Leopold Figl
Der Glaube an Österreich
»Zu Haus ist es am schönsten!«, schreibt Leopold Figl am 8. Mai 1943 lapidar in sein Gästebuch. Wie hätte der KZ-Heimkehrer Worte für das Entsetzliche finden sollen, das ihm widerfahren war? Der Grundkonsens der Zweiten Republik, der Glaube an Österreich,...
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Produktinformationen zu „Leopold Figl “
Klappentext zu „Leopold Figl “
»Zu Haus ist es am schönsten!«, schreibt Leopold Figl am 8. Mai 1943 lapidar in sein Gästebuch. Wie hätte der KZ-Heimkehrer Worte für das Entsetzliche finden sollen, das ihm widerfahren war? Der Grundkonsens der Zweiten Republik, der Glaube an Österreich, wurde von Menschen wie ihm getragen, die Extremsituationen erlebt hatten.Dieser Glaube an Österreich zieht sich als roter Faden durch die der Autorin erstmals in vollem Umfang zugänglichen Gästebücher der Familie Figl. Anhand von Aufzeichnungen von Leopold Figl selbst sowie von Einträgen prominenter Politiker wie Julius Raab, Adolf Schärf oder Karl Renner wird der Weg zum Staatsvertrag aus einer ungewöhnlichen Perspektive nachgezeichnet. Die prägendsten Momente im Leben von Leopold Figl - die oft auch Schicksalstage für Österreich waren - werden aus seiner Sicht und auf sehr persönliche Weise geschildert.
Auf der Basis bislang unveröffentlichter Gästebucheinträge, unbekannter Briefe aus KZ und Gestapo-Haft, Erinnerungen von Familienmitgliedern und Mitarbeitern zeichnet Birgit Mosser-Schuöcker ein sehr persönliches Bild des beliebtesten Politikers der Zweiten Republik.
Lese-Probe zu „Leopold Figl “
Birgit Mosser-Schuöcker - Leopold Figl - Der Glaube an Österreich1. Kapitel
Der Beginn einer Freundschaft: November 1918
So viele Menschen hat der Schüler noch nie auf den Straßen
von St. Pölten gesehen. Seit drei Jahren besucht Leopold
Figl hier das Gymnasium. Eigentlich wird auch am Samstag
unterrichtet, doch heute ist ein besonderer Tag. Eine
Sappeur-Kompanie wird von der Front zurückerwartet.
Heinrich will seinen großen
Bruder Julius empfangen, der
16-jährige Leopold begleitet ihn. Frauen, Kinder und
alte Männer drängen sich auf den holprigen Pflasterstei
nen und warten. Die meisten von ihnen sind schlecht
ernährt, tragen verschlissene Kleidung und sehen älter
aus, als sie vermutlich sind. Die Stimmung ist angespannt
und hoffnungsvoll zugleich. Wird der Ehemann, der Vater,
der Bruder unter den Heimkehrern sein?
„Da kommen sie!“, schreit Heinrich glücklich. „Schau,
Poldl! Der Julius führt sie an!“
Julius Raab, der seinen Männern vorausreitet, ist auch
nach vier Jahren Krieg und in einer verschlissenen
Uniform eine imposante Erscheinung. Die Soldaten gehorchen
ihm, auch wenn sein Offiziersrang seit dem Waffenstillstand
an Bedeutung verloren hat. Der Oberleutnant
führt den Rest seiner Kompanie zum elterlichen Bauhof.
Aufgeregt beobachten Heinrich und Leopold, wie die
Soldaten ihre Waffen in einem absperrbaren Raum
verstauen. Wer kann, tauscht seine hechtgraue Uniform
gegen Zivilkleidung. Nach und nach verabschieden sich
die Männer von ihrem Oberleutnant. Die gemeinsam überlebten
Isonzo-Schlachten und der lange Marsch in die
Heimat verbinden. Der Offizier und „seine“ Soldaten
wünschen sich gegenseitig Glück und wissen, dass sie es
brauchen werden. Zwar schweigen die Waffen, doch bis zum
Frieden ist es noch ein langer Weg.
Die beiden Buben
... mehr
weichen den Erwachsenen nicht von der
Seite. Schließlich will Julius Raab seine Heimkehr mit
einigen Freunden im Gasthaus feiern. Endlich kommt Heinrich
dazu, seinen Freund vorzustellen.
