Land der Verheißung
Roman
Der "wahre Nachfolger" von Vom Winde verweht
South Carolina, 1835: Der junge Silas will nach Texas auswandern und dort eine eigene Plantage gründen. Die reiche Nachbarsfamilie Wyndham will seinen Plan finanzieren, wenn er ihre Tochter Jessie...
South Carolina, 1835: Der junge Silas will nach Texas auswandern und dort eine eigene Plantage gründen. Die reiche Nachbarsfamilie Wyndham will seinen Plan finanzieren, wenn er ihre Tochter Jessie...
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Produktinformationen zu „Land der Verheißung “
Der "wahre Nachfolger" von Vom Winde verweht
South Carolina, 1835: Der junge Silas will nach Texas auswandern und dort eine eigene Plantage gründen. Die reiche Nachbarsfamilie Wyndham will seinen Plan finanzieren, wenn er ihre Tochter Jessie heiratet, die in Ungnade gefallen ist. Doch Silas liebt eine andere...
South Carolina, 1835: Der junge Silas will nach Texas auswandern und dort eine eigene Plantage gründen. Die reiche Nachbarsfamilie Wyndham will seinen Plan finanzieren, wenn er ihre Tochter Jessie heiratet, die in Ungnade gefallen ist. Doch Silas liebt eine andere...
Klappentext zu „Land der Verheißung “
Der wahre Nachfolger von "Vom Winde verweht". South Carolina 1835: Im prächtigen Herrenhaus der Baumwollplantage Queenscrown lebt die verwitwete Elizabeth Toliver mit ihren Söhnen Morris und Silas. Da der ältere Morris Alleinerbe von Queenscrown ist, will Silas ins entfernte Texas auswandern und dort eine eigene Plantage gründen. Doch ihm fehlen die finanziellen Mittel für einen Treck in das verheißungsvolle Land. Da kommt ihm ein Angebot der reichen Nachbarsfamilie Wyndham gerade recht, deren Tochter Jessie in Ungnade gefallen ist: Heiratet Silas Jessie Wyndham, obwohl er seiner großen Liebe Lettie Sedgewick die Ehe versprochen hat, zahlen ihm die Wyndhams die Auswanderung. Silas ist hin und her gerissen, letztendlich aber siegt der unstillbare Wunsch, eine eigene Plantage zu besitzen. Seine Mutter Elizabeth ist verzweifelt und fürchtet, dass ihr Sohn durch seine egoistische Entscheidung einen Fluch auf sich gezogen hat. Doch Silas bricht zusammen mit Jessie in die neue Heimat auf ...
Lese-Probe zu „Land der Verheißung “
Land der Verheissung von Leila MeachamEINS
Queenscrown-Plantage nahe Charleston, South Carolina Elizabeth Toliver musterte unter dem breiten Rand ihrer Gartenhaube hervor ihren jüngeren Sohn Silas, der von der Veranda aus die Eichenallee zum Anwesen der Familie hinunterblickte. Es war Anfang Oktober 1835, und Elizabeth schnitt gerade in einem der Rosengärten rote Lancasters ab, die sie seit Januar gehätschelt hatte. Erstaunlich, was Wasser, Mulch und Dünger bei spillrigen Stängeln bewirken konnten, dachte sie. Ein wenig Fürsorge, und schon setzte sich die Kraft der Natur durch. Eine einfache Erkenntnis, die der Mensch sich zu eigen machen sollte!
Doch leider hatte ihr Mann kein Gespür für die Bedürfnisse ihres zweiten Sohnes gehabt.
»Auf wen wartest du, Silas?«, rief sie. Silas wandte ihr sein attraktives Gesicht mit all den Toliver-Attributen, besonders dem markanten Kinngrübchen, zu, welche ihn als Nachkommen jener langen Linie englischer Aristokraten auswiesen, deren Porträts Gäste im großen Eingangsbereich von Queenscrown begrüßten. Silas' smaragdgrüne Augen verengten sich unter seinen Brauen, die gut zu seinen widerspenstigen tiefschwarzen Haaren passten.
»Auf Jeremy.«
Elizabeth ließ die Schultern hängen. Silas machte sie für die Regelungen im Testament seines Vaters verantwortlich.
... mehr
»Du hättest ihn umstimmen können, Mutter«, hatte er ihr vorgeworfen. Er glaubte ihr nicht, dass sie nichts von der endgültigen Formulierung dieses Testaments geahnt hatte, obwohl er eigentlich wissen sollte, dass sie sein Wohlergehen stets über das ihre stellte. Damit würde sie leben müssen. Sie hörte Jeremy Warwick, der ihren Sohn, ihren vierjährigen Enkel und ihre künftige Schwiegertochter in das ferne, gefährliche Texas entführen würde, auf seinem weißen Hengst heranpreschen.
Jeremy zügelte sein schnaubendes Pferd, und noch bevor er Silas begrüßte und aus dem Sattel glitt, rief er ihr zu: »Morgen, Miz 'Lizabeth. Na, wie machen sich die Rosen?«
Das war sein üblicher Gruß, egal, wo sie sich aufhielten. Er diente dazu, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Der Hinweis auf die Rosen besaß tiefere Bedeutung, weil sowohl die Warwicks als auch die Tolivers englischen Adelshäusern entstammten, die diese elegante Blume im Wappen trugen. Die Linie der Warwicks ging auf das Haus York zurück, repräsentiert durch die weiße Rose; die der Tolivers auf das Haus Lancaster, symbolisiert durch die rote. Obwohl sie Nachbarn und eng befreundet waren, wuchs in ihren Gärten keine Rose in der Farbe der jeweils anderen Familie.
An jenem Morgen zielte dieses »Wie machen sich die Rosen? « nicht auf das Befinden ihrer geliebten Pflanzen nach Monaten der Abwesenheit, in denen sie ihren Mann in einem Krankenhaus in Charleston gepflegt hatte, ab, sondern auf ihr eigenes, jetzt, da er seit vier Wochen unter der Erde lag. »Schwer zu sagen«, antwortete sie. »Das hängt vom Wetter in der nächsten Zeit ab.«
Elizabeth hatte eine Schwäche für Jeremy Warwick, seit sie in der Kindheit der Jungen seinen spöttischen, jedoch niemals verletzenden Humor entdeckt hatte. Er war, anders als ihr schlanker, sehniger, ebenfalls groß gewachsener Sohn, eher kräftig, der jüngste von drei Brüdern, deren Vater die benachbarte Baumwollplantage Meadowlands gehörte. Aufgrund der Ähnlichkeiten innerhalb der Familien, des Alters, der Herkunft und der Interessen waren er und Silas die idealen Freunde, eine Freundschaft, für die Elizabeth dankbar war, weil Silas und sein Bruder einander von Kindesbeinen an bekriegten.
Jeremys Miene verdüsterte sich, als er den Hintersinn ihrer Worte begriff. »Leider ist das Wetter nicht immer so, wie man es sich wünscht«, erklärte er.
»Ist der Brief eingetroffen, auf den wir warten?«, erkundigte sich Silas.
»Ja, endlich. Der und einer von Lucas Tanner. Er und seine Gruppe haben es geschafft.«
Elizabeth hatte keine Lust, ins Haus zu gehen. Wenn sie sich unter vier Augen unterhalten wollten, konnten sie das außer Hörweite tun. Manchmal erfuhr sie nur, was in ihrer Familie besprochen wurde, wenn sie schamlos lauschte oder einen der Bediensteten dazu anhielt. Sie hörte, wie Silas Lazarus anwies, Kaffee zu bringen. Gut. Das bedeutete, dass sie sich an jenem schönen Herbstmorgen auf der Veranda zusammensetzen würden.
»Wird mich der Inhalt des Briefs freuen?«, fragte Silas.
»Größtenteils ja«, antwortete sein Freund.
Elizabeth war klar, worüber sie reden wollten. Sie waren dabei, den Traum in die Tat umzusetzen, von dem sie schon seit Jahren sprachen. Als jüngste Söhne ihrer Familien waren sie beide in dem Wissen aufgewachsen, dass sie nach dem Tod ihrer Väter höchstwahrscheinlich nicht die Alleinerben der Baumwollplantagen ihrer Familien sein würden. In Jeremys Fall stellte das kein Problem dar, weil er sich gut mit seinen zwei Brüdern vertrug und sein Vater, der ihn abgöttisch liebte, dafür sorgen würde, dass er einen gerechten Anteil am Anwesen erhielt. Jeremy wollte einfach nur seine eigene Plantage besitzen und so führen, wie er sich das vorstellte. Für Silas hingegen gestaltete sich die Situation anders. Benjamin Toliver hatte seinen Erstgeborenen Morris seit jeher als Erben von Queenscrown betrachtet. »So ist es nun mal«, hatte er gern zu Elizabeth gesagt, weil er sich innerlich nie vom Recht der Erstgeburt verabschiedet hatte, einem Relikt seiner englischen Herkunft, das bestimmte, dass immer der älteste Sohn den Familienbesitz erbte. In South Carolina war diese Erbfolge im Jahr 1779 abgeschafft worden.
Dazu kamen weitere Faktoren. Benjamin und Morris waren in den meisten Dingen einer Meinung gewesen, nicht nur deshalb, weil der Sohn es dem Vater recht machen wollte. Morris teilte die Überzeugungen seines Vaters bei allen Themen von Religion bis Politik aufrichtig, wogegen Silas bisweilen eine rebellischere Weltsicht an den Tag legte. Die Abneigung zwischen Vater und Sohn sowie zwischen Bruder und Bruder wuchs; da half es auch nicht, dass Elizabeth Silas, um die immer tiefer werdende Kluft zwischen ihnen zu überbrücken, mit besonderer Zuneigung bedachte. Benjamin war klar gewesen, dass Silas und sein Bruder aufeinander losgehen würden, sobald er unter der Erde wäre. Um das zu verhindern, hatte er die Plantage und das gesamte Vermögen der Familie - Grund, Haus samt Einrichtung, Vieh, Gerätschaften und Sklaven - Morris hinterlassen, so dass Silas, abgesehen von einem jährlichen »Gehalt« sowie einem prozentualen Anteil am Ertrag der Plantage als Landverwalter seines Bruders, mittellos dastand.
Kein Wunder also, dass der inzwischen neunundzwanzigjährige Silas sich betrogen fühlte und seiner Heimat den Rücken kehren wollte, um sich mit Jeremy Warwick zum »black waxy« im östlichen Teil von Texas aufzumachen, einem Boden, der sich angeblich hervorragend für die Pflanzung von Baumwolle eignete. Traurig nur, dachte Elizabeth, dass er mit Verbitterung seinem Vater gegenüber aufbrechen würde, denn sie wusste etwas, das Silas nicht ahnte: Benjamin Toliver hatte seinen jüngeren Sohn mehr geliebt als seine Frau. Sie würde in der Obhut des unbeholfenen Morris zurückbleiben, der höchstwahrscheinlich niemals heiratete, und ohne das Vergnügen, Enkel zu verwöhnen, alt werden müssen. So bedauerlich das auch war: Sie würde ihre Liebe zu ihrem entzückenden Enkel und der jungen Dame, die schon bald Silas' zweite Frau werden würde, beiseiteschieben und ihn nach Texas ziehen lassen, ohne ihm zu verraten, dass sein Vater sein Testament so formuliert hatte, um ihn zu befreien.
ZWEI
Silas spürte die Verzweiflung seiner Mutter, den Kummer der Witwe, die der kühle Herbstwind zu ihm herübertrug, konnte ihr jedoch nicht helfen. Er würde mit Sohn und Braut nach Texas ziehen. Die Diskussion mit seiner Mutter war nicht neu. Ihr bedeutete die Familie alles, ihm das Land, die Verbindung des Mannes mit seinem innersten Wesen.
Ohne eigenes Land zu bestellen war ein Mann nichts, egal, welche gesellschaftliche Stellung seine Familie innehatte.
Seine Mutter hatte alle nur erdenklichen Gründe ins Feld geführt, warum ihr jüngerer Sohn die Sicherheit seines behaglichen Zuhauses nicht verlassen, mit seiner Familie nicht kurz vor einem Aufstand nach Texas gehen konnte. Berichten zufolge wollten die texanischen Siedler ihre Unabhängigkeit von Mexiko erklären, was unweigerlich zu Krieg führen würde.
»Was soll ich tun, Mutter? Unter der Fuchtel meines Bruders bleiben, wo mein Sohn wie sein Vater niemals Herr seines eigenen Hauses sein wird?«
»Schieb nicht Joshua vor«, hatte seine Mutter entgegnet.
»Es ist dein Wunsch - immer schon gewesen -, aber du musst an Lettie und deinen Sohn denken.« Sie hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt ob all der Gefahren, die ihn in Texas erwarteten - schreckliche Krankheiten (1834 war in Stephen F.Austins Kolonie die Cholera ausgebrochen), Indianer, wilde Tiere, blutrünstige Mexikaner, riskante Flussdurchquerungen, extreme Witterungsverhältnisse ... Die Liste der Schrecken war endlos; am meisten graute ihr davor, ihren Sohn, Joshua und Lettie nie wiederzusehen.
»Red du dich bitte auch nicht auf sie raus, Mutter. Wenn man mir Land irgendwo im sicheren Süden angeboten hätte, würdest du trotzdem wollen, dass ich in Queenscrown bleibe, damit wir alle als große Familie zusammen sind, ungeachtet der Tatsache, dass mein Vater mich praktisch verstoßen hat und mein Bruder mich nicht ausstehen kann.«
»Du übertreibst. Dein Vater hat das seiner Ansicht nach für Queenscrown Beste getan, und dein Bruder hasst dich nicht. Er versteht dich nur einfach nicht.«
»Und ich werde tun, was meiner Meinung nach das Beste für Somerset ist.«
»Somerset?«
»So werde ich meine Plantage in Texas nennen, zu Ehren des Duke of Somerset, des Vorfahren der Tolivers.«
Sein Ehrgeiz hatte seine Mutter verstummen lassen.
Ihren Kummer habe sie dem Testament ihres Mannes zu verdanken, hatte Silas sie erinnert, aber das rechtfertigte nicht sein schroffes Verhalten ihr gegenüber in den vergangenen Wochen, für das er sich schämte. Er liebte seine Mutter, und sie würde ihm sehr fehlen, auch wenn er sich des Gefühls nicht erwehren konnte, dass sie sich bewusst geweigert hatte, die ungerechte Vererbung des väterlichen Anwesens zu verhindern. Wenn Benjamin Toliver seinen Besitz gerecht aufgeteilt hätte, wäre Silas gar nicht auf die Idee gekommen, seinen Traum zu verwirklichen. Er hatte sich vorgenommen, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um friedlich mit seinem Bruder zusammenzuleben. Der Junggeselle Morris liebte seinen Neffen und mochte die Braut von Silas, die sich wunderbar mit seiner Mutter verstand. Elizabeth erachtete Lettie als die Tochter, die sie nie gehabt hatte, und seine Verlobte sah sie umgekehrt als Ersatz für ihre eigene Mutter, die sie bereits in jungen Jahren verloren hatte. Ein friedliches Miteinander wäre möglich gewesen.
