Lichtjahre
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Exilanten und innere Emigranten, alte Eminenzen und junge Wilde werden vorgestellt, mächtige Herren und kämpferische Frauen - ein Panorama der deutschen Literatur von der Stunde Null bis heute. Und ein Bild von der ungeheuren Dynamik, mit der sich die Literatur der Zeit entwickelt und verändert. Im Westen wird die Gruppe 47 gegründet und wieder zerlegt, im Osten der Sozialismus gefeiert und bekämpft, im Westen verkünden sie Innerlichkeit und Revolte, im Osten geht man den Bitterfelder Weg oder verlässt das Land.
Es geht um vergessene Könner und vermessene Bekenner, große Erfolge und stille Triumphe - und um viele, viele einzelne Schicksale. Mit Leidenschaft, Humor und großem Wissen nimmt Volker Weidermann den Leser mit auf einen schnellen Streifzug durch die goldenen Jahre der deutschen Literatur, schlägt große und kleine Bögen, skizziert Einflüsse, Abhängigkeiten und Gegensätze und landet mit Christian Kracht, Judith Hermann, Feridun Zaimoglu, Daniel Kehlmann, Ingo Schulze u.v.a.m. in unserer Gegenwart. Vor allem und immer wieder zeigt er den einzelnen Autoren, der unbeirrt seinen Weg weitergeht.
Volker Weidermann, Literaturredakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, hat dort angefangen, wo erstmal alles zu Ende war. Wie ging es los nach dem Krieg, wer war schon da, wer kam dazu, wer wollte zurück und was ist daraus geworden? Exilanten und innere Emigranten, alte Eminenzen und junge Wilde werden vorgestellt, mächtige Herren und kämpferische Frauen - ein Panorama der deutschen Literatur von der Stunde Null bis heute. Und ein Bild von der ungeheuren Dynamik, mit der sich die Literatur der Zeit entwickelt und verändert. Im Westen wird die Gruppe 47 gegründet und wieder zerlegt, im Osten der Sozialismus gefeiert und bekämpft, im Westen verkünden sie Innerlichkeit und Revolte, im Osten geht man den Bitterfelder Weg oder verlässt das Land. Es geht um vergessene Könner und vermessene Bekenner, große Erfolge und stille Triumphe - und um viele, viele einzelne Schicksale.
Mit Leidenschaft, Humor und großem Wissen nimmt Volker Weidermann den Leser mit auf einen schnellen Streifzug durch die goldenen Jahre der deutschen Literatur, schlägt große und kleine Bögen, skizziert Einflüsse, Abhängigkeiten und Gegensätze und landet mit Christian Kracht, Judith Hermann, Feridun Zaimoglu, Daniel Kehlmann, Ingo Schulze u.v.a.m. in unserer Gegenwart. Vor allem und immer wieder zeigt er den einzelnen Autoren, der unbeirrt seinen Weg weitergeht. Und plötzlich will man unbedingt Gert Ledig lesen, oder Hubert Fichte, oder Max Frisch mal wieder - ein Buch der Überraschungen!
Lichtjahre von Volker Weidermann
LESEPROBE
Verfall einer Familie - die traurige Geschichteder drei Manns
Klaus Mann, Kämpfer ohne Hoffnung. HeinrichMann, Greis
ohne Wiederkehr. Thomas Mann, der König, dersich selbst
verachtet
Wie wenige sind übrig geblieben. Wie wenige nurhaben zwölf
Jahre Naziherrschaft in Deutschland überlebt.Das Exil hat viele
große Schriftsteller das Leben gekostet. StefanZweig und Joseph
Roth, Ernst Toller und René Schickele, RudolfBorchardt
und Walter Benjamin, Robert Musil, KurtTucholsky, Else Lasker-
Schüler und unendlich viele andere haben dieZeit dort
draußen - zumeist ohne Geld, ohne Leser, fernder eigenen
Sprache, fern der Heimat - nicht überstanden.Einige wenige
haben überlebt. Sie haben ausgeharrt. Sie habengewartet. Zwölf
Jahre lang. Und jetzt?
