Krakau
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Europa erlesen - Krakau herausgegebenvon Emil BrixLESEPROBE
MORDECHAJ GEBIRTIG
(1877 - 1942)
Bleib gesund mir,Krakau!
Bleib gesund mir, Krakau!
Bleib du mir gesund.
Es wartet der Wagen angespannt schon vor dem Haus,
es treibt der wilde Feind
wie man treibt einen Hund,
mit Grausamkeit mich aus dir heraus.
Bleib gesund mir, Krakau!
Ich seh dich vielleicht heute
das letzte Mal mit allem, was lieb ist mir,
auf meiner Mutter Grab
das Herz sich ausgeweint,
schwer war das Scheiden mir von ihr.
Ausgeweint die Augen
bis zur letzten Trane,
benetzt mit ihnen des Vaters kalten Stein
Ich habe des Großvaters Grab
nicht gefunden mehr,
es muß schon Sand aus seinem Grabstein
geworden sein
Bleib gesund mir, Krakau
Heilig ist deine Erde,
Vater, Mutter ruhen doch in ihr,
neben ihnen zu liegen
ist mir nicht beschert,
es wartet ein Grab irgendwo weit von hier auf mich
Bleib gesund mir, Krakau!
Bleib du mir gesund.
Es wartet der Wagen angespannt schon vor meinem Haus,
es treibt der wilde Feind
wie man treibt einen Hund
mit Grausamkeit mich aus dir heraus
Krakau, 24. Oktober 1940
RAFAEL SCHARF
(* 1914)
Krakau seligenAngedenkens
Um auf Londoner Pflaster von Krakau zu träumen, genügt einwinziger Anstoß - ein Wort, das man lange nicht gehört hat, ein Name, der Fetzeneiner Melodie, der Geschmack von selbstgebackenem Biskuit wie bei Proust. DieFotografien von Markowski offnen weit die Schleusen der Erinnerung. .Es balltsich etwas zusammen wie im Fieberwahn ≪ Aber mich packt nichtdie Lust, dem nachzugeben, im Gegenteil, es wachst der Widerstand, dieinstinktive Reaktion, dem aus dem Wege zu gehen. Das alles war vor langer Zeit,vor der Sintflut, auf der anderen Seite des Alptraums. Ich habe kein Gefühl derKontinuität, alles dort brach plötzlich, gewaltsam ab. Die Menschen, mit denenich diese Vergangenheit teilte, sind über die ganze Welt (vorwiegend diejenseitige) verstreut. Ich mochte fliehen - aber etwas halt mich Ich war Augenzeuge dieser Geschichtsperiode, und diese Zeit ist in meinGedächtnis eintätowiert. Dazu, den Widerstand zu überwinden, um dem Ausdruck zugeben, ermutigt mich die Überzeugung, daß jedes authentische Zeugnis wichtigist - davon gibt es nicht viele, aber das ist alles, was nach uns bleibt. DasPolen jener Zeit war für mich fast ausschließlich Krakau. Nicht nur, daß ichnicht im Kutno oder Sieradz≪ war, ich war auch nicht in Warschau, wozuauch? In den Ferien im nahen Zakopane, Zawoja oder Rabka - die Rückkehr nachKrakau war ein freudiges Ereignis. Ich vermute, daß die Einwohner von Lemberg,Lodz oder Warschau von einem ähnlichen Lokalpatriotismus beseelt waren, auchwenn ich mir das nur schwer vorstellen kann. Diese Stadt hatte eineneigentümlichen Zaüber, der in das Herz eindrang, denn die echten Krakauer, woimmer man sie trifft (selten in Krakau selbst), erinnern sich mit solcher Warmean sie (sogar diejenigen, die für den Rest von Polen nichts empfinden). Sie warklein und schon. Klein ∑ ein Vorzug, den ich immer hoher schatze.Der wohl längste Spaziergang (d. h., wenn man nicht bis zum Lasek Wolski, nachWola Justowska oder Sikornik lief) führte zum Stillen Winkel (Cichy Kàcik) über Blonia, vorbei am Jordan-Parkund am Fußballplatz der Cracovia, durch die Ulica Wolska, an der Universitätvorbei, durch die Ulica Szewska, über den Marktplatz, durch die Ulica Sienna,die Starowislna, über die dritte Brücke≪ nach Podgorze, vor dasTor des Hauses eines Madchens ∑ ein fast täglicher Spaziergang, nichtlang genug, um sich alles sagen zu können. An der Ulica Dietla standenbeiderseits der .weniger vornehmen≪ Grünanlagen, von derWeichsel bis zur Grzegorzecki-Brücke, über hundert Mietshäuser. Hier wohnteneinige tausend judische Familien (eine Zeitlang auch meine). Wenn ich dieseStraße entlanggehe, kommt es mir vor, als entsanne ich mich all dieser Menschenmit Gesicht und