Knochenhaus / Ruth Galloway Bd.2
Kriminalroman
Die forensische Archäologin Ruth Galloway legt in einer Baugrube das Skelett eines Kindes frei. Was zunächst nach Relikt der Römerzeit aussieht, entpuppt sich bald als brisant: Die Knochen sind aus der Gegenwart. Der Fund löst bedrohliche Ereignisse aus - besonders für die schwangere Ruth.
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Produktinformationen zu „Knochenhaus / Ruth Galloway Bd.2 “
Die forensische Archäologin Ruth Galloway legt in einer Baugrube das Skelett eines Kindes frei. Was zunächst nach Relikt der Römerzeit aussieht, entpuppt sich bald als brisant: Die Knochen sind aus der Gegenwart. Der Fund löst bedrohliche Ereignisse aus - besonders für die schwangere Ruth.
Klappentext zu „Knochenhaus / Ruth Galloway Bd.2 “
Das ist kein Haus mehr, das ist ein Grab. In einer Baugrube in Norfolk liegen die Knochen eines Kindes, nur der Schädel fehlt. Für die forensische Archäologin Dr. Ruth Galloway sieht alles nach einer rituellen Opfergabe aus römischer Zeit aus. Damals begrub man Menschenopfer unter Türschwellen, als Geschenk an den Gott Janus. Die Analyse jedoch ergibt: Die Knochen stammen aus der Gegenwart. Ein harter Fall für die hochschwangere Ruth. Denn kurz darauf tauchen auf der Türschwelle ihres einsamen Cottage am Salzmoor seltsame Opfergaben auf, und an einer Steinmauer steht ihr Name - mit Blut geschrieben ...
Ruth Galloways zweiter Fall
Lese-Probe zu „Knochenhaus / Ruth Galloway Bd.2 “
Knochenhaus von Elly Griffiths... mehr
Das Haus wartet. Es weiß. Als ich gestern opferte, waren die Eingeweide schwarz. Nacht senkt sich über alles. Draußen ist Frühling, doch hier im Haus herrscht Kälte, ein Bahrtuch aus Verzweiflung, das alles bedeckt. Wir sind verflucht. Dies ist kein Haus mehr, sondern ein Grab. Kein Vogel singt im Garten, und nicht einmal die Sonne wagt es, zu den Fenstern her einzudringen. Keiner weiß, wie der Fluch aufzuheben ist. Sie haben kapituliert, liegen einfach da, als warteten sie auf den Tod. Doch ich weiß es, und das Haus weiß es ebenfalls. Nur Blut kann uns jetzt noch retten.
Ein leichter Wind fährt durch das lange Gras oben auf dem Hügel. Aus der Nähe wirkt die Landschaft ganz alltäglich: nur Heidekraut und struppiges Weideland und hin und wieder ein weißer Stein, der wie ein Wegweiser dar aus hervorragt. Doch würde man sich über diesen unauffälligen Hügeln in die Lüfte erheben, sähe man die kreisrunden Erdwälle, die dunkleren Rechtecke zwischen all dem Grün und Braun: sichere Anzeichen, dass dieses Land bereits oft, sehr oft besiedelt war. Ruth Galloway, die langsam den Hang her aufkommt, braucht keine Vogelperspektive, um zu wissen, dass es sich hier um archäologisch bedeutsames Terrain handelt.
Seit Tagen graben die Kollegen von der Universität schon auf diesem Hügel und sind dabei nicht nur auf die Überreste einer römischen Villa, sondern auch auf Spuren früherer Siedlungen aus der Bronze- und Eisenzeit gestoßen. Eigentlich hatte Ruth die Ausgrabungsstelle schon viel früher besichtigen wollen, doch sie war zu sehr damit beschäftigt, Hausarbeiten zu korrigieren und Abschlussprüfungen vorzubereiten. Es ist Mai, die Luft ist mild, erfüllt von Blütenstaub und dem Geruch nach Regen. Ruth bleibt stehen, um ein wenig zu verschnaufen, und genießt das Gefühl, an einem Frühlingsnachmittag im Freien zu sein. Bisher war dieses Jahr recht düster, wenn auch mit ein paar unerwarteten Lichtblicken, und umso mehr gefällt es ihr jetzt, einfach nur dazustehen und sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen.
« Ruth ! » Sie dreht sich um und sieht einen Mann auf sich zukommen. Er trägt Jeans und ein fleckiges Arbeitshemd und achtet gar nicht auf den steilen Hang, fällt kaum aus dem Rhythmus seiner langen Schritte. Er ist groß und schlank, das lockige dunkle Haar wird an den Schläfen bereits grau. Ruth erkennt ihn, so wie er sie offensichtlich auch, weil er vor ein paar Monaten bei ihr am Fachbereich einen Vortrag gehalten hat: Doktor Max Grey von der Universität Sussex, Archäologe und Experte für das römische Britannien. « Freut mich, dass Sie es einrichten konnten », sagt er und sieht tatsächlich erfreut aus. Eine angenehme Abwechslung. Die meisten Archäologen mögen andere Fachleute auf ihrem Territorium ganz und gar nicht. Und Ruth ist eine ausgewiesene Fachfrau für Knochen, Verwesungsprozesse und Tod.
Sie leitet die Abteilung für forensische Archäologie an der Universität North Norfolk. « Sind Sie schon an den Grundmauern? », erkundigt sie sich, während sie hinter Max bis zum Hügelrücken hinauf steigt. Hier oben ist es kühler. Hoch über ihren Köpfen singt eine Lerche. « Ja, ich denke schon. » Max deutet in den sorgfältig ausgehobenen Graben direkt vor ihnen. Auf halber Höhe ist eine Art Saum aus grauen Steinen zu erkennen. « Aber wir haben auch noch etwas anderes gefunden, das Sie interessieren dürfte. » Ruth weiß schon Bescheid, ohne dass er es aussprechen muss. « Knochen », sagt sie. Detective Chief Inspector Harry Nelson brüllt aus vollem Hals. Obwohl er bei der Arbeit als aufbrausend verschrien ist (zu Hause, bei Frau und Töchtern, ist er dagegen lammfromm), neigt er normalerweise nicht zum Brüllen. Schroffe Befehle sind mehr sein Stil, meist im Vorbeigehen hingeknurrt, auf dem Weg zur nächsten Aufgabe. Er ist ein Mann, der schnelle Entscheidungen trifft und einen kurzen Geduldsfaden hat. Ein Macher, der gern Verbrecher fängt, Verdächtige verhört, zu schnell fährt und zu viel isst.
Besprechungen, sinnlose Diskussionen und gute Ratschläge, auf die er auch noch hören soll, kann er nicht ausstehen. Und vor allem kann er es nicht ausstehen, an einem schönen Frühlingstag im Büro zu hocken und vergeblich zu versuchen, seinem neuen Computer irgendein Lebenszeichen zu entlocken. Daher das Gebrüll. « Leah ! », poltert er. Leah, Nelsons Verwaltungsassistentin (oder Sekretärin, wie er selbst gern sagt), kommt zögernd ins Zimmer. Sie ist ein zierliches dunkelhaariges Persönchen von fünfundzwanzig, dem die jüngeren Beamten allesamt zu Füßen liegen. Nelson allerdings betrachtet sie hauptsächlich als Kaffeequelle und Verbindungsfrau zu all der neuen Technik, die mit jedem Tag neumodischer und launischer zu werden scheint. « Leah », sagt er anklagend, « der Bildschirm ist schon wieder schwarz. » « Haben Sie ihn eventuell ausgeschaltet ? », fragt Leah. Nelson hat schon häufiger wutentbrannt Stecker aus der Wand gerissen und damit einmal sogar sämtliche Lampen im zweiten Stock lahmgelegt. « Nein. Na ja, ein-, zweimal vielleicht. » Leah kriecht unter den Schreibtisch, um die Kabel zu prüfen. « Scheint alles in Ordnung zu sein », sagt sie. « Drücken Sie mal eine Taste. » « Welche denn ? » « Das dürfen Sie sich aussuchen. » Nelson haut auf die Leertaste, und der Computer erwacht wie von Zauberhand zum Leben und äußert ein süffisantes « Guten Tag, DCI Nelson ».
