Lieber einmal mehr als mehrmals weniger
Frisches aus der arschlochfreien Zone
In dem von unbeugsamen Brandenburgern bevölkerten Dörfchen Amerika scheint sich alles zum Guten gefügt zu haben: Die alpenländischen Aliens, die Moors, sind in die Gemeinschaft der Einheimischen aufgenommen und die anfänglichen...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Lieber einmal mehr als mehrmals weniger “
In dem von unbeugsamen Brandenburgern bevölkerten Dörfchen Amerika scheint sich alles zum Guten gefügt zu haben: Die alpenländischen Aliens, die Moors, sind in die Gemeinschaft der Einheimischen aufgenommen und die anfänglichen Probleme um den Hof gelöst. Doch da gibt der geliebte Hürlimann-Traktor den Geist auf, und auf einmal steht nicht nur der häusliche Friede, sondern auch die Ehre des Neubauern auf dem Spiel.
Klappentext zu „Lieber einmal mehr als mehrmals weniger “
"Wir haben, was Sie brauchen... Gar nicht so schlimm in Brandenburg."In dem von unbeugsamen Brandenburgern bevölkerten Dörfchen Amerika scheint sich alles zum Guten gefügt zu haben: Die alpenländischen Aliens, die Moors, sind in die Gemeinschaft der Einheimischen aufgenommen und die anfänglichen Probleme um den Hof gelöst. Doch da gibt der geliebte Hürlimann-Traktor den Geist auf, und auf einmal steht nicht nur der häusliche Friede, sondern auch die Ehre des Neubauern auf dem Spiel. Helfen kann nur Hürli-Gott Jakob aus der Schweiz, auch wenn Bauer Müsebeck, Teddy und Krüpki so ihre Zweifel haben. Als dann auch noch ein Bayer im hellblauen Tangaslip die ersten Wasserbüffel nach Amerika bringt, stehen neue, skurrile und anrührende Herausforderungen ins Haus.
Lese-Probe zu „Lieber einmal mehr als mehrmals weniger “
Lieber einmal mehr als mehrmals weniger von Dieter Moor Amerika
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Die kleinen Brandenburger Dörfer. Es gibt sie zuhauf. Die einen sind im Laufe der Jahrhunderte gewachsen und zieren sich heute mit Gebrauchtwagenhändlern, Garni-Hotels und Penny, Netto, Edeka oder sonstigen Lebensmittel-Verschleißstellen, die sich «Markt» nennen. Die anderen haben das Wachstum nicht geschafft und sind, weil Wirtschafts-Loser, Lebensqualität-Winner: eine Kirche, mehr oder weniger verfallen, eine Gaststätte, mehr oder weniger gut, ein Bürgerhaus, mehr oder weniger frequentiert, ein Denkmal für die Toten zweier Weltkriege, mehr oder weniger peinlich, und ein Laden mit mehr oder weniger Angebot und Nachfrage. Von diesen urtümlich gebliebenen Loser-Dörfern gibt es zum einen die Straßendörfer: Die Häuser und Höfe reihen sich entlang des Durchgangsverkehrs, durch großzügig dimensionierte Vorgärten gnädig von diesem distanziert. Und zum anderen gibt es die Pfuhlendörfer: Ihre Struktur erinnert, aus der Satellitenperspektive gesehen, an ein in der Landschaft liegendes Auge. Die dunkle Pupille bildet eben die dem Dorf seine Charakteristik aufprägende Pfuhle: ein Teich, auf welchem sich in früheren bäuerlichen Zeiten die Enten und Gänse der Dorfbewohner gemeinschaftlich getummelt haben. Die grüne Iris des Auges wird gebildet von einer Wiese, auf der sich heute genauso wie früher die Dorfbewohner selbst tummeln. Anlässlich von Dorf-, Feuerwehr und anderen Festen sowieso, klar, dann ist Dabeisein gern erfüllte Pflicht. Und im Alltag genießen sie den Anger, um dem Sommer zu frönen, ein Abendschwätzchen zu halten oder um zu sehen, ob sich nicht der eine oder andere Fisch aus dem Gewässer angeln ließe. Bäume und Büsche stehen in lockerer Formation auf dieser grünen Iris, und an ihrem äußeren Rande spendet fast immer eine riesige Friedenseiche entweder Schatten oder Schutz vor Regen, ganz nach Bedarf. Die Häuser des Dorfes gruppieren sich rund um den Anger und bilden so gewissermaßen das Weiß des Auges. Die Alleen entlang des Dorfes schließlich sind die Wimpern und Brauen, die weiten Felder hinter den Häusern prägen das Gesicht des weiten Landes.
