Koloß auf tönernen Füßen
Die ganze Welt blickt auf Amerikas Konflikte im Nahen und Mittleren Osten. Doch Peter Scholl-Latour wendet sich dem Geschehen im Fernen Osten zu. Er zeichnet das Bild von gigantischen machtpolitischen Kraftproben, die uns seiner Meinung nach in...
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Die ganze Welt blickt auf Amerikas Konflikte im Nahen und Mittleren Osten. Doch Peter Scholl-Latour wendet sich dem Geschehen im Fernen Osten zu. Er zeichnet das Bild von gigantischen machtpolitischen Kraftproben, die uns seiner Meinung nach in naher Zukunft erwarten: zwischen den USA auf der einen und China, Nordkorea und Vietnam auf der anderen Seite.
"Scholl-Latour versteht es trefflich, zu beobachten, Ereignisse auf das Wesentliche zu fokussieren und manchmal unbequeme Analysen zu entwickeln."
Aus der Laudatio zur Verleihung des Henry-Nannen-Preises
Während alle Welt gebannt auf Amerikas unheilvolle Verstrickung im Nahen und Mittleren Osten blickt, bahnen sich anderswo weltpolitische Konflikte an. Mit der ihm eigenen visionären Kraft richtet Peter Scholl-Latour seinen Blick nach Fernost, wo in naher Zukunft gigantische machtpolitische Kraftproben zu bewältigen sind. Sein Fazit: Der unaufhaltsame Aufstieg Chinas zur Weltmacht weist die USA schon jetzt in die Schranken. Zugleich droht eine gefährliche Überdehnung amerikanischer Macht durch die gleichzeitige Herausforderung durch den Irak und Nordkorea. Erneut gelingt es Scholl-Latour, persönliche Erfahrung, tiefes historisch-kulturelles Verständnis und eindringliche Erzählkraft zu verbinden, um aktuelle Schauplätze der Weltpolitik zu beleuchten.
Koloß auf tönernen Füßen von Peter Scholl-Latour
LESEPROBE
»Vorpostender Tyrannei«
Der 11.September 2001, kurz »Nine Eleven« genannt, sei die historischeSchicksalswende, der Beginn eines neuen Zeitalters, so tönte es aus zahllosenMedienberichten, als es ein paar arabischen Terroristen gelang, zwei Symboleamerikanischer Macht - das World Trade Center und einen Flügel des Pentagon -in einem wahnwitzigen Selbstmordanschlag zu vernichten. Mit der Zeit relativiert sich die Bedeutung und sogar der Horror dieses Anschlagsauf die Unverwundbarkeit Amerikas. Wenn es um Katastrophen geht, kann die Naturmit ganz anderer Zerstörungskraft aufwarten als die blinde Wut der Menschen.Der ungeheuerlichen Flutwelle in Südostasien, dem Tsunami,fielen nach derzeitigen Schätzungen hundertmal mehr Menschen zum Opfer als derTragödie von Manhattan. Nur gelegentlich wird in den reichen Industriestaatender Tatsache gedacht, daß unter skandalöser Indifferenzder sonst so aufgeregten Öffentlichkeit drei Millionen Menschen imafrikanischen Kongo-Becken nicht nur Opfer urzeitlicher Stammesfehden, sondern auchskrupelloser Manipulationen des im Namen der Globalisierung enthemmten »Raubtier-Kapitalismus«wurden.
Hatte man2001 noch damit gerechnet, die Katastrophe von »NineEleven« sei Auftakt zu einer ganzen Serie ähnlicher Mordanschläge religiöserFanatiker, so erweist sich heute - zumindest was Amerika betrifft -, daß sie bislang ein Ausnahmefall blieb. Dem Zugriff von El Qaida sind offenbar engere Grenzen gesetzt, als in derersten Stunde der Panik angenommen wurde, wenn auch weitere, möglicherweisenoch schrecklichere Attentate nicht auszuschließen sind. Jedenfalls hat derAufruf zum weltweiten »Kampf gegen den Terrorismus«, den Präsident Bush zurunerbittlichen Leitlinie seiner Außenpolitik und Strategie gemacht hatte, anÜberzeugungskraft verloren. Dazu hat auch der erbärmliche Kriegsverlauf im Irakbeigetragen, wo die eigenen US-Verluste relativ niedrig bleiben, die Opfer derirakischen Bevölkerung hingegen auf 100 000 geschätzt werden. Das Pentagon hatendlich begriffen, daß sich mit dem Begriff»Terrorismus« kein greifbarer Gegner, keine einheitliche Ideologie darstellen läßt, spiegeln sich doch in der von Bush definierten »Achsedes Bösen« so konträre Weltanschauungen wider wie der fundamentalistischeIslamismus der afghanischen Taleban oder diepoststalinistische Juche-Philosophie derkommunistischen Volksrepublik Nordkorea. Der »Terrorismus« wird von allenhalbwegs vernünftigen Beobachtern als Methode der Kriegführung, nicht aber alseindeutiges Feindbild erkannt.