« Ach, leck mich doch », brummt Nelson und greift nach der Maus. « Wie bitte ? » Leah zieht die Augenbrauen hoch. « Sie doch nicht », sagt Nelson. « Das Ding hier. Auf Smalltalk im Büro kann ich verzichten. » « Wahrscheinlich ist er einfach dar auf programmiert, Sie zu begrüßen », erwidert Leah gelassen. « Meiner spielt mir immer ein Liedchen vor. » « Mir kommen gleich die Tränen. » « Chief Superintendent Whitcliffe sagt, wir müssen uns alle an die neuen Geräte gewöhnen. Heute um vier findet eine Einführung statt. » « Da kann ich nicht », brummt Nelson, ohne aufzusehen. « Ich bin bei einer Fallbesprechung draußen in Swaffham. » « Ist da nicht auch diese römische Ausgrabungsstätte? », fragt Leah. « Das kam neulich in Time Team. » Weil sie gerade ein paar Aktenordner im Regal zurechtrückt, dreht sie Nelson den Rücken zu und verpasst das plötzliche Interesse in seiner Miene. « Eine Ausgrabungsstätte ? Archäologisch, meinen Sie? » « Genau. » Leah dreht sich wieder um. « Anscheinend haben sie da draußen eine komplette römische Siedlung gefunden. » Nelson beugt sich angelegentlich über seinen Computer. « Da wimmelt es jetzt also von Archäologen, was? » « Ja. Mein Onkel hat das Pub dort, das Phoenix, und er sagt, die sitzen jeden Abend bei ihm rum.
Er musste schon seine Cider-Vorräte aufstocken. » « Na, das passt ja », knurrt Nelson. Er kann sich lebhaft vorstellen, dass Archäologen natürlich nur Cider trinken, obwohl doch alle Welt weiß, dass echte Kerle ein ordentliches Bitter brauchen. Archäologinnen hingegen . . . da sieht die Sache schon wieder anders aus.
« Vielleicht schaue ich auf dem Rückweg kurz dort vorbei », sagt er. « Interessieren Sie sich etwa für Geschichte? », fragt Leah fassungslos. « Ich ? Klar doch. Faszinierende Sache. Ich verpasse keine Folge von Die Scharfschützen. » « Dann sollten Sie sich mal für unser Pub-Quiz-Team aufstellen lassen. » « Ich leide unter Lampenfieber », erwidert Nelson knapp und tippt dabei mit einem Finger sein Passwort ein: Nelson1. Er hat es gern eindeutig. « Sind Sie so nett, Kindchen, und bringen mir eine Tasse Kaffee, ja? » Swaffham ist eines dieser hübschen Marktstädtchen, wie Nelson sie mehrmals täglich durchfährt, ohne groß dar auf zu achten. Schon ein paar Kilometer weiter ist man mitten auf dem platten Land: Felder, auf denen das Gras hüfthoch steht, Wegweiser, die in zwei Richtungen gleichzeitig zeigen, kreuzende Kühe auf der Straße, die ein junger Mann mit tumbem Gesichtsausdruck auf einem Quadbike vor sich hertreibt. Innerhalb von Sekunden hat Nelson sich völlig verfranst. Er will schon aufgeben, als ihm plötzlich die Idee kommt, den tumben Jüngling nach dem Phoenix zu fragen.
Wenn man in Norfolk nicht weiterweiß, erkundigt man sich einfach nach dem nächsten Pub. Wie sich her ausstellt, ist das Phoenix ganz in der Nähe. Nelson wendet mitten auf der schlammigen Fahrbahn, biegt in eine Straße ein, die kaum mehr als eine Schotterpiste ist, und da ist es auch schon, ein kleines reetgedecktes Haus mit Blick auf einen steilen, grasbewachsenen Hang. Nelson stellt seinen Wagen auf dem Parkplatz ab, und als er auf der anderen Straßenseite, am Fuß des Hanges, den klapprigen roten Renault entdeckt, bekommt er Herzklopfen. Als freudige Erregung will er es nicht wahrhaben. Ich habe sie einfach eine ganze Zeit nicht gesehen, sagt er sich. Schön, mal wieder zu hören, wie's ihr geht. Er hat keine Vorstellung davon, wo die Ausgrabungsstätte ist oder wie sie aussehen könnte, denkt sich aber, dass er oben vom Hügel aus einen besseren Überblick haben wird.
Es ist ein schöner Abend, lange Schatten fallen auf das Gras, die Luft ist mild. Doch Nelson achtet kaum auf seine Umgebung: Er denkt an eine trostlose Küste, an Leichen, die von der erbarmungslosen Flut ins Meer gespült werden, an die Umstände, unter denen er Ruth Galloway kennengelernt hat. Vergangenen Winter hat er sie als forensische Archäologin hinzugezogen, nachdem draußen am Salzmoor, einem gottverlassenen Flecken an der Küste im Norden Norfolks, menschliche Knochen aufgetaucht waren. Und obwohl sich rasch her ausstellte, dass diese Knochen weit über zweitausend Jahre alt waren, wurde Ruth anschließend noch in einen sehr viel aktuelleren Fall verwickelt, die Verschleppung und mutmaßliche Ermordung eines fünfjährigen Mädchens. Seit sie den Fall vor drei Monaten zu Ende gebracht haben, hat Nelson Ruth nicht mehr gesehen.
Oben auf dem Hügel entdeckt er erst einmal nur noch weitere Hügel. Interessant sind nur die paar Gräben in einiger Entfernung und zwei Gestalten, die einen kurvigen Erdwall entlangkommen: eine dunkelhaarige Frau in weiter dunkler Kleidung und ein hochgewachsener Mann mit erdverschmierter Jeans. Unter Garantie ein Cider-Trinker. « Ruth ! », ruft Nelson. Er sieht sie lächeln; sie hat ein auffallend hübsches Lächeln, was er ihr natürlich niemals sagen würde. « Hallo, Nelson ! » Gut sieht sie aus, denkt er, mit ihren strahlenden Augen und den vom Wandern geröteten Wangen. Abgenommen hat sie allerdings nicht, und Nelson stellt fest, dass ihn das eigentlich ziemlich freut. « Was machst du denn hier? », fragt Ruth.
Sie begrüßen sich nicht mit Küsschen auf die Wange, geben sich nicht einmal die Hand, doch beide strahlen über das ganze Gesicht. « Ich war sowieso in der Gegend und hatte mitgekriegt, dass hier eine Ausgrabung ist. » « Schaust du etwa neuerdings Time Team ? » « War schon immer meine Lieblingssendung. » Ruth lächelt zweifelnd und stellt dann ihren Begleiter vor. « Das ist Doktor Max Grey von der Universität Sussex. Er leitet die Ausgrabung hier. Max, das ist Detective Chief Inspector Nelson. » Der Typ, Max, mustert ihn überrascht, und Nelson merkt selbst, wie wenig sein Dienstrang zu diesem goldenen Frühlingsabend passen will. Verbrechen geschehen nun mal, auch hier, würde er diesem Max Grey am liebsten ins Gesicht sagen. Aber Akademiker haben es ja grundsätzlich nicht so mit der Polizei. Immerhin ringt sich Doktor Grey jetzt ein Lächeln ab. « Dann interessieren Sie sich also für Archäologie, DCI Nelson ? » « Nur so nebenbei », wiegelt Nelson ab. « Ruth . . . Doktor Galloway und ich haben vor einiger Zeit bei einem Fall zusammengearbeitet. » « Die Sache am Salzmoor ? », fragt Max mit großen Augen. « Ja », antwortet Ruth knapp. « DCI Nelson hat mich hinzugezogen, nachdem er Knochen im Moor gefunden hatte. » « Dabei waren die aus der gottverdammten Steinzeit », brummt Nelson. « Eisenzeit », verbessert Ruth automatisch. « Übrigens, Nelson, Max hat heute auch menschliche Knochen gefunden. » « Aus der Eisenzeit ? », fragt Nelson. « Wir vermuten eher, dass sie römisch sind. Anscheinend wurden sie unter einer Hauswand vergraben.
Komm, ich zeig's dir. Ruth geht den beiden Männern vor aus den Hang hin unter, auf die Grabungsstätte zu, und jetzt bemerkt Nelson, dass es ringsum von solchen seltsamen Wällen und Hügeln nur so wimmelt. Manche sind kreisförmig angeordnet, andere stehen vereinzelt da wie große Maulwurfshügel. « Was sind denn das für Hubbel ? », fragt er Max Grey. « Vermutlich Mauern. » Max hat dieses Strahlen im Gesicht, das man bei Archäologen immer sieht, bevor sie zu einem todlangweiligen Vortrag ansetzen. « Wir glauben nämlich, dass hier einmal eine komplette Siedlung war, schließlich sind wir ja ganz in der Nähe der alten Römerstraße. Von außen sieht man allerdings nur braune Linien im Gras, Bewuchsmerkmale und so etwas. » Nelson dreht sich um und mustert den sanft geschwungenen Wall hinter ihnen.