Sogar Morris erkannte, welchen Verlust sein Erbe ihm bringen würde. »Wir werden uns schon auf etwas einigen«, hatte er gesagt, doch für Silas konnte kein Angebot seines Bruders den Mangel an Zuneigung ausgleichen, den sein Vater ihm durch seinen Letzten Willen demonstriert hatte. Silas würde seinem Bruder nicht nehmen, was sein Vater diesem zugedacht hatte.
Deshalb wollte er nach Texas.
Silas beobachtete dankbar, wie Jeremy, der Mann, der sich mit ihm zusammentun wollte, von seinem nervös tänzelnden Hengst abstieg. Jeremy Warwick zwang seinem Pferd nur selten seinen Willen auf, weil er es gewohnt war, sich durchzusetzen. Diese Eigenschaft schätzte Silas, denn obwohl sein Freund für seinen gesunden Menschenverstand bekannt war, wagte er bisweilen auch Riskantes wie den gemeinsamen Aufbruch nach Texas.
Jeremy warf Silas die Posttasche zu, die er in Charleston abgeholt hatte. Silas öffnete die Riemen und überflog den Brief von Stephen F. Austin aus Texas, noch bevor die hochglanzpolierten Stiefel seines Freundes den Boden der Veranda berührten.
»Schlechte Nachrichten«, sagte Jeremy mit gedämpfter Stimme, so dass Elizabeth ihn nicht hören konnte. »Mr Austin ist bereit, uns so viele Hektar Land zu verkaufen, wie wir wollen, solange wir uns bereit erklären, in Texas zu leben, aber er warnt uns vor einem bevorstehenden Krieg. Eine Zeitung schildert die wachsende Unzufriedenheit der Siedler über die Politik der Regierung in Mexico City, und es ist auch ein Brief von Lucas Tanner dabei. Er schreibt, die Gegend ist genau so, wie er sie sich erhofft hat - fruchtbare, unberührte Erde, reichlich Holz und Wasser, gutes Wetter -, doch möglicherweise muss er darum kämpfen. Es ist schon zu einigen Scharmützeln mit Indianern und mexikanischen Milizen gekommen.«
»Wir wollen ja erst im kommenden Frühjahr aufbrechen. Vielleicht ist der Konflikt mit der mexikanischen Regierung bis dahin beigelegt. Trotzdem muss ich den anderen, die uns begleiten wollen, Bescheid sagen und sie auf das zusätzliche Risiko hinweisen«, erklärte Silas.
»Auch Lettie?«, erkundigte sich Jeremy mit leiser Stimme.
Das laute Schnippen der Gartenschere verstummte, plötzlich herrschte Stille auf der Veranda. Elizabeth lauschte. Ja, Silas: auch Lettie? Ihrem Sohn wurde die Antwort erspart, als Lazarus mit dem Ellbogen gegen die Tür drückte, um den Kaffee herauszubringen. Silas öffnete sie ganz für ihn.
Der grauhaarige Schwarze bedankte sich und stellte das Tablett auf dem Tisch ab, an dem bereits Generationen von Tolivers Mint Juleps und Nachmittagstee getrunken hatten. »Soll ich den Kaffee einschenken, Sir?«
»Danke, Lazarus, das mach ich schon. Sag Cassandra, dass der Kuchen köstlich aussieht.«
Lazarus und seine Frau Cassandra würden ihn nach Texas begleiten. Sie gehörten Silas, ein Erbe von Mamie Toliver, seiner Großmutter, die ihrem anderen Enkel nichts hinterlassen hatte. Silas fiel auf, dass Lazarus sich in letzter Zeit schwertat mit dem Gehen und seine Frau beim Teigkneten nicht mehr sang.
»Auch Lettie«, antwortete Silas und reichte Jeremy einen Teller, bevor er ihnen den dampfenden Kaffee einschenkte. »Allerdings muss ich in der Stimmung sein, es ihr zu sagen«, fügte er hinzu.
»Aha«, meinte Jeremy.
»Was soll das heißen?«
»Dass der Kuchen köstlich ist«, erklärte Jeremy und schob einen großen Bissen in den Mund. »Wirst du mit Lettie zu Jessica Wyndhams Fest gehen?«
»Das möchte Lettie sich auf keinen Fall entgehen lassen. Sie hat Jessica unterrichtet, bevor die aufs Internat geschickt wurde. Die beiden mochten sich. Sie sind nur vier Jahre auseinander. Ich weiß nicht mehr so genau, wie Jessica aussah. Du?«
»Ich hatte sie als kleines Mädchen mit ernstem Gesicht und großen braunen Augen in Erinnerung, trotzdem habe ich sie, als sie heute Morgen am Pier in Charleston angekommen ist, gleich erkannt. Ihre Mutter und ihr Bruder waren dort, um sie abzuholen. Es gab eine Szene, als Jessica einem schwarzen Gepäckträger geholfen hat, der von einem Passagier schlecht behandelt wurde.«
»Von einem Weißen?«
»Ja, leider.«
»Dazu wird ihr Vater ein Wörtchen zu sagen haben.«
»Hoffentlich trübt das nicht die Stimmung beim Fest. Soweit ich weiß, scheuen die Wyndhams keine Kosten für die Feier zu Jessicas achtzehntem Geburtstag und ihrer Heimkehr von dem Mädchenpensionat in Boston. Außerdem haben sie Verwandte aus England zu Gast - Lord und Lady DeWitt.«
»Die Wyndhams können es sich leisten«, bemerkte Silas und nahm eine Karte aus der Posttasche.
»Der Courier bezeichnet Carson Wyndham als den reichsten Mann in South Carolina«, sagte Jeremy und aß einen Bissen Kuchen.
»Der Arme wird seine liebe Mühe haben, die Glücksritter der Gegend abzuwehren.«
»Vielleicht erspart Morris ihm das, indem er sie heiratet.«
Silas schnaubte verächtlich. »Morris kann einen Walzer nicht von einer Polka unterscheiden und das Taschentuch einer Dame nicht von einem Putzlappen, also halte ich es für ausgeschlossen, dass er sie für sich gewinnt. Warum heiratest du sie nicht, Jeremy? Ein gut aussehender Kerl wie du sollte leichtes Spiel haben.«
Jeremy lachte. »Das ist jetzt nicht gegen Lettie gerichtet, aber ich fürchte, eine junge kultivierte Dame wie Jessica Wyndham kann man nicht dafür interessieren, einen Mann zu heiraten, der sich in Texas niederlassen möchte. Außerdem hast du das Glück, dass Lettie völlig vernarrt in dich ist. Sie würde dir in die Hölle folgen.«
Silas breitete die Stephen F. Austins Brief beigelegte Karte aus und runzelte die Stirn über die Route, die dieser mit dunkler Tinte markiert hatte. Es handelte sich um eine immense Strecke, und das Terrain jenseits des Red River in Texas war heikel. Austin hatte eine Stelle mit einem Kreis gekennzeichnet, wo der Weg von der zu erwartenden Richtung abwich, und am Rand vermerkt: »Vorsicht, Jagdgründe der Komantschen.«
»Vielleicht bringe ich sie genau dahin«, sagte Silas.
DREI
Wo sollen wir Lady Barbara beim Lunch hinsetzen?«, fragte Eunice Wyndham, als ihre Tochter auf der Loggia erschien, wo gerade ein Tisch für zwölf gedeckt wurde.
»Das wird ganz schön schwierig. Wenn sie mit dem Rücken zum Garten sitzt, sind ihre schütteren Haare in der Sonne deutlich zu sehen, und wenn ihr Gesicht im Licht ist, sind ihre Falten ausgeleuchtet. Die Frau ist ja so eitel.«
Jessica gab ihr keine Antwort, denn ihre Mutter, die nur laut nachdachte, erwartete keine, weil sie wusste, dass ihre Tochter sich nicht für solche Dinge interessierte, auch nach den zwei Jahren im Pensionat nicht, die diesen Mangel an Interesse hätten beseitigen sollen. Der Mittagstisch war auf der Loggia aufgestellt, um den Speiseraum für das große Bankett am folgenden Abend freizuhalten. Jessica hätte ihren Geburtstag und ihre Heimkehr lieber mit einem Picknick im Kreis der Familie gefeiert. Leider war auch die schwarze Bedienstete, nach der sie Ausschau hielt, nicht da. Sie hatte sie nicht einmal im Speiseraum, wo ähnliche Hektik herrschte, finden können.
»Mama, wo ist Tippy?«
»Vielleicht kann ich sie ans Kopfende des Tischs setzen und Lord Henry ans andere. Das deuten sicher alle als Zeichen der Hochachtung. Dann sitzen dein Vater und ich einander in der Mitte gegenüber.«
»Mama, wo ist Tippy? Ich habe überall nach ihr gesucht.
Was hast du mit ihr gemacht?«
Eunice steckte eine schwungvoll beschriftete Namenskarte in einen Glaskartenhalter in Rosenblütenform und trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten. »Soll ich die Fliegenfänger aufstellen?«, fragte sie. »Ich habe zwei hübsche gekauft, als ich mit deinem Vater in Washington war. Die Fliegen dort sind einfach grässlich - schlimmer noch als hier. Aber möglicherweise ist es noch zu früh im Jahr, was meinst du?«
»Mama, wo ist Tippy?«
Endlich wandte Eunice sich ihrer Tochter zu. »Herrgott, Kind. Warum läufst du immer noch im Morgenmantel herum? «
Jessica ging zur Tür.
»Wo willst du hin?«
»In die Küche. Bestimmt hast du sie dahin verbannt.«
»Jessica, komm auf der Stelle zurück«, rief Eunice ihr nach, nahm einen Fächer und wedelte sich damit hektisch Luft zu. Jessica blieb stehen und drehte sich um. Die drei Dienstmädchen, alle in grauen Kleidern mit weißen Schürzen, erstarrten in der Bewegung. »Ich bin froh, dass dein Vater heute Morgen mit Lady Barbara und Lord Henry ausgeritten ist«, bemerkte Eunice. »So bleibt mir die Peinlichkeit erspart, dass meine Tochter in die Küche läuft, um ein Dienstmädchen zu holen, wenn es reichen würde zu klingeln.«
»Ich will Tippy sehen, Mama.«
»Sie schmückt gerade deine Geburtstagstorte.«
»Dann helfe ich ihr.«
Eunice sah entsetzt die Bediensteten an, die sie mit vor Schreck und Neugierde geweiteten Augen anstarrten. »Ihr könnt gehen«, herrschte sie sie an. »Macht euch bei Willie May nützlich.«
Nachdem die Dienstmädchen an Jessica vorbeigehastet waren, zog Eunice ihre Tochter eilig ins Zimmer und schloss die Tür zur Loggia hinter ihnen. »Ich verbitte mir diesen Tonfall in Gegenwart der Bediensteten, Jessica. Du hast gestern am Pier schon genug Aufsehen erregt.«
»Ich habe dem Mann doch bloß mit dem Fächer einen Klaps auf die Schulter gegeben.«
»Du hast einen Neger gegenüber einem Weißen verteidigt! «
»Der Mann hat einen überlasteten Gepäckträger schlecht behandelt. Ich hätte mich auch dann eingemischt, wenn der Gepäckträger weiß wie Schnee gewesen wäre.«
Eunice' Gesicht fiel in sich zusammen wie ein durchweichter Kuchen. »Kind, was sollen wir nur mit dir machen? Wir haben uns alle so auf deine Heimkehr gefreut, besonders dein Bruder. Michael wollte dich unbedingt vom Schiff abholen, aber du hast ihn gestern schrecklich blamiert.«
»Von Rechts wegen hätte Michael dem Mann eine Ohrfeige geben müssen.«
Eunice fächelte schneller. »Wir hätten dich nicht auf diese Schule in Boston schicken dürfen - mitten ins Wespennest der Abolitionisten.«
»Nein, Mutter, in die Heimat der Freiheitsliebenden.«
»Ach, Jessie!« Wie immer von der Auseinandersetzung mit ihrer Tochter erschöpft, für die sie sich das Herz aus der Brust gerissen hätte, sank Eunice resigniert seufzend auf einen der Loggiastühle. »Was haben sie in dieser Schule nur mit dir angestellt?«
»Sie haben nur meine Überzeugungen gefestigt. Alle Menschen sind gleich, und keiner besitzt das Recht, einen anderen zu versklaven.«
»Sch!«, zischte Eunice und warf hastig einen Blick durchs Glas der Verandatür, um festzustellen, ob jemand lauschte. »Hör zu, du eigensinniges Kind. Du hast keine Ahnung, was sich in deiner Abwesenheit hier abgespielt hat. Wenn ja, würdest du wissen, wie gefährlich solche Reden für Tippy werden könnten.«
»Was ist denn passiert?«
»Sklavenaufstände, alle erfolglos, zum Glück nicht auf unserer Plantage, aber zu nahe bei uns, als dass dein Vater sie ignorieren konnte. Die Pflanzer sind nervös und bestrafen die Sklaven unerbittlich und ...«, sie betrachtete Jessica mit einem eindringlichen Blick, »... jeden, der den Eindruck erweckt, gegen die Sache des Südens zu sein.«
»Sache? Die Abschaffung der Sklaverei ist eine Sache. Die Sklaverei selbst ist ein Dogma.«
Eunice hörte mit dem Fächeln auf. »Siehst du, genau das meine ich. Ich warne dich, Jessica. Obwohl dein Vater dir jeden Wunsch von den Augen abliest, ist er nicht bereit, solche Ansichten oder deine unverhohlene Freundschaft mit einer schwarzen Bediensteten zu tolerieren.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich hätte damals nie zulassen dürfen, dass du dich mit Tippy anfreundest, aber du hattest ja sonst keine Spielkameraden. Ich hätte auch nicht auf meine Schwester in Boston hören sollen, die unbedingt wollte, dass ich dich aufs dortige Pensionat schicke, und auf keinen Fall hätte ich erlauben dürfen, dass Tippy dich begleitet. Aber ...«, Eunice hob missbilligend eine Augenbraue, »... ich habe mir eingeredet, dass dein gesunder Menschenverstand dir raten würde, dich von ihr zu distanzieren, sobald ihr zu Hause seid.« Eunice legte müde eine Hand auf ihre Stirn. »Ich dachte, du würdest begreifen, dass Tippy ihren Platz hat und du den deinen.«
»Mama ...« Jessica kniete vor ihrer Mutter nieder. Als sich ihre weiten Röcke um sie bauschten, fühlte Eunice sich an die rothaarige braunäugige Lieblingspuppe Jessicas erinnert, die fast ganz aus einem weiten Rock bestanden hatte. Aber da endete die Ähnlichkeit ihrer Tochter mit der Puppe auch schon. Eunice begriff es einfach nicht. Die Züge ihrer Tochter waren regelmäßig, ihre Zähne gerade, ihre Lockenmähne rot und ihre großen, ausdrucksvollen Augen dunkelbraun, doch all das reichte nicht, ihr blasses, sommersprossiges Gesicht attraktiv zu machen. Ihr Mann hätte sich gewünscht, dass sie hübsch, aber im Hinblick auf ihre Interessen so durchschnittlich gewesen wäre wie die Töchter ihrer Freunde, dass sie sich ausschließlich mit Kleidung, Festen und Flirts beschäftigt und sich damit begnügt hätte, die verwöhnte einzige Tochter eines der reichsten Männer im amerikanischen Süden zu sein. Doch Jessica hatte sich von Kindesbeinen an gegen die ihr zugedachte Rolle gewehrt. Weil sie ahnte, dass die Nachsicht ihres Vaters seine Enttäuschung über sie kaschieren sollte? Jessica dachte zu viel nach, stellte Fragen, provozierte, lehnte sich auf. Bei einer attraktiven Tochter hätte Carson Klugheit interessant gefunden, doch bei einer bestenfalls durchschnittlichen ärgerte sie ihn. Manchmal dachte Eunice, dass Jessica besser ein Junge geworden wäre.