Namen ∑ der Einhorns, Johannes, Luftglas,Lipschutz, Bloeders, Sonntags, Fallmans, Ohrensteins, Rakowers, Weisbrods, Holzers∑bis hin zu den Schneiders, denen vom Klub Makkabi und vom Mineralwasserhandel,all derer, die, wie Ficowski sagt, .beim Leben auf frischer Tat erwischt wurden≪.Unsere Familie wohnte eine Zeitlang in einem Haus an der Ecke der Ulica sw.Sebastiana und der Ulica Berka Joselewicza, so dicht bei der Schule, daß ich,wenn die Klingel ertonte, meinen Schritt beschleunigte und noch vor dem Lehrerin der Klasse war. Die Ulica Berka Joselewicza hat Boy in den Słowkamit den Worten verewigt, daß diese Straße .in Krakau ihre eigentümlicheBestimmung besaß≪ und daß Wilhelm Feldman, dessen Herkunftund Akzent Boy mit gutmutigem Spott bedachte, vielleicht auch einmal eineStraße haben wird, durch die wir zur Hetare fahren werden≪(woraus ein Sittenhistoriker schließen konnte, daß es in Krakau nicht vieleFreudenhäuser gab, denn die Herren mußten dazu mit dem Fiaker bis nachKazimierz fahren). Für mich verbindet sich die Ulica Berka mit etwas ganz anderem.In der Nummer 5 im Hinterhaus wohnte Mordechaj Gebirtig, der Tischler. Icherinnere mich an seine kleine, unscheinbare Gestalt, er wurde kaum beachtet,und wenn man ihm posthumen Ruhm vorhergesagt hatte, es hatte kaum jemandgeglaubt. Gebirtig war ein authentischer Volkssänger, ein Barde der jüdischenStraße; er komponierte Melodien und schrieb Texte in Jiddisch, die von Mund zuMund weitergegeben wurden. Eines seiner populärsten Lieder entstand 1936 nachdem Pogrom von Przytyk und ruft zur Tat auf: Dos sztetlbrent (Das Schtetl brennt). Im Ghetto wurde es später viel gesungen. Ineinem seiner Gedichte nimmt Gebirtig vor der Deportation ins Lager Abschied vonKrakau: .Bleib gesund mir, Krakau! - Es wartet der Wagen angespannt schon vormeinem Haus - es treibt der wilde Feind / wie man treibt einen Hund - Ich sehdich vielleicht heute / das letzte Mal mit allem, was lieb ist mir, auf meinerMutter Grab / das Herz sich ausgeweint - Ausgeweint die Augen / bis zur letztenTräne, / benetzt mit ihnen des Vaters kalten Stein Heilig ist seine Erde.≪ In einem anderen, im Februar 1940geschriebenen Gedicht mit dem Titel S tut wej! (Estut weh) beklagt Gebirtig sich über jene polnischen Sohne und Tochter, deren Polensich dereinst schämen wird≪, die sich über die vom gemeinsamen Feindden Juden zugefugten Leiden lustig machen. Anna Kamienska hat den .jüdischen Tischlerund Dichter aus Krakau≪ in einer schonen Ballade gewürdigt.Gebirtig hatte zwei hübsche Tochter. Über eine von ihnen hat er ein Liedgeschrieben. Darin wird sie von einem Burschen, der auf dem Gehsteig vor demHaus steht, durch Pfiffe zu einem Stelldichein gebeten. Sie wird von der Muttergewarnt, nicht hin zu gehen; das sei ein nichtjüdischer Taugenichts, denn jüdischeBurschen taten so etwas nicht. Die Mutter tauschte sich ∑es ist sehr gut möglich, daß ich dieser Taugenichts war. So manches Mal habeich gegenüber dem Tor dieses Hauses gestanden und, wie in dem Lied beschrieben,darauf gewartet, daß Rejzele zu mir heruntergelaufen kam. Gebirtig und seineTochter wurden 1942 von den Deutschen ermordet. Nach dem Krieg wurden seinegesammelten Lieder veröffentlicht, auf Schallplatte eingespielt und in dasKonzertrepertoire aufgenommen - sie sind Teil des jüdischen Erbes. UnserNachbar war der Schuhmacher Fischer. Er hatte seine Werkstatt im Parterre, undvon der Straße aus konnte man ihn bis spat in die Nacht über seinen Leistengebeugt sehen. Er bewohnte im Hinterhaus ein einziges Zimmerchen mit Kuche, dasüber eine eiserne Wendeltreppe zu erreichen war. Er erklärte, daß er solangeKinder zeugen werde, bis ihm eine Tochter geboren wurde, und so kamen der Reihenach Jankiel, Heschek, Josek, Schmulik und Mojsche, bis es mit der Geburt vonSabka zu Ende war. Von der Familie hat einzig mein Altersgenosse Schmuliküberlebt, der sich