Den kann er sich gerade noch als Mauer vorstellen, aber alles andere sieht einfach nur nach Gras aus. « Und die Leiche liegt unter einer Hauswand, sagen Sie ? » « Ja. Wir hatten gerade einen Probegraben ausgehoben, und da war sie plötzlich. Sieht aus, als handelte es sich um die Außenwand einer Villa, die vermutlich gar nicht mal so klein gewesen ist. » « Komischer Ort für einen Knochenfund », bemerkt Nelson. « Unter einer Wand ? » « Vielleicht ist es ja ein Fundamentopfer », sagt Max. « Und was soll das sein ? » « Die Kelten und mitunter auch noch die Römer haben Tote unter Wänden und Türschwellen beigesetzt, als Opfergaben an die Götter Janus und Terminus. » « Terminus ? » « Der Gott der Grenzen. » « Zu dem bete ich auch immer, wenn ich am Flughafen bin. Und wer war der andere ? » « Janus, der Gott der Türen und Tore. »
« Dann haben die also Menschen umgebracht und deren Leichen unter ihre Häuser gelegt ? Ganz schön extravagante Glücksbringer. » « Wir können nicht genau sagen, ob sie absichtlich getötet wurden oder bereits tot waren », erwidert Max nüchtern. « Es handelt sich allerdings oft um Kinderleichen. » « Großer Gott. » Inzwischen haben sie den Graben erreicht, der von einer blauen Plane geschützt wird. Ruth zieht die Abdeckung beiseite und kniet sich an den Rand. Nelson hockt sich neben sie. Er schaut in ein ordentlich ausgehobenes, rechteckiges Loch - wie oft hat er sich schon gewünscht, seine Spurensicherungsleute wären auch so sorgfältig wie die Archäologen ! - mit akkuraten, geraden Seitenwänden.
Der Graben ist gut einen Meter tief, und Nelson sieht den Querschnitt durch die Bodenschichten, erkennt genau, wo der Mutterboden in den Schwemmboden und schließlich in die Kalkschicht übergeht. Unter dem Kalk entdeckt er eine Reihe aus grauen Steinen, und gleich daneben ist ein tieferes Loch ausgehoben, auf dessen Grund es weißlich schimmert. « Habt ihr sie noch gar nicht ausgegraben ? », fragt Nelson. « Nein », sagt Ruth. « Das muss man erst noch alles dokumentieren und das Grab und das Skelett auf dem Plan einzeichnen, damit wir uns über den Kontext klarwerden können. Vor allem müssen wir überprüfen, wie die Leiche ausgerichtet ist. Wenn sie beispielsweise nach Osten schaut, kann das sehr bedeutsam sein. » « Die Patres haben uns früher immer erzählt, wir sollen mit den Füßen nach Osten schlafen. » Dar an hat Nelson ewig nicht mehr gedacht. « Damit wir direkt in den Himmel laufen können, falls wir in der Nacht sterben. » « Ein interessantes Beispiel dafür, wie hartnäckig sich Aberglaube hält », entgegnet Ruth gleichgültig, und Nelson erinnert sich, dass sie für Religion absolut nichts übrighat.
« Kirchen », fährt sie fort, « stehen fast immer auf einer Ost- West-, nie auf einer Nord-Süd-Achse. » « Werd ich mir merken. » « Und manchmal », wirft Max ein, « werden Männer mit den Füßen nach Westen und Frauen mit den Füßen nach Osten beigesetzt. » « Klingt irgendwie sexistisch. » Nelson richtet sich auf. « Was dir natürlich völlig fremd ist », stichelt Ruth. « Total. Neulich war ich noch auf einer Fortbildung zur Neudefinition der Geschlechterrollen bei der Polizei. » « Und, wie war's ? » « Beschissen. Ich bin nach dem Mittagessen gegangen. » Ruth lacht, und Max, der schon ein missbilligendes Gesicht aufsetzen wollte, lächelt ebenfalls und mustert Ruth und Nelson dabei aufmerksam. Offenbar geht mehr zwischen den beiden vor, als er gedacht hätte. « Wir wollten gerade auf einen Drink ins Phoenix », sagt Ruth jetzt. « Magst du nicht mitkommen ? » « Ich kann leider nicht », sagt Nelson bedauernd. « Ich muss noch zu so einer Festivität. » « Eine Festivität ? » « Ein Wohltätigkeitsball zur Unterstützung des Festivals. Oben auf der Burg, Abendgarderobe und das ganze Programm.
Michelle will da unbedingt hin. » « Habt ihr ein Leben », meint Ruth. Nelson grunzt nur zur Antwort. Er kann sich kaum etwas Schlimmeres vorstellen, als wie ein Pinguin im Smoking zwischen lauter Künstlertypen herumzustolzieren. Doch nicht nur seine Frau will hin, auch sein Chef, Gerry Whitcliffe, hat dar auf bestanden, dass Nelson sich dort blickenlässt. « Das ist genau die PR, die unsere Dienststelle jetzt braucht », hat er erklärt und sich den Hinweis verkniffen, dass Nelson mit seiner Handhabung der Salzmoor-Sache überhaupt erst den Grund geliefert hat, war um die örtliche Polizeidienststelle jetzt ihr Image in der Öffentlichkeit aufpolieren muss. PR ! Sonst noch was ? « Wie schade », sagt Max leichthin und hebt dabei den Arm, als wollte er Ruth um die Schultern fassen. « Dann vielleicht ein andermal. » Nelson sieht ihnen nach. Die Terrasse des Phoenix füllt sich bereits mit frühabendlichen Gästen.
Er hört Gelächter, das Klirren von Gläsern und kann sich nicht gegen den Wunsch wehren, dass Leahs Onkel bald der Cider ausgeht. 2Ruth zuckelt über die A47 zurück nach King's Lynn. Obwohl es bereits nach acht ist, herrscht noch dichter Verkehr. Wo fahren die bloß alle hin ?, denkt Ruth und trommelt ungeduldig aufs Lenkrad, während sie die Blechlawine aus Lastern, Autos, Wohnwagen und Minivans draußen betrachtet. Es ist doch noch gar keine Urlaubszeit, und für den Schulabhol- oder auch nur den Feierabendverkehr ist es schon viel zu spät. War um sind diese Leute bloß alle auf dem Weg nach Narborough, Marham und West Winch ? Wieso sind sie gerade in diesem ganz speziellen Höllenkreis gefangen ? Seit etlichen Kilometern fährt Ruth jetzt schon hinter einem dicken BMW, auf dessen hinterer Ablage selbstgefällig zwei Reitkappen thronen. Langsam entwickelt sie einen regelrechten Hass auf diese BMW-Besitzer mit ihrem Aufkleber von Longleat House, dem personalisierten Nummernschild - SH3LLY 40 - und ihren Reitausflügen am Wochenende. Wahrscheinlich mögen sie eigentlich überhaupt keine Pferde. Ruth, die in einem Vorort von London aufgewachsen ist, hat selbst nie auf einem Pferd gesessen, hegt aber eine heimliche Vorliebe für Pferdebücher. Diese Shelly hat den Wagen unter Garantie zum vierzigsten Geburtstag bekommen, zusammen mit einem Karibikurlaub und einer ganz besonderen Botox-Behandlung. Ruth wird in zwei Monaten vierzig. Sie hat den Besuch im Pub genossen, obwohl sie selbst nur Orangensaft getrunken hat. Max hat hochinteressante Dinge über römische Bestattungsriten erzählt. Man halte die Römer immer für besonders zivilisiert, weil sie sich so entsetzt über die barbarischen Sitten der Eisenzeit zeigten, dabei gebe es zahllose Belege dafür, dass es auch bei ihnen noch Bestattungen als Strafmaßnahmen, rituelle Tötungen und sogar Kindsmorde gab. Der Schädel eines kleinen Jungen, der vor etwa zehn Jahren in St. Albans gefunden worden war, belege beispielsweise, dass sein Besitzer zunächst zu Tode geprügelt und dann enthauptet worden sei. Und in der Grafschaft Kent, in der Nähe von Springfield, habe man an allen vier Ecken eines römischen Tempels Fundamentopfer in Gestalt zweier Säuglinge gefunden.