Ein solches Pfuhlendorf, es sei Amerika genannt, soll hier Schauplatz sein für die Geschichten, die es zu erzählen gilt. Amerika ist nicht schöner als andere Dörfer, auch nicht hässlicher, aber es kann auftrumpfen mit einer Besonderheit, die es von allen anderen Pfuhlendörfern abhebt: Der Dorfanger Amerikas wird nämlich außer von ehrwürdigen riesigen Kastanienbäumen und der mächtigen Friedenseiche auch von einem Denkmal geziert. Ein Reiterdenkmal.
Millionen von Reiterdenkmälern auf der ganzen Welt erinnern an Tausende von verschiedenen Reitern: Mit martialisch historischer Kleidung ausstaffierte Helden, irgendwelche Völkerschlächter, die mit ihren Bluttaten in die an Bluttaten nicht gerade arme Geschichte der Menschheit eingegangen sind und nun in pathetischer Pose auf ihren Rössern thronen und ihre durch das Sterben zahlloser Untertanen gewonnene Unsterblichkeit prahlerisch symbolisieren.
Das Reiterdenkmal in Amerika weist eine erstaunliche Abweichung auf: Es ist ein Reiterdenkmal ohne Reiter. Lediglich ein sich ganz in der Manier von Reiterdenkmälern ungestüm aufbäumen des, kunstvoll modelliertes Bronzepferd auf einem Steinsockel. Der Popanz oben drauf wurde einfach weggelassen, jeder Betrachter kann im eigenen Geiste jeden beliebigen Helden auf den Pferderücken rücken. Sogar sich selbst.
Die wenigen Ausflügler aus der nahe gelegenen Metropole, die, gelenkt durch willkürlich eingetretene Irrtümer oder Zufälle, den Weg nach Amerika gefunden haben, lieben es, sich vor diesem Werk eines berühmten Bildhauers aus dem frühen 20. Jahrhundert gegenseitig zu fotografieren. Die Tollkühnen unter ihnen kraxeln für ihre Souvenirbilder sogar auf den rutschigen Bronzeleib des Pferdes und verklammern sich krampfhaft an dessen Hals, während sie Zähne zeigen, in der irrigen Meinung, ein Kameralächeln zu produzieren.
Wenn solche Besucher, nehmen wir mal an, nach Bronze- Pferde-Foto-Session, Umwanderung der Pfuhle und Betrachtung eines gewissen Hauses gegenüber dem Denkmal, dessen Fassade eine seltsame Kranke-Hunde-Kack-Farbe aufweist, wenn also solche Besucher nach solchen Verlustierungen angenommenerweise Hunger oder Durst verspüren würden und sie sähen sich um, wo man denn in diesem Amerika etwas käuflich erwerben könne, um es dem lechzenden Organismus zuzuführen, dann würden sie unweigerlich hinter den Kastanien am Rande des Angers ein großes Haus erkennen, daran eine grob gezimmerte Holzterrasse, fünf Stufen hoch, mit einem Geländer rundherum, ähnlich den Veranden in den alten Schwarz-Weiß-Wildwestfilmen. Sie würden, sich der Terrasse nähernd, ein Fenster erkennen, eine kleine Auslage mit allerhand Waren, einen Bild-Zeitungs-Werbereiter neben der Eingangstür mit den Blümchenglasscheiben. Sowie ein blechernes Schild, auf dem Industrie-Speiseeis angepriesen würde. Sie würden einander zurufen: «Ach, da ist ein Laden, lass mal gucken!» Und wenn sie dies sehr genau in die Tat umsetzen würden, das Gucken, was wir hiermit annehmen, hätten sie die Chance, am oberen Balken des Ladeneingangs eine fast verblasste Schrift entziffern zu können, die in altmodischen Buchstaben verkündet: «Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht.»