Zu Beginndes Jahres 2005 wurde die Motivation der USA durch Präsident Bush und seineneue Außenministerin Condoleezza Ricediskret, aber nachhaltig verschoben. Inzwischen war auch den politisch angepaßten Kommentatoren klargeworden,daß Saddam Hussein kein international agierenderPromotor des Terrorismus war und daß er entgegenallen Beteuerungen Colin Powells im Weltsicherheitsrat über keineMassenvernichtungswaffen mehr verfügte. Aber ein blutrünstiger Tyrann, einFeind der Freiheit war er allemal, und so wurde der Hauptakzent deramerikanischen Argumentation zur Fortsetzung der Kampagnen »EnduringFreedom « und »Iraqi Freedom« auf die Verpflichtung Amerikas und seinerVerbündeten gelegt, die heiligen Güter von »Liberty«und »Democracy« zu verteidigen und zu verbreiten. DieBeseitigung der »Tyrannei« wurde zum Leitmotiv. In der Inaugurationsrede deswiedergewählten Präsidenten wurden die Worte »Freedom«und »Liberty« fast fünfzigmalwiederholt.
Bei dieserGelegenheit fand auch eine bemerkenswerte Ausweitung der amerikanischenKriegsziele statt. War bislang die »Achse des Bösen« auf den Irak, dieIslamische Republik Iran und Nordkorea beschränkt gewesen, so wurden jetztzusätzliche Staaten als »Vorposten der Tyrannei« in Acht und Bann getan und kurzfristigmit Destabilisierung, notfalls mit gewaltsamem Zugriff bedroht. Eine seltsameKollektion ist da zusammengestellt worden. Der Name Irak war aus der Riege der»Schurkenstaaten« ausgeschieden, weil dort - allen militärischen undpolitischen Rückschlägen der US-Besatzung zum Trotz - mit der Berufung desInterim-Regierungschefs Ayad Allawiein gefügiger Quisling in der »green zone« von Bagdad installiert war. Die Mullahkratievon Teheran, die im Verdacht stand, an Nuklearwaffen zu arbeiten, wurde alsvorrangiges Objekt ins Visier genommen. Die Demokratische VolksrepublikNordkorea, die nach eigenen Angaben bereits Atombomben besitzt, blieb weiterhinein gräßlicher »rogue state«.
Dazugesellt sich die kubanische Zuckerinsel Fidel Castros, in deren Küstengewässernangeblich reiche Erdölvorkommen entdeckt wurden. Die Feindseligkeit der USAgegen dieses Überbleibsel einer gescheiterten Weltrevolution in ihrerunmittelbaren Nachbarschaft hat eine lange Geschichte und bedarf keinerausführlichen Kommentierung. Wenn jedoch Weißrußland,Simbabwe und Burma, Myanmar genannt, als »Vorpostender Tyrannei « hinzugezählt und somit der gewaltsamen Bekehrung zur Demokratie»à l américaine« ausgesetzt werden, entsteht eine völligneue Situation. Selbst unter den amerikanischen Ultrakonservativen, darunterder Kolumnist William Safire, hatte man an einerPassage der Freiheitspredigt Anstoß genommen, in der George W. Bush sich selbstals rettenden Brandstifter darstellte: »Mit unseren Anstrengungen«, soverkündete er, »haben wir ein Feuer entzündet und eine Flamme in den Köpfen derMenschen zum Lodern gebracht. Das Feuer wärmt die, die seine Macht annehmen, undverbrennt all jene, die seine Ausbreitung bekämpfen Eines Tages wird dasFeuer der Freiheit auch die dunkelsten Ecken unserer Welt erreichen.«
Werfen wiralso einen Blick auf diese aufgelisteten »Feindstaaten «, denen sich die»flammende« Aufmerksamkeit des Präsidenten zuwendet. Die afrikanische RepublikSimbabwe, das frühere Südrhodesien, ist mir noch aus der Zeit der britischenKolonisation, dann des schwarzen Aufstandes gegen die weiße Regierung desPremierministers Ian Smith wohlbekannt. Robert Mugabe, der afrikanischePräsident, der dort seine Diktatur ausübt, hatte den Stamm der Ndbele, der unter Joshua Nkomoden Anstoß zur Lösung vom britischen Empire gegeben hatte, mit Hilfenordkoreanischer Spezialtruppen grausam niedergeworfen. Mugabe ist für Londonzur »bête noire« geworden,wird besonders verabscheut, weil er die britischen Pflanzer zwangsenteigneteund sich nicht mit einem postkolonialen Zustand abfand, in dem etwa 5000 weißeSiedler über 70 Prozent des landwirtschaftlich wertvollen Boden Südrhodesiensverfügten. Der Tyrann von Harare hat damit sein blühendes Land in den Ruingetrieben, denn die riesigen Tabakplantagen warfen nach der Aufteilung unterden eingeborenen Neubesitzern keinen Profit mehr ab.