„Alle sagen Poldl zu mir!“, sagt der Gymnasiast etwas
schüchtern.
„Na, dann kommst halt mit, Poldl!“, antwortet der Ältere.
Später wird viel über gewonnene Schlachten, vergebene
Siege, den verlorenen Krieg und über Österreich gesprochen.
Die beiden Schüler, die ihr Alter davor bewahrt
hat, kämpfen zu müssen, hören mit roten Ohren und offenen
Mündern zu. Der 16-jährige Poldl ahnt nicht, dass die
Freundschaft zu Julius Raab sein Leben prägen wird.
Der 27-jährige Julius Raab kehrt in eine Heimat zurück, die
sich – wie er es selbst einmal beschrieben hat – in völliger Auflösung
befindet. Nur 20 Tage zuvor, am 3. November 1918, ist der
Waffenstillstand zwischen der Entente und Österreich-Ungarn
unterzeichnet worden. Die »Neue Freie Presse« berichtet in
ihrer Ausgabe vom 24. November 1918, dass die Personendemobilisierung
nunmehr beendet sei. An allen Ecken und Enden
bemächtigen sich fremde Soldaten österreichischen Gebiets: An
dem Tag, an dem der spätere Bundeskanzler heimkehrt, besetzt
serbisches Militär Kärnten und rücken italienische Truppen
nach Innsbruck vor. Das Gebiet, das später Südtirol genannt
werden wird, ist bereits seit Wochen italienisch besetzt.
Marburg ist in serbischer Hand. In St. Pölten, der Schulstadt
Leopold Figls, müssen die Menschen keinen Einmarsch fremder
Soldaten fürchten. Doch auch hier kämpft man mit riesigen
Problemen: Ein Fünftel der St. Pöltner, die für Gott, Kaiser und
Vaterland in den Krieg gezogen sind, kehrt nicht mehr in die
Heimat zurück. Soldatenräte haben die Stadtverwaltung übernommen.
Die Ernährungslage ist katastrophal, viele Menschen
hungern.
Leopold Figl ist in jenen bitteren Jahren sicherlich dankbar,
aus einer Bauernfamilie zu stammen. Der Gymnasiast kommt
aus Rust im Tullnerfeld, wo seine Mutter gemeinsam mit den
acht Geschwistern einen ansehnlichen Hof bewirtschaftet. Seit
Beginn des 16. Jahrhunderts ist die Familie Figl im Tullnerfeld
ansässig. »Seit Anno Domini 1752 sitzen wir Figl auf dem Bauernhaus
Nr. 37 in Rust, Bezirk Tulln. Dass es immer so bleibe, das
walte Gott!«, kann man im »Goldenen Ehrenbuch der niederösterreichischen
Bauernschaft« nachlesen. Leopold Figl ist stolz
auf seine traditionsreiche Familie. Das Gemälde des 1702 geborenen
Balthasar Figl und seiner Gattin Juliane wird auch in der
»Kanzler-Wohnung« in der Peter-Jordan-Straße im 19. Bezirk
hängen. Balthasar hält den sogenannten Roßstock in der Hand,
das Zeichen des freien Bauern.
Genau 200 Jahre nach ihm kommt Leopold Figl zur Welt. Als er
zwölf Jahre alt ist, stirbt sein Vater im Alter von 44 Jahren. Die
Mutter, die »Figlin«, wie sie im Ort respektvoll genannt wird, ist
eine Frau, die Gehorsam einfordert. Eine Witwe mit neun
Kindern, die im Jahr, als der Erste Weltkrieg ausbricht, plötzlich
auf sich allein gestellt ist, muss sich durchsetzen können. Josefa
Figl führt ein Leben, dessen Belastungen man heute kaum nachempfinden
kann: Sie muss mit dem plötzlichen Verlust des Familienoberhauptes
fertigwerden, bringt neun Kinder durch den
Krieg und führt einen großen Hof. Für Zärtlichkeiten oder Freizeit
mit den Kindern bleibt kaum Zeit.