Ruth fröstelt und fährt sich unwillkürlich mit der Hand über den Bauch. Trotz seiner Geschichten von Tod und abgetrennten Schädeln hat sie sich in Max' Gesellschaft sehr wohl gefühlt. Er ist in Norfolk aufgewachsen und liebt die Gegend offensichtlich. Ruth hat ihm von ihrem Häuschen an der nördlichen Küste erzählt, von den Winden, die direkt aus Sibirien her überwehen, und vom Moor, wo der Strandflieder lila blüht. Max hat erklärt, dass er es gern einmal sehen würde, und Ruth hat erwidert, das würde sie sehr freuen, doch weiter sind beide nicht gegangen. Immerhin hat Ruth aber zugesagt, in der nächsten Woche noch einmal zur Ausgrabungsstätte zu kommen. Max erwartet ein Studententeam aus Sussex. Sie werden auf den Feldern ringsum zelten und den ganzen Mai und Juni mit Grabungen verbringen. Einen Moment lang wird Ruth ganz nostalgisch, denkt zurück an ihre eigenen sommerlichen Ausgrabungen : an die Kameradschaft, die Lieder und Joints abends am Lagerfeuer, die tägliche Knochenarbeit.
Den Mangel an ordentlichen Toiletten oder Duschen vermisst sie allerdings überhaupt nicht. Inzwischen ist sie einfach zu alt für so etwas. Zum Glück biegt SH3LLY 40 jetzt nach links ab, und Ruth sieht bereits die Hinweisschilder nach Snettisham und Hunstanton. Sie ist fast daheim. Im Radio, das wie immer auf den Kultursender Radio 4 gestellt ist, ist von Trauer die Rede : « Ein Jegliches hat seine Zeit. » Ruth liebt den Sender heiß und innig, doch es gibt eindeutig Grenzen. Sie schaltet auf Kassettenrecorder um - ihr Wagen ist viel zu alt, um einen CD-Player zu haben - , und gleich dar auf ertönt Bruce Springsteen mit seinem ehrlichen, echt amerikanischen Röhren. Ruth liebt Springsteen, die leere Landstraße, die zum Scheitern verurteilten Liebesgeschichten, die guten Freunde, die alle Bobby Joe heißen und am Leben verzweifeln, und kein Spott oder Hohn wird sie jemals davon abbringen. Sie dreht die Musik lauter. Inzwischen fährt sie unter hohen Bäumen hindurch, am Straßenrand wuchert Bärenklau. Gleich werden die Bäume wie von Zauberhand verschwinden, und das Meer wird sich vor ihr ausbreiten. Dieser Augenblick, wenn sich der Horizont plötzlich ins Unendliche dehnt, das Blau in Weiß und dann in Gold übergeht, wird für sie immer etwas Besonderes bleiben. Ruth fährt schneller, und als sie den Campingplatz erreicht, hinter dem die Straße nach Hause beginnt, hält sie an, steigt aus und lässt sich den Seewind durchs Haar wehen. Vor ihr liegen die Dünen, die der Wind zu den abenteuerlichsten Gestalten formt. Die Flut hat noch nicht eingesetzt, das Meer ist kaum zu sehen, nur als bläulicher Streifen hinter dem grauen Sand. Hoch über ihr kreischen Möwen, das rote Segel eines Windsurfers gleitet stumm vorbei.
Ohne Vorwarnung beugt Ruth sich vor und muss sich heftig übergeben. Die Burg, Norwich Castle, das viktorianische Sahnehäubchen auf dem ohnehin schon gehaltvollen mittelalterlichen Kuchen der Stadt, beherbergt eigentlich ein Museum. Früher war Nelson oft mit seinen Töchtern dort. Sie waren hin und weg von den Verliesen, und Laura hegte eine heimliche Schwäche für die Teekannensammlung. Jetzt ist er aber schon seit Jahren nicht mehr dort gewesen, und als er mit seiner Frau Michelle den kurvigen Pfad hin aufsteigt, der hell erleuchtet und mit Wappenbannern geschmückt ist, trägt er sich mit den schlimmsten Befürchtungen. Die sich gleich dar auf bewahrheiten, als sie von Dienstmägden empfangen werden. Es stand zwar nichts von Kostümierung auf der Einladung, aber diese Damen stellen ganz eindeutig Mägde dar : Sie tragen weit ausgeschnittene, pseudomittelalterliche Kleider und Rüschenhauben auf dem Kopf. Glücklicherweise servieren sie Champagner, und Nelson schnappt sich das vollste Glas auf dem Tablett, was Michelle natürlich nicht entgeht. « Du kannst den Hals wie immer nicht voll genug kriegen, was ? », kommentiert sie und greift selbst nach einem Glas Orangensaft. « Wenn ich diesen Abend überstehen soll, brauche ich Alkohol », erklärt Nelson, während sie auf die schwere hölzerne Pforte zugehen. « Du hast mir gar nicht erzählt, dass es ein Kostümfest ist. » « Ist es auch nicht. » Michelle trägt ein silbernes Minikleid, das beim besten Willen nicht mittelalterlich aussieht. Im Grunde findet Nelson sogar, dass ihm ein bisschen mehr Stoff nicht geschadet hätte, eine Schleppe zum Beispiel oder eine Krinoline oder was Frauen damals sonst so trugen.
Doch sie sieht umwerfend dar in aus, das muss er zugeben. Sie gelangen in einen runden Empfangssaal, wo noch mehr Champagner auf sie wartet, dazu ein Lautenspieler sowie, zu Nelsons größerem Entsetzen, ein Hofnarr. Nelson weicht einen Schritt zurück. « Nun geh schon rein. » Michelle gibt ihm von hinten einen Schubs. « Dadrin ist ein Mann in Strumpfhosen ! » « Na und ? Der wird dir schon nichts tun. » Nelson betritt zögernd den Saal, den Blick misstrauisch auf den Hofnarren gerichtet. Dadurch entgeht ihm eine weitere Gefahr, die von der anderen Seite auf ihn zusteuert. « Ah, Harry ! Und die bildschöne Mrs. Nelson. » Whitcliffe, in eleganter Smokingjacke und offenem Hemd, was er anscheinend für irrsinnig trendig hält. Außerdem hat er einen weißen Schal um den Hals. Flachwichser. « Guten Abend. » Whitcliffe begrüßt Michelle mit einem Handkuss. Der Hofnarr nähert sich hoffnungsvoll und schüttelt seine Glöckchen. « Sie haben mit keinem Wort erwähnt, dass hier so komisch angezogene Figuren rumlaufen », sagt Nelson.
Wie immer, wenn er unter Stress steht, drängt sich sein nordenglischer Akzent in den Vordergrund. « Das Motto lautet eben ‹ Mittelalter › », erläutert Whitcliffe zuvorkommend. « Edward organisiert so etwas immer ganz hervorragend. » « Edward ? » « Edward Spens », sagt Whitcliffe. « Ich habe Ihnen doch erzählt, dass der heutige Abend von Spens & Co ermöglicht wird. » « Von dem Baulöwen, ja. » « Bauunternehmer », lässt sich eine Stimme von hinten vernehmen. Nelson dreht sich um und sieht einen gutaussehenden Mann seines Alters, in geradezu vorbildlicher Abendgarderobe. Er gibt sich nicht mit weißen Schals und offenem Hemdkragen ab, sondern trägt einen ganz traditionellen Smoking und ein weißes Hemd, das seine leicht gebräunte Haut und das dichte dunkle Haar gut zur Geltung bringt. Nelson findet ihn auf den ersten Blick unsympathisch. Whitcliffe teilt dieses Gefühl offenbar nicht. « Edward ! Darf ich vorstellen ? Edward Spens, unser Gastgeber. Edward, das sind Detective Chief Inspector Harry Nelson und seine bezaubernde Gattin Michelle. » Edward Spens mustert Michelle anerkennend. « Ich wusste gar nicht, dass Polizisten so schöne Frauen haben, Gerry. » « Einen Vorteil muss der Job ja haben », erwidert Nelson gezwungen. Whitcliffe, der selbst nicht verheiratet ist (ein Umstand, der immer wieder zu Spekulationen Anlass gibt), schweigt. Michelle, erfahren im Umgang mit männlicher Bewunderung, reagiert mit einem strahlenden und doch distanzierten Lächeln. « Nelson », fährt Edward Spens fort. « Sind Sie nicht der Wachtmeister, der mit dieser Salzmoor-Sache zu tun hatte ? » « Ja. » Nelson spricht nur ungern über seine Arbeit und hat eine ausgeprägte Abneigung gegen das Wort « Wachtmeister ». « Schreckliche Geschichte. » Spens macht ein ernstes Gesicht. « Ja. » « Aber Gott sei Dank haben Sie ja alles aufgeklärt. » Spens klopft ihm herzhaft auf die Schulter. Ruth Galloway sei Dank vor allem, denkt Nelson bei sich. Doch Ruth hat dar auf bestanden, so wenig wie möglich mit dem Fall in Verbindung gebracht zu werden. Laut sagt er : « Solche Fälle gibt es zum Glück nicht allzu oft. »
© 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Das Haus wartet. Es weiß. Als ich gestern opferte, waren die Eingeweide schwarz. Nacht senkt sich über alles. Draußen ist Frühling, doch hier im Haus herrscht Kälte, ein Bahrtuch aus Verzweiflung, das alles bedeckt. Wir sind verflucht. Dies ist kein Haus mehr, sondern ein Grab. Kein Vogel singt im Garten, und nicht einmal die Sonne wagt es, zu den Fenstern her einzudringen. Keiner weiß, wie der Fluch aufzuheben ist. Sie haben kapituliert, liegen einfach da, als warteten sie auf den Tod. Doch ich weiß es, und das Haus weiß es ebenfalls. Nur Blut kann uns jetzt noch retten.
