtyp auch ohne Hinschauen erkennen, und zwar an seinem schrillen
Kreischen und Pfeifen. Inzwischen habe ich Erfahrung mit dem Geräusch von Triebwerken, die einhundertsechzigtausend Pfund Schubkraft erzeugen, und kann eine C-5 oder eine
C-17 schon aus vielen Kilometern Entfernung identifizieren.
Ich weiß auch einiges über Helikopter und Kipprotoren und bin in der Lage, einen Chinook von einem Black Hawk oder einem Osprey zu unterscheiden. Wenn ich bei schönem Wetter ein paar Minuten Zeit habe, setze ich mich auf eine Bank vor meiner Unterkunft und beobachte die Flugmaschinen
von Dover, als wären es exotische Geschöpfe wie Manatis, Elefanten oder prähistorische Vögel. Ich kann von ihrer schwerfälligen Dramatik, ihrem Dröhnen und den Schatten,
die sie im Vorüberfliegen werfen, nicht genug bekommen. Räder berühren, begleitet von Rauchwolken, so dicht in meiner Nähe den Boden, dass ich die Vibration in meinem Inneren spüre, als ich die Anlieferungszone mit ihren vier gewaltigen Toren, der hohen Sichtschutzmauer und den
Notstromgeneratoren durchquere. Dort parkt ein blauer Transporter, den ich noch nie zuvor gesehen habe.
Pete Marino macht keine Anstalten, sich zu rühren, mich zu begrüßen oder mir die Tür aufzuhalten, was alles oder nichts bedeuten kann. Er vergeudet seine Energie nicht mit Umgangsformen.
Solange ich mich erinnern kann, stand Charme oder gar Freundlichkeit bei ihm nie oben auf der Liste. Unsere erste Begegnung in der Gerichtsmedizin von Richmond, Virginia, liegt inzwischen über zwanzig Jahre zurück. Vielleicht habe ich ihn auch am Tatort eines Mordes kennengelernt. Ich weiß
es nicht mehr genau. Ich steige ein und klemme die Reisetasche zwischen die Füße. Mein Haar ist noch feucht vom Duschen. Offenbar findet er, dass ich zum Fürchten aussehe, und bildet sich
schweigend ein Urteil. Das erkenne ich stets an seinen Seitenblicken, mit denen er mich von Kopf bis Fuß mustert und die an gewissen Stellen hängenbleiben, die ihn nichts angehen.
Er mag es nicht, wenn ich meine AFME-Uniform, bestehend aus khakifarbener Cargohose, schwarzem Polohemd und Funktionsjacke, anhabe. Ich glaube, die wenigen Male, die er mich
in dieser Aufmachung erlebt hat, haben ihn eingeschüchtert.
»Wo hast du das Auto geklaut?«, frage ich ihn, während er rückwärts aus der Parkposition rangiert.
»Eine Leihgabe von Civil Air.«
Seine Antwort verrät mir wenigstens, dass Lucy nichts zugestoßen ist.
Der Privatterminal am nördlichen Ende der Startbahn wird von Zivilisten benutzt, die die Genehmigung haben, auf dem Luftwaffenstützpunkt zu landen. Also hat meine Nichte Marino hierhergeflogen, und ich überlege, ob sie mich damit haben überraschen wollen. Sie sind unangekündigt erschienen, um mir den morgigen Linienflug zu ersparen und
mich endlich nach Hause zu bringen. Wunschdenken. Weil das nicht der Grund sein kann, suche ich in Marinos derbem Gesicht nach der Antwort und lasse sein Äußeres auf mich wirken wie bei der ersten Musterung eines Patienten. Turnschuhe, Jeans, eine mit Fleece gefütterte Harley-Davidson-
Jacke, die er schon seit Ewigkeiten besitzt, eine Baseballkappe mit dem Emblem der Yankees, die er, da er nun im Revier der Red Sox lebt, auf eigene Gefahr trägt, und seine altmodische
Nickelbrille.