Der Alltag des kleinen Poldl wird vor allem durch Pflichten
bestimmt: Lernen für die Schule, Arbeit auf dem Feld oder auf
dem Hof, Kirchgänge. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen – das
gilt zu dieser Zeit auch für Kinder. Leopold ist ein aufgeweckter
kleiner Bursche. Nach sechs Jahren Volksschule rät der Pfarrer,
den Poldl aufs Gymnasium nach St. Pölten zu schicken. Vermutlich
denkt er an eine Karriere als Seelsorger. Eigentlich ist
Leopolds älterer Bruder Josef als »Studierter« vorgesehen: Er
besucht die Bürgerschule in Neulengbach. Schließlich folgt die
Mutter dem geistlichen Ratschlag, und der schmächtige
13-Jährige wird aufs Gymnasium geschickt. Josef muss wieder
nach Hause kommen; zwei Söhne kann Josefa Figl auf dem Hof
nicht entbehren.
1915, als Leopold Figl seine Gymnasiallaufbahn startet, befindet
sich die Monarchie im zweiten Kriegsjahr. Die Köpfe der
Buben sind voll von Propaganda und heldenhaften Geschichten
über Schlachten und Siege. So geht auch der 13-jährige Ruster mit
dem Gedanken an eine militärische Laufbahn in die Stadt: »Es
war ja Krieg, und da hat man gesagt: mach das Gymnasium, dann
kannst du nachher gleich Leutnant werden. Mit dieser Begeisterung
bin ich nach St. Pölten gegangen.«1
Trotz der räumlichen Trennung bleibt der Gymnasiast seiner
Familie eng verbunden: Wann immer es Geld und Zeit zulassen,
fährt er nach Hause und hilft selbstverständlich bei allen Arbeiten
auf dem Hof mit. Erst danach ist Zeit für Radtouren oder
Turnen. Die starke Beziehung zu seinen Geschwistern und vor
allem zur Mutter wird Leopold Figl auch später aufrechterhalten.
Das Wort von Josefa Figl hat auch für den Bundeskanzler der
Republik Österreich noch Gewicht. Wenn Leopold Figl einen Rat
braucht, fährt er nach Rust und vertraut der Meinung jener Frau,
die ihm und seinen acht Geschwistern trotz Krieg und Krisen
eine behütete Kindheit ermöglicht hat.
Ein Traum wird wahr: Juni 1926
Der junge Mann hat es eilig. Ausgerechnet heute hat der
Ringwagen Verspätung gehabt; aus der kalkulierten halben
Stunde vom 1. Bezirk in die Josefstadt sind 40 Minuten
geworden. Leopold Figl beschleunigt seine Schritte.
Gerade er, sicherlich einer der jüngsten Gäste, darf
nicht zu spät kommen. Heute wird im Gasthaus „Grünes Tor“
in der Lerchenfelder Straße die Gründung des Niederösterreichischen
Bauernbundes vor 20 Jahren gefeiert.
Da war ich noch nicht einmal in der Schule, überlegt der
Bauernsohn kurz. Umso mehr freut es den Studenten, dass
die Honoratioren an ihn gedacht haben.
Sogar eine Rede soll er halten, als Vertreter der Jugend
sozusagen. Leopold Figl hat sich viel Mühe mit der Vorbereitung
gegeben, auf seiner Bude im Studentenheim daran
gefeilt und sie eingeübt. Die Herren sollen einen guten
Eindruck von ihm haben.
Josef Stöckler, der Obmann des Niederösterreichischen
Bauernbundes, ist ein beeindruckender Mann. Der 24-jäh
rige Figl kennt den Bauernpolitiker schon seit er ein
kleiner Bub war. Als der Vater noch gelebt hat, ist Stöckler
hin und wieder auf den Hof gekommen, um ein Pferd zu
kaufen. Ein großer Mann mit buschigem Schnurrbart und
ordentlich gezogenem Scheitel, der mit dem Vater wichtige
Dinge besprach. Der kleine Poldl wich ihnen nicht
von der Seite und versuchte zu verstehen, was die Erwachsenen
besprachen. Heute wird er selbst sprechen, und der
Bauernbundobmann wird ihm, dem Studenten, zuhören.
Wenige Meter vor dem Lokal bleibt der junge Mann stehen,
richtet sich den grünen Kragen seines Trachtenanzuges
zurecht und streicht sich ordnend durch die Haare. So
viel Zeit muss sein. Die Tür des Gasthauses steht offen,
Stimmengemurmel dringt auf die Straße. Viele Bauern
haben die Gelegenheit zu einer Fahrt in ihre Landeshauptstadt
genutzt. Als sich Leopold Figl einen Weg durch den
Saal bahnt, sieht er nicht wenige bekannte Gesichter.
