Leben, um davon zu erzählen
Die ergreifende Liebesgeschichte der Eltern, die Gespensterwelt der...
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Die ergreifende Liebesgeschichte der Eltern, die Gespensterwelt der Großmutter, Liebesabenteuer, Freundschaften fürs Leben, die blutige Geschichte Kolumbiens und García Marquez' größte Leidenschaft - die für die Literatur.
Die Memoiren von Gabriel Garcia Marquez sind ein Welterfolg. Die Erstauflage von über einer Million Exemplaren war in der spanischsprachigen Welt schnell vergriffen. Die deutsche Ausgabe stand sofort auf allen Bestsellerlisten.
'Leben, um davon zu erzählen' ist ein großes Buch, das nicht nur bewegt und begeistert, sondern Lust macht, die Romane und Erzählungen des Nobelpreisträgers zu lesen oder wieder - und wieder - zu lesen.
'Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen.' Und so erzählt Gabriel Garcia Marquez, diesem Motto seines Buches folgend, vom Leben seiner Eltern, denen er in 'Die Liebe in den Zeiten der Cholera' ein Denkmal setzte, von der eigenen Kindheit und Jugend. Er erzählt von großer Armut und wilden Liebesabenteuern, von Freunden fürs Leben und der Leidenschaft für die Literatur.
Leben, umdavon zu erzählen von GabrielGarcía Márquez
LESEPROBE
MEINE MUTTER BAT MICH, sie zum Verkauf des Hauseszu begleiten. Sie war morgens in Barranquilla eingetroffen, kam aus dem fernenStädtchen, in dem die Familie wohnte, und hatte keine Ahnung, wie sie michfinden sollte. Sie fragte hier und dort bei Bekannten nach, und man gab ihr denHinweis, in der Buchhandlung Mundo oder in den Cafes der Umgebung zu suchen,wo ich mich zweimal täglich mit meinen Schriftstellerfreunden zu treffenpflegte. Der das sagte, warnte sie: »Nehmen Sie sich in Acht, die sind völligdurchgedreht.« Punkt zwölf war sie da. Mit ihrem leichtfüßigen Schritt bahntesie sich den Weg durch die Büchertische, stand vor mir, schaute mir mit demschalkhaften Lächeln ihrer besten Tage in die Augen und sagte, noch bevor ichreagieren konnte:
»Ich bin deine Mutter.«
Etwas an ihr hatte sich verändert, was mir nicht erlaubte, sieauf den ersten Blick zu erkennen. Sie war fünfundvierzig Jahre alt. Zählt mandie elf Geburten zusammen, war sie fast zehn Jahre lang schwanger gewesen undhatte mindestens noch einmal so lang ihre Kinder gestillt. Sie war vor der Zeitvollständig ergraut, die Augen wirkten größer und erstaunt hinter ihrer erstenBifokalbrille, und sie trug strenge Trauer wegen des Todes ihrer Mutter, hattejedoch die römische Schönheit ihres Hochzeitsfotos bewahrt, die eineherbstliche Aura nun mit Würde umgab. Zuallererst, noch bevor sie mich umarmte,sagte sie in ihrer gewohnt zeremoniösen Art:
»Ich bin gekommen, weil ich dich um den Gefallen bitten möchte,mich zum Verkauf des Hauses zu begleiten.«
Sie musste nicht sagen, wohin, noch um welches Haus es sichhandelte, denn für uns gab es nur eins auf der Welt: das alte Haus derGroßeltern in Aracataca, in dem geboren zu werden ich das Glück hatte und indem ich seit meinem achten Lebensjahr nicht mehr gewohnt habe. Ich hatte geradedie juristische Fakultät nach sechs Semestern verlassen, die ich vor allem dazugenutzt hatte, alles, was mir in die Hände kam, zu lesen und dieunvergleichliche Poesie des spanischen Siglo de Oro auswendig zu rezitieren.Ich hatte damals bereits alle Bücher in Übersetzung ausgeliehen und gelesen, diegenügt hätten, um die Technik des Romanschreibens zu erlernen, und hatte inZeitungsbeilagen sechs Erzählungen veröffentlicht, die meine Freundebegeisterten und ein paar Kritiker aufmerken ließen. Im nächsten Monat sollteich dreiundzwanzig werden, hatte gegen die Wehrpflicht verstoßen, war bereitsVeteran zweier Gonorrhöen und rauchte ohne böse Vorahnungen täglich sechzigZigaretten üblen Tabaks. Meine Freizeit teilte ich zwischen Barranquilla undCartagena de Indias an der kolumbianischen Karibikküste auf, schlug mich mitdem durch, was man mir bei El Heraldo für meine täglichen Beiträgezahlte, also mit so gut wie nichts, und schlief, möglichst in angenehmerBegleitung, dort, wo mich die Nacht überraschte. Als sei es mit meinenungewissen Bestrebungen und dem chaotischen Lebenswandel noch nicht genug,wollten wir, eine Gruppe unzertrennlicher Freunde, gerade ohne Geld einewaghalsige Zeitschrift herausbringen, die Alfonso Fuenmayor schon seit dreiJahren plante. Was mehr konnte ich wünschen?