Es darf des Weiteren angenommen werden, die Besucher kämen just zu der Zeit, wo der Laden gerade offen hätte, also zur Öffnungszeit, und auf der Terrasse stünden drei Amerikaner, teils locker an die Hauswand gelehnt, teils sich mit den Ellenbogen schwer auf das Geländer stützend. Und die drei würden in jener vertrauten Gemeinsamkeit, die nur zwischen Menschen entsteht, die sich sehr, sehr lange kennen und viele, viele gute und schlimme Zeiten miteinander überstanden haben, als Nachbarn in diesem Amerika, wo jeder jeden kennt, weil es nur zweihundert Seelen zählt, in dieser Vertrautheit also würden die drei Ur-Amerikaner ihr Feierabend- Bierchen zischen, direkt aus den Flaschen.
Es ist durchaus möglich, dass es genau so wäre, wenn, wie gesagt, die Besucher just zu jener rechten Zeit kämen, in der es eben wirklich so wäre, wie wir ja eigentlich soeben nur angenommen haben. In diesem Falle würden die Besucher, um in den Laden zu gelangen, zu den dreien auf die Terrasse steigen müssen, und dabei könnten sie nicht umhin zu bemerken, dass diesem einen da, also dem mit der gedrungenen Figur und dem roten Bluthochdruck-Gesicht, dass diesem einen schneeweißes dünnes Babyflaumhaar um sein beeindruckendes Haupt mäandern würde, sich in alle Himmelsrichtungen immer wieder neu formierend, je nach Windhauch oder Kopfbewegung, wie das Gespinst von mystischen Seidenraupen.
«Ach, wat seid ihr denn für welche? Buletten, wa?», würde er mit schrill-lauter Stimme die Besucher willkommen heißen, worauf diese verdutzt verharren würden, nicht wissend, ob dies ein Scherz oder eine Beleidigung gewesen sei, und ehe sie zu einem Schluss kommen könnten, würde der Rotköpfige lauthals zu dem neben ihm stehenden Hünen, an dem alles rund wäre, runder Körper, rundes Gesicht mit runden Wangen und runden Äuglein, sogar die Ohren würden irgendwie rund wirken, zu diesem Riesen also würde der Rotköpfige rüberquäken: «Was sagt man denn dazu, Teddy, wa? Kommen hier angeschlurft und sagen keinen Ton, wa, nicht guten Abend, nicht wer sie sind, gar nichts, wa, Teddy?»
Worauf der Riese ein verlegen-gutmütiges Lächeln zu den Besuchern schicken und an den Rotgesichtigen gewandt sagen würde: «Mensch, Krüpki, nu lass doch man jut sein. Was tust du denn immer alle anbrüllen, als wie ob es deine Gäule sind?» Der, den Teddy gerade Krüpki genannt hätte, würde sich empört an die Besucher wenden, mit seinen dicken Fingern zuerst den weißen Babyflaum auf seinem Kopf mit einer Streichbewegung zu ordnen versuchen und dann auf Teddy deuten: «Was sagt man denn dazu, fällt mir der Große voll in 'n Rücken, wa? Dabei wollt ich euch Buletten nur ein wenig Zivilisation beibringen, wa? Scheint ja bei euch in der Stadt völlig in die Binsen gegangen zu sein! Bei uns macht man nämlich die Fresse auf, pardon, den Mund, wenn man wo dazu kommt. Und ich sag euch auch gerne den Text vor, falls ihr ihn nicht kennt: ‹Guten Abend›, ist so 'ne Variante, die hier in Amerika gerne genommen wird, wa, Teddy?» Krüpki würde einatmen und gespannt auf die Reaktion der Besucher warten, die, vor lauter Angst, er könnte gleich wieder loslegen, da er seine Lungen ja schon vorsorglich bestens gefüllt hatte, versuchen würden, mit eingezogenen Köpfen an den Männern vorbei in den Laden zu fliehen. Dies könnten sie aber nur, indem sie sich in eine für Städter erschreckend intime Nähe begeben müssten zu einem neben der Blümchenglastür an der Wand lehnenden dritten Amerikaner. Der Plan, grußlos, mit lebenslang in städtischer Anonymität eingeübter Nonchalance einfach an ihm vorbei in den Laden zu wischen, der ginge nicht auf, das würden die Fremden in brutaler Klarheit erkennen, denn dieser Mann mit den schweren Schuhen und dem grauen Arbeitskittel würde sie mit wachen Koboldaugen unter seinem schmalkrempigen schwarzen Lederhütchen hervor prüfend mustern, und in seinem braun gebrannten, furchigen Gesicht würde sich ein wissendes Grinsen breitmachen. Also würden die Besucher im Vorbeiwischen das tun, was für viele Metropolisten derart undenkbar ist, dass sie es lieber erst gar nicht wagen, nach Brandenburg hinauszufahren, sie würden nämlich zwischenmenschlichen Kontakt aufnehmen mit einem Brandenburger! In diesem Falle sogar mit einem Amerikaner, indem sie sein Grinsen mit einem unsicheren Lächeln quittieren und sagen, nein, eher murmeln würden: «Guten Tag.»