„Servas, Poldl!“, grüßt ein entfernter Verwandter und
klopft ihm väterlich auf die Schulter. Andere nicken ihm
freundlich zu. Der Poldl ist beliebt bei den Älteren, er
gilt als fleißig und hilfsbereit. Aus dem Buben wird
einmal etwas werden, da ist man sicher.
Als sich der Student der Festtafel nähert, bemerkt er,
dass der Bundeskanzler neben dem Bauernbundobmann sitzt.
Nervosität steigt in ihm auf. Mit der Anwesenheit des
Prälaten hat Leopold Figl nicht gerechnet. Ignaz Seipl
ist eine respekteinflößende Erscheinung: Kahlköpfig,
immer dunkel gekleidet, wirft er durch eine randlose
Brille strenge Blicke auf seine Mitmenschen. Sein Urteil
kann vernichten.
Der Agrarstudent atmet tief durch. Jetzt gibt es kein
Zurück mehr. Er grüßt die hohen Herren höflich und nimmt
Platz. Leopold Figl wird seine Rede halten. Er wird den
Eltern keine Schande machen, das hat er sich fest vorgenommen.
Die Rede des 24-Jährigen findet Anklang. Sie gefällt so gut, dass
der junge Ruster eingeladen wird, mit den Älteren zu Mittag zu
essen. Man erkundigt sich, wie lange Figl noch für sein Studium
brauchen werde. »Eineinhalb Jahre«, antwortet der Student. »Du
musst Bauernbundsekretär werden!«, heißt es. Leopold Figl hat
einmal selbst über den Beginn seines Politikerlebens erzählt:
»Na, und ich bin dagesessen mit geschwellter Brust, und ich habe
die vielen Verwandten und Freunde aus der Heimat gesehen, die
alle applaudierten und sich freuten, dass der Bua doch was kann
und nun mit den großen Politikern beim Mittagessen sitzen
durfte. Und ich hab gesagt: ›Gut, ich werde mich hineinknien und
sehr fleißig studieren.‹«2
Ein Jahr später, die Staatsprüfung ist mittlerweile abgelegt, meldet
sich der Direktor des Niederösterreichischen Bauernbundes,
Josef Sturm, bei Figl und überredet ihn zu einer zweiwöchigen Vertretungsarbeit
im verwaisten Büro. Nach seiner Rückkehr will der
Direktor nichts davon hören, dass Figl wieder studieren geht. Doch
der junge Mann zögert. Er will kein »verbummelter« Student sein.
Dollfuß, der seine Karriere ebenfalls als Bauernbundsekretär
begonnen hat, rät ihm abends im Studentenheim zu: »Da schau,
jetzt brauch ma an Sekretär, und des muaßt bleiben. Ob du dein
Diplom morgen machst oder übermorgen, is wurscht!«3 Engelbert
Dollfuß und Leopold Figl ahnen bei diesem abendlichen
Gespräch nicht, dass sie es beide zum Bundeskanzler bringen
werden. Sie werden das kollektive Gedächtnis der Österreicher
prägen, jedoch auf völlig unterschiedliche Weise: Dollfuß, der
autoritäre Kanzler des Ständestaates, der 1934 im sogenannten
Juliputsch von Nationalsozialisten ermordet wird, und Leopold
Figl, der den Österreichern 1945 Hoffnung und 1955 den lang
ersehnten Staatsvertrag geben kann.
Jedenfalls nimmt Leopold Figl den Rat des zehn Jahre Älteren
an, wird Bauernbund-Sekretär und 1931 stellvertretender
Bauernbunddirektor. Zuerst beendet er noch – mit Hilfe eines
vierteljährigen Urlaubs – sein Studium.
Als Student der Universität für Bodenkultur wohnt er, wie
könnte es anders sein, in einem katholischen Studentenheim in
der Habsburgergasse. Es wird vom späteren Kardinal Innitzer
geleitet. Viel Zeit verbringt der junge Figl auch auf der Bude der
Cartellverband-Verbindung »Norica« in der Schwarzspanierstraße.