Eher aus Not denn aus Überzeugung eilte ich der Mode um zwanzigJahre voraus: wild wuchernder Schnurrbart, aufgewühlte Mähne, fragwürdiggeblümte Hemden zu Jeans und Jesuslatschen. In der Dunkelheit eines Kinos sagteeine damalige Freundin, nicht wissend, dass ich in der Nähe saß, zu jemandem:»Der arme Gabito ist ein aussichtsloser Fall.« Als meine Mutter mich alsofragte, ob ich sie begleitete, um das Haus zu verkaufen, stand einem Ja nichtsim Wege. Sie gab zu bedenken, dass sie nicht genug Geld habe, und aus Stolzsagte ich, dass ich für meine Kosten selbst aufkäme.
Doch bei der Zeitung, für die ich arbeitete, war das Geldproblemnicht zu lösen. Sie zahlten mir drei Pesos für die tägliche Glosse und vierfür einen Meinungsbeitrag, wenn einer der zuständigen Redakteure fehlte, dochdas reichte kaum. Ich versuchte es mit einem Vorschuss, aber der Geschäftsführererinnerte mich daran, dass ich bereits mit über fünfzig Pesos in der Kreidestand. An jenem Abend wagte ich einen Vorstoß, zu dem keiner meiner Freundefähig gewesen wäre. Aus dem Cafe Colombia kommend, gleich neben dem Buchladen,holte ich den alten katalanischen Lehrer und Buchhändler Don Ramön Vinyes einund bat ihn, mir zehn Pesos zu leihen. Er hatte nur sechs.
Natürlich konnten weder meine Mutter noch ich damals ahnen,wie bestimmend dieser harmlose zweitägige Ausflug für mich sein sollte, so dassauch das längste und arbeitsamste Leben nicht ausreichen würde, erschöpfenddavon zu erzählen. Jetzt, mit mehr als fünfundsiebzig wohlbemessenen Jahren,weiß ich, dass die Entscheidung zu dieser Reise die wichtigste war, die ich inmeiner Laufbahn als Schriftsteller zu treffen hatte. Das heißt: in meinemganzen Leben.
Bis in die Adoleszenz hinein interessiert sich das Gedächtnismehr für die Zukunft als für die Vergangenheit, daher waren meine Erinnerungenan Aracataca noch nicht durch Nostalgie verklärt. Ich erinnerte mich so daran,wie es gewesen war: ein Ort, in dem es sich gut leben ließ, wo jeder jeden kannte,am Ufer eines Flusses mit kristallklarem Wasser, das dahinschoss durch ein Bettmit polierten Steinen, weiß und riesig wie prähistorische Eier. Gegen Abend,besonders im Dezember, wenn der Regen vorüber war und die Luft sich in Diamantverwandelte, schien die Sierra Nevada de Santa Marta mit ihren weißenBergspitzen bis an die Bananenplantagen am anderen Ufer heranzurücken. Vonhier aus konnte man die Arhuaco-Indios wie Ameisen in Reihen über die Bergpfadeder Sierra eilen sehen, sie hatten Ingwersäcke auf dem Buckel und kautenCocakugeln, um das Leben abzulenken. Wir Kinder träumten damals davon, aus demewigen Weiß Schneebälle zu formen und damit in den glutheißen StraßenSchlachten auszutragen. Die Hitze war so unglaublich, vor allem in derSiestazeit, dass die Erwachsenen darüber klagten, als handele es sich um einetäglich neue Überraschung. Ich habe von meiner Geburt an ständig wiederholengehört, dass die Eisenbahnstrecke und die Lager der United Fruit Company nachtsgebaut werden mussten, weil es unmöglich gewesen sei, tagsüber das sonnenheißeWerkzeug anzufassen.