«Tach och», würde der Mann mit dem Hütchen erwidern
Krüpki würde schreien: «Na, geht doch!»
Teddy würde bemerken: «Dir tun se grüßen, Müsebeck, weil de von uns der Einzigste bist, der wo ein Hut aufhat.»
Der als Müsebeck Angesprochene mit dem Lederhütchen aber würde darauf nicht weiter eingehen, sondern ein wenig, aber wirklich nur ein wenig von der Tür abrückend die Besucher an sich vorbeiziehen lassen, in den Laden hinein. Und indem diese die Ladentür von innen wieder zuzögen, würden sie noch sehen, wie Müsebeck lässig mit dem Finger an sein Hütchen tippte und dann weg wäre hinter dem ins Schloss fallenden Blümchenglas. In die undefinierbar duftende, schummrig-halbdunkle Atmosphäre des Ladens eingetaucht, würden die Besucher sofort bemerken, dass dies kein Geschäft ist, das man einfach so betritt - wie einen Supermarkt. Sie würden spüren, dies ist ein eigenes Universum, das sich über Jahrzehnte aus dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage herauskristallisiert hat. Und sie würden auch die alles bestimmende Göttin dieses Universums erblicken, welche links neben dem Eingang hinter einem Resopalwändchen thronte, neben einer altertümlichen Registrierkasse, die in ihrem dunkelgrünen Bakelitpanzer an eine lauernde Kröte erinnern würde. Die Ladenbesitzerin selbst wäre in eine dieser fleckneutral gemusterten, fleckabweisenden Kleiderschürzen gehüllt, die wohl irgendein Frauenhasser in den siebziger Jahren erfunden hat. Im scharfen Kontrast zur Kittelschürze und dem leicht indignierten Blick, weil da schon wieder Kundschaft die Ruhe des Ladens stört, würde sich auf dem Kopf der Frau ein beeindruckendes Frisurgebilde türmen in grellem Hellblond.
«Gu-ten Taaaag», würde die Frau sagen, ihren millionenfach wiederholten Gruß fast singend, und die Besucher würden ebenfalls «Guten Tag» sagen, ahnend, dass es nicht gewiss war, ob dieser «Taaaag» wirklich gut würde. Und weil die Ladenfrau nichts weiter fragen, sondern nur stumm die Besucher angucken würde, und zwar so, wie nur jemand guckt, der sogar in einen Atomblitz sehen kann, ohne Schaden zu nehmen, weil also von der Ladenfrau keine weitere Kommunikation angeboten würde, wären die Besucher gezwungen zu sagen, sie hätten Hunger und Durst. Und nachdem die Ladenfrau diese Aussage ohne die geringste Reaktion zur Kenntnis genommen hätte, würden sie des Weiteren gezwungen sein zu fragen, was es denn so gäbe. Woraufhin die Frau mit ihrer Hand, an welcher grellrot, ja fast orange lackierte Fingernägel in der diffus neonbeleuchteten Düsternis des Ladens aufblitzen würden, mit großer Geste über das Sortiment deuten würde. Ein Sortiment, das typisch wäre für Läden, wie man sie früher, im Westen, als Tante-Emma-Läden bezeichnet hat, und die im Osten noch immer Konsum heißen, mit Betonung auf dem «o». Und die Frau würde sagen: «Was Sie brauchen, hab ich. Sogar Frischmilch.»