Ein leichter Wind fährt durch das lange Gras oben auf dem Hügel. Aus der Nähe wirkt die Landschaft ganz alltäglich: nur Heidekraut und struppiges Weideland und hin und wieder ein weißer Stein, der wie ein Wegweiser dar aus hervorragt. Doch würde man sich über diesen unauffälligen Hügeln in die Lüfte erheben, sähe man die kreisrunden Erdwälle, die dunkleren Rechtecke zwischen all dem Grün und Braun: sichere Anzeichen, dass dieses Land bereits oft, sehr oft besiedelt war. Ruth Galloway, die langsam den Hang her aufkommt, braucht keine Vogelperspektive, um zu wissen, dass es sich hier um archäologisch bedeutsames Terrain handelt.
Seit Tagen graben die Kollegen von der Universität schon auf diesem Hügel und sind dabei nicht nur auf die Überreste einer römischen Villa, sondern auch auf Spuren früherer Siedlungen aus der Bronze- und Eisenzeit gestoßen. Eigentlich hatte Ruth die Ausgrabungsstelle schon viel früher besichtigen wollen, doch sie war zu sehr damit beschäftigt, Hausarbeiten zu korrigieren und Abschlussprüfungen vorzubereiten. Es ist Mai, die Luft ist mild, erfüllt von Blütenstaub und dem Geruch nach Regen. Ruth bleibt stehen, um ein wenig zu verschnaufen, und genießt das Gefühl, an einem Frühlingsnachmittag im Freien zu sein. Bisher war dieses Jahr recht düster, wenn auch mit ein paar unerwarteten Lichtblicken, und umso mehr gefällt es ihr jetzt, einfach nur dazustehen und sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen.
« Ruth ! » Sie dreht sich um und sieht einen Mann auf sich zukommen. Er trägt Jeans und ein fleckiges Arbeitshemd und achtet gar nicht auf den steilen Hang, fällt kaum aus dem Rhythmus seiner langen Schritte. Er ist groß und schlank, das lockige dunkle Haar wird an den Schläfen bereits grau. Ruth erkennt ihn, so wie er sie offensichtlich auch, weil er vor ein paar Monaten bei ihr am Fachbereich einen Vortrag gehalten hat: Doktor Max Grey von der Universität Sussex, Archäologe und Experte für das römische Britannien. « Freut mich, dass Sie es einrichten konnten », sagt er und sieht tatsächlich erfreut aus. Eine angenehme Abwechslung. Die meisten Archäologen mögen andere Fachleute auf ihrem Territorium ganz und gar nicht. Und Ruth ist eine ausgewiesene Fachfrau für Knochen, Verwesungsprozesse und Tod.
Sie leitet die Abteilung für forensische Archäologie an der Universität North Norfolk. « Sind Sie schon an den Grundmauern? », erkundigt sie sich, während sie hinter Max bis zum Hügelrücken hinauf steigt. Hier oben ist es kühler. Hoch über ihren Köpfen singt eine Lerche. « Ja, ich denke schon. » Max deutet in den sorgfältig ausgehobenen Graben direkt vor ihnen. Auf halber Höhe ist eine Art Saum aus grauen Steinen zu erkennen. « Aber wir haben auch noch etwas anderes gefunden, das Sie interessieren dürfte. » Ruth weiß schon Bescheid, ohne dass er es aussprechen muss. « Knochen », sagt sie. Detective Chief Inspector Harry Nelson brüllt aus vollem Hals. Obwohl er bei der Arbeit als aufbrausend verschrien ist (zu Hause, bei Frau und Töchtern, ist er dagegen lammfromm), neigt er normalerweise nicht zum Brüllen. Schroffe Befehle sind mehr sein Stil, meist im Vorbeigehen hingeknurrt, auf dem Weg zur nächsten Aufgabe. Er ist ein Mann, der schnelle Entscheidungen trifft und einen kurzen Geduldsfaden hat. Ein Macher, der gern Verbrecher fängt, Verdächtige verhört, zu schnell fährt und zu viel isst.
Besprechungen, sinnlose Diskussionen und gute Ratschläge, auf die er auch noch hören soll, kann er nicht ausstehen. Und vor allem kann er es nicht ausstehen, an einem schönen Frühlingstag im Büro zu hocken und vergeblich zu versuchen, seinem neuen Computer irgendein Lebenszeichen zu entlocken. Daher das Gebrüll. « Leah ! », poltert er. Leah, Nelsons Verwaltungsassistentin (oder Sekretärin, wie er selbst gern sagt), kommt zögernd ins Zimmer. Sie ist ein zierliches dunkelhaariges Persönchen von fünfundzwanzig, dem die jüngeren Beamten allesamt zu Füßen liegen. Nelson allerdings betrachtet sie hauptsächlich als Kaffeequelle und Verbindungsfrau zu all der neuen Technik, die mit jedem Tag neumodischer und launischer zu werden scheint. « Leah », sagt er anklagend, « der Bildschirm ist schon wieder schwarz. » « Haben Sie ihn eventuell ausgeschaltet ? », fragt Leah. Nelson hat schon häufiger wutentbrannt Stecker aus der Wand gerissen und damit einmal sogar sämtliche Lampen im zweiten Stock lahmgelegt. « Nein. Na ja, ein-, zweimal vielleicht. » Leah kriecht unter den Schreibtisch, um die Kabel zu prüfen. « Scheint alles in Ordnung zu sein », sagt sie. « Drücken Sie mal eine Taste. » « Welche denn ? » « Das dürfen Sie sich aussuchen. » Nelson haut auf die Leertaste, und der Computer erwacht wie von Zauberhand zum Leben und äußert ein süffisantes « Guten Tag, DCI Nelson ».
« Ach, leck mich doch », brummt Nelson und greift nach der Maus. « Wie bitte ? » Leah zieht die Augenbrauen hoch. « Sie doch nicht », sagt Nelson. « Das Ding hier. Auf Smalltalk im Büro kann ich verzichten. » « Wahrscheinlich ist er einfach dar auf programmiert, Sie zu begrüßen », erwidert Leah gelassen. « Meiner spielt mir immer ein Liedchen vor. » « Mir kommen gleich die Tränen. » « Chief Superintendent Whitcliffe sagt, wir müssen uns alle an die neuen Geräte gewöhnen. Heute um vier findet eine Einführung statt. » « Da kann ich nicht », brummt Nelson, ohne aufzusehen. « Ich bin bei einer Fallbesprechung draußen in Swaffham. » « Ist da nicht auch diese römische Ausgrabungsstätte? », fragt Leah. « Das kam neulich in Time Team. » Weil sie gerade ein paar Aktenordner im Regal zurechtrückt, dreht sie Nelson den Rücken zu und verpasst das plötzliche Interesse in seiner Miene. « Eine Ausgrabungsstätte ? Archäologisch, meinen Sie? » « Genau. » Leah dreht sich wieder um. « Anscheinend haben sie da draußen eine komplette römische Siedlung gefunden. » Nelson beugt sich angelegentlich über seinen Computer. « Da wimmelt es jetzt also von Archäologen, was? » « Ja. Mein Onkel hat das Pub dort, das Phoenix, und er sagt, die sitzen jeden Abend bei ihm rum.
Er musste schon seine Cider-Vorräte aufstocken. » « Na, das passt ja », knurrt Nelson. Er kann sich lebhaft vorstellen, dass Archäologen natürlich nur Cider trinken, obwohl doch alle Welt weiß, dass echte Kerle ein ordentliches Bitter brauchen. Archäologinnen hingegen . . . da sieht die Sache schon wieder anders aus.