»Das verstehe ich alles«, sagte Jessica, »aber ich kann es nicht akzeptieren. Ich würde Tippy nie in Gefahr bringen, doch ich kann und will sie nicht als Untergebene behandeln. Sie ist intelligent und kreativ auf eine Weise, wie ich es nie sein werde. Außerdem ist sie liebenswert und besitzt alle Eigenschaften, die ich mir bei einer Freundin wünsche. Ich möchte dich und Papa wirklich nicht in Verlegenheit bringen, aber ich will meine Freundin mit dem Respekt behandeln, den sie verdient, und nicht wie eine Sklavin.«
Eunice schlug die Hände vors Gesicht. »Oje ... Wenn dein Vater dich hören würde ...«
»Wäre er sicher sehr enttäuscht von mir.«
»Mehr als enttäuscht. Dein Vater hat eine Seite, die du nicht kennst. Wenn du deine Zuneigung für Tippy weiterhin so offen zeigst, werde ich dich nicht schützen können. Du musst auch an sie denken.«
Jessica nahm die Hände ihrer Mutter sanft von ihren Wangen und hielt sie fest. »Keine Sorge, Mama. Ich verspreche dir, der Familie keinen Kummer zu machen, indem ich lauthals meine Ansichten über die Sklaverei verkünde. Der Süden ist nun mal, wie er ist, und eine Stimme wird ihn nicht ändern, aber bitte erlaube Tippy, meine persönliche Bedienstete zu sein. Du weißt, dass bei ihr nur ein Lungenflügel richtig funktioniert und sie in der heißen Küche keine Luft bekommt.«
»Gut, solange du dein Versprechen hältst. Wenn nicht, schickt dein Vater sie auf die Felder, und sie muss in der Sklavenunterkunft schlafen. Er liebt dich wirklich sehr, aber dazu ist er fähig, das musst du mir glauben.« Eunice löste ihre Hände aus denen ihrer Tochter und strich ihr die roten Haare aus dem Gesicht. »Du hast uns sehr gefehlt, als du in Boston warst«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Deswegen haben wir dich vor Schuljahresende nach Hause geholt, aber offen gestanden habe ich seit deiner Heimkehr keine Ruhe mehr. Beim Lunch und bei dem Fest werden die Leute über die Abolitionisten reden. Versprichst du mir, den Mund zu halten, wenn du nach deiner Meinung gefragt wirst?«
Jessica hielt sich den Mund zu und murmelte undeutlich: »Ich versprech's.«
»Sei nicht so albern«, rügte Eunice sie und verzog die Lippen zu einem Lächeln, das die Sorge in ihren Augen nicht ganz kaschieren konnte. »Und jetzt Schluss mit der Diskussion. Ich muss noch eine Menge erledigen.«
»Schickst du Tippy zu mir ins Zimmer? Niemand sonst kann mir die Haare so frisieren wie sie. Und stell dir vor, wie ich aussähe, wenn sie sich nicht um meine Garderobe kümmern würde.«
»Vergiss nicht, dass dein Vater gern unangekündigt auftaucht, und achte darauf, dass du dich mit Tippy tatsächlich nur über deine Haare und deine Kleidung unterhältst, falls er ins Zimmer kommen sollte. Sonst könnte es sein, dass Tippy in Zukunft Baumwolle pflücken muss und keine Zeit mehr hat, dich in puncto Bänder und Spitze zu beraten.«
»Ich denke dran.« Jessica stand auf und drehte sich in ihrem Satinmorgenrock um die eigene Achse, so dass der untere Teil um ihre schmale Taille wirbelte. »Morgen werde ich achtzehn. Wie konnte das nur so plötzlich passieren?«
»Allmählich solltest du ans Heiraten denken«, sagte Eunice.
»Denken ja, aber nicht tun. Welcher Mann würde schon einen Hitzkopf wie mich heiraten wollen?«
Ja, welcher?, dachte Eunice seufzend.
VIER
Tippy zog die Bürste über Jessicas Stirn bis ans Ende einer langen gewachsten Locke. Sie hatte diese Bewegung so lange wiederholt, bis Jessicas krause Haare wie glänzende rote Luftschlangen auf ihren Schultern wippten. Bald würde Tippy sie zu einer Abendfrisur formen, die sich an der englischen Romantik orientierte und die hübsche Bezeichnung »Madonna« trug. Dieser Stil erforderte einen Mittelscheitel mit Löckchen am Oberkopf und zu beiden Seiten des Gesichts.
Ein Gewand aus cremefarbenem Brokat hing an einem anatomisch nach den Maßen Jessicas geformten Kleiderständer.
Es war nach dem letzten Schrei geschnitten und brachte die helle Haut der Schultern, die schmale Taille und die schlanken Fesseln besonders gut zur Geltung.
»Der Stil ist ideal für Sie«, hatte Miss Smithfield, die das Kleid nach den Entwürfen und Stoffvorschlägen von Tippy genäht hatte, in ihrem Geschäft in Boston verkündet. Die Accessoires dazu lagen bereit - Satinslipper mit breiter Spitze, ellbogenlange Handschuhe, eine kleine Abendtasche in Grün, passend zu der Smaragdbrosche, die Jessicas Vater ihr zum Geburtstag geschenkt hatte.
Wenn Jessica aufrecht vor dem Spiegel saß, Tippy unmittelbar hinter ihr, sah sie nur deren feinen Haarbausch (merkwürdigerweise war er nicht borstig wie bei anderen Schwarzen und im Gegensatz zu ihrer dunkelbraunen Haut hellbraun), ihre abstehenden Ohren sowie ihre spitzen, sich ständig bewegenden Ellbogen. Tippy, kaum größer als ein Kaminbesen und spindeldürr, hatte von ihrem Schöpfer bemerkenswert große Ohren, Hände und Füße mitbekommen, die sie auf Menschen, welche nichts von ihren Fähigkeiten wussten, grotesk wirken ließen.
»Was sich der Herr im Himmel wohl dabei gedacht hat, meinem Mädel die ganzen großen Sachen zu machen, aber keine heile Lunge?«, klagte Willie May oft.
Das fragte Jessica sich auch manchmal. Sie hielt Tippy zwar für den körperlich merkwürdigsten Menschen, den sie kannte, hatte jedoch ihre kleine Gestalt mit den nicht zueinanderpassenden Teilen immer schon bezaubernd gefunden. Mit ihrem wachen Verstand und ihrer lebhaften Fantasie erinnerte Tippy Jessica an einen Kobold aus ihrem Lieblingsmärchenbuch. Jessica stellte sie sich gern als Schokoladenelfe vor, die aus einer anderen Welt in diese gefallen war und deren übergroße feenzarte Ohren, Hände und Füße sich in Flügel verwandeln und sie in das Reich zurücktragen konnten, aus dem sie kam. Seit Jessica alt genug war, um zu begreifen, dass ihrer Freundin ein wesentlicher Teil eines Organs fehlte, machte sie sich Sorgen wegen Tippys Zerbrechlichkeit und hatte manchmal Angst, eines Morgens beim Aufwachen festzustellen, dass die Engel ihre Spielkameradin abgeholt hatten. Wenn sie sich Tippys flinke Finger beim Baumwollpflücken unter sengender Sonne vorstellte, wurde Jessica fast ein wenig übel, obwohl sie sich letztlich sicher war, dass ihr Vater Tippy das nicht antun würde. Doch er konnte - und würde - sie trennen, wenn ihm der Sinn danach stand. Das durfte Jessica nicht vergessen.
»Ich habe keine Wünsche mehr«, sagte Jessica. »Ist das nicht schrecklich, Tippy? Mit achtzehn keine Wünsche mehr zu haben.«
»Keine Ahnung, was das mit dem ›keine Wünsche mehr haben‹ heißen soll, aber eins is klar: Daheim wünsch ich mir Zuckerrohrsirup auf'm Maisbrot«, erwiderte Tippy.
Jessica drehte sich zu Tippy um und senkte die Stimme. »Musst du unbedingt wie eine ungebildete Landarbeiterin mit mir reden, Tippy?«
»Ja, damit ich nicht vergess, wo ich herkomm. Is für uns beide besser.«
Jessica wandte sich wieder dem Spiegel zu. »Jetzt tut es mir schon leid, dass ich dich nicht bei Miss Smithfield in ihrer Schneiderei gelassen habe. Mit Nadel und Faden hättest du dir gut deinen Lebensunterhalt verdienen können. Dort hättest du viele Wünsche gehabt, und sie wären alle in Erfüllung gegangen.«
Tippy flüsterte Jessica in Hochsprache ins Ohr: »Dein Daddy hätte seine Männer zu mir geschickt, und außerdem wäre ich sowieso nicht geblieben. Ich hätte dich nicht allein heimfahren lassen.«
Jessica lauschte, ob sich die Schritte ihres Vaters auf dem Flur näherten. Er würde nun, da sie erwachsen war, nicht, ohne zu klopfen, eintreten, ihr aber auch nicht viel Zeit lassen, bis er die Tür öffnete. Als Tippy am Morgen des vergangenen Tages aus der Küche in Jessicas Zimmer hatte zurückkehren dürfen, hatte Jessica ihr von der Warnung ihrer Mutter erzählt, die Tippy bereits von Willie May kannte. »Sie wollen uns auseinanderbringen, weil wir uns so nahe sind«, hatte Jessica erklärt. »Und Mama droht, dass du aufs Feld geschickt wirst, wenn ich nicht artig bin. Wir müssen so tun, als wären wir Dienstmädchen und Herrin.«
»Das wird nicht schwer«, hatte Tippy gesagt, »denn das sind wir ja.«
»Nur dem Wort nach.«
Sie waren sich einig, dass sie vorsichtig sein mussten. Willie May hatte es Tippy erklärt: Sie durfte Jessica nicht mehr ohne ein »Miss« und einen kleinen Knicks »Jessie« nennen. Gemeinsames Getuschel und Gekicher waren fortan verboten, genauso müßiges einander Vorlesen und offene Freundschaftsbekundungen. »Und ...«, hatte Willie May mit einem strengen Blick hinzugefügt, »... du darfst auch nicht mehr wie eine weiße Dame reden und dein Wissen offen zur Schau stellen.«
Die Mädchen hatten die Daumen ineinander verhakt - ihr Ritual, um eine Abmachung zu besiegeln.Als Jessica vom Flur nur Stille hörte, sagte sie schmunzelnd: »Ich sorge schon dafür, dass du so viel Zuckerrohrsirup kriegst, wie du willst, und wenn ich ihn hier raufschmuggeln muss.«
»Nein, nein, Jessie - Miss Jessie. Keine Bevorzugung, bitte. Das ist zu gefährlich.«
Jessica seufzte. »Ich finde das widerlich und schäme mich für den Süden und meine Familie ...«
»Sch, so darfst du nicht reden, ja nicht einmal denken.«
»Ich kann nicht anders.«
»Die neue Lehrerin aus dem Norden ... Ich weiß, was sie vorhat, Miss Jessie. Bitte lass dich von der nicht in Schwierigkeiten bringen. Bitte ...«
»Jessie! Ich bin's, Papa. Ich komm jetzt rein!«
Die laute Stimme des Mannes, den Jessica gleichermaßen liebte und fürchtete, dröhnte durch die Tür. Wenige Sekunden später flog sie auf, und Carson Wyndham marschierte mit klackenden hochglanzpolierten kniehohen Stiefeln herein. Der klein gewachsene, sportliche Mann mit den rötlichen Haaren, der kräftigen Statur und der herrischen Art schien von allen zu erwarten, dass sie ihm Platz machten - und wehe, sie taten es nicht!
Tippy reagierte schnell, sah Jessica im Spiegel an und sagte laut, als würde sie das Gespräch weiterführen: »... Ihre Haare sind hübsch so. Is 'ne Schande, sie hochzustecken.«
»Finde ich auch«, pflichtete Carson ihr bei und trat zu seiner Tochter an den Frisiertisch, um sie genauer zu betrachten.
»Warum, zum Teufel, meinen Frauen, sie müssten ihre Haare in Locken und Wellen und weiß Gott noch was legen, wenn sie so, wie der Herr sie geschaffen hat, viel schöner sind?« Seine Finger glitten über das feine Haarnetz, das an einer Ecke des Spiegels hing und das Jessica am vorigen Tag beim Lunch aufgehabt hatte. »Dieses Ding ... wie es auch immer heißen mag ... fand ich hübsch an dir, Jessie. Warum trägst du das nicht heute Abend?«
»Papa, ein Haarnetz trägt man doch nicht zum Abendkleid! «
Solche zutiefst weiblichen, eitlen und nichtigen Antworten hörte ihr Vater gern von ihr. Er bedachte sie mit einem Lächeln. »Vermutlich hast du recht. Gefällt dir die Brosche?«
»Ja, sehr. Danke noch mal, Papa.«
Die Brosche hatte er ihr beim Lunch im Beisein der engsten Freunde ihrer Eltern überreicht. Das Essen war als Teil ihrer Geburtstagsfeier gedacht gewesen, diente jedoch letztlich dazu, die fernen englischen Verwandten ihres Vaters, Lord Henry und Lady Barbara, Herzog und Herzogin von Strathmore, zu präsentieren. Wenn da nicht die fröhliche Lettie Sedgewick, abgesehen von ihrem Bruder die einzige Gleichaltrige, gewesen wäre, hätte Jessica fürchten müssen, vor Langeweile zu sterben. Die Gespräche hatten sich einzig und allein um Seine Lordschaft und seine rechthaberische Gattin gedreht, um den beklagenswerten Aufstieg der britischen Mittelschicht, den dreisten Versuch der Landarbeiter in Dorset, eine Gewerkschaft zu gründen, und um die Moorhuhnjagd. Alle außer Lettie hatten an ihren Lippen gehangen, und sie hatten sich nur durch einen Toast Michaels auf die Heimkehr seiner Schwester unterbrechen lassen.