Und nach einer längeren Weile würden die Besucher, leicht enttäuscht, dass das Angebot des Ladens nicht ganz den Gourmetabteilungen der Metropolen-Warenhäuser entspricht, wieder auf die Terrasse treten, mit vollen Plaste-Einkaufstüten. Sie würden an Müsebeck, Teddy und Krüpki vorbeitrippeln, würden ein erleichtertes «Tschühüs» flöten, und Krüpki würde fragen: «Na, habt ihr alles?» Müsebeck würde nur wissend grinsen, und Teddy würde brummen: «Haut rinn.» Die Besucher aber würden recht rasch die Stufen von der Terrasse hinabsteigen, sich, unten angekommen, halb zu Teddy umdrehen und «Danke» sagen, vielleicht würden sie sogar, jetzt, wo sie die Begegnung mit echten Amerikanern unbeschadet überstanden hatten, ein Lächeln zustande bekommen, bevor sie zielstrebig, am Reiterdenkmal vorbei, zum Rand der Pfuhle strebten, wo sie in der Wiese sitzend, ihre Beute auspacken und ein Picknick im Grünen veranstalten würden.
Auf der Terrasse zurückgeblieben, würden die drei Amerikaner ihre Flaschen leeren, sich hernach anblicken und fragen «Na?», worauf alle drei einander zunicken würden, und Teddy würde die Blümchenglastür halb öffnen und hineinrufen: «Noch drei, Frau Widdel!» Die als «Frau Widdel» angerufene Ladenfrau würde mit drei Flaschen Bier erscheinen und bei jedem der Männer eine volle gegen eine leere Pulle eintauschen. Und bevor ihr blond-blonder Schopf wieder im Dunkel hinter der Eingangstür verschwände, würde sie sich umdrehen und mehr pro forma als fragend sagen: «Anschreiben?» Worauf der Große mit dem runden Gesicht, Teddy, erwidern würde: «Wat denn sonst?», und der mit dem weißen Flaum auf dem Kopf würde fragen: «Was sagt man denn dazu?» Frau Widdel aber würde dazu nichts sagen und Krüpki nur angucken, woraufhin dieser verstummen würde. Dann würde sie in die Weiten des Brandenburger Himmels schauen und nach oben fragen «Wer?», worauf Müsebeck sagen würde: «Uff Krüpki», und Teddy sagen würde: «Uff Müsebeck», und Krüpki sagen würde: «Uff Teddy», worauf Frau Widdel nicht lachen würde, sondern nur abwinken und zusammenfassen: «Zweie uff jeden.» Und bevor sie die Tür von innen zumachen würde, streckte sie noch einmal ihre blonde Haarpracht durch den Spalt und sagt: «Hier ist Feierabend, Jungs. Dass ihr mir dann die leeren Flaschen ordentlich aufs Fensterbrett stellt.» Und grußlos verschwände Frau Widdels Kopf endgültig, und die drei könnten deutlich hören, wie sie energisch von innen das Türschloss verriegelte.
Vielleicht würden die drei Männer noch eine Weile auf Frau Widdels Terrasse stehen und leicht von oben herab einfach nur so hineinblicken in dieses Amerika, vielleicht würden sie aber auch fachsimpeln über Krüpkis Pferde oder über die Schafe der Frau im Kranke-Hunde-Kack-farbenen Haus, die Teddy ihr zu versorgen half, vielleicht würden sie auch darüber reden, dass es bei den sinkenden Getreide- und den steigenden Bodenpreisen für Müsebeck nicht leichter werden wird, seinen landwirtschaftlichen Familienbetrieb in den schwarzen Zahlen zu halten. Vielleicht wären die drei aber auch noch auf ein Schwätzchen an die Pfuhle gegangen und hätten die Besucher mal näher in Augenschein genommen, wären womöglich sogar mit ihnen ins Gespräch gekommen und die Besucher wären spät nachts erst nach Berlin zurückgefahren und hätten einander gesagt: «Gar nicht so schlimm, in Brandenburg ...»
Wer kann schon sagen, wie es wirklich gewesen wäre? Möglich ist vieles in Amerika ...