« Vielleicht schaue ich auf dem Rückweg kurz dort vorbei », sagt er. « Interessieren Sie sich etwa für Geschichte? », fragt Leah fassungslos. « Ich ? Klar doch. Faszinierende Sache. Ich verpasse keine Folge von Die Scharfschützen. » « Dann sollten Sie sich mal für unser Pub-Quiz-Team aufstellen lassen. » « Ich leide unter Lampenfieber », erwidert Nelson knapp und tippt dabei mit einem Finger sein Passwort ein: Nelson1. Er hat es gern eindeutig. « Sind Sie so nett, Kindchen, und bringen mir eine Tasse Kaffee, ja? » Swaffham ist eines dieser hübschen Marktstädtchen, wie Nelson sie mehrmals täglich durchfährt, ohne groß dar auf zu achten. Schon ein paar Kilometer weiter ist man mitten auf dem platten Land: Felder, auf denen das Gras hüfthoch steht, Wegweiser, die in zwei Richtungen gleichzeitig zeigen, kreuzende Kühe auf der Straße, die ein junger Mann mit tumbem Gesichtsausdruck auf einem Quadbike vor sich hertreibt. Innerhalb von Sekunden hat Nelson sich völlig verfranst. Er will schon aufgeben, als ihm plötzlich die Idee kommt, den tumben Jüngling nach dem Phoenix zu fragen.
Wenn man in Norfolk nicht weiterweiß, erkundigt man sich einfach nach dem nächsten Pub. Wie sich her ausstellt, ist das Phoenix ganz in der Nähe. Nelson wendet mitten auf der schlammigen Fahrbahn, biegt in eine Straße ein, die kaum mehr als eine Schotterpiste ist, und da ist es auch schon, ein kleines reetgedecktes Haus mit Blick auf einen steilen, grasbewachsenen Hang. Nelson stellt seinen Wagen auf dem Parkplatz ab, und als er auf der anderen Straßenseite, am Fuß des Hanges, den klapprigen roten Renault entdeckt, bekommt er Herzklopfen. Als freudige Erregung will er es nicht wahrhaben. Ich habe sie einfach eine ganze Zeit nicht gesehen, sagt er sich. Schön, mal wieder zu hören, wie's ihr geht. Er hat keine Vorstellung davon, wo die Ausgrabungsstätte ist oder wie sie aussehen könnte, denkt sich aber, dass er oben vom Hügel aus einen besseren Überblick haben wird.
Es ist ein schöner Abend, lange Schatten fallen auf das Gras, die Luft ist mild. Doch Nelson achtet kaum auf seine Umgebung: Er denkt an eine trostlose Küste, an Leichen, die von der erbarmungslosen Flut ins Meer gespült werden, an die Umstände, unter denen er Ruth Galloway kennengelernt hat. Vergangenen Winter hat er sie als forensische Archäologin hinzugezogen, nachdem draußen am Salzmoor, einem gottverlassenen Flecken an der Küste im Norden Norfolks, menschliche Knochen aufgetaucht waren. Und obwohl sich rasch her ausstellte, dass diese Knochen weit über zweitausend Jahre alt waren, wurde Ruth anschließend noch in einen sehr viel aktuelleren Fall verwickelt, die Verschleppung und mutmaßliche Ermordung eines fünfjährigen Mädchens. Seit sie den Fall vor drei Monaten zu Ende gebracht haben, hat Nelson Ruth nicht mehr gesehen.
Oben auf dem Hügel entdeckt er erst einmal nur noch weitere Hügel. Interessant sind nur die paar Gräben in einiger Entfernung und zwei Gestalten, die einen kurvigen Erdwall entlangkommen: eine dunkelhaarige Frau in weiter dunkler Kleidung und ein hochgewachsener Mann mit erdverschmierter Jeans. Unter Garantie ein Cider-Trinker. « Ruth ! », ruft Nelson. Er sieht sie lächeln; sie hat ein auffallend hübsches Lächeln, was er ihr natürlich niemals sagen würde. « Hallo, Nelson ! » Gut sieht sie aus, denkt er, mit ihren strahlenden Augen und den vom Wandern geröteten Wangen. Abgenommen hat sie allerdings nicht, und Nelson stellt fest, dass ihn das eigentlich ziemlich freut. « Was machst du denn hier? », fragt Ruth.
Sie begrüßen sich nicht mit Küsschen auf die Wange, geben sich nicht einmal die Hand, doch beide strahlen über das ganze Gesicht. « Ich war sowieso in der Gegend und hatte mitgekriegt, dass hier eine Ausgrabung ist. » « Schaust du etwa neuerdings Time Team ? » « War schon immer meine Lieblingssendung. » Ruth lächelt zweifelnd und stellt dann ihren Begleiter vor. « Das ist Doktor Max Grey von der Universität Sussex. Er leitet die Ausgrabung hier. Max, das ist Detective Chief Inspector Nelson. » Der Typ, Max, mustert ihn überrascht, und Nelson merkt selbst, wie wenig sein Dienstrang zu diesem goldenen Frühlingsabend passen will. Verbrechen geschehen nun mal, auch hier, würde er diesem Max Grey am liebsten ins Gesicht sagen. Aber Akademiker haben es ja grundsätzlich nicht so mit der Polizei. Immerhin ringt sich Doktor Grey jetzt ein Lächeln ab. « Dann interessieren Sie sich also für Archäologie, DCI Nelson ? » « Nur so nebenbei », wiegelt Nelson ab. « Ruth . . . Doktor Galloway und ich haben vor einiger Zeit bei einem Fall zusammengearbeitet. » « Die Sache am Salzmoor ? », fragt Max mit großen Augen. « Ja », antwortet Ruth knapp. « DCI Nelson hat mich hinzugezogen, nachdem er Knochen im Moor gefunden hatte. » « Dabei waren die aus der gottverdammten Steinzeit », brummt Nelson. « Eisenzeit », verbessert Ruth automatisch. « Übrigens, Nelson, Max hat heute auch menschliche Knochen gefunden. » « Aus der Eisenzeit ? », fragt Nelson. « Wir vermuten eher, dass sie römisch sind. Anscheinend wurden sie unter einer Hauswand vergraben.
Komm, ich zeig's dir. Ruth geht den beiden Männern vor aus den Hang hin unter, auf die Grabungsstätte zu, und jetzt bemerkt Nelson, dass es ringsum von solchen seltsamen Wällen und Hügeln nur so wimmelt. Manche sind kreisförmig angeordnet, andere stehen vereinzelt da wie große Maulwurfshügel. « Was sind denn das für Hubbel ? », fragt er Max Grey. « Vermutlich Mauern. » Max hat dieses Strahlen im Gesicht, das man bei Archäologen immer sieht, bevor sie zu einem todlangweiligen Vortrag ansetzen. « Wir glauben nämlich, dass hier einmal eine komplette Siedlung war, schließlich sind wir ja ganz in der Nähe der alten Römerstraße. Von außen sieht man allerdings nur braune Linien im Gras, Bewuchsmerkmale und so etwas. » Nelson dreht sich um und mustert den sanft geschwungenen Wall hinter ihnen.
Den kann er sich gerade noch als Mauer vorstellen, aber alles andere sieht einfach nur nach Gras aus. « Und die Leiche liegt unter einer Hauswand, sagen Sie ? » « Ja. Wir hatten gerade einen Probegraben ausgehoben, und da war sie plötzlich. Sieht aus, als handelte es sich um die Außenwand einer Villa, die vermutlich gar nicht mal so klein gewesen ist. » « Komischer Ort für einen Knochenfund », bemerkt Nelson. « Unter einer Wand ? » « Vielleicht ist es ja ein Fundamentopfer », sagt Max. « Und was soll das sein ? » « Die Kelten und mitunter auch noch die Römer haben Tote unter Wänden und Türschwellen beigesetzt, als Opfergaben an die Götter Janus und Terminus. » « Terminus ? » « Der Gott der Grenzen. » « Zu dem bete ich auch immer, wenn ich am Flughafen bin. Und wer war der andere ? » « Janus, der Gott der Türen und Tore. »
« Dann haben die also Menschen umgebracht und deren Leichen unter ihre Häuser gelegt ? Ganz schön extravagante Glücksbringer. » « Wir können nicht genau sagen, ob sie absichtlich getötet wurden oder bereits tot waren », erwidert Max nüchtern. « Es handelt sich allerdings oft um Kinderleichen. » « Großer Gott. » Inzwischen haben sie den Graben erreicht, der von einer blauen Plane geschützt wird. Ruth zieht die Abdeckung beiseite und kniet sich an den Rand. Nelson hockt sich neben sie. Er schaut in ein ordentlich ausgehobenes, rechteckiges Loch - wie oft hat er sich schon gewünscht, seine Spurensicherungsleute wären auch so sorgfältig wie die Archäologen ! - mit akkuraten, geraden Seitenwänden.