Jessica mochte Lettie Sedgewick. Sie hatte sich darauf gefreut, nach ihrer Rückkehr aus Boston ihre Verbindung zu ihrer früheren Lehrerin wieder aufzunehmen und mit ihr über das im Pensionat erworbene Wissen zu sprechen. Doch Lettie war jetzt mit Silas Toliver verlobt, einem attraktiven Witwer, der seine eigene Plantage in Texas aufbauen wollte. Jessica erinnerte sich, dass seine erste Frau bei der Geburt des kleinen Sohnes gestorben war, der schon bald Letties Stiefsohn werden sollte. Lettie war die hochintelligente Tochter eines presbyterianischen Geistlichen und beherrschte mehrere Sprachen. Die Wyndhams,Angehörige der Kirche ihres Vaters, hatten sie eingestellt, um Jessica in Schönschrift und klassischer Literatur zu unterweisen und ihre Schulbildung zu vervollkommnen, bevor sie aufs Internat wechselte. Inzwischen war Lettie an einem College in Nashville zur Lehrerin ausgebildet worden und unterrichtete in der Schule des kleinen Ortes Willow Grove, in dem sich die Kirche ihres Vaters befand. Die Gemeinde lag nur einen Steinwurf von Charleston auf der einen und den parallelen Reihen der bekanntesten Zuckerrohr- und Baumwollplantagen auf der anderen entfernt, die den Namen »Plantation Alley« trugen. Silas war wie Jeremy Warwick nicht zu dem Lunch eingeladen gewesen, weil sie Jessica nicht so gut kannten. Sie würden erst zu dem Ball kommen.
»Wenn man sieht, wie sklavisch wir allem Englischen anhängen, könnte man meinen, dass South Carolina nach wie vor eine britische Kolonie ist«, hatte Lettie mit einem Augenzwinkern zu Jessica gesagt, als sich endlich Gelegenheit zu einem privaten Gespräch bot.
»Das gilt nicht für die Sklaverei«, hatte Jessica gemeint. »Die Briten haben den Anstand besessen, den Sklavenhandel abzuschaffen.«
Lettie Sedgewick gegenüber, deren Toleranz sie kannte, konnte sie solche Dinge sagen. Lettie hatte seinerzeit nichts dagegen gehabt, wenn Tippy den Stunden, die sie Jessica gab, beiwohnte, sondern sie sogar dazu ermutigt. Allerdings hatte das heimlich geschehen müssen, denn es war ungesetzlich, Sklaven das Lesen und Schreiben beizubringen; und die Hauslehrerin hätte die Stelle ihres Vaters als Geistlicher der First Presbyterian Church in Willow Grove gefährdet, wenn ihr Treiben bekannt geworden wäre.
Lettie hatte geschmunzelt. »Stimmt. Wie ich sehe, hast du dich nicht sehr verändert, meine liebe Schülerin, aber ich würde dir raten, dich darauf zu besinnen, wo du dich aufhältst, bevor du den Mund aufmachst.«
»Ja, das muss ich lernen.«
»Silas hat mir von dem kleinen Zwischenfall am Pier in Charleston erzählt. Jeremy Warwick war dort, um etwas für Meadowlands abzuholen. Er hat Silas gesagt, er hätte sich im Hintergrund gehalten, weil er dich, deine Mutter und deinen Bruder nicht noch mehr in Verlegenheit bringen wollte.«
»Bestimmt hat Mr Warwick jetzt den allerschlechtesten Eindruck von mir.«
»Aber nein. Er hat Silas gestanden, dass er dich sehr mutig findet.«
Oder sehr dumm, dachte Jessica und betrachtete das ernste Gesicht ihres Vaters im Spiegel. Hatte Michael ihm von dem Zwischenfall in Charleston erzählt, und war er nun hier, um sie zu schelten?
»Jessie«, sagte Carson. »Heute Abend sollst du besonders hübsch aussehen.«
»Wir geben unser Bestes, stimmt's, Tippy?«, versicherte Jessica ihm erleichtert. »Gibt es einen besonderen Grund dafür, abgesehen davon, dass mein Geburtstag ist?«
»Nein ... Ich möchte nur stolz auf mein kleines Mädchen sein, das nach zwei langen Jahren endlich wieder zu Hause ist. Also bitte zeig dich von deiner besten Seite.« Er beugte sich zu ihr hinab und küsste sie auf die Wange. »Wir sehen uns beim Fest - und Tippy?«
Tippy richtete sich auf. »Ja, Sir?«
»Sorg dafür, dass das klappt.«
»Ja, Sir, Mister Carson.«
Als er das Zimmer mit langen Schritten verließ, sahen die beiden Frauen einander fragend an. »Was sollte das denn?«, fragte Jessica.
»Es geht bestimmt um Jeremy Warwick«, antwortete Tippy.
»Jeremy Warwick?«
»Das habe ich in der Küche gehört. Dein Vater möchte, dass du Eindruck auf ihn machst, weil er hofft, dass ihr zwei zusammenkommt. Du wirst beim Abendessen neben ihm sitzen.«
»Jeremy ist ungefähr so alt wie Silas - zu alt für mich, und soweit ich weiß, möchten sie miteinander nach Texas. Wieso sollte mein Vater wollen, dass ich ihn heirate?«
»Keine Ahnung. Die Warwicks sind reich. Vielleicht um mittellose Verehrer zu entmutigen?« Tippy klimperte vielsagend mit ihren nicht vorhandenen Wimpern. »Jeremy Warwick ist ein guter Mensch, sagen sie in der Küche. Ein guter Herr. Ich verstehe nicht, warum er noch nicht verheiratet ist. Möglicherweise möchte dein Daddy, dass du ihn dir sicherst, bevor eine andere ihn sich schnappt.«
»Nein, Tippy, das ist nicht der Grund«, widersprach Jessica, die plötzlich begriff. Ihr Vater hatte von der Sache am Pier erfahren, bestimmt von Michael - und von ihrer Mutter, die viel zu große Angst hatte, ihrem Mann irgendetwas zu verheimlichen, wusste er wahrscheinlich von Jessicas Ansichten über die Sklaverei. »Mein Vater will mich loswerden, bevor ich Ärger mache.«
Aber nur, wenn ein reicher, guter Mann mich von South Carolina fortbringt. So sehr liebt mein Vater mich immerhin, dachte sie. Jessica spürte, wie sich ihre Verletztheit in Wut verwandelte. Er würde sich noch wundern: Einen Sklavenbesitzer würde sie niemals heiraten.
FÜNF
Sie wurde in einer Empfangsreihe im Tanzsaal präsentiert, ohne großen Auftritt von der Treppe herunter. Treppen waren für große Schönheiten. Auch recht, dachte Jessica. Ihr Handschuh war schmutzig, als sie endlich die Hände sämtlicher fünfzig Gäste ihrer Geburtstagsfeier geschüttelt hatte, und ein paar Sekunden lang spürte sie nicht einmal mehr den Stiel des Champagnerglases. Endlich konnte sie sich zu Lettie gesellen, die mit Silas Toliver und Jeremy Warwick vor der fünfstöckigen blumengeschmückten Geburtstagstorte stand.
»Wie hübsch«, rief Lettie, begeistert über die Torte, aus, als Jessica zu ihnen trat. »Erkenne ich da Tippys Handschrift?«
»Natürlich. Die Blumen sind aus geschlagenem Eiweiß. Sie hat sie in Zucker getaucht und hart werden lassen.«
»Sie sind genauso schön wie du, Geburtstagskind. Was für ein elegantes Kleid! Aus Paris?«
»Nein, aus Boston.« Jessica spürte, wie sie unter dem Blick der Männer rot wurde, die sie, obwohl sie herausgeputzt war, sicher nicht schön fanden. Lettie sah Schönes in allem und jedem und konnte sich das auch leisten, denn das Wörtchen »schön« beschrieb sie selbst aufs Treffendste, was sich in dem bewundernden Blick von Silas spiegelte. Sie waren ein strahlendes Paar - er groß, dunkel und attraktiv, ein richtiger Lord Byron mit seiner widerspenstigen schwarzen Mähne, den grünen Augen und dem attraktiven Kinngrübchen, sie klein, zierlich, blond und mit makelloser Porzellanhaut.
»Die roten Wangen stehen Ihnen gut«, bemerkte Jeremy Warwick mit einer angedeuteten Verbeugung und einem schalkhaften Grinsen. Machte er sich über sie lustig? Ohne auf sein Kompliment zu achten, wandte Jessica sich Lettie zu: »Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich darauf freue, deine Brautjungfer zu sein.«
»Und ich freue mich, dass du Ja gesagt hast. Wollen wir nächste Woche in Charleston Stoff einkaufen gehen?«
»Das würde ich gern, aber ich bin in solchen Dingen keine große Hilfe. Tippy hat ein gutes Auge für Material und Farbe und ausgezeichneten Geschmack. Sie zeichnet verantwortlich für Schnitt und Stoff meines Kleids. Ich nehme sie immer zum Einkaufen mit. Darf sie auch mitkommen?«
»Tippy?«, mischte sich Silas ein. »Den Namen höre ich jetzt schon das zweite Mal. Ich glaube nicht, dass ich ihr vorgestellt wurde.«
»Äh ... Tippy ist Jessicas Dienstmädchen«, erklärte Lettie mit leicht unbehaglichem Blick.
»Ein schwarzes Dienstmädchen soll besseren Geschmack haben als die Herrin?«, fragte Silas Jessica ungläubig.
Jessica reckte das Kinn vor. »Das meine schon.«
Sie spürte, wie sich eine starke Männerhand um ihren Ellbogen schloss. Sollte das eine Warnung sein? »Ich glaube, ich höre die Essensglocke«, sagte Jeremy und hakte Jessica bei sich unter. »Ich habe das Vergnügen, bei Tisch rechts von Ihnen Platz nehmen zu dürfen, Miss Jessica. Was verschafft mir die Ehre, neben dem Geburtstagskind zu sitzen?«
»Das ist die Idee meines Vaters, Mr Warwick«, antwortete Jessica, die die Luft in dem Raum plötzlich sehr stickig fand. »Ich soll Sie wohl in der Hoffnung, dass Sie mich nicht als gänzlich unattraktiv für eine Heirat erachten, entzücken und betören.«
Die anderen sahen sie mit offenem Mund an. Jeremy lachte laut auf. »Himmel«, sagte er, »ich habe das Gefühl, bereits betört zu sein.«
Jessica bürstete gerade ihre Festfrisur aus, als sie das kurze, fordernde Klopfen ihres Vaters an der Tür hörte. Sie sparte sich die Mühe, etwas zu sagen. Tatsächlich öffnete sie sich gleich darauf, und er trat, mit Hausjacke bekleidet und nach Zigarrenrauch riechend, ein.
»Und, mein Mädchen, hat dir das Fest gefallen?«
»Ja, Papa, sehr.« Es war ein ermüdender Abend mit langweiligen Gesprächen gewesen, abgesehen von denen zwischen Silas und Jeremy, die sich über ihr Vorhaben unterhielten, im Frühjahr mit einem Planwagentross nach Texas aufzubrechen. Dieser sollte einen Kilometer lang sein, und sie hofften, mindestens drei Kilometer in der Stunde voranzukommen, täglich etwas mehr als fünfzehn, abhängig von Wetter und anderen Unwägbarkeiten. Die Reise ins Ungewisse klang gefährlich und mühsam, und Jessica fragte sich, wie Lettie sie schaffen sollte. Das einzige andere interessante Thema war die sichere Ankunft von Sarah Conklin aus Massachusetts am Nachmittag gewesen, die Letties Lehrerinnenstelle an der örtlichen Schule übernehmen würde. Die Sedgewicks hatten sie am Pier in Charleston abgeholt und zu ihrem neuen Zuhause in Willow Grove gebracht.
»Ist sie hübsch?«, hatte Michael wissen wollen.
»Sehr«, hatte Reverend Sedgewick ein wenig errötend geantwortet.
Jessica hatte nicht verraten, dass sie die neue Lehrerin kannte. Bestimmt war Lettie erstaunt gewesen, dass Jessica ihren Einfluss geltend gemacht hatte, um einer Fremden aus dem Norden die Stelle zu sichern.
Ihr Vater setzte sich auf das niedrige Sofa, auf dem er die Beine nicht bequem ausstrecken konnte, das jedoch genau richtig stand, um das Gesicht seiner Tochter im Spiegel zu betrachten. »Hoffentlich erzählst du mir nicht nur, dass du dich amüsiert hast, weil ich das hören möchte«, sagte er. »Was hältst du von Jeremy Warwick?«
Jessica zog mit der Bürste eine Strähne aus ihren gewachsten Haaren. »Ich finde ihn angenehm.«
»Angenehm! Ist das alles? Im ganzen Süden dürfte es kaum eine ledige Frau geben, die ihn nicht als attraktiv und amüsant bezeichnen würde. Und wohl auch kaum eine verheiratete.« Er wackelte mit den Augenbrauen, ein Versuch, witzig zu sein, der angesichts seiner sonstigen Humorlosigkeit so lächerlich wirkte, dass sie fast gelacht hätte.
»Warum ist er dann nicht verheiratet?«
»Wahrscheinlich ist er zu eigen. Angeblich ist seine große Liebe in jungen Jahren an Typhus gestorben. Ich muss schon sagen, Spook, du hast dich nicht sonderlich angestrengt, ihn zu beeindrucken.«
Jessica erwiderte seinen Blick im Spiegel. Spook. So hatte er sie seit ihrer Kindheit nicht mehr genannt. Der Spitzname stammte aus einem Spiel, bei dem sie sich aus einem Versteck auf ihn stürzte, um ihn zu erschrecken, und Buh! rief. Er hatte gelacht, sie durch die Luft gewirbelt und sie seine Spook, seinen kleinen Spuk, genannt. Ihr schnürte sich die Kehle zu, als ihr klar wurde, dass ihr Vater sie immer noch rühren konnte.
»Sollte ich ihn denn beeindrucken, Papa?«
Carsons Ohren wurden rot. »Ja, Spook. Ich gebe zu, ich wollte dich mit ihm verkuppeln. Jeremy ist, abgesehen von Silas Toliver, der begehrteste Junggeselle von South Carolina. Im Unterschied zu Silas verfügt er über Geld. Er würde gut für dich sorgen.«
»Silas hat kein Geld?« Jessica sah ihren Vater erstaunt im Spiegel an. »Wie kann das sein? Queenscrown ist doch eine einträgliche Plantage.«
»Benjamin Toliver hat Queenscrown seinem älteren Sohn Morris vermacht. Silas ist nicht mehr als ein Lohnarbeiter. Deswegen will er nach Texas.«
»Und wie kann er sich das leisten?«, erkundigte sich Jessica, besorgt um Lettie.