Vor allemaber befürchten die westlichen Interessenten, darunter viele Deutsche, daß das nationalistische Experiment dieser radikalenAgrarreform Schule machen könnte. In Namibia ist eine ähnliche Aktion bereitsin Gange, doch die wirklichen Bedenken richten sich auf die Republik Südafrika,wo nicht nur eine Neuverteilung des Bodenbesitzes zugunsten der Schwarzenbevorsteht, sondern eventuell auch die Enteignung und Nationalisierung der bislangallmächtigen angelsächsischen Grubenkonsortien. Robert Mugabe hatte sich inWashington zusätzlich in Verruf gebracht, als er mit erstaunlichemTruppenpotential in der auseinanderbrechenden Kongo-Republikvon Kinshasa intervenierte und sich den amerikanischen Ansprüchen aufAusbeutung der dortigen Diamanten- und Erzgruben von Kasaiund Katanga in den Weg stellte.
Gewißtritt dieser eigenwillige Despot mit unerträglichen Häuptlingsallüren auf undspart nicht mit Provokationen der ehemaligen Kolonialherren. Die amerikanischeFrontstellung gegen Zimbabwe ist deshalb auch als freundschaftliche Gestegegenüber dem allzeit gefügigen Verbündeten in London zu werten. Aber im schwarzenErdteil haben wir es anderenorts mit weit schlimmeren Erscheinungen zu tun, diesich der Staatsgewalt bemächtigten und im Blut der eigenen Untertanen waten.
Wiegelangten Burma und Weißrußland in die Kategorie der Ausgestoßenen,der Vogelfreien? Die Generalsjunta, die in wechselnder Besetzung die Union vonBurma durch brutale Repression zusammenhält, ist gewißkein empfehlenswertes Regierungsgremium. Seit der Unabhängigkeitserklärung nachdem Zweiten Weltkrieg befindet sich dieser Vielvölkerstaat in einem endlosen Bürgerkrieg.Persönlich habe ich höchst unerfreuliche Erfahrungen mit dem dortigenPolizeiapparat gemacht, der mich einmal verhaftete und zweimal des Landesverwies. Das war in den Jahren 1952 und 1973. Seitdem hat sich Burma, von demdie britischen Kolonialherren einst schwärmten, dem internationalen Tourismusschrittweise geöffnet, aber liberaler ist das Land dadurch nicht geworden.
Wenn derName Myanmar in der westlichen Presse auftaucht, geschiehtdas meist in bezug auf die Oppositionspolitikerin AungSan Suu Kyi, die seitJahren unter Hausarrest steht und mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnetwurde. Die trotz fortgeschrittenen Alters immer noch schöne, zierliche Fraugenießt zu Recht die Aufmerksamkeit der Medien. Es ist durchaus publikumswirksam,diese asiatische Jeanne d Arc zum Symbol einesFreiheitskampfes zu erheben, den Washington jetzt durch die Verdammung derherrschenden Generalsclique nachdrücklich unterstützt. Weniger bekannt ist dieTatsache, daß Myanmar aufGrund seiner internationalen Isolation und der selbstverschuldetenWirtschaftsmisere in der Volksrepublik China einen mächtigen Protektor gesuchthat. In der Hauptstadt Rangun ist auf jeden Schritt undTritt zu spüren, daß Burma eine Wirtschaftsdependenzdes Reiches der Mitte geworden ist. Über das Irrawadi-Talwäre Peking sogar in der Lage, seinen Streitkräften einen direkten Zugang zumIndischen Ozean zu verschaffen, eine Perspektive, die die Regierung von Delhimit wachsender Sorge erfüllt. Die Anprangerung burmesischer Willkür verschafftder amerikanischen Diplomatie zweifellos gesteigerte Sympathie bei denindischen Nachbarn dieser labilen Föderation. Die Volksrepublik China wiederum muß sich durch die Verurteilung ihres Klientelstaates herausgefordertfühlen, und das ohnehin schwelende Mißtrauen Pekingsgegenüber der Bush-Administration wird zusätzlich geschürt. Die Verhandlungenüber eine Entnuklearisierung Nordkoreas, die auf dasWohlwollen Pekings angewiesen sind, dürften dadurch nicht erleichtert werden.