»Wir müssen zurück«, hat Klaus Mann(1906-1949) die Romanfigur
Marion von Kammer in seinem Exilroman Der Vulkan
(1939) sagen lassen. »Ungeheure Aufgaben werdensich stellen,
wenn der Albtraum ausgeträumt ist. Wer soll siedenn bewältigen
- wenn wir uns drücken?! Die alten Gruppierungenund
Gegensätze - rechts und links - werden keineGeltung mehr
haben. Die Menschen, die guten Willens sind -die anständigen
Menschen finden sich, vereinigen sich, arbeitenmiteinander.«
So hatte es sich Klaus Mann gewünscht. So hatteer es sich
vorgestellt. Deshalb war er, der Pazifist undschwärmerische
Schöngeist der Weimarer Republik, in die US Armyeingetreten
und hatte gekämpft, hatte Flugblätter verfasst,Gefangene
verhört und war mit den voranschreitendenTruppen nach
Deutschland geeilt. Er hatte, wie sein Vater,wirklich geglaubt,
dass das »böse Deutschland das fehlgegangengute« ist und dass
das Land, dass seine Menschen nur verführtworden seien. Aber
er hatte sich getäuscht. Nirgends traf er aufEinsicht. Nirgends
auf Reue. Schon nach kurzer Zeit war erüberzeugt, dass in
dem Moment, in dem die alliierten Soldatenabziehen würden,
neunzig Prozent der Bevölkerung ihreNazifähnchen wieder in
den Wind und die Hitler-Bilder wieder an dieWände hängen
würden. Kein einziger der Romane, die Klaus Mannim Exil geschrieben
hatte, wurde zu seinen Lebzeiten in Deutschlandveröffentlicht.
Es gab keine Verständigung zwischen Klaus Mann
und den Deutschen.
Trotzdem hat Klaus Mann sein schönstes Buch nachdem
Krieg geschrieben. Der Wendepunkt (1952),Übertragung, Umarbeitung
und starke Erweiterung seines schon 1942 inAmerika
veröffentlichten Romans The Turning Point, zugleichAutobiografie,
Besichtigung eines Zeitalters undLebensbeschreibung
einer der erstaunlichsten Familien, die es im letztenJahrhundert
in Deutschland gegeben hat. Aber er fand keinenVerlag, und
auch für neue Projekte interessierte sichkeiner. Und als dann
auch noch der Langenscheidt-Verlag seine Zusagezurückzog,
den Roman Mephisto (1936) in Deutschlandzu veröffentlichen,
jenen Roman über den unaufhaltsamen Aufstieg desewigen Opportunisten
Hendrik Höfgen, das kaum verhüllte PorträtGustaf
Gründgens, mit der Begründung, dieser spieleschon wieder
eine so bedeutende Rolle in Deutschland, da wares mit dem
letzten Lebenswillen des ewig Lebensmüden undimmer stärker
den Drogen Verfallenden vorbei. »Ich weiß nicht,was mich
mehr frappiert«, schrieb Klaus Mann an denVerleger, »die Niedrigkeit
Ihrer Gesinnung oder die Naivität, mit der Siediese zugeben.«
Und er schließt verbittert: »Man weiß ja, wohindas
führt: zu eben jenen Konzentrationslagern, vondenen nachher
niemand etwas gewusst haben will.« Er schreibtnoch einen letzten
Essay, Die Heimsuchung des europäischenGeistes (1949), in dem
er Europas führende Intellektuelle zumkollektiven Selbstmord
auffordert, als letztes Fanal der Vernunft. Danngeht er ihnen
voran. Am 21. Mai 1949 stirbt Klaus Mann aneiner Überdosis
Barbiturate in Cannes.
HeinrichMann (1871-1950) war amEnde. Was für ein trauriges
Leben hat der Autor des Untertan (1918)und des Professor Unrat
(1905) im Exil geführt. Vereinsamt, verarmt undungelesen.