Er hat dort viele Freunde, die ebenfalls zuerst in St. Pölten das
Gymnasium besucht haben und dort schon Mitglied der »Nibelungia
«, einer Verbindung des Mittelschülerkartellverbandes (MKV),
waren. Für einen jungen Bauernsohn, der plötzlich in der Großstadt
lebt, ist die Verbindung nicht nur eine Freizeitbeschäftigung,
sondern auch eine Art Familienersatz. Darüber hinaus dient der
Cartellverband der Anbahnung von Lebensfreundschaften, die
einem jungen Mann so manche Türe öffnen. Der »Norica« entstammen
zahlreiche Politikerpersönlichkeiten wie beispielsweise Julius
Raab, Hermann Withalm, Alois Mock und Michael Spindelegger.
Leopold Figl wird auch später, als bekannter Politiker, noch gerne
das weiß-blau-goldene Band und die hellblaue Mütze tragen.
In einem Gespräch mit dem legendären Heinz Fischer-Karwin
stellt Leopold Figl den Zusammenhang zwischen seiner Herkunft
und seiner Politikerlaufbahn her: »So hab ich mir gedacht, als
studierter Bauernbua könnte man in den Bauernbund hineingehen
und die Alten ablösen. Wenn man schon studiert, dann
soll man dem Stand, dem man entstammt, auch im öffentlichen
Leben dienen. Mein Ziel war es von Anfang an, Bauernbunddirektor
von Niederösterreich zu werden.«4
1933 ist es so weit: Der erst 31-jährige Agraringenieur wird
zum Bauernbunddirektor ernannt. Eine glanzvolle Karriere
scheint vor ihm zu liegen. Auch privat ist sein Glück perfekt:
Leopold Figl ist seit drei Jahren mit Hilde Hemala verheiratet
und Vater eines kleinen Buben.
Seite. Schließlich will Julius Raab seine Heimkehr mit
einigen Freunden im Gasthaus feiern. Endlich kommt Heinrich
dazu, seinen Freund vorzustellen.
„Alle sagen Poldl zu mir!“, sagt der Gymnasiast etwas
schüchtern.
„Na, dann kommst halt mit, Poldl!“, antwortet der Ältere.
Später wird viel über gewonnene Schlachten, vergebene
Siege, den verlorenen Krieg und über Österreich gesprochen.
Die beiden Schüler, die ihr Alter davor bewahrt
hat, kämpfen zu müssen, hören mit roten Ohren und offenen
Mündern zu. Der 16-jährige Poldl ahnt nicht, dass die
Freundschaft zu Julius Raab sein Leben prägen wird.
Der 27-jährige Julius Raab kehrt in eine Heimat zurück, die
sich – wie er es selbst einmal beschrieben hat – in völliger Auflösung
befindet. Nur 20 Tage zuvor, am 3. November 1918, ist der
Waffenstillstand zwischen der Entente und Österreich-Ungarn
unterzeichnet worden. Die »Neue Freie Presse« berichtet in
ihrer Ausgabe vom 24. November 1918, dass die Personendemobilisierung
nunmehr beendet sei. An allen Ecken und Enden
bemächtigen sich fremde Soldaten österreichischen Gebiets: An
dem Tag, an dem der spätere Bundeskanzler heimkehrt, besetzt
serbisches Militär Kärnten und rücken italienische Truppen
nach Innsbruck vor. Das Gebiet, das später Südtirol genannt
werden wird, ist bereits seit Wochen italienisch besetzt.
Marburg ist in serbischer Hand. In St. Pölten, der Schulstadt
Leopold Figls, müssen die Menschen keinen Einmarsch fremder
Soldaten fürchten. Doch auch hier kämpft man mit riesigen
Problemen: Ein Fünftel der St. Pöltner, die für Gott, Kaiser und
Vaterland in den Krieg gezogen sind, kehrt nicht mehr in die
Heimat zurück. Soldatenräte haben die Stadtverwaltung übernommen.
Die Ernährungslage ist katastrophal, viele Menschen
hungern.