Kommen wirzum Fall Weißrußland. Der dortige Staatschef Lukaschenko,der sich wie ein Autokrat stalinistischer Schule aufführt, ist eine Schande fürdas sich in Freiheit konstituierende Europa. Jedermann wünscht sich seineAblösung durch eine demokratisch gewählte Regierung. Wladimir Putin müßte dennoch mit Zornquittiert haben, daß dieser ostslawische Staat, derimmer noch mit der Rußländischen Föderation engverknüpft ist, zum »Vorposten der Tyrannei« deklariert wurde. Der Ukraine ist dankder Orange-Revolution Viktor Juschtschenkos derDurchbruch zu einer prowestlichen, besser gesagt proamerikanischen Umorientierunggelungen, obwohl die Hauptstadt Kiew als Gründungsortder Rurikiden-Dynastie und als »Mutter der russischen Städte« für das nationaleSelbstverständnis eines jeden russischen Patrioten unverzichtbar bleibt. Derehemalige »Tschekist« Wladimir Putinweiß allzugut, daß die Fraudes neuen Präsidenten von Kiew zwar aus der Ukraine stammt, aber dieamerikanische Staatsbürgerschaft besitzt und für gewisse Dienste gearbeitet hat.Die ukrainische Regierungschefin Julia Timoschenko, dieProbleme mit der russischen Justiz hat, ist für den Kreml ohnehin schwererträglich. Ihr traut man zu, daß sie die Ukraine,die bereits heimlich mit der Aufnahme in die Europäische Union liebäugelt,zusätzlich in die Atlantische Allianz einbringen möchte, zwei Mitgliedschaften,die bislang in Osteuropa stets Hand in Hand gegangen sind.
Nicht nurdie Kremlführung, auch die breite russische Bevölkerung mußes als demütigend empfinden, daß die westliche Grenzeihres Vaterlandes mehr und mehr auf die Wolga und auf den Ural zurückgedrängtwird. Die Vorrangstellung Moskaus im kaukasischen Georgien und imzentralasiatischen Usbekistan wurde bereits durch amerikanische Einflußnahme weitgehend ausgehöhlt, die Erdöl- undErdgasproduktion dieser Region dem Moskauer Zugriff entzogen.
Was ist ausder Freundschaft zwischen Bush und Putin geworden, dieder US-Präsident doch so lyrisch gepriesen hatte? Erkennt man in Washington, daß die realen, die existentiellen Interessen der beideneinstigen Kontrahenten des Kalten Krieges aufs engste miteinander verwobenwären, wenn nicht im intimsten Machtgefüge der USA die Perspektive ökonomischerBereicherung durch Erwerb immer neuer Energiequellen offenbar den Vorrangbesäße vor den Erfordernissen langfristiger Selbstbehauptung und gemeinsamerSicherheit? Moskau und Washington sehen sich dem Aufkommen zweier gewaltigerGefährdungen ausgesetzt: Sie stehen heute in vorderster Front gegen die weitverstreuten Brandherde des militanten Islamismus undsollten sich gleichzeitig ihrer Unfähigkeit bewußtsein, den Aufstieg Chinas zu einer Weltmacht, die den Russen in ihrenFernostprovinzen, den Amerikanern im Westpazifik Paroli bieten wird, zu zügelnoder gar zu verhindern. Das forsche Auftreten des US-Präsidenten auf der internationalenBühne könnte die Deutschen an die Sprunghaftigkeit, an die KraftmeiereiWilhelms II. erinnern, der unter der Losung »viel Feind, viel Ehr« in denErsten Weltkrieg zog. Als ob es nicht weltweit zahllose andere Zwangsregimegäbe, die eine mindestens ebenso schroffe Verurteilung verdienten wie die hieraufgezählten Staaten! Insbesondere unter den engen Freunden der USA und denGünstlingen der dortigen Monopolkonzerne befinden sich Diktaturen, derenUnterdrückungs- und Foltermethoden zum Himmel schreien. Saudi-Arabien ist danur ein besonders krasses Beispiel. ( )
© UllsteinBuchverlage
- Autor: Peter Scholl-Latour
- 2006, 4. Aufl., 349 Seiten, mit zahlreichen farbigen Abbildungen, Maße: 11,5 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548368905
- ISBN-13: 9783548368900
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