Nur wenige Minuten entfernt vom prachtvollenHaus seines
jüngeren Bruders, des einst so herzlich mit ihmverfeindeten
Thomas Mann, der mit seinen Büchern auch inAmerika noch
viel Geld verdient. Heinrich Mann und seine FrauNelly leben
»manchmal von 4 Dollar, manchmal von 2 dieWoche«. Seine
Frau trinkt. Ihre Arbeit als Krankenschwesterüberfordert sie. Im
Dezember 1944 bringt sie sich um. Heinrich Mannvereinsamt
immer mehr, zieht sich weiter in sich selbstzurück. Einmal pro
Woche besucht er den strahlenden Bruder auf demBerg. Sie
sprechen über alte Zeiten. Italien, die Buddenbrooks.Einem alten
Pflichtbewusstsein folgend schreibt und schreibter. Den rührseligen,
altmodisch-süßlichen, autobiografisch gefärbtenRoman
Der Atem (1949) und Empfangbei der Welt (1956). In seinen merkwürdig
unpersönlich geschriebenen Erinnerungen EinZeitalter
wird besichtigt (1945)hält er politische Rückschau und lobt darin
ausdrücklich die Moskauer Schauprozesse alsmutige Tat eines
moralisch hochgerüsteten Staates, auf den erselbst in zwischen
all seine politischen Hoffnungen setzt. ZurBelohnung werden
seine Bücher in der Sowjetunion massenhaft gedruckt,und auch
aus der deutschen Ostzone kommen bald Stimmen,die den alten
Mann zurückrufen. Man verleiht ihm Ehrendoktorwürden,
verfasst den Aufruf »Deutschland ruft HeinrichMann«, stellt
ihm Villa, Wagen und Chauffeur in Aussicht,wählt ihn zum Präsidenten
der neu gegründeten Deutschen Akademie derKünste
und überredet ihn damit zu einer letztenÜbersiedlung und
großen Überfahrt. Doch Visa-Schwierigkeitenzögern die Rückkehr
weit hinaus. Als endlich alle Papiere zusammenund die
Fahrkarten gekauft sind, stirbt Heinrich Mann inseiner kleinen
Wohnung in Santa Monica an einer Gehirnblutung.Aus Westdeutschland
kommt von offizieller Seite kein Wort des trauernden
Gedenkens. Gar nichts.
Ist die Geschichte der Familie Mann nach demKrieg also eine
einzige Unglücksgeschichte? Die Geschichte derFamilie, deren
Protagonisten das kulturelle Leben der WeimarerRepublik bestimmten
wie sonst keiner? Sie haben all das überstandenfür -nichts?
Oh nein. Einer strahlt. Sein Ruhm leuchtet weit,weit sichtbar.
In Amerika. In Deutschland. In Ost und West. Dereinzige
Schriftsteller der Welt, der den Nobelpreisbeinahe zweimal bekommen
hätte. Am Ende seines Lebens umrauscht von Festlichkeiten,
die einem König zur Ehre gereicht hätten. DasMonument
der deutschen Kultur: Thomas Mann(1875-1955).
Er hat den Deutschen gleich nach Kriegsende mitdem Doktor
Faustus (1947) den Roman ihresUntergangs präsentiert.
Das große Deutschlandbuch über den TonsetzerAdrian Leverkühn,
der sein Leben dem Teufel verschreibt und derLiebe abschwört,
um das vollkommene Kunstwerk zu schaffen.Erzählt
von seinem Freund, dem Altphilologen SerenusZeitblom, derzeit
gleich mit dem in der Rückschau erzähltenUntergang des
Komponisten den Teufelspakt und Untergang seinesdeutschen
Vaterlandes im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegsschildert,
um am Ende, in dem berühmten letzten Satz, dasSchicksal beider
zusammen fließen zu lassen: »Ein einsamer Mannfaltet seine
Hände und spricht: Gott sei euerer armen Seelegnädig, mein
Freund, mein Vaterland.«
Man muss Thomas Manns alte These von der ungeheurenVerführungskraft
der fehlgegangenen, dunklen deutschen Romantik nichtteilen,
um diesen Roman eines der größten deutschen
Bücher des letzten Jahrhunderts zu nennen. Indem das dramatische
Weltgeschehen quasi im Livemitschnitt aufgeschriebenund
verknüpft wird mit der Kulturgeschichte einerganzen Nation,
in dem Moment, in dem sie moralisch und militärischan ein
Ende kommt. Gleichzeitig ein Roman über die Geschichteder
modernen Musik, über Nietzsches Leben und überdas Leiden
des Künstlers als eiskalter Mensch, der all seinGefühl, sein Leben
an seine Kunst verschwendet. Ein Roman auch überden
Autor selbst. Über Thomas Mann.
Ein solches Buch hat es danach nicht wiedergegeben. Ein solches
Buch wird es nie mehr geben. Es ist ein Finale.Ein Schluss-
punkt. Das wusste auch Thomas Mann. Er hattelange gezögert,
den Faustus zu beginnen. Fast ein Leben langhatte er ihn geplant.