Leopold Figl ist in jenen bitteren Jahren sicherlich dankbar,
aus einer Bauernfamilie zu stammen. Der Gymnasiast kommt
aus Rust im Tullnerfeld, wo seine Mutter gemeinsam mit den
acht Geschwistern einen ansehnlichen Hof bewirtschaftet. Seit
Beginn des 16. Jahrhunderts ist die Familie Figl im Tullnerfeld
ansässig. »Seit Anno Domini 1752 sitzen wir Figl auf dem Bauernhaus
Nr. 37 in Rust, Bezirk Tulln. Dass es immer so bleibe, das
walte Gott!«, kann man im »Goldenen Ehrenbuch der niederösterreichischen
Bauernschaft« nachlesen. Leopold Figl ist stolz
auf seine traditionsreiche Familie. Das Gemälde des 1702 geborenen
Balthasar Figl und seiner Gattin Juliane wird auch in der
»Kanzler-Wohnung« in der Peter-Jordan-Straße im 19. Bezirk
hängen. Balthasar hält den sogenannten Roßstock in der Hand,
das Zeichen des freien Bauern.
Genau 200 Jahre nach ihm kommt Leopold Figl zur Welt. Als er
zwölf Jahre alt ist, stirbt sein Vater im Alter von 44 Jahren. Die
Mutter, die »Figlin«, wie sie im Ort respektvoll genannt wird, ist
eine Frau, die Gehorsam einfordert. Eine Witwe mit neun
Kindern, die im Jahr, als der Erste Weltkrieg ausbricht, plötzlich
auf sich allein gestellt ist, muss sich durchsetzen können. Josefa
Figl führt ein Leben, dessen Belastungen man heute kaum nachempfinden
kann: Sie muss mit dem plötzlichen Verlust des Familienoberhauptes
fertigwerden, bringt neun Kinder durch den
Krieg und führt einen großen Hof. Für Zärtlichkeiten oder Freizeit
mit den Kindern bleibt kaum Zeit.
Der Alltag des kleinen Poldl wird vor allem durch Pflichten
bestimmt: Lernen für die Schule, Arbeit auf dem Feld oder auf
dem Hof, Kirchgänge. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen – das
gilt zu dieser Zeit auch für Kinder. Leopold ist ein aufgeweckter
kleiner Bursche. Nach sechs Jahren Volksschule rät der Pfarrer,
den Poldl aufs Gymnasium nach St. Pölten zu schicken. Vermutlich
denkt er an eine Karriere als Seelsorger. Eigentlich ist
Leopolds älterer Bruder Josef als »Studierter« vorgesehen: Er
besucht die Bürgerschule in Neulengbach. Schließlich folgt die
Mutter dem geistlichen Ratschlag, und der schmächtige
13-Jährige wird aufs Gymnasium geschickt. Josef muss wieder
nach Hause kommen; zwei Söhne kann Josefa Figl auf dem Hof
nicht entbehren.
1915, als Leopold Figl seine Gymnasiallaufbahn startet, befindet
sich die Monarchie im zweiten Kriegsjahr. Die Köpfe der
Buben sind voll von Propaganda und heldenhaften Geschichten
über Schlachten und Siege. So geht auch der 13-jährige Ruster mit
dem Gedanken an eine militärische Laufbahn in die Stadt: »Es
war ja Krieg, und da hat man gesagt: mach das Gymnasium, dann
kannst du nachher gleich Leutnant werden. Mit dieser Begeisterung
bin ich nach St. Pölten gegangen.«1
Trotz der räumlichen Trennung bleibt der Gymnasiast seiner
Familie eng verbunden: Wann immer es Geld und Zeit zulassen,
fährt er nach Hause und hilft selbstverständlich bei allen Arbeiten
auf dem Hof mit. Erst danach ist Zeit für Radtouren oder
Turnen. Die starke Beziehung zu seinen Geschwistern und vor
allem zur Mutter wird Leopold Figl auch später aufrechterhalten.
Das Wort von Josefa Figl hat auch für den Bundeskanzler der
Republik Österreich noch Gewicht. Wenn Leopold Figl einen Rat
braucht, fährt er nach Rust und vertraut der Meinung jener Frau,
die ihm und seinen acht Geschwistern trotz Krieg und Krisen
eine behütete Kindheit ermöglicht hat.
Ein Traum wird wahr: Juni 1926
Der junge Mann hat es eilig. Ausgerechnet heute hat der
Ringwagen Verspätung gehabt; aus der kalkulierten halben
Stunde vom 1. Bezirk in die Josefstadt sind 40 Minuten
geworden. Leopold Figl beschleunigt seine Schritte.
