Leben in Venedig
Der Autor entwirft hier ein Mosaik mit liebevollem...
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Der Autor entwirft hier ein Mosaik mit liebevollem Blick für Details und schildert das tägliche Leben in der Lagunenstadt.
''Dirk Schümer hat Charme-Potenzial.''
Die Zeit
Leben in Venedig von Dirk Schümer
LESEPROBE
EIN UMZUGINS UNGEWISSE
Im Morgenlicht kamen sie mit zwei Booten den Kanalheraufgefahren - ein erhabenes Bild: das spiegelblanke, schwarze Wasser des Riodei Greci und dann im Gegenlicht der klaren Wintersonne die Kähne, vollbepacktmit unseren Möbeln und Kisten. Bereits in der Nacht hatten die venezianischenSpediteure auf der Parkplatzinsel unsere Habe vom Lastwagen auf die Bootegehievt. Anschließend hatten sie unsere vertrauten sächsischen Möbelpacker wieeine beliebige Ladung oben auf die Kartons gesetzt und wegen der eisigenMorgenluft in Pferdedecken gewickelt. Danach waren alle langsam durch den CanalGrande getuckert. Es muß eine herrliche Transportfahrt gewesen sein, währendwir nervös in der leeren Wohnung auf und ab gingen.
So blickten die deutschen Transporteure, die nie zuvor inVenedig gewesen waren und sich auch nichts darunter vorstellen konnten, ausihren Decken: übernächtigt, verwundert und vollkommen verstört. Wo waren siehingeraten? Auf dem ersten Kahn standen unsere zwei Buchsbäume neben meinemErgometer- ein surrealer Anblick. Und ich dachte plötzlich dasselbe: Wo sindwir hingeraten?
Die venezianischen Fuhrleute, die so eine Arbeit jeden Tagmachen, bugsierten die Boote routiniert in den schmalen Rio del Osmarin direktvor unserer Eingangstür und machten die Leinen fest. Nun konnte ausgeladenwerden, zunächst über die Brüstung des Kanals hinweg, dann durch den Eingangüber den Hof hinauf in den zweiten Stock. Wir hatten Glück. Am Himmel zeigtesich keine Wolke, null Grad. Das kann im Winter von Venedig auch ganz anderskommen. Es kann fürchterlich schütten und sogar Hochwasser geben, was vor allemfür beladene Kähne ein Problem darstellt, weil sie dann nicht mehr unter denBrücken durchkommen.
Die Spedition hatte unseren Möbelpackern für alle Fälle sogarGummistiefel besorgt, und unsere Möbel waren wasserdicht in Pappe und Foliegewickelt worden. Während der Berg aus Verpackungsmüll im Innenhof immer höherwuchs, dauerte es gar nicht lange, und unsere Schränke, Regale und Stühlestanden am vorbestimmten Ort. Am Nachmittag konnten wir auf Bücherkisten denersten Tee kochen und Butterbrote schmieren, die leere Wohnung verwandelte sichlangsam in ein Heim. Dies ist immer wieder eine Erfahrung, die Venedig seinenAnkömmlingen bereitet: Der Abgrund zwischen der Normalität auf dem Festlandund der Normalität in der Lagune will erstmal überbrückt werden. Daß die eigeneWohnung nicht am, sondern im Wasser steht, daß es keine Autos gibt und daß manplötzlich mit Ebbe und Flut rechnen muß, daß man sich - allen technischenErrungenschaften zum Trotz - ein klein wenig in eine Amphibie verwandelt, alldas hatte man ja angst- und lustvoll zugleich erwartet. Doch das wirklicheStaunen setzte bei uns ein, als wir bemerkten, wie reibungslos diese Überfahrtunserer bürgerlichen Existenz nach Venedig funktionierte, wie alltäglich hiergerade das war, was von draußen so exotisch und sonderbar wirkte.
In Thomas Manns »Tod in Venedig« - vor allem in Viscontis Verfilmung,bei der Mahlers sehrendes Adagietto aus der Fünften Symphonie erklingt - istdie Überfahrt der melancholische Abschied von der Welt, ist der Gondoliere derFährmann ins Totenreich, das bevölkert wird von den geschminkten Lemuren undGauklern, die in der morbiden Stadt auf ihre Opfer warten.
Für uns wirkte Luigi ganz und gar nicht wie ein Charon. Dermassige, gemütliche Mann, der die Möbelpacker umsichtig dirigierte und diesperrige Eingangstür kurzerhand ausbaute, damit die Schränke durchpaßten,sprach fließend Deutsch mit bayrischem Akzent. Er hatte zwanzig Jahre inMünchen als Fliesenleger gearbeitet und erzählte uns stolz, daß er bei FranzJosef Strauß das Badezimmer gekachelt habe, nun mit dem Ersparten in seineVaterstadt zurückgekehrt sei und sich nur noch ab und zu bei Umzügen undTransporten wie diesem nützlich mache. Luigi wußte, wo wir im ViertelSchrauben und Dübel bekamen, wann ein Boot die Kartonage abholen würde undwieviel Trinkgeld wir den Müllmännern geben mußten. Als Luigi sich am Mittagmit seinen Leuten verabschiedete und wieder den Rio dei Greci hinabfuhr, fühltenwir uns ein wenig verloren.
Die Abgeklärtheit der Venezianer übertrug sich aber langsamauch auf die aufgeregten, euphorisierten Sachsen, die in Deutschland unsereHabe verpackt hatten. Wir hatten ihnen dabei geschildert, daß Venedig imWasser liege und daß die Kartons aufs Boot umgeladen werden müßten. Aber wasdie Oberlausitzer dann sahen, hatten sie sich nicht vorstellen können - einHöhepunkt im Berufsleben, eine kniffigeTour, von der sie noch lange erzählenkonnten. Mittags gingen wir in die Osteria »Da Remigio« gleich um die Ecke,aber die traditionelle Pasta mit Meeresheuschrecken und Tintenfischen wollteunseren Sachsen nicht gefallen. Sie hätten lieber eine Pizza gegessen, aberGott sei Dank gab es auch »Spaghetti alla bolognese« und hinterher einen gutenKaffee.
Es war längst dunkel, als wir die vorläufig letzten Dübel inder Wand versenkt und das meiste Geschirr ausgepackt hatten. Dann machten wirnoch einen Spaziergang mit den müden Männern zum Markusplatz. Hier war auffallendwenig los, doch San Marcos Kuppeln leuchteten wunderschön durch denheraufziehenden Winternebel. Die Möbelpacker bestaunten einen riesigen Muranoleuchterin einem Schaufenster und fragten sich, wie man den wohl auseinanderbauen undverpacken könne. An der Rialtobrücke brachten wir unsere Helfer zum Boot. Siestiegen aufs Vaporetto, winkten fröhlich und fuhren durch den Canal Grandewieder davon, über den sie im ersten Morgenlicht mit unseren Möbeln gekommenwaren. Wir blieben da.
© List Verlag
"Dirk Schümer, geboren 1962 in Soest, seit 1991 Redakteur im Feuilleton der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, ab 1999 Korrespondent mit Sitz in Venedig. Seit 2002 Co-Moderator des Büchertalks im SWR. Zuletzt erschienen: Die Kinderfänger ? die europäische Dimension eines belgischen Skandals (1998), Das Gesicht Europas ? ein Kontinent wächst zusammen (2000). "
- Autor: Dirk Schümer
- 2008, 4. Aufl., 240 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548604358
- ISBN-13: 9783548604350
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