immer zu helfen wußte. Als ich ihn unmittelbar nach derBefreiung in Krakau traf, hat er mir geschildert, wie er es angestellt hat. Erspielte auf den Stufen der Katharinenkirche Akkordeon und summte dazu leisechassidische Melodien, denn andere kannte er nicht. Er ging in Lumpen, seinGesicht war KRAKAU TEXT 03.04.2002,22:09 Uhr 22 23 verschmutzt,und er hielt die Augen halb geschlossen; eine dunkle Brille war sein einzigesRequisit, er spielte den Blinden, aber was er mit angesehen hat, wurde Bande füllen.Er schlief in irgendeinem Keller in einem mit Zeitungen ausgestopftenPappkarton, wo die Ratten an ihm nagten. Die Menschen steckten ihm mal einenkleinen Geldbetrag, mal eine Butterstulle zu, er ernahrte sich, soweit es möglichwar, von Abfallen aus dem Mull, und er stahl auch schon mal irgendwelcheEssensreste. Bei erster Gelegenheit reiste er aus nach Palästina. Im Krieg von1948 ist er von einer ägyptischen Kugel gefallen. Ein Kind unserer Zeit, ein jüdischesKind unserer Zeit. Ich erinnere mich an die Beisetzung Piłsudskis im Mai1935, denn vom Fenster der Staatlichen Lotterieannahmestelle der GebruderSafier (ein großes Unternehmen mit dem Slogan »Suchst du das Gluck, tritt kurzherein≪)aus beobachtete ich den letzten Teil des Umzugs, in dem der Katafalk mit densterblichen Überresten des vormaligen Staatschefs durch die Stadt auf denWawel, den Schloßberg, gebracht wurde. Unter den Würdenträgern aus ganz Europa,die dem Sarg folgten, stach der Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe,Hermann Göring, hervor, dessen Uniform von Medaillen strotzte. An der Spitzedes Gefolges schritten auch der Stadtpräsident von Krakau, Kapellner-Kaplicki,der einst in Pitsudskis Legionen gekämpft hatte (was mit seinem Amt in einemursachlichen Zusammenhang stand), und der Garnisonsbefehlshaber General BernardMond (der einzige Jude, der in Polen diesen Rang einnahm). Die Krakauer warenes gewohnt, daß bei staatlichen Feiern diese Dreieinigkeit voranschritt:Erzbischof Sapieha, eingerahmt von Kapellner-Kaplicki und Mond. Bei dieserGelegenheit glänzte Sapieha durch Abwesenheit. Er hatte sich entschiedendagegen gewandt, daß die sterblichen Überreste Piłsudskis in derKathedrale auf dem Wawel beigesetzt wurden - ein Aspekt des historischenStreits zwischen der weltlichen Macht und der Kirche. Aber in diesem Fallemochte der Erzbischof schreien, soviel er konnte - man wußte, wer die wirklicheMacht innehatte. Das Land legte - aufrichtige oder gespielte - Trauer an. Eswar gefährlich, diese nationale Tragödie herunterzuspielen und keine Trauer zubekunden. Die Huldigungen und Lobreden in der Presse und in öffentlichen Redenkannten keine Grenzen. Es gab aber auch echte Trauer, das Gefühl, nun verwaistzu sein - Piłsudski, der mythische Großvater≪, wurde geliebt undgeachtet, und man war der Meinung, daß das Schicksal der Nation in seinen fürsorglichenHänden aufgehoben sei. Ich weiß noch, daß mein Vater, der ganz in seine kleineWelt der täglichen Sorgen eingesponnen war, bei der Nachricht vom Tod desMarschalls seine Tranen nicht zuruckhalten konnte, was mich erstaunte und anrührte,denn nicht oft hatte ich erlebt, daß eine öffentliche Angelegenheit ihnzutiefst bewegte. Er teilte offensichtlich das in der jüdischen Gemeinschaft verbreiteteGefühl, daß Piłsudski, der Feind des Nationaldemokraten Dmowski, einSchutzschild gegen das Programm und die Übergriffe der Nationaldemokratie sei,und daß mit dem Ende seiner Epoche eine schlimme, gefährliche Zeit heraufziehenwerde. Nur allzu bald sollten die Ereignisse beweisen, wie hellsichtig undzutreffend diese Wahrnehmung war.
© Wieser Verlag
- 2002, 248 Seiten, Maße: 10,3 x 16,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Herausgegeben: Emil Brix
- Verlag: Wieser
- ISBN-10: 385129369X
- ISBN-13: 9783851293692
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Krakau".
Kommentar verfassen