»Er besitzt eigenes Geld, das er in die Sache investiert hat, und den Rest leiht er sich von mir.«
Jessica schauderte für Lettie. Sie würde also während der Reise und beim Aufbau ihres neuen Lebens in Texas von geborgtem Geld unsäglichen Mühen ausgesetzt sein. Vermutlich würde es Jahre dauern, bis die Plantage ausreichend Profit abwarf, um ihrem Vater das Darlehen zurückzuzahlen. Hoffentlich würde ihnen ihre Liebe zueinander genügen, und hoffentlich würde sie Silas helfen, den Traum zu verwirklichen, den er und Jeremy offenbar schon lange hegten.
Jessica drehte sich zu ihrem Vater herum. »Warum hast du es so eilig, mich unter die Haube zu bringen, Papa?«
»Du wirst auch nicht jünger. Deine Mutter hat in deinem Alter geheiratet, und offen gestanden fällt mir für dich kein besserer Mann als Jeremy ein.« Carson streckte zwei kräftige Finger in die Luft. »Du musst ihn dir sichern, bevor eine andere es tut.«
»Das hängt auch ein bisschen von Jeremy ab.«
»Auf mich wirkt er durchaus aufgeschlossen. Aber leider warst du ihm gegenüber ziemlich kühl.«
»Er ist fast dreißig, elf Jahre älter als ich.«
»Was macht das schon? Ich bin acht Jahre älter als deine Mutter, und Silas ist älter als Lettie, und trotzdem sind sie glücklich miteinander.«
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»Du hättest ihn umstimmen können, Mutter«, hatte er ihr vorgeworfen. Er glaubte ihr nicht, dass sie nichts von der endgültigen Formulierung dieses Testaments geahnt hatte, obwohl er eigentlich wissen sollte, dass sie sein Wohlergehen stets über das ihre stellte. Damit würde sie leben müssen. Sie hörte Jeremy Warwick, der ihren Sohn, ihren vierjährigen Enkel und ihre künftige Schwiegertochter in das ferne, gefährliche Texas entführen würde, auf seinem weißen Hengst heranpreschen.
Jeremy zügelte sein schnaubendes Pferd, und noch bevor er Silas begrüßte und aus dem Sattel glitt, rief er ihr zu: »Morgen, Miz 'Lizabeth. Na, wie machen sich die Rosen?«
Das war sein üblicher Gruß, egal, wo sie sich aufhielten. Er diente dazu, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Der Hinweis auf die Rosen besaß tiefere Bedeutung, weil sowohl die Warwicks als auch die Tolivers englischen Adelshäusern entstammten, die diese elegante Blume im Wappen trugen. Die Linie der Warwicks ging auf das Haus York zurück, repräsentiert durch die weiße Rose; die der Tolivers auf das Haus Lancaster, symbolisiert durch die rote. Obwohl sie Nachbarn und eng befreundet waren, wuchs in ihren Gärten keine Rose in der Farbe der jeweils anderen Familie.
An jenem Morgen zielte dieses »Wie machen sich die Rosen? « nicht auf das Befinden ihrer geliebten Pflanzen nach Monaten der Abwesenheit, in denen sie ihren Mann in einem Krankenhaus in Charleston gepflegt hatte, ab, sondern auf ihr eigenes, jetzt, da er seit vier Wochen unter der Erde lag. »Schwer zu sagen«, antwortete sie. »Das hängt vom Wetter in der nächsten Zeit ab.«
Elizabeth hatte eine Schwäche für Jeremy Warwick, seit sie in der Kindheit der Jungen seinen spöttischen, jedoch niemals verletzenden Humor entdeckt hatte. Er war, anders als ihr schlanker, sehniger, ebenfalls groß gewachsener Sohn, eher kräftig, der jüngste von drei Brüdern, deren Vater die benachbarte Baumwollplantage Meadowlands gehörte. Aufgrund der Ähnlichkeiten innerhalb der Familien, des Alters, der Herkunft und der Interessen waren er und Silas die idealen Freunde, eine Freundschaft, für die Elizabeth dankbar war, weil Silas und sein Bruder einander von Kindesbeinen an bekriegten.
Jeremys Miene verdüsterte sich, als er den Hintersinn ihrer Worte begriff. »Leider ist das Wetter nicht immer so, wie man es sich wünscht«, erklärte er.
»Ist der Brief eingetroffen, auf den wir warten?«, erkundigte sich Silas.
»Ja, endlich. Der und einer von Lucas Tanner. Er und seine Gruppe haben es geschafft.«
Elizabeth hatte keine Lust, ins Haus zu gehen. Wenn sie sich unter vier Augen unterhalten wollten, konnten sie das außer Hörweite tun. Manchmal erfuhr sie nur, was in ihrer Familie besprochen wurde, wenn sie schamlos lauschte oder einen der Bediensteten dazu anhielt. Sie hörte, wie Silas Lazarus anwies, Kaffee zu bringen. Gut. Das bedeutete, dass sie sich an jenem schönen Herbstmorgen auf der Veranda zusammensetzen würden.
»Wird mich der Inhalt des Briefs freuen?«, fragte Silas.
»Größtenteils ja«, antwortete sein Freund.
Elizabeth war klar, worüber sie reden wollten. Sie waren dabei, den Traum in die Tat umzusetzen, von dem sie schon seit Jahren sprachen. Als jüngste Söhne ihrer Familien waren sie beide in dem Wissen aufgewachsen, dass sie nach dem Tod ihrer Väter höchstwahrscheinlich nicht die Alleinerben der Baumwollplantagen ihrer Familien sein würden. In Jeremys Fall stellte das kein Problem dar, weil er sich gut mit seinen zwei Brüdern vertrug und sein Vater, der ihn abgöttisch liebte, dafür sorgen würde, dass er einen gerechten Anteil am Anwesen erhielt. Jeremy wollte einfach nur seine eigene Plantage besitzen und so führen, wie er sich das vorstellte. Für Silas hingegen gestaltete sich die Situation anders. Benjamin Toliver hatte seinen Erstgeborenen Morris seit jeher als Erben von Queenscrown betrachtet. »So ist es nun mal«, hatte er gern zu Elizabeth gesagt, weil er sich innerlich nie vom Recht der Erstgeburt verabschiedet hatte, einem Relikt seiner englischen Herkunft, das bestimmte, dass immer der älteste Sohn den Familienbesitz erbte. In South Carolina war diese Erbfolge im Jahr 1779 abgeschafft worden.
Dazu kamen weitere Faktoren. Benjamin und Morris waren in den meisten Dingen einer Meinung gewesen, nicht nur deshalb, weil der Sohn es dem Vater recht machen wollte. Morris teilte die Überzeugungen seines Vaters bei allen Themen von Religion bis Politik aufrichtig, wogegen Silas bisweilen eine rebellischere Weltsicht an den Tag legte. Die Abneigung zwischen Vater und Sohn sowie zwischen Bruder und Bruder wuchs; da half es auch nicht, dass Elizabeth Silas, um die immer tiefer werdende Kluft zwischen ihnen zu überbrücken, mit besonderer Zuneigung bedachte. Benjamin war klar gewesen, dass Silas und sein Bruder aufeinander losgehen würden, sobald er unter der Erde wäre. Um das zu verhindern, hatte er die Plantage und das gesamte Vermögen der Familie - Grund, Haus samt Einrichtung, Vieh, Gerätschaften und Sklaven - Morris hinterlassen, so dass Silas, abgesehen von einem jährlichen »Gehalt« sowie einem prozentualen Anteil am Ertrag der Plantage als Landverwalter seines Bruders, mittellos dastand.
Kein Wunder also, dass der inzwischen neunundzwanzigjährige Silas sich betrogen fühlte und seiner Heimat den Rücken kehren wollte, um sich mit Jeremy Warwick zum »black waxy« im östlichen Teil von Texas aufzumachen, einem Boden, der sich angeblich hervorragend für die Pflanzung von Baumwolle eignete. Traurig nur, dachte Elizabeth, dass er mit Verbitterung seinem Vater gegenüber aufbrechen würde, denn sie wusste etwas, das Silas nicht ahnte: Benjamin Toliver hatte seinen jüngeren Sohn mehr geliebt als seine Frau. Sie würde in der Obhut des unbeholfenen Morris zurückbleiben, der höchstwahrscheinlich niemals heiratete, und ohne das Vergnügen, Enkel zu verwöhnen, alt werden müssen. So bedauerlich das auch war: Sie würde ihre Liebe zu ihrem entzückenden Enkel und der jungen Dame, die schon bald Silas' zweite Frau werden würde, beiseiteschieben und ihn nach Texas ziehen lassen, ohne ihm zu verraten, dass sein Vater sein Testament so formuliert hatte, um ihn zu befreien.
ZWEI
Silas spürte die Verzweiflung seiner Mutter, den Kummer der Witwe, die der kühle Herbstwind zu ihm herübertrug, konnte ihr jedoch nicht helfen. Er würde mit Sohn und Braut nach Texas ziehen. Die Diskussion mit seiner Mutter war nicht neu. Ihr bedeutete die Familie alles, ihm das Land, die Verbindung des Mannes mit seinem innersten Wesen.
Ohne eigenes Land zu bestellen war ein Mann nichts, egal, welche gesellschaftliche Stellung seine Familie innehatte.
Seine Mutter hatte alle nur erdenklichen Gründe ins Feld geführt, warum ihr jüngerer Sohn die Sicherheit seines behaglichen Zuhauses nicht verlassen, mit seiner Familie nicht kurz vor einem Aufstand nach Texas gehen konnte. Berichten zufolge wollten die texanischen Siedler ihre Unabhängigkeit von Mexiko erklären, was unweigerlich zu Krieg führen würde.
»Was soll ich tun, Mutter? Unter der Fuchtel meines Bruders bleiben, wo mein Sohn wie sein Vater niemals Herr seines eigenen Hauses sein wird?«
»Schieb nicht Joshua vor«, hatte seine Mutter entgegnet.
»Es ist dein Wunsch - immer schon gewesen -, aber du musst an Lettie und deinen Sohn denken.« Sie hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt ob all der Gefahren, die ihn in Texas erwarteten - schreckliche Krankheiten (1834 war in Stephen F.Austins Kolonie die Cholera ausgebrochen), Indianer, wilde Tiere, blutrünstige Mexikaner, riskante Flussdurchquerungen, extreme Witterungsverhältnisse ... Die Liste der Schrecken war endlos; am meisten graute ihr davor, ihren Sohn, Joshua und Lettie nie wiederzusehen.
»Red du dich bitte auch nicht auf sie raus, Mutter. Wenn man mir Land irgendwo im sicheren Süden angeboten hätte, würdest du trotzdem wollen, dass ich in Queenscrown bleibe, damit wir alle als große Familie zusammen sind, ungeachtet der Tatsache, dass mein Vater mich praktisch verstoßen hat und mein Bruder mich nicht ausstehen kann.«
»Du übertreibst. Dein Vater hat das seiner Ansicht nach für Queenscrown Beste getan, und dein Bruder hasst dich nicht. Er versteht dich nur einfach nicht.«
»Und ich werde tun, was meiner Meinung nach das Beste für Somerset ist.«
»Somerset?«
»So werde ich meine Plantage in Texas nennen, zu Ehren des Duke of Somerset, des Vorfahren der Tolivers.«
Sein Ehrgeiz hatte seine Mutter verstummen lassen.
Ihren Kummer habe sie dem Testament ihres Mannes zu verdanken, hatte Silas sie erinnert, aber das rechtfertigte nicht sein schroffes Verhalten ihr gegenüber in den vergangenen Wochen, für das er sich schämte. Er liebte seine Mutter, und sie würde ihm sehr fehlen, auch wenn er sich des Gefühls nicht erwehren konnte, dass sie sich bewusst geweigert hatte, die ungerechte Vererbung des väterlichen Anwesens zu verhindern. Wenn Benjamin Toliver seinen Besitz gerecht aufgeteilt hätte, wäre Silas gar nicht auf die Idee gekommen, seinen Traum zu verwirklichen. Er hatte sich vorgenommen, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um friedlich mit seinem Bruder zusammenzuleben. Der Junggeselle Morris liebte seinen Neffen und mochte die Braut von Silas, die sich wunderbar mit seiner Mutter verstand. Elizabeth erachtete Lettie als die Tochter, die sie nie gehabt hatte, und seine Verlobte sah sie umgekehrt als Ersatz für ihre eigene Mutter, die sie bereits in jungen Jahren verloren hatte. Ein friedliches Miteinander wäre möglich gewesen.
Sogar Morris erkannte, welchen Verlust sein Erbe ihm bringen würde. »Wir werden uns schon auf etwas einigen«, hatte er gesagt, doch für Silas konnte kein Angebot seines Bruders den Mangel an Zuneigung ausgleichen, den sein Vater ihm durch seinen Letzten Willen demonstriert hatte. Silas würde seinem Bruder nicht nehmen, was sein Vater diesem zugedacht hatte.
Deshalb wollte er nach Texas.
Silas beobachtete dankbar, wie Jeremy, der Mann, der sich mit ihm zusammentun wollte, von seinem nervös tänzelnden Hengst abstieg. Jeremy Warwick zwang seinem Pferd nur selten seinen Willen auf, weil er es gewohnt war, sich durchzusetzen. Diese Eigenschaft schätzte Silas, denn obwohl sein Freund für seinen gesunden Menschenverstand bekannt war, wagte er bisweilen auch Riskantes wie den gemeinsamen Aufbruch nach Texas.
Jeremy warf Silas die Posttasche zu, die er in Charleston abgeholt hatte. Silas öffnete die Riemen und überflog den Brief von Stephen F. Austin aus Texas, noch bevor die hochglanzpolierten Stiefel seines Freundes den Boden der Veranda berührten.
»Schlechte Nachrichten«, sagte Jeremy mit gedämpfter Stimme, so dass Elizabeth ihn nicht hören konnte. »Mr Austin ist bereit, uns so viele Hektar Land zu verkaufen, wie wir wollen, solange wir uns bereit erklären, in Texas zu leben, aber er warnt uns vor einem bevorstehenden Krieg. Eine Zeitung schildert die wachsende Unzufriedenheit der Siedler über die Politik der Regierung in Mexico City, und es ist auch ein Brief von Lucas Tanner dabei. Er schreibt, die Gegend ist genau so, wie er sie sich erhofft hat - fruchtbare, unberührte Erde, reichlich Holz und Wasser, gutes Wetter -, doch möglicherweise muss er darum kämpfen. Es ist schon zu einigen Scharmützeln mit Indianern und mexikanischen Milizen gekommen.«
»Wir wollen ja erst im kommenden Frühjahr aufbrechen. Vielleicht ist der Konflikt mit der mexikanischen Regierung bis dahin beigelegt. Trotzdem muss ich den anderen, die uns begleiten wollen, Bescheid sagen und sie auf das zusätzliche Risiko hinweisen«, erklärte Silas.