Der Graben ist gut einen Meter tief, und Nelson sieht den Querschnitt durch die Bodenschichten, erkennt genau, wo der Mutterboden in den Schwemmboden und schließlich in die Kalkschicht übergeht. Unter dem Kalk entdeckt er eine Reihe aus grauen Steinen, und gleich daneben ist ein tieferes Loch ausgehoben, auf dessen Grund es weißlich schimmert. « Habt ihr sie noch gar nicht ausgegraben ? », fragt Nelson. « Nein », sagt Ruth. « Das muss man erst noch alles dokumentieren und das Grab und das Skelett auf dem Plan einzeichnen, damit wir uns über den Kontext klarwerden können. Vor allem müssen wir überprüfen, wie die Leiche ausgerichtet ist. Wenn sie beispielsweise nach Osten schaut, kann das sehr bedeutsam sein. » « Die Patres haben uns früher immer erzählt, wir sollen mit den Füßen nach Osten schlafen. » Dar an hat Nelson ewig nicht mehr gedacht. « Damit wir direkt in den Himmel laufen können, falls wir in der Nacht sterben. » « Ein interessantes Beispiel dafür, wie hartnäckig sich Aberglaube hält », entgegnet Ruth gleichgültig, und Nelson erinnert sich, dass sie für Religion absolut nichts übrighat.
« Kirchen », fährt sie fort, « stehen fast immer auf einer Ost- West-, nie auf einer Nord-Süd-Achse. » « Werd ich mir merken. » « Und manchmal », wirft Max ein, « werden Männer mit den Füßen nach Westen und Frauen mit den Füßen nach Osten beigesetzt. » « Klingt irgendwie sexistisch. » Nelson richtet sich auf. « Was dir natürlich völlig fremd ist », stichelt Ruth. « Total. Neulich war ich noch auf einer Fortbildung zur Neudefinition der Geschlechterrollen bei der Polizei. » « Und, wie war's ? » « Beschissen. Ich bin nach dem Mittagessen gegangen. » Ruth lacht, und Max, der schon ein missbilligendes Gesicht aufsetzen wollte, lächelt ebenfalls und mustert Ruth und Nelson dabei aufmerksam. Offenbar geht mehr zwischen den beiden vor, als er gedacht hätte. « Wir wollten gerade auf einen Drink ins Phoenix », sagt Ruth jetzt. « Magst du nicht mitkommen ? » « Ich kann leider nicht », sagt Nelson bedauernd. « Ich muss noch zu so einer Festivität. » « Eine Festivität ? » « Ein Wohltätigkeitsball zur Unterstützung des Festivals. Oben auf der Burg, Abendgarderobe und das ganze Programm.
Michelle will da unbedingt hin. » « Habt ihr ein Leben », meint Ruth. Nelson grunzt nur zur Antwort. Er kann sich kaum etwas Schlimmeres vorstellen, als wie ein Pinguin im Smoking zwischen lauter Künstlertypen herumzustolzieren. Doch nicht nur seine Frau will hin, auch sein Chef, Gerry Whitcliffe, hat dar auf bestanden, dass Nelson sich dort blickenlässt. « Das ist genau die PR, die unsere Dienststelle jetzt braucht », hat er erklärt und sich den Hinweis verkniffen, dass Nelson mit seiner Handhabung der Salzmoor-Sache überhaupt erst den Grund geliefert hat, war um die örtliche Polizeidienststelle jetzt ihr Image in der Öffentlichkeit aufpolieren muss. PR ! Sonst noch was ? « Wie schade », sagt Max leichthin und hebt dabei den Arm, als wollte er Ruth um die Schultern fassen. « Dann vielleicht ein andermal. » Nelson sieht ihnen nach. Die Terrasse des Phoenix füllt sich bereits mit frühabendlichen Gästen.
Er hört Gelächter, das Klirren von Gläsern und kann sich nicht gegen den Wunsch wehren, dass Leahs Onkel bald der Cider ausgeht. 2Ruth zuckelt über die A47 zurück nach King's Lynn. Obwohl es bereits nach acht ist, herrscht noch dichter Verkehr. Wo fahren die bloß alle hin ?, denkt Ruth und trommelt ungeduldig aufs Lenkrad, während sie die Blechlawine aus Lastern, Autos, Wohnwagen und Minivans draußen betrachtet. Es ist doch noch gar keine Urlaubszeit, und für den Schulabhol- oder auch nur den Feierabendverkehr ist es schon viel zu spät. War um sind diese Leute bloß alle auf dem Weg nach Narborough, Marham und West Winch ? Wieso sind sie gerade in diesem ganz speziellen Höllenkreis gefangen ? Seit etlichen Kilometern fährt Ruth jetzt schon hinter einem dicken BMW, auf dessen hinterer Ablage selbstgefällig zwei Reitkappen thronen. Langsam entwickelt sie einen regelrechten Hass auf diese BMW-Besitzer mit ihrem Aufkleber von Longleat House, dem personalisierten Nummernschild - SH3LLY 40 - und ihren Reitausflügen am Wochenende. Wahrscheinlich mögen sie eigentlich überhaupt keine Pferde. Ruth, die in einem Vorort von London aufgewachsen ist, hat selbst nie auf einem Pferd gesessen, hegt aber eine heimliche Vorliebe für Pferdebücher. Diese Shelly hat den Wagen unter Garantie zum vierzigsten Geburtstag bekommen, zusammen mit einem Karibikurlaub und einer ganz besonderen Botox-Behandlung. Ruth wird in zwei Monaten vierzig. Sie hat den Besuch im Pub genossen, obwohl sie selbst nur Orangensaft getrunken hat. Max hat hochinteressante Dinge über römische Bestattungsriten erzählt. Man halte die Römer immer für besonders zivilisiert, weil sie sich so entsetzt über die barbarischen Sitten der Eisenzeit zeigten, dabei gebe es zahllose Belege dafür, dass es auch bei ihnen noch Bestattungen als Strafmaßnahmen, rituelle Tötungen und sogar Kindsmorde gab. Der Schädel eines kleinen Jungen, der vor etwa zehn Jahren in St. Albans gefunden worden war, belege beispielsweise, dass sein Besitzer zunächst zu Tode geprügelt und dann enthauptet worden sei. Und in der Grafschaft Kent, in der Nähe von Springfield, habe man an allen vier Ecken eines römischen Tempels Fundamentopfer in Gestalt zweier Säuglinge gefunden.
Ruth fröstelt und fährt sich unwillkürlich mit der Hand über den Bauch. Trotz seiner Geschichten von Tod und abgetrennten Schädeln hat sie sich in Max' Gesellschaft sehr wohl gefühlt. Er ist in Norfolk aufgewachsen und liebt die Gegend offensichtlich. Ruth hat ihm von ihrem Häuschen an der nördlichen Küste erzählt, von den Winden, die direkt aus Sibirien her überwehen, und vom Moor, wo der Strandflieder lila blüht. Max hat erklärt, dass er es gern einmal sehen würde, und Ruth hat erwidert, das würde sie sehr freuen, doch weiter sind beide nicht gegangen. Immerhin hat Ruth aber zugesagt, in der nächsten Woche noch einmal zur Ausgrabungsstätte zu kommen. Max erwartet ein Studententeam aus Sussex. Sie werden auf den Feldern ringsum zelten und den ganzen Mai und Juni mit Grabungen verbringen. Einen Moment lang wird Ruth ganz nostalgisch, denkt zurück an ihre eigenen sommerlichen Ausgrabungen : an die Kameradschaft, die Lieder und Joints abends am Lagerfeuer, die tägliche Knochenarbeit.