Ich kann nicht erkennen, ob er sich das schüttere graue Haar heute abrasiert hat, aber er ist frisch gewaschen und verhältnismäßig gepflegt. Außerdem hat er weder ein vom Whiskey gerötetes Gesicht noch einen aufgedunsenen Bierbauch. Seine Augen sind nicht blutunterlaufen, seine Hände ruhig.
Ich rieche auch keine Zigaretten. Also ist er noch immer sauber, und das in mehr als einer Hinsicht. Marino hat eine solche Menge von Problemen, dass er sie aneinanderreihen könnte wie die Waggons eines Zuges, der durch die unbefriedeten Gebiete seiner angeborenen Neigungen rattert: Sex, Alkohol, Tabak, Essen, Fluchen, Vorurteile, Faulheit. Vermutlich sollte ich noch mangelnde Wahrheitsliebe hinzufügen. Wenn es ihm in den Kram passt, weicht er aus oder lügt wie gedruckt.
»Ich nehme an, Lucy ist beim Hubschrauber ...«, beginne ich.
»Weißt du, dass die sich hier geheimniskrämerischer anstellen als bei der gottverdammten CIA, wenn du gerade an einem Fall arbeitest?«, unterbricht er mich, während wir in den Purple Heart Drive einbiegen.
»Dir hätte die Bude abbrennen können, ohne dass dir jemand ein Sterbenswörtchen gesagt hätte. Fünfmal habe ich angerufen. Also musste ich eine Managemententscheidung treffen und bin mit Lucy hergeflogen.«
»Es wäre sehr hilfreich, wenn du mir den Grund dafür verraten würdest.«
»Niemand wollte dich stören, während du den Soldaten aus Worcester untersucht hast«, fügt er zu meiner Überraschung hinzu.
PFC Gabriel stammte aus Worcester, Massachusetts, und ich kann mir nicht erklären, woher Marino weiß, welchen Fall ich hier in Dover auf dem Tisch hatte. Das hätte ihm niemand verraten dürfen. Alles, was wir hier in Port Mortuary tun, ist mit äußerster Diskretion zu behandeln, wenn nicht gar streng geheim. Ich frage mich, ob die Mutter des gefallenen Soldaten ihre Drohung wahr gemacht und sich an die Medien gewandt hat. Hat sie sich bei der Presse beschwert, die weiße Gerichtsmedizinerin, die ihren Sohn obduziert habe, sei eine Rassistin?
Ehe ich nachhaken kann, spricht Marino weiter.
»Offenbar ist er der erste Kriegstote aus Worcester, weshalb sich die Journalistenmeute vor Ort daraufgestürzt hat. Wir hatten einige Anrufe. Anscheinend haben die Leute nicht ganz durchgeblickt und geglaubt, dass jeder Tote mit Wohnort in Massachusetts bei uns landet.«
»Man möchte meinen, die Reporter müssten inzwischen wissen, dass alle Gefallenen direkt hierher nach Dover gebracht werden«, entgegne ich.
»Bist du sicher, dass das die Erklärung für das Medienecho ist?«
»Warum?« Er betrachtet mich. »Kannst du dir eine andere vorstellen, von der ich nichts ahne?«
Aus dem Amerikanischen von Karin Dufner
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Hoffmann und Campe Verlag
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Autoren-Porträt von Patricia Cornwell
Cornwell, PatriciaPatricia Cornwell, geboren 1956 in Miami, arbeitete als Gerichtsreporterin und Computerspezialistin in der forensischen Medizin, bevor sie mit ihren Thrillern um Kay Scarpetta internationale Erfolge feierte und mit hohen literarischen Auszeichnungen bedacht wurde. Die Autorin lebt derzeit in New York und Florida. Weitere Informationen zu Patricia Cornwell unter: www.patriciacornwell.com
Bibliographische Angaben
- Autor: Patricia Cornwell
- 2012, 512 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Dufner, Karin
- Übersetzer: Karin Dufner
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442475783
- ISBN-13: 9783442475780
- Erscheinungsdatum: 19.11.2012
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