»Auch Lettie?«, erkundigte sich Jeremy mit leiser Stimme.
Das laute Schnippen der Gartenschere verstummte, plötzlich herrschte Stille auf der Veranda. Elizabeth lauschte. Ja, Silas: auch Lettie? Ihrem Sohn wurde die Antwort erspart, als Lazarus mit dem Ellbogen gegen die Tür drückte, um den Kaffee herauszubringen. Silas öffnete sie ganz für ihn.
Der grauhaarige Schwarze bedankte sich und stellte das Tablett auf dem Tisch ab, an dem bereits Generationen von Tolivers Mint Juleps und Nachmittagstee getrunken hatten. »Soll ich den Kaffee einschenken, Sir?«
»Danke, Lazarus, das mach ich schon. Sag Cassandra, dass der Kuchen köstlich aussieht.«
Lazarus und seine Frau Cassandra würden ihn nach Texas begleiten. Sie gehörten Silas, ein Erbe von Mamie Toliver, seiner Großmutter, die ihrem anderen Enkel nichts hinterlassen hatte. Silas fiel auf, dass Lazarus sich in letzter Zeit schwertat mit dem Gehen und seine Frau beim Teigkneten nicht mehr sang.
»Auch Lettie«, antwortete Silas und reichte Jeremy einen Teller, bevor er ihnen den dampfenden Kaffee einschenkte. »Allerdings muss ich in der Stimmung sein, es ihr zu sagen«, fügte er hinzu.
»Aha«, meinte Jeremy.
»Was soll das heißen?«
»Dass der Kuchen köstlich ist«, erklärte Jeremy und schob einen großen Bissen in den Mund. »Wirst du mit Lettie zu Jessica Wyndhams Fest gehen?«
»Das möchte Lettie sich auf keinen Fall entgehen lassen. Sie hat Jessica unterrichtet, bevor die aufs Internat geschickt wurde. Die beiden mochten sich. Sie sind nur vier Jahre auseinander. Ich weiß nicht mehr so genau, wie Jessica aussah. Du?«
»Ich hatte sie als kleines Mädchen mit ernstem Gesicht und großen braunen Augen in Erinnerung, trotzdem habe ich sie, als sie heute Morgen am Pier in Charleston angekommen ist, gleich erkannt. Ihre Mutter und ihr Bruder waren dort, um sie abzuholen. Es gab eine Szene, als Jessica einem schwarzen Gepäckträger geholfen hat, der von einem Passagier schlecht behandelt wurde.«
»Von einem Weißen?«
»Ja, leider.«
»Dazu wird ihr Vater ein Wörtchen zu sagen haben.«
»Hoffentlich trübt das nicht die Stimmung beim Fest. Soweit ich weiß, scheuen die Wyndhams keine Kosten für die Feier zu Jessicas achtzehntem Geburtstag und ihrer Heimkehr von dem Mädchenpensionat in Boston. Außerdem haben sie Verwandte aus England zu Gast - Lord und Lady DeWitt.«
»Die Wyndhams können es sich leisten«, bemerkte Silas und nahm eine Karte aus der Posttasche.
»Der Courier bezeichnet Carson Wyndham als den reichsten Mann in South Carolina«, sagte Jeremy und aß einen Bissen Kuchen.
»Der Arme wird seine liebe Mühe haben, die Glücksritter der Gegend abzuwehren.«
»Vielleicht erspart Morris ihm das, indem er sie heiratet.«
Silas schnaubte verächtlich. »Morris kann einen Walzer nicht von einer Polka unterscheiden und das Taschentuch einer Dame nicht von einem Putzlappen, also halte ich es für ausgeschlossen, dass er sie für sich gewinnt. Warum heiratest du sie nicht, Jeremy? Ein gut aussehender Kerl wie du sollte leichtes Spiel haben.«
Jeremy lachte. »Das ist jetzt nicht gegen Lettie gerichtet, aber ich fürchte, eine junge kultivierte Dame wie Jessica Wyndham kann man nicht dafür interessieren, einen Mann zu heiraten, der sich in Texas niederlassen möchte. Außerdem hast du das Glück, dass Lettie völlig vernarrt in dich ist. Sie würde dir in die Hölle folgen.«
Silas breitete die Stephen F. Austins Brief beigelegte Karte aus und runzelte die Stirn über die Route, die dieser mit dunkler Tinte markiert hatte. Es handelte sich um eine immense Strecke, und das Terrain jenseits des Red River in Texas war heikel. Austin hatte eine Stelle mit einem Kreis gekennzeichnet, wo der Weg von der zu erwartenden Richtung abwich, und am Rand vermerkt: »Vorsicht, Jagdgründe der Komantschen.«
»Vielleicht bringe ich sie genau dahin«, sagte Silas.
DREI
Wo sollen wir Lady Barbara beim Lunch hinsetzen?«, fragte Eunice Wyndham, als ihre Tochter auf der Loggia erschien, wo gerade ein Tisch für zwölf gedeckt wurde.
»Das wird ganz schön schwierig. Wenn sie mit dem Rücken zum Garten sitzt, sind ihre schütteren Haare in der Sonne deutlich zu sehen, und wenn ihr Gesicht im Licht ist, sind ihre Falten ausgeleuchtet. Die Frau ist ja so eitel.«
Jessica gab ihr keine Antwort, denn ihre Mutter, die nur laut nachdachte, erwartete keine, weil sie wusste, dass ihre Tochter sich nicht für solche Dinge interessierte, auch nach den zwei Jahren im Pensionat nicht, die diesen Mangel an Interesse hätten beseitigen sollen. Der Mittagstisch war auf der Loggia aufgestellt, um den Speiseraum für das große Bankett am folgenden Abend freizuhalten. Jessica hätte ihren Geburtstag und ihre Heimkehr lieber mit einem Picknick im Kreis der Familie gefeiert. Leider war auch die schwarze Bedienstete, nach der sie Ausschau hielt, nicht da. Sie hatte sie nicht einmal im Speiseraum, wo ähnliche Hektik herrschte, finden können.
»Mama, wo ist Tippy?«
»Vielleicht kann ich sie ans Kopfende des Tischs setzen und Lord Henry ans andere. Das deuten sicher alle als Zeichen der Hochachtung. Dann sitzen dein Vater und ich einander in der Mitte gegenüber.«
»Mama, wo ist Tippy? Ich habe überall nach ihr gesucht.
Was hast du mit ihr gemacht?«
Eunice steckte eine schwungvoll beschriftete Namenskarte in einen Glaskartenhalter in Rosenblütenform und trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten. »Soll ich die Fliegenfänger aufstellen?«, fragte sie. »Ich habe zwei hübsche gekauft, als ich mit deinem Vater in Washington war. Die Fliegen dort sind einfach grässlich - schlimmer noch als hier. Aber möglicherweise ist es noch zu früh im Jahr, was meinst du?«
»Mama, wo ist Tippy?«
Endlich wandte Eunice sich ihrer Tochter zu. »Herrgott, Kind. Warum läufst du immer noch im Morgenmantel herum? «
Jessica ging zur Tür.
»Wo willst du hin?«
»In die Küche. Bestimmt hast du sie dahin verbannt.«
»Jessica, komm auf der Stelle zurück«, rief Eunice ihr nach, nahm einen Fächer und wedelte sich damit hektisch Luft zu. Jessica blieb stehen und drehte sich um. Die drei Dienstmädchen, alle in grauen Kleidern mit weißen Schürzen, erstarrten in der Bewegung. »Ich bin froh, dass dein Vater heute Morgen mit Lady Barbara und Lord Henry ausgeritten ist«, bemerkte Eunice. »So bleibt mir die Peinlichkeit erspart, dass meine Tochter in die Küche läuft, um ein Dienstmädchen zu holen, wenn es reichen würde zu klingeln.«
»Ich will Tippy sehen, Mama.«
»Sie schmückt gerade deine Geburtstagstorte.«
»Dann helfe ich ihr.«
Eunice sah entsetzt die Bediensteten an, die sie mit vor Schreck und Neugierde geweiteten Augen anstarrten. »Ihr könnt gehen«, herrschte sie sie an. »Macht euch bei Willie May nützlich.«
Nachdem die Dienstmädchen an Jessica vorbeigehastet waren, zog Eunice ihre Tochter eilig ins Zimmer und schloss die Tür zur Loggia hinter ihnen. »Ich verbitte mir diesen Tonfall in Gegenwart der Bediensteten, Jessica. Du hast gestern am Pier schon genug Aufsehen erregt.«
»Ich habe dem Mann doch bloß mit dem Fächer einen Klaps auf die Schulter gegeben.«
»Du hast einen Neger gegenüber einem Weißen verteidigt! «
»Der Mann hat einen überlasteten Gepäckträger schlecht behandelt. Ich hätte mich auch dann eingemischt, wenn der Gepäckträger weiß wie Schnee gewesen wäre.«
Eunice' Gesicht fiel in sich zusammen wie ein durchweichter Kuchen. »Kind, was sollen wir nur mit dir machen? Wir haben uns alle so auf deine Heimkehr gefreut, besonders dein Bruder. Michael wollte dich unbedingt vom Schiff abholen, aber du hast ihn gestern schrecklich blamiert.«
»Von Rechts wegen hätte Michael dem Mann eine Ohrfeige geben müssen.«
Eunice fächelte schneller. »Wir hätten dich nicht auf diese Schule in Boston schicken dürfen - mitten ins Wespennest der Abolitionisten.«
»Nein, Mutter, in die Heimat der Freiheitsliebenden.«
»Ach, Jessie!« Wie immer von der Auseinandersetzung mit ihrer Tochter erschöpft, für die sie sich das Herz aus der Brust gerissen hätte, sank Eunice resigniert seufzend auf einen der Loggiastühle. »Was haben sie in dieser Schule nur mit dir angestellt?«
»Sie haben nur meine Überzeugungen gefestigt. Alle Menschen sind gleich, und keiner besitzt das Recht, einen anderen zu versklaven.«
»Sch!«, zischte Eunice und warf hastig einen Blick durchs Glas der Verandatür, um festzustellen, ob jemand lauschte. »Hör zu, du eigensinniges Kind. Du hast keine Ahnung, was sich in deiner Abwesenheit hier abgespielt hat. Wenn ja, würdest du wissen, wie gefährlich solche Reden für Tippy werden könnten.«
»Was ist denn passiert?«
»Sklavenaufstände, alle erfolglos, zum Glück nicht auf unserer Plantage, aber zu nahe bei uns, als dass dein Vater sie ignorieren konnte. Die Pflanzer sind nervös und bestrafen die Sklaven unerbittlich und ...«, sie betrachtete Jessica mit einem eindringlichen Blick, »... jeden, der den Eindruck erweckt, gegen die Sache des Südens zu sein.«
»Sache? Die Abschaffung der Sklaverei ist eine Sache. Die Sklaverei selbst ist ein Dogma.«
Eunice hörte mit dem Fächeln auf. »Siehst du, genau das meine ich. Ich warne dich, Jessica. Obwohl dein Vater dir jeden Wunsch von den Augen abliest, ist er nicht bereit, solche Ansichten oder deine unverhohlene Freundschaft mit einer schwarzen Bediensteten zu tolerieren.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich hätte damals nie zulassen dürfen, dass du dich mit Tippy anfreundest, aber du hattest ja sonst keine Spielkameraden. Ich hätte auch nicht auf meine Schwester in Boston hören sollen, die unbedingt wollte, dass ich dich aufs dortige Pensionat schicke, und auf keinen Fall hätte ich erlauben dürfen, dass Tippy dich begleitet. Aber ...«, Eunice hob missbilligend eine Augenbraue, »... ich habe mir eingeredet, dass dein gesunder Menschenverstand dir raten würde, dich von ihr zu distanzieren, sobald ihr zu Hause seid.« Eunice legte müde eine Hand auf ihre Stirn. »Ich dachte, du würdest begreifen, dass Tippy ihren Platz hat und du den deinen.«
»Mama ...« Jessica kniete vor ihrer Mutter nieder. Als sich ihre weiten Röcke um sie bauschten, fühlte Eunice sich an die rothaarige braunäugige Lieblingspuppe Jessicas erinnert, die fast ganz aus einem weiten Rock bestanden hatte. Aber da endete die Ähnlichkeit ihrer Tochter mit der Puppe auch schon. Eunice begriff es einfach nicht. Die Züge ihrer Tochter waren regelmäßig, ihre Zähne gerade, ihre Lockenmähne rot und ihre großen, ausdrucksvollen Augen dunkelbraun, doch all das reichte nicht, ihr blasses, sommersprossiges Gesicht attraktiv zu machen. Ihr Mann hätte sich gewünscht, dass sie hübsch, aber im Hinblick auf ihre Interessen so durchschnittlich gewesen wäre wie die Töchter ihrer Freunde, dass sie sich ausschließlich mit Kleidung, Festen und Flirts beschäftigt und sich damit begnügt hätte, die verwöhnte einzige Tochter eines der reichsten Männer im amerikanischen Süden zu sein. Doch Jessica hatte sich von Kindesbeinen an gegen die ihr zugedachte Rolle gewehrt. Weil sie ahnte, dass die Nachsicht ihres Vaters seine Enttäuschung über sie kaschieren sollte? Jessica dachte zu viel nach, stellte Fragen, provozierte, lehnte sich auf. Bei einer attraktiven Tochter hätte Carson Klugheit interessant gefunden, doch bei einer bestenfalls durchschnittlichen ärgerte sie ihn. Manchmal dachte Eunice, dass Jessica besser ein Junge geworden wäre.