Die einzige Möglichkeit, von Barranquilla nach Aracataca zugelangen, war ein klappriges Motorschiff, das auf einem in der Kolonialzeit vonSklavenhand ausgehobenen Kanal fuhr, dann durch ein weites, sumpfiges Gewässer,trüb und trostlos, bis zur rätselhaften Ortschaft Cienaga. Dort bestieg man einenBummelzug, der ursprünglich der beste des Landes gewesen war, und fuhr, mitvielen müßigen Unterbrechungen in staubglühenden Dörfern und an einsamenBahnhöfen, die letzte Strecke durch unermessliche Bananenplantagen. Auf diesenWeg machten meine Mutter und ich uns am Samstag, dem 18. Februar195o um sieben Uhr abends - es war der Vorabend des Karnevals -, unter einemsintflutartigen Platzregen außerhalb der Zeit und mit einer Barschaft von zweiunddreißigPesos, die knapp für die Rückfahrt reichen würden, falls das Haus sich nichtzu den erwarteten Konditionen verkaufen ließ.
Die Passatwinde wehten an jenem Abend so heftig, dass es schwierigwar, meine Mutter am Flusshafen dazu zu überreden, an Bord zu gehen. Sie hattegute Gründe. Die Schiffe waren verkleinerte Versionen der Flussdampfer von New Orleans,hatten aber Benzinmotore, die alles an Bord in ein böses, fiebriges Zitternversetzten. Es gab einen kleinen Salon mit Pfosten, an denen man aufverschiedenen Ebenen Hängematten befestigen konnte, und mit Holzbänken, aufdenen jeder unter Einsatz der Ellenbogen einen Platz zu ergattern suchte, fürsich und das übermäßige Gepäck, Säcke mit Waren oder Körbe mit Hühnern odersogar mit lebenden Schweinen. Es gab ein paar stickige Kabinen mit jeweils zweiFeldbetten, fast immer von armseligen Hürchen belegt, die während der FahrtNotdienste erwiesen. Da wir spät dran waren und keine Kabine mehr frei fanden,auch keine Hängematten dabeihatten, besetzten meine Mutter und ich überfallartigzwei Eisenstühle im Mittelgang und richteten uns dort für die Nacht ein.
So wie meine Mutter es befürchtet hatte, beutelte der Sturm daswagemutige Schiff, als wir den Magdalena überquerten, der, so kurz vor derMündung, das Temperament eines Ozeans hat. Ich hatte mich am Hafen reichlichmit den billigsten Zigaretten eingedeckt, schwarzer Tabak und ein Papier, dasschon fast an Lumpen erinnerte, und begann nach meiner damaligen Art zurauchen, ich zündete eine Zigarette am Stummel der letzten an, während ichwieder einmal Licht im August von William Faulkner las, der damals dertreueste meiner Schutzdämonen war. Meine Mutter klammerte sich an ihren Rosenkranzwie an eine Handwinde, die einen festgefahrenen Traktor aus dem Schlamm hätteziehen oder ein Flugzeug in der Luft halten können, und, wie gewöhnlich,erflehte sie nichts für sich selbst, sondern Glück und ein langes Leben fürihre elf Waisenkinder. Ihr Gebet muss erhört worden sein, denn der Regen wurdesanfter, als wir in den Kanal einfuhren, und die Brise wehte so leicht, dasssie gerade einmal die Moskitos aufscheuchte. Daraufhin steckte meine Mutterden Rosenkranz ein und beobachtete eine ganze Weile lang schweigend das tosendeLeben um uns herum.
© für die deutsche Übersetzung: Verlag Kiepenheuer undWitsch, Köln 2002; für die Taschenbuchausgabe: Fischer Taschenbuch Verlag
Übersetzung: Dagmar Ploetz
- Autor: Gabriel García Márquez
- 2004, 7. Aufl., 608 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Dagmar Ploetz
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596162661
- ISBN-13: 9783596162666
- Erscheinungsdatum: 01.11.2004
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