Gerade er, sicherlich einer der jüngsten Gäste, darf
nicht zu spät kommen. Heute wird im Gasthaus „Grünes Tor“
in der Lerchenfelder Straße die Gründung des Niederösterreichischen
Bauernbundes vor 20 Jahren gefeiert.
Da war ich noch nicht einmal in der Schule, überlegt der
Bauernsohn kurz. Umso mehr freut es den Studenten, dass
die Honoratioren an ihn gedacht haben.
Sogar eine Rede soll er halten, als Vertreter der Jugend
sozusagen. Leopold Figl hat sich viel Mühe mit der Vorbereitung
gegeben, auf seiner Bude im Studentenheim daran
gefeilt und sie eingeübt. Die Herren sollen einen guten
Eindruck von ihm haben.
Josef Stöckler, der Obmann des Niederösterreichischen
Bauernbundes, ist ein beeindruckender Mann. Der 24-jäh
rige Figl kennt den Bauernpolitiker schon seit er ein
kleiner Bub war. Als der Vater noch gelebt hat, ist Stöckler
hin und wieder auf den Hof gekommen, um ein Pferd zu
kaufen. Ein großer Mann mit buschigem Schnurrbart und
ordentlich gezogenem Scheitel, der mit dem Vater wichtige
Dinge besprach. Der kleine Poldl wich ihnen nicht
von der Seite und versuchte zu verstehen, was die Erwachsenen
besprachen. Heute wird er selbst sprechen, und der
Bauernbundobmann wird ihm, dem Studenten, zuhören.
Wenige Meter vor dem Lokal bleibt der junge Mann stehen,
richtet sich den grünen Kragen seines Trachtenanzuges
zurecht und streicht sich ordnend durch die Haare. So
viel Zeit muss sein. Die Tür des Gasthauses steht offen,
Stimmengemurmel dringt auf die Straße. Viele Bauern
haben die Gelegenheit zu einer Fahrt in ihre Landeshauptstadt
genutzt. Als sich Leopold Figl einen Weg durch den
Saal bahnt, sieht er nicht wenige bekannte Gesichter.
„Servas, Poldl!“, grüßt ein entfernter Verwandter und
klopft ihm väterlich auf die Schulter. Andere nicken ihm
freundlich zu. Der Poldl ist beliebt bei den Älteren, er
gilt als fleißig und hilfsbereit. Aus dem Buben wird
einmal etwas werden, da ist man sicher.
Als sich der Student der Festtafel nähert, bemerkt er,
dass der Bundeskanzler neben dem Bauernbundobmann sitzt.
Nervosität steigt in ihm auf. Mit der Anwesenheit des
Prälaten hat Leopold Figl nicht gerechnet. Ignaz Seipl
ist eine respekteinflößende Erscheinung: Kahlköpfig,
immer dunkel gekleidet, wirft er durch eine randlose
Brille strenge Blicke auf seine Mitmenschen. Sein Urteil
kann vernichten.
Der Agrarstudent atmet tief durch. Jetzt gibt es kein
Zurück mehr. Er grüßt die hohen Herren höflich und nimmt
Platz. Leopold Figl wird seine Rede halten. Er wird den
Eltern keine Schande machen, das hat er sich fest vorgenommen.
Die Rede des 24-Jährigen findet Anklang. Sie gefällt so gut, dass
der junge Ruster eingeladen wird, mit den Älteren zu Mittag zu
essen. Man erkundigt sich, wie lange Figl noch für sein Studium
brauchen werde. »Eineinhalb Jahre«, antwortet der Student. »Du
musst Bauernbundsekretär werden!«, heißt es. Leopold Figl hat
einmal selbst über den Beginn seines Politikerlebens erzählt:
»Na, und ich bin dagesessen mit geschwellter Brust, und ich habe
die vielen Verwandten und Freunde aus der Heimat gesehen, die
alle applaudierten und sich freuten, dass der Bua doch was kann
und nun mit den großen Politikern beim Mittagessen sitzen
durfte. Und ich hab gesagt: ›Gut, ich werde mich hineinknien und
sehr fleißig studieren.‹«2
Ein Jahr später, die Staatsprüfung ist mittlerweile abgelegt, meldet
sich der Direktor des Niederösterreichischen Bauernbundes,
Josef Sturm, bei Figl und überredet ihn zu einer zweiwöchigen Vertretungsarbeit
im verwaisten Büro. Nach seiner Rückkehr will der
Direktor nichts davon hören, dass Figl wieder studieren geht. Doch
der junge Mann zögert. Er will kein »verbummelter« Student sein.