Den Mangel an ordentlichen Toiletten oder Duschen vermisst sie allerdings überhaupt nicht. Inzwischen ist sie einfach zu alt für so etwas. Zum Glück biegt SH3LLY 40 jetzt nach links ab, und Ruth sieht bereits die Hinweisschilder nach Snettisham und Hunstanton. Sie ist fast daheim. Im Radio, das wie immer auf den Kultursender Radio 4 gestellt ist, ist von Trauer die Rede : « Ein Jegliches hat seine Zeit. » Ruth liebt den Sender heiß und innig, doch es gibt eindeutig Grenzen. Sie schaltet auf Kassettenrecorder um - ihr Wagen ist viel zu alt, um einen CD-Player zu haben - , und gleich dar auf ertönt Bruce Springsteen mit seinem ehrlichen, echt amerikanischen Röhren. Ruth liebt Springsteen, die leere Landstraße, die zum Scheitern verurteilten Liebesgeschichten, die guten Freunde, die alle Bobby Joe heißen und am Leben verzweifeln, und kein Spott oder Hohn wird sie jemals davon abbringen. Sie dreht die Musik lauter. Inzwischen fährt sie unter hohen Bäumen hindurch, am Straßenrand wuchert Bärenklau. Gleich werden die Bäume wie von Zauberhand verschwinden, und das Meer wird sich vor ihr ausbreiten. Dieser Augenblick, wenn sich der Horizont plötzlich ins Unendliche dehnt, das Blau in Weiß und dann in Gold übergeht, wird für sie immer etwas Besonderes bleiben. Ruth fährt schneller, und als sie den Campingplatz erreicht, hinter dem die Straße nach Hause beginnt, hält sie an, steigt aus und lässt sich den Seewind durchs Haar wehen. Vor ihr liegen die Dünen, die der Wind zu den abenteuerlichsten Gestalten formt. Die Flut hat noch nicht eingesetzt, das Meer ist kaum zu sehen, nur als bläulicher Streifen hinter dem grauen Sand. Hoch über ihr kreischen Möwen, das rote Segel eines Windsurfers gleitet stumm vorbei.
Ohne Vorwarnung beugt Ruth sich vor und muss sich heftig übergeben. Die Burg, Norwich Castle, das viktorianische Sahnehäubchen auf dem ohnehin schon gehaltvollen mittelalterlichen Kuchen der Stadt, beherbergt eigentlich ein Museum. Früher war Nelson oft mit seinen Töchtern dort. Sie waren hin und weg von den Verliesen, und Laura hegte eine heimliche Schwäche für die Teekannensammlung. Jetzt ist er aber schon seit Jahren nicht mehr dort gewesen, und als er mit seiner Frau Michelle den kurvigen Pfad hin aufsteigt, der hell erleuchtet und mit Wappenbannern geschmückt ist, trägt er sich mit den schlimmsten Befürchtungen. Die sich gleich dar auf bewahrheiten, als sie von Dienstmägden empfangen werden. Es stand zwar nichts von Kostümierung auf der Einladung, aber diese Damen stellen ganz eindeutig Mägde dar : Sie tragen weit ausgeschnittene, pseudomittelalterliche Kleider und Rüschenhauben auf dem Kopf. Glücklicherweise servieren sie Champagner, und Nelson schnappt sich das vollste Glas auf dem Tablett, was Michelle natürlich nicht entgeht. « Du kannst den Hals wie immer nicht voll genug kriegen, was ? », kommentiert sie und greift selbst nach einem Glas Orangensaft. « Wenn ich diesen Abend überstehen soll, brauche ich Alkohol », erklärt Nelson, während sie auf die schwere hölzerne Pforte zugehen. « Du hast mir gar nicht erzählt, dass es ein Kostümfest ist. » « Ist es auch nicht. » Michelle trägt ein silbernes Minikleid, das beim besten Willen nicht mittelalterlich aussieht. Im Grunde findet Nelson sogar, dass ihm ein bisschen mehr Stoff nicht geschadet hätte, eine Schleppe zum Beispiel oder eine Krinoline oder was Frauen damals sonst so trugen.
Doch sie sieht umwerfend dar in aus, das muss er zugeben. Sie gelangen in einen runden Empfangssaal, wo noch mehr Champagner auf sie wartet, dazu ein Lautenspieler sowie, zu Nelsons größerem Entsetzen, ein Hofnarr. Nelson weicht einen Schritt zurück. « Nun geh schon rein. » Michelle gibt ihm von hinten einen Schubs. « Dadrin ist ein Mann in Strumpfhosen ! » « Na und ? Der wird dir schon nichts tun. » Nelson betritt zögernd den Saal, den Blick misstrauisch auf den Hofnarren gerichtet. Dadurch entgeht ihm eine weitere Gefahr, die von der anderen Seite auf ihn zusteuert. « Ah, Harry ! Und die bildschöne Mrs. Nelson. » Whitcliffe, in eleganter Smokingjacke und offenem Hemd, was er anscheinend für irrsinnig trendig hält. Außerdem hat er einen weißen Schal um den Hals. Flachwichser. « Guten Abend. » Whitcliffe begrüßt Michelle mit einem Handkuss. Der Hofnarr nähert sich hoffnungsvoll und schüttelt seine Glöckchen. « Sie haben mit keinem Wort erwähnt, dass hier so komisch angezogene Figuren rumlaufen », sagt Nelson.
Wie immer, wenn er unter Stress steht, drängt sich sein nordenglischer Akzent in den Vordergrund. « Das Motto lautet eben ‹ Mittelalter › », erläutert Whitcliffe zuvorkommend. « Edward organisiert so etwas immer ganz hervorragend. » « Edward ? » « Edward Spens », sagt Whitcliffe. « Ich habe Ihnen doch erzählt, dass der heutige Abend von Spens & Co ermöglicht wird. » « Von dem Baulöwen, ja. » « Bauunternehmer », lässt sich eine Stimme von hinten vernehmen. Nelson dreht sich um und sieht einen gutaussehenden Mann seines Alters, in geradezu vorbildlicher Abendgarderobe. Er gibt sich nicht mit weißen Schals und offenem Hemdkragen ab, sondern trägt einen ganz traditionellen Smoking und ein weißes Hemd, das seine leicht gebräunte Haut und das dichte dunkle Haar gut zur Geltung bringt. Nelson findet ihn auf den ersten Blick unsympathisch. Whitcliffe teilt dieses Gefühl offenbar nicht. « Edward ! Darf ich vorstellen ? Edward Spens, unser Gastgeber. Edward, das sind Detective Chief Inspector Harry Nelson und seine bezaubernde Gattin Michelle. » Edward Spens mustert Michelle anerkennend. « Ich wusste gar nicht, dass Polizisten so schöne Frauen haben, Gerry. » « Einen Vorteil muss der Job ja haben », erwidert Nelson gezwungen. Whitcliffe, der selbst nicht verheiratet ist (ein Umstand, der immer wieder zu Spekulationen Anlass gibt), schweigt. Michelle, erfahren im Umgang mit männlicher Bewunderung, reagiert mit einem strahlenden und doch distanzierten Lächeln. « Nelson », fährt Edward Spens fort. « Sind Sie nicht der Wachtmeister, der mit dieser Salzmoor-Sache zu tun hatte ? » « Ja. » Nelson spricht nur ungern über seine Arbeit und hat eine ausgeprägte Abneigung gegen das Wort « Wachtmeister ». « Schreckliche Geschichte. » Spens macht ein ernstes Gesicht. « Ja. » « Aber Gott sei Dank haben Sie ja alles aufgeklärt. » Spens klopft ihm herzhaft auf die Schulter. Ruth Galloway sei Dank vor allem, denkt Nelson bei sich. Doch Ruth hat dar auf bestanden, so wenig wie möglich mit dem Fall in Verbindung gebracht zu werden. Laut sagt er : « Solche Fälle gibt es zum Glück nicht allzu oft. »
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Autoren-Porträt von Elly Griffiths
Elly Griffiths lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Brighton. Bisher sind sieben Krimis mit der forensischen Archäologin Dr. Ruth Galloway und DCI Harry Nelson erschienen: «Totenpfad», «Knochenhaus», «Gezeitengrab», «Aller Heiligen Fluch», «Rabenkönig», «Engelskinder» und «Grabesgrund».
Bibliographische Angaben
- Autor: Elly Griffiths
- 2013, 4. Aufl., 352 Seiten, Maße: 12,5 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Handels, Tanja
- Übersetzer: Tanja Handels
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499252201
- ISBN-13: 9783499252204
- Erscheinungsdatum: 22.08.2013
Rezension zu „Knochenhaus / Ruth Galloway Bd.2 “
Ruth Galloway, Expertin für Funde aus römischer Zeit, ist etwas ganz Besonderes. The Spectator
Pressezitat
Ruth Galloway, Expertin für Funde aus römischer Zeit, ist etwas ganz Besonderes. The Spectator
Kommentar zu "Knochenhaus / Ruth Galloway Bd.2"
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