»Das verstehe ich alles«, sagte Jessica, »aber ich kann es nicht akzeptieren. Ich würde Tippy nie in Gefahr bringen, doch ich kann und will sie nicht als Untergebene behandeln. Sie ist intelligent und kreativ auf eine Weise, wie ich es nie sein werde. Außerdem ist sie liebenswert und besitzt alle Eigenschaften, die ich mir bei einer Freundin wünsche. Ich möchte dich und Papa wirklich nicht in Verlegenheit bringen, aber ich will meine Freundin mit dem Respekt behandeln, den sie verdient, und nicht wie eine Sklavin.«
Eunice schlug die Hände vors Gesicht. »Oje ... Wenn dein Vater dich hören würde ...«
»Wäre er sicher sehr enttäuscht von mir.«
»Mehr als enttäuscht. Dein Vater hat eine Seite, die du nicht kennst. Wenn du deine Zuneigung für Tippy weiterhin so offen zeigst, werde ich dich nicht schützen können. Du musst auch an sie denken.«
Jessica nahm die Hände ihrer Mutter sanft von ihren Wangen und hielt sie fest. »Keine Sorge, Mama. Ich verspreche dir, der Familie keinen Kummer zu machen, indem ich lauthals meine Ansichten über die Sklaverei verkünde. Der Süden ist nun mal, wie er ist, und eine Stimme wird ihn nicht ändern, aber bitte erlaube Tippy, meine persönliche Bedienstete zu sein. Du weißt, dass bei ihr nur ein Lungenflügel richtig funktioniert und sie in der heißen Küche keine Luft bekommt.«
»Gut, solange du dein Versprechen hältst. Wenn nicht, schickt dein Vater sie auf die Felder, und sie muss in der Sklavenunterkunft schlafen. Er liebt dich wirklich sehr, aber dazu ist er fähig, das musst du mir glauben.« Eunice löste ihre Hände aus denen ihrer Tochter und strich ihr die roten Haare aus dem Gesicht. »Du hast uns sehr gefehlt, als du in Boston warst«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Deswegen haben wir dich vor Schuljahresende nach Hause geholt, aber offen gestanden habe ich seit deiner Heimkehr keine Ruhe mehr. Beim Lunch und bei dem Fest werden die Leute über die Abolitionisten reden. Versprichst du mir, den Mund zu halten, wenn du nach deiner Meinung gefragt wirst?«
Jessica hielt sich den Mund zu und murmelte undeutlich: »Ich versprech's.«
»Sei nicht so albern«, rügte Eunice sie und verzog die Lippen zu einem Lächeln, das die Sorge in ihren Augen nicht ganz kaschieren konnte. »Und jetzt Schluss mit der Diskussion. Ich muss noch eine Menge erledigen.«
»Schickst du Tippy zu mir ins Zimmer? Niemand sonst kann mir die Haare so frisieren wie sie. Und stell dir vor, wie ich aussähe, wenn sie sich nicht um meine Garderobe kümmern würde.«
»Vergiss nicht, dass dein Vater gern unangekündigt auftaucht, und achte darauf, dass du dich mit Tippy tatsächlich nur über deine Haare und deine Kleidung unterhältst, falls er ins Zimmer kommen sollte. Sonst könnte es sein, dass Tippy in Zukunft Baumwolle pflücken muss und keine Zeit mehr hat, dich in puncto Bänder und Spitze zu beraten.«
»Ich denke dran.« Jessica stand auf und drehte sich in ihrem Satinmorgenrock um die eigene Achse, so dass der untere Teil um ihre schmale Taille wirbelte. »Morgen werde ich achtzehn. Wie konnte das nur so plötzlich passieren?«
»Allmählich solltest du ans Heiraten denken«, sagte Eunice.
»Denken ja, aber nicht tun. Welcher Mann würde schon einen Hitzkopf wie mich heiraten wollen?«
Ja, welcher?, dachte Eunice seufzend.
VIER
Tippy zog die Bürste über Jessicas Stirn bis ans Ende einer langen gewachsten Locke. Sie hatte diese Bewegung so lange wiederholt, bis Jessicas krause Haare wie glänzende rote Luftschlangen auf ihren Schultern wippten. Bald würde Tippy sie zu einer Abendfrisur formen, die sich an der englischen Romantik orientierte und die hübsche Bezeichnung »Madonna« trug. Dieser Stil erforderte einen Mittelscheitel mit Löckchen am Oberkopf und zu beiden Seiten des Gesichts.
Ein Gewand aus cremefarbenem Brokat hing an einem anatomisch nach den Maßen Jessicas geformten Kleiderständer.
Es war nach dem letzten Schrei geschnitten und brachte die helle Haut der Schultern, die schmale Taille und die schlanken Fesseln besonders gut zur Geltung.
»Der Stil ist ideal für Sie«, hatte Miss Smithfield, die das Kleid nach den Entwürfen und Stoffvorschlägen von Tippy genäht hatte, in ihrem Geschäft in Boston verkündet. Die Accessoires dazu lagen bereit - Satinslipper mit breiter Spitze, ellbogenlange Handschuhe, eine kleine Abendtasche in Grün, passend zu der Smaragdbrosche, die Jessicas Vater ihr zum Geburtstag geschenkt hatte.
Wenn Jessica aufrecht vor dem Spiegel saß, Tippy unmittelbar hinter ihr, sah sie nur deren feinen Haarbausch (merkwürdigerweise war er nicht borstig wie bei anderen Schwarzen und im Gegensatz zu ihrer dunkelbraunen Haut hellbraun), ihre abstehenden Ohren sowie ihre spitzen, sich ständig bewegenden Ellbogen. Tippy, kaum größer als ein Kaminbesen und spindeldürr, hatte von ihrem Schöpfer bemerkenswert große Ohren, Hände und Füße mitbekommen, die sie auf Menschen, welche nichts von ihren Fähigkeiten wussten, grotesk wirken ließen.
»Was sich der Herr im Himmel wohl dabei gedacht hat, meinem Mädel die ganzen großen Sachen zu machen, aber keine heile Lunge?«, klagte Willie May oft.
Das fragte Jessica sich auch manchmal. Sie hielt Tippy zwar für den körperlich merkwürdigsten Menschen, den sie kannte, hatte jedoch ihre kleine Gestalt mit den nicht zueinanderpassenden Teilen immer schon bezaubernd gefunden. Mit ihrem wachen Verstand und ihrer lebhaften Fantasie erinnerte Tippy Jessica an einen Kobold aus ihrem Lieblingsmärchenbuch. Jessica stellte sie sich gern als Schokoladenelfe vor, die aus einer anderen Welt in diese gefallen war und deren übergroße feenzarte Ohren, Hände und Füße sich in Flügel verwandeln und sie in das Reich zurücktragen konnten, aus dem sie kam. Seit Jessica alt genug war, um zu begreifen, dass ihrer Freundin ein wesentlicher Teil eines Organs fehlte, machte sie sich Sorgen wegen Tippys Zerbrechlichkeit und hatte manchmal Angst, eines Morgens beim Aufwachen festzustellen, dass die Engel ihre Spielkameradin abgeholt hatten. Wenn sie sich Tippys flinke Finger beim Baumwollpflücken unter sengender Sonne vorstellte, wurde Jessica fast ein wenig übel, obwohl sie sich letztlich sicher war, dass ihr Vater Tippy das nicht antun würde. Doch er konnte - und würde - sie trennen, wenn ihm der Sinn danach stand. Das durfte Jessica nicht vergessen.
»Ich habe keine Wünsche mehr«, sagte Jessica. »Ist das nicht schrecklich, Tippy? Mit achtzehn keine Wünsche mehr zu haben.«
»Keine Ahnung, was das mit dem ›keine Wünsche mehr haben‹ heißen soll, aber eins is klar: Daheim wünsch ich mir Zuckerrohrsirup auf'm Maisbrot«, erwiderte Tippy.
Jessica drehte sich zu Tippy um und senkte die Stimme. »Musst du unbedingt wie eine ungebildete Landarbeiterin mit mir reden, Tippy?«
»Ja, damit ich nicht vergess, wo ich herkomm. Is für uns beide besser.«
Jessica wandte sich wieder dem Spiegel zu. »Jetzt tut es mir schon leid, dass ich dich nicht bei Miss Smithfield in ihrer Schneiderei gelassen habe. Mit Nadel und Faden hättest du dir gut deinen Lebensunterhalt verdienen können. Dort hättest du viele Wünsche gehabt, und sie wären alle in Erfüllung gegangen.«
Tippy flüsterte Jessica in Hochsprache ins Ohr: »Dein Daddy hätte seine Männer zu mir geschickt, und außerdem wäre ich sowieso nicht geblieben. Ich hätte dich nicht allein heimfahren lassen.«
Jessica lauschte, ob sich die Schritte ihres Vaters auf dem Flur näherten. Er würde nun, da sie erwachsen war, nicht, ohne zu klopfen, eintreten, ihr aber auch nicht viel Zeit lassen, bis er die Tür öffnete. Als Tippy am Morgen des vergangenen Tages aus der Küche in Jessicas Zimmer hatte zurückkehren dürfen, hatte Jessica ihr von der Warnung ihrer Mutter erzählt, die Tippy bereits von Willie May kannte. »Sie wollen uns auseinanderbringen, weil wir uns so nahe sind«, hatte Jessica erklärt. »Und Mama droht, dass du aufs Feld geschickt wirst, wenn ich nicht artig bin. Wir müssen so tun, als wären wir Dienstmädchen und Herrin.«
»Das wird nicht schwer«, hatte Tippy gesagt, »denn das sind wir ja.«
»Nur dem Wort nach.«
Sie waren sich einig, dass sie vorsichtig sein mussten. Willie May hatte es Tippy erklärt: Sie durfte Jessica nicht mehr ohne ein »Miss« und einen kleinen Knicks »Jessie« nennen. Gemeinsames Getuschel und Gekicher waren fortan verboten, genauso müßiges einander Vorlesen und offene Freundschaftsbekundungen. »Und ...«, hatte Willie May mit einem strengen Blick hinzugefügt, »... du darfst auch nicht mehr wie eine weiße Dame reden und dein Wissen offen zur Schau stellen.«
Die Mädchen hatten die Daumen ineinander verhakt - ihr Ritual, um eine Abmachung zu besiegeln.Als Jessica vom Flur nur Stille hörte, sagte sie schmunzelnd: »Ich sorge schon dafür, dass du so viel Zuckerrohrsirup kriegst, wie du willst, und wenn ich ihn hier raufschmuggeln muss.«
»Nein, nein, Jessie - Miss Jessie. Keine Bevorzugung, bitte. Das ist zu gefährlich.«
Jessica seufzte. »Ich finde das widerlich und schäme mich für den Süden und meine Familie ...«
»Sch, so darfst du nicht reden, ja nicht einmal denken.«
»Ich kann nicht anders.«
»Die neue Lehrerin aus dem Norden ... Ich weiß, was sie vorhat, Miss Jessie. Bitte lass dich von der nicht in Schwierigkeiten bringen. Bitte ...«
»Jessie! Ich bin's, Papa. Ich komm jetzt rein!«
Die laute Stimme des Mannes, den Jessica gleichermaßen liebte und fürchtete, dröhnte durch die Tür. Wenige Sekunden später flog sie auf, und Carson Wyndham marschierte mit klackenden hochglanzpolierten kniehohen Stiefeln herein. Der klein gewachsene, sportliche Mann mit den rötlichen Haaren, der kräftigen Statur und der herrischen Art schien von allen zu erwarten, dass sie ihm Platz machten - und wehe, sie taten es nicht!
Tippy reagierte schnell, sah Jessica im Spiegel an und sagte laut, als würde sie das Gespräch weiterführen: »... Ihre Haare sind hübsch so. Is 'ne Schande, sie hochzustecken.«
»Finde ich auch«, pflichtete Carson ihr bei und trat zu seiner Tochter an den Frisiertisch, um sie genauer zu betrachten.
»Warum, zum Teufel, meinen Frauen, sie müssten ihre Haare in Locken und Wellen und weiß Gott noch was legen, wenn sie so, wie der Herr sie geschaffen hat, viel schöner sind?« Seine Finger glitten über das feine Haarnetz, das an einer Ecke des Spiegels hing und das Jessica am vorigen Tag beim Lunch aufgehabt hatte. »Dieses Ding ... wie es auch immer heißen mag ... fand ich hübsch an dir, Jessie. Warum trägst du das nicht heute Abend?«
»Papa, ein Haarnetz trägt man doch nicht zum Abendkleid! «
Solche zutiefst weiblichen, eitlen und nichtigen Antworten hörte ihr Vater gern von ihr. Er bedachte sie mit einem Lächeln. »Vermutlich hast du recht. Gefällt dir die Brosche?«
»Ja, sehr. Danke noch mal, Papa.«
Die Brosche hatte er ihr beim Lunch im Beisein der engsten Freunde ihrer Eltern überreicht. Das Essen war als Teil ihrer Geburtstagsfeier gedacht gewesen, diente jedoch letztlich dazu, die fernen englischen Verwandten ihres Vaters, Lord Henry und Lady Barbara, Herzog und Herzogin von Strathmore, zu präsentieren. Wenn da nicht die fröhliche Lettie Sedgewick, abgesehen von ihrem Bruder die einzige Gleichaltrige, gewesen wäre, hätte Jessica fürchten müssen, vor Langeweile zu sterben. Die Gespräche hatten sich einzig und allein um Seine Lordschaft und seine rechthaberische Gattin gedreht, um den beklagenswerten Aufstieg der britischen Mittelschicht, den dreisten Versuch der Landarbeiter in Dorset, eine Gewerkschaft zu gründen, und um die Moorhuhnjagd. Alle außer Lettie hatten an ihren Lippen gehangen, und sie hatten sich nur durch einen Toast Michaels auf die Heimkehr seiner Schwester unterbrechen lassen.
Jessica mochte Lettie Sedgewick. Sie hatte sich darauf gefreut, nach ihrer Rückkehr aus Boston ihre Verbindung zu ihrer früheren Lehrerin wieder aufzunehmen und mit ihr über das im Pensionat erworbene Wissen zu sprechen. Doch Lettie war jetzt mit Silas Toliver verlobt, einem attraktiven Witwer, der seine eigene Plantage in Texas aufbauen wollte. Jessica erinnerte sich, dass seine erste Frau bei der Geburt des kleinen Sohnes gestorben war, der schon bald Letties Stiefsohn werden sollte. Lettie war die hochintelligente Tochter eines presbyterianischen Geistlichen und beherrschte mehrere Sprachen. Die Wyndhams,Angehörige der Kirche ihres Vaters, hatten sie eingestellt, um Jessica in Schönschrift und klassischer Literatur zu unterweisen und ihre Schulbildung zu vervollkommnen, bevor sie aufs Internat wechselte. Inzwischen war Lettie an einem College in Nashville zur Lehrerin ausgebildet worden und unterrichtete in der Schule des kleinen Ortes Willow Grove, in dem sich die Kirche ihres Vaters befand. Die Gemeinde lag nur einen Steinwurf von Charleston auf der einen und den parallelen Reihen der bekanntesten Zuckerrohr- und Baumwollplantagen auf der anderen entfernt, die den Namen »Plantation Alley« trugen. Silas war wie Jeremy Warwick nicht zu dem Lunch eingeladen gewesen, weil sie Jessica nicht so gut kannten. Sie würden erst zu dem Ball kommen.
»Wenn man sieht, wie sklavisch wir allem Englischen anhängen, könnte man meinen, dass South Carolina nach wie vor eine britische Kolonie ist«, hatte Lettie mit einem Augenzwinkern zu Jessica gesagt, als sich endlich Gelegenheit zu einem privaten Gespräch bot.