Und ein Leben lang wusste er: Das würde seinletztes Buch
sein. Sein Parsifal. Es hätte ihn fast umgebracht.So hat es Thomas
Mann zumindest gesehen, und so erklärte er sichdie schwere
Krebserkrankung, die ihn im April 1946niederstreckte. Der
»schreckliche Roman« sei schuld, schrieb er insein Tagebuch
und an Freunde. Doch der Wille zum Roman, zuseinem letzten
Roman habe ihn noch einmal gerettet. So stellteer es sich vor.
Und dann war der Roman also fertig und irgendwannauch der
»Roman des Romans« - Die Entstehung desDoktor Faustus (1949)
und: Er lebte weiter in dem Bewusstsein, »derLetzte« zu sein,
»der Letzte, der noch weiß, was ein Werk ist«.Er fühlte sich wie
Hanno Buddenbrook, der früh verstorbeneUntergangsprinz aus
seinem ersten Roman, der einen Strich unter seinenNamen im
Familienbuch zog und sagte: »Ich dachte, es kämenichts mehr.«
Und er schreibt: »Oft will mir unsereGegenwartsliteratur, das
Höchste und Feinste davon, als ein Abschiednehmen,ein rasches
Erinnern, Noch-einmal-Heraufrufen und Rekapitulierendes
abendländischen Mythos erscheinen - bevor dieNacht sinkt,
eine lange Nacht vielleicht und ein tiefes Vergessen.«
Was sollte jetzt noch kommen? Thomas Mann, deralte Kaufmannssohn
und große, ewig pflichtbewusste, applaussüchtige,
arbeitssüchtige Bürger, musste weiterschreiben.Bücher, die ihm
selbst oft genug als unwürdiges Nachspielerschienen. Den Erwählten (1951)
zuerst, die Legende des großen Sünders Gregorius,
der sich einst des Inzests schuldig machte,siebzehn Jahre
allein auf einem Felsen Buße tut und schließlichzum Papst gewählt
wird. Die merkwürdige Erzählung Die Betrogene(1953)
dann, die Geschichte über Rosalie von Tümmler,die sich im
Alter von fünfzig Jahren in den Englischlehrerihrer Tochter verliebt
und in der Euphorie einer letzten Liebe die Blutströmeeines
Gebärmutterkrebsleidens für Zeichen neu erwachterFruchtbarkeit
hält - eine schauerliche Parabel über das Versagender
eigenen Körperkräfte. Und schließlich noch der Krull(1954).
Das letzte Buch. Der Hochstaplerroman, den erfast fünfzig Jahre
zuvor begonnen und dann lustlos liegen gelassenhatte. Er
nimmt ihn nicht ernst. Aber die Menschen liebenihn. Endlich
ein Thomas Mann fürs Volk, ohne seitenlangeBildungsvorträge
und unverständliche Schlaumeiereien, die im Zauberberg(1924),
in den Josephs-Romanen (1933-43), im DoktorFaustus von der
schönen Handlung ablenken. Es ist ein letzterTriumph für den
Dichter, der, inzwischen in die Schweizübergesiedelt, zu mehreren
offiziellen Besuchen nach West- undOstdeutschland aufbricht,
die zu wahren Triumphfahrten werden.
Doch die Triumphe verstärken nur das schlechteGewissen
eines Mannes, der tief empfindet, dass all derJubel einem Menschen
gilt, den es nicht mehr gibt. Der alles gegebenhat. Der
sterben will. Nach den Feiern zu seinem 80. Geburtstagist es
endlich so weit. In einer Tischrede zum 70.Geburtstag seiner
Frau Katia hat er voller Hoffnung gesagt: »Wenndann die Schatten
sich senken und all das Verfehlte und Ungescheheneund
Ungetane mich ängstet, dann gebe der Himmel,dass sie bei mir
sitzt, Hand in Hand mit mir, und mich tröstet,wie sie mich hundert
mal getröstet und aufgerichtet hat in Lebens-und Arbeitskrisen,
und zumir sagt: Lass gut sein, du bist ganz brav gewesen,
hast getan, was du konntest.«
Am Abend des 12. August 1955 ist er gestorben.Katia war
bei ihm.
© Verlag Kiepenheuer & Witsch
- Autor: Volker Weidermann
- 2006, 5. Aufl., 336 Seiten, Maße: 13,5 x 23 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462036939
- ISBN-13: 9783462036930
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