Dollfuß, der seine Karriere ebenfalls als Bauernbundsekretär
begonnen hat, rät ihm abends im Studentenheim zu: »Da schau,
jetzt brauch ma an Sekretär, und des muaßt bleiben. Ob du dein
Diplom morgen machst oder übermorgen, is wurscht!«3 Engelbert
Dollfuß und Leopold Figl ahnen bei diesem abendlichen
Gespräch nicht, dass sie es beide zum Bundeskanzler bringen
werden. Sie werden das kollektive Gedächtnis der Österreicher
prägen, jedoch auf völlig unterschiedliche Weise: Dollfuß, der
autoritäre Kanzler des Ständestaates, der 1934 im sogenannten
Juliputsch von Nationalsozialisten ermordet wird, und Leopold
Figl, der den Österreichern 1945 Hoffnung und 1955 den lang
ersehnten Staatsvertrag geben kann.
Jedenfalls nimmt Leopold Figl den Rat des zehn Jahre Älteren
an, wird Bauernbund-Sekretär und 1931 stellvertretender
Bauernbunddirektor. Zuerst beendet er noch – mit Hilfe eines
vierteljährigen Urlaubs – sein Studium.
Als Student der Universität für Bodenkultur wohnt er, wie
könnte es anders sein, in einem katholischen Studentenheim in
der Habsburgergasse. Es wird vom späteren Kardinal Innitzer
geleitet. Viel Zeit verbringt der junge Figl auch auf der Bude der
Cartellverband-Verbindung »Norica« in der Schwarzspanierstraße.
Er hat dort viele Freunde, die ebenfalls zuerst in St. Pölten das
Gymnasium besucht haben und dort schon Mitglied der »Nibelungia
«, einer Verbindung des Mittelschülerkartellverbandes (MKV),
waren. Für einen jungen Bauernsohn, der plötzlich in der Großstadt
lebt, ist die Verbindung nicht nur eine Freizeitbeschäftigung,
sondern auch eine Art Familienersatz. Darüber hinaus dient der
Cartellverband der Anbahnung von Lebensfreundschaften, die
einem jungen Mann so manche Türe öffnen. Der »Norica« entstammen
zahlreiche Politikerpersönlichkeiten wie beispielsweise Julius
Raab, Hermann Withalm, Alois Mock und Michael Spindelegger.
Leopold Figl wird auch später, als bekannter Politiker, noch gerne
das weiß-blau-goldene Band und die hellblaue Mütze tragen.
In einem Gespräch mit dem legendären Heinz Fischer-Karwin
stellt Leopold Figl den Zusammenhang zwischen seiner Herkunft
und seiner Politikerlaufbahn her: »So hab ich mir gedacht, als
studierter Bauernbua könnte man in den Bauernbund hineingehen
und die Alten ablösen. Wenn man schon studiert, dann
soll man dem Stand, dem man entstammt, auch im öffentlichen
Leben dienen. Mein Ziel war es von Anfang an, Bauernbunddirektor
von Niederösterreich zu werden.«4
1933 ist es so weit: Der erst 31-jährige Agraringenieur wird
zum Bauernbunddirektor ernannt. Eine glanzvolle Karriere
scheint vor ihm zu liegen. Auch privat ist sein Glück perfekt:
Leopold Figl ist seit drei Jahren mit Hilde Hemala verheiratet
und Vater eines kleinen Buben.
... weniger
Autoren-Porträt von Birgit Mosser-Schuöcker
Birgit Mosser-Schuöcker war nach ihrem Studium der Rechtswissenschaften freie Mitarbeiterin des ORF und bis 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Verfassungsgerichtshofes. Danach wechselte sie zur Volksanwaltschaft. Sie ist Drehbuchautorin und Regisseurin zahlreicher zeitgeschichtlicher TV-Dokumentationen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Birgit Mosser-Schuöcker
- 2015, 256 Seiten, 74 Abbildungen, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Amalthea
- ISBN-10: 3850029174
- ISBN-13: 9783850029179
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