»Das gilt nicht für die Sklaverei«, hatte Jessica gemeint. »Die Briten haben den Anstand besessen, den Sklavenhandel abzuschaffen.«
Lettie Sedgewick gegenüber, deren Toleranz sie kannte, konnte sie solche Dinge sagen. Lettie hatte seinerzeit nichts dagegen gehabt, wenn Tippy den Stunden, die sie Jessica gab, beiwohnte, sondern sie sogar dazu ermutigt. Allerdings hatte das heimlich geschehen müssen, denn es war ungesetzlich, Sklaven das Lesen und Schreiben beizubringen; und die Hauslehrerin hätte die Stelle ihres Vaters als Geistlicher der First Presbyterian Church in Willow Grove gefährdet, wenn ihr Treiben bekannt geworden wäre.
Lettie hatte geschmunzelt. »Stimmt. Wie ich sehe, hast du dich nicht sehr verändert, meine liebe Schülerin, aber ich würde dir raten, dich darauf zu besinnen, wo du dich aufhältst, bevor du den Mund aufmachst.«
»Ja, das muss ich lernen.«
»Silas hat mir von dem kleinen Zwischenfall am Pier in Charleston erzählt. Jeremy Warwick war dort, um etwas für Meadowlands abzuholen. Er hat Silas gesagt, er hätte sich im Hintergrund gehalten, weil er dich, deine Mutter und deinen Bruder nicht noch mehr in Verlegenheit bringen wollte.«
»Bestimmt hat Mr Warwick jetzt den allerschlechtesten Eindruck von mir.«
»Aber nein. Er hat Silas gestanden, dass er dich sehr mutig findet.«
Oder sehr dumm, dachte Jessica und betrachtete das ernste Gesicht ihres Vaters im Spiegel. Hatte Michael ihm von dem Zwischenfall in Charleston erzählt, und war er nun hier, um sie zu schelten?
»Jessie«, sagte Carson. »Heute Abend sollst du besonders hübsch aussehen.«
»Wir geben unser Bestes, stimmt's, Tippy?«, versicherte Jessica ihm erleichtert. »Gibt es einen besonderen Grund dafür, abgesehen davon, dass mein Geburtstag ist?«
»Nein ... Ich möchte nur stolz auf mein kleines Mädchen sein, das nach zwei langen Jahren endlich wieder zu Hause ist. Also bitte zeig dich von deiner besten Seite.« Er beugte sich zu ihr hinab und küsste sie auf die Wange. »Wir sehen uns beim Fest - und Tippy?«
Tippy richtete sich auf. »Ja, Sir?«
»Sorg dafür, dass das klappt.«
»Ja, Sir, Mister Carson.«
Als er das Zimmer mit langen Schritten verließ, sahen die beiden Frauen einander fragend an. »Was sollte das denn?«, fragte Jessica.
»Es geht bestimmt um Jeremy Warwick«, antwortete Tippy.
»Jeremy Warwick?«
»Das habe ich in der Küche gehört. Dein Vater möchte, dass du Eindruck auf ihn machst, weil er hofft, dass ihr zwei zusammenkommt. Du wirst beim Abendessen neben ihm sitzen.«
»Jeremy ist ungefähr so alt wie Silas - zu alt für mich, und soweit ich weiß, möchten sie miteinander nach Texas. Wieso sollte mein Vater wollen, dass ich ihn heirate?«
»Keine Ahnung. Die Warwicks sind reich. Vielleicht um mittellose Verehrer zu entmutigen?« Tippy klimperte vielsagend mit ihren nicht vorhandenen Wimpern. »Jeremy Warwick ist ein guter Mensch, sagen sie in der Küche. Ein guter Herr. Ich verstehe nicht, warum er noch nicht verheiratet ist. Möglicherweise möchte dein Daddy, dass du ihn dir sicherst, bevor eine andere ihn sich schnappt.«
»Nein, Tippy, das ist nicht der Grund«, widersprach Jessica, die plötzlich begriff. Ihr Vater hatte von der Sache am Pier erfahren, bestimmt von Michael - und von ihrer Mutter, die viel zu große Angst hatte, ihrem Mann irgendetwas zu verheimlichen, wusste er wahrscheinlich von Jessicas Ansichten über die Sklaverei. »Mein Vater will mich loswerden, bevor ich Ärger mache.«
Aber nur, wenn ein reicher, guter Mann mich von South Carolina fortbringt. So sehr liebt mein Vater mich immerhin, dachte sie. Jessica spürte, wie sich ihre Verletztheit in Wut verwandelte. Er würde sich noch wundern: Einen Sklavenbesitzer würde sie niemals heiraten.
FÜNF
Sie wurde in einer Empfangsreihe im Tanzsaal präsentiert, ohne großen Auftritt von der Treppe herunter. Treppen waren für große Schönheiten. Auch recht, dachte Jessica. Ihr Handschuh war schmutzig, als sie endlich die Hände sämtlicher fünfzig Gäste ihrer Geburtstagsfeier geschüttelt hatte, und ein paar Sekunden lang spürte sie nicht einmal mehr den Stiel des Champagnerglases. Endlich konnte sie sich zu Lettie gesellen, die mit Silas Toliver und Jeremy Warwick vor der fünfstöckigen blumengeschmückten Geburtstagstorte stand.
»Wie hübsch«, rief Lettie, begeistert über die Torte, aus, als Jessica zu ihnen trat. »Erkenne ich da Tippys Handschrift?«
»Natürlich. Die Blumen sind aus geschlagenem Eiweiß. Sie hat sie in Zucker getaucht und hart werden lassen.«
»Sie sind genauso schön wie du, Geburtstagskind. Was für ein elegantes Kleid! Aus Paris?«
»Nein, aus Boston.« Jessica spürte, wie sie unter dem Blick der Männer rot wurde, die sie, obwohl sie herausgeputzt war, sicher nicht schön fanden. Lettie sah Schönes in allem und jedem und konnte sich das auch leisten, denn das Wörtchen »schön« beschrieb sie selbst aufs Treffendste, was sich in dem bewundernden Blick von Silas spiegelte. Sie waren ein strahlendes Paar - er groß, dunkel und attraktiv, ein richtiger Lord Byron mit seiner widerspenstigen schwarzen Mähne, den grünen Augen und dem attraktiven Kinngrübchen, sie klein, zierlich, blond und mit makelloser Porzellanhaut.
»Die roten Wangen stehen Ihnen gut«, bemerkte Jeremy Warwick mit einer angedeuteten Verbeugung und einem schalkhaften Grinsen. Machte er sich über sie lustig? Ohne auf sein Kompliment zu achten, wandte Jessica sich Lettie zu: »Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich darauf freue, deine Brautjungfer zu sein.«
»Und ich freue mich, dass du Ja gesagt hast. Wollen wir nächste Woche in Charleston Stoff einkaufen gehen?«
»Das würde ich gern, aber ich bin in solchen Dingen keine große Hilfe. Tippy hat ein gutes Auge für Material und Farbe und ausgezeichneten Geschmack. Sie zeichnet verantwortlich für Schnitt und Stoff meines Kleids. Ich nehme sie immer zum Einkaufen mit. Darf sie auch mitkommen?«
»Tippy?«, mischte sich Silas ein. »Den Namen höre ich jetzt schon das zweite Mal. Ich glaube nicht, dass ich ihr vorgestellt wurde.«
»Äh ... Tippy ist Jessicas Dienstmädchen«, erklärte Lettie mit leicht unbehaglichem Blick.
»Ein schwarzes Dienstmädchen soll besseren Geschmack haben als die Herrin?«, fragte Silas Jessica ungläubig.
Jessica reckte das Kinn vor. »Das meine schon.«
Sie spürte, wie sich eine starke Männerhand um ihren Ellbogen schloss. Sollte das eine Warnung sein? »Ich glaube, ich höre die Essensglocke«, sagte Jeremy und hakte Jessica bei sich unter. »Ich habe das Vergnügen, bei Tisch rechts von Ihnen Platz nehmen zu dürfen, Miss Jessica. Was verschafft mir die Ehre, neben dem Geburtstagskind zu sitzen?«
»Das ist die Idee meines Vaters, Mr Warwick«, antwortete Jessica, die die Luft in dem Raum plötzlich sehr stickig fand. »Ich soll Sie wohl in der Hoffnung, dass Sie mich nicht als gänzlich unattraktiv für eine Heirat erachten, entzücken und betören.«
Die anderen sahen sie mit offenem Mund an. Jeremy lachte laut auf. »Himmel«, sagte er, »ich habe das Gefühl, bereits betört zu sein.«
Jessica bürstete gerade ihre Festfrisur aus, als sie das kurze, fordernde Klopfen ihres Vaters an der Tür hörte. Sie sparte sich die Mühe, etwas zu sagen. Tatsächlich öffnete sie sich gleich darauf, und er trat, mit Hausjacke bekleidet und nach Zigarrenrauch riechend, ein.
»Und, mein Mädchen, hat dir das Fest gefallen?«
»Ja, Papa, sehr.« Es war ein ermüdender Abend mit langweiligen Gesprächen gewesen, abgesehen von denen zwischen Silas und Jeremy, die sich über ihr Vorhaben unterhielten, im Frühjahr mit einem Planwagentross nach Texas aufzubrechen. Dieser sollte einen Kilometer lang sein, und sie hofften, mindestens drei Kilometer in der Stunde voranzukommen, täglich etwas mehr als fünfzehn, abhängig von Wetter und anderen Unwägbarkeiten. Die Reise ins Ungewisse klang gefährlich und mühsam, und Jessica fragte sich, wie Lettie sie schaffen sollte. Das einzige andere interessante Thema war die sichere Ankunft von Sarah Conklin aus Massachusetts am Nachmittag gewesen, die Letties Lehrerinnenstelle an der örtlichen Schule übernehmen würde. Die Sedgewicks hatten sie am Pier in Charleston abgeholt und zu ihrem neuen Zuhause in Willow Grove gebracht.
»Ist sie hübsch?«, hatte Michael wissen wollen.
»Sehr«, hatte Reverend Sedgewick ein wenig errötend geantwortet.
Jessica hatte nicht verraten, dass sie die neue Lehrerin kannte. Bestimmt war Lettie erstaunt gewesen, dass Jessica ihren Einfluss geltend gemacht hatte, um einer Fremden aus dem Norden die Stelle zu sichern.
Ihr Vater setzte sich auf das niedrige Sofa, auf dem er die Beine nicht bequem ausstrecken konnte, das jedoch genau richtig stand, um das Gesicht seiner Tochter im Spiegel zu betrachten. »Hoffentlich erzählst du mir nicht nur, dass du dich amüsiert hast, weil ich das hören möchte«, sagte er. »Was hältst du von Jeremy Warwick?«
Jessica zog mit der Bürste eine Strähne aus ihren gewachsten Haaren. »Ich finde ihn angenehm.«
»Angenehm! Ist das alles? Im ganzen Süden dürfte es kaum eine ledige Frau geben, die ihn nicht als attraktiv und amüsant bezeichnen würde. Und wohl auch kaum eine verheiratete.« Er wackelte mit den Augenbrauen, ein Versuch, witzig zu sein, der angesichts seiner sonstigen Humorlosigkeit so lächerlich wirkte, dass sie fast gelacht hätte.
»Warum ist er dann nicht verheiratet?«
»Wahrscheinlich ist er zu eigen. Angeblich ist seine große Liebe in jungen Jahren an Typhus gestorben. Ich muss schon sagen, Spook, du hast dich nicht sonderlich angestrengt, ihn zu beeindrucken.«
Jessica erwiderte seinen Blick im Spiegel. Spook. So hatte er sie seit ihrer Kindheit nicht mehr genannt. Der Spitzname stammte aus einem Spiel, bei dem sie sich aus einem Versteck auf ihn stürzte, um ihn zu erschrecken, und Buh! rief. Er hatte gelacht, sie durch die Luft gewirbelt und sie seine Spook, seinen kleinen Spuk, genannt. Ihr schnürte sich die Kehle zu, als ihr klar wurde, dass ihr Vater sie immer noch rühren konnte.
»Sollte ich ihn denn beeindrucken, Papa?«
Carsons Ohren wurden rot. »Ja, Spook. Ich gebe zu, ich wollte dich mit ihm verkuppeln. Jeremy ist, abgesehen von Silas Toliver, der begehrteste Junggeselle von South Carolina. Im Unterschied zu Silas verfügt er über Geld. Er würde gut für dich sorgen.«
»Silas hat kein Geld?« Jessica sah ihren Vater erstaunt im Spiegel an. »Wie kann das sein? Queenscrown ist doch eine einträgliche Plantage.«
»Benjamin Toliver hat Queenscrown seinem älteren Sohn Morris vermacht. Silas ist nicht mehr als ein Lohnarbeiter. Deswegen will er nach Texas.«
»Und wie kann er sich das leisten?«, erkundigte sich Jessica, besorgt um Lettie.
»Er besitzt eigenes Geld, das er in die Sache investiert hat, und den Rest leiht er sich von mir.«
Jessica schauderte für Lettie. Sie würde also während der Reise und beim Aufbau ihres neuen Lebens in Texas von geborgtem Geld unsäglichen Mühen ausgesetzt sein. Vermutlich würde es Jahre dauern, bis die Plantage ausreichend Profit abwarf, um ihrem Vater das Darlehen zurückzuzahlen. Hoffentlich würde ihnen ihre Liebe zueinander genügen, und hoffentlich würde sie Silas helfen, den Traum zu verwirklichen, den er und Jeremy offenbar schon lange hegten.
Jessica drehte sich zu ihrem Vater herum. »Warum hast du es so eilig, mich unter die Haube zu bringen, Papa?«
»Du wirst auch nicht jünger. Deine Mutter hat in deinem Alter geheiratet, und offen gestanden fällt mir für dich kein besserer Mann als Jeremy ein.« Carson streckte zwei kräftige Finger in die Luft. »Du musst ihn dir sichern, bevor eine andere es tut.«
»Das hängt auch ein bisschen von Jeremy ab.«
»Auf mich wirkt er durchaus aufgeschlossen. Aber leider warst du ihm gegenüber ziemlich kühl.«
»Er ist fast dreißig, elf Jahre älter als ich.«
»Was macht das schon? Ich bin acht Jahre älter als deine Mutter, und Silas ist älter als Lettie, und trotzdem sind sie glücklich miteinander.«
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Autoren-Porträt von Leila Meacham
Leila Meacham arbeitete als Lehrerin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie lebt in San Antonio, Texas, wo sie an ihrer nächsten großen Saga schreibt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Leila Meacham
- 2014, 2, 640 Seiten, Maße: 13,7 x 21 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Hauser, Sonja
- Übersetzer: Sonja Hauser
- Verlag: Page & Turner
- ISBN-10: 3442204208
- ISBN-13: 9783442204205
- Erscheinungsdatum: 17.03.2014
Rezension zu „Land der Verheißung “
"Fesselnde Unterhaltung à la "Fackeln im Sturm" - es ist ganz großes (Lese-)Kino, was Leila Meacham mit "Land der Verheißung" abliefert." literaturmarkt.info
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