Erscheinung
Wenn man mit dem Auto - von Schmachthagen her kommend - die Bundestraße Richtung Amerika verlassen, rumpelnd die stillgelegten Bahngleise überwunden und die kleinen Datschen links und rechts der Landstraße hinter sich gelassen hat, taucht man in einen Wald ein. Er bildet die Trennlinie, die Pufferzone zwischen zwei Welten: der Welt draußen, Hektik, Verkehr, Termine, Job, Sitzungen, Studios, Briefings, Hotels, Flugzeuge, Bahnfahrten. Und der Welt drinnen: Amerika. Etwas langsamer, etwas weniger oberflächlich, etwas intimer. Etwas relevanter.
Ich liebe diese Schlussetappe jeder Heimfahrt. Liebe den Moment des Auftauchens aus diesem Wald, wenn sich nach der letzten sanften Kurve unter Bäumen das Windschutzscheiben-Panorama öffnet, eine schnurgerade, von weiten Wiesen und Feldern gesäumte Straße präsentiert und wenn in der Ferne, fast am Horizont, die ersten Häuschen Amerikas sichtbar werden.
Tausendmal erlebt, tausendmal geliebt.
An diesem Tag herrschte Postkartenwetter. Majestätisch zogen weiße Wattegebirge über den tiefblauen Himmel, die mit Wildblumen gesprenkelten Wiesen präsentierten sich in sattem Grün, ein lauer Wind raschelte in den Blättern der Bäume. Es war einer dieser Frühsommertage, wie wir sie in Kinderbilderbüchern über das «Leben auf dem Lande» immer wieder illustriert sehen.
Als ich den Wald hinter mir gelassen hatte, nahm ich den Fuß vom Gaspedal und lies den Jeep im Leerlauf ausrollen. Ich wollte die Freude dieses Nachhausekommens ausdehnen, mein inneres Tempo der Städte drosseln und in den ruhigeren Rhythmus Amerikas wechseln. Ich schaltete noch im Rollen den Motor aus und ließ sämtliche Scheiben runter. Wiesenduft flutete in meine Blechzelle. Ich überließ es dem Zufall - oder den physikalischen Gesetzen von Tempo, Trägheit und Rollwiderstand - , jene Stelle des Weges zu bestimmen, an der mein Fahrzeug zum Stehen kommen würde. Gemächlich rollte der Wagen aus: Mofa-Tempo - Fahrradtempo - Lauftempo - Schritttempo - Stillstand.
Ich regte mich nicht. Ließ das seltene Gefühl der Tatenlosigkeit auf mich wirken. Nichts tun. Nichts denken. Nichts müssen. Nichts wollen, als einfach nur da sein und schnaufen. An diesem winzigen, vom Zufall bestimmten Punkt im Universum.
Friede.
In den Augenwinkeln registrierte ich zu meiner Linken eine kurze Bewegung in der Wiese. Ich wandte den Blick dorthin. Nichts. Nachwehen der Stadthektik?, dachte ich. Drehte den Kopf wieder nach vorn Richtung Amerika. Schloss halb die Augen. Da, wieder. Da war doch etwas. Doch ich sah nur Gras, die wellenförmige Bewegung des Windes im den schimmernden Halmen. Aber doch: dort! Etwa dreißig Meter entfernt. Ein Kopf tauchte auf, die spitzen Dreiecke zweier Ohren, ein rostbraun-pelziges Gesicht mit dunklen Augen, eine weiße Schnauze. Ein Fuchs! Konzentriert äugte er zu mir herüber. Wie gut sieht ein Fuchs?, fragte ich mich. Erkennt er nur die weiße Fläche des Autos oder registriert er, dass ein Wesen darin sitzt? Bestimmt sieht er mein Gesicht. Ich bereute, die getönte Scheibe heruntergelassen zu haben. Sieht er scharf genug, meine Pupillen erkennen zu können? Weiß er, dass mein Blick auf ihn gerichtet ist? Spürt er es nur, instinktiv?
Ich verharrte, bewegte mich keinen Millimeter. Er auch nicht. Nach gefühlten Minuten entschied er: Keine Gefahr, bloß eines dieser Blechdinger, die das Asphaltband niemals verlassen. Der Fuchs wandte sich ab, schnürte ein paar Meter in meine Richtung. Und jetzt - jetzt war er plötzlich in putziger Gesellschaft. Drei Fellknäuel von etwas blasserem Rostrot wurden sichtbar. Offenbar hatten sich die Welpen in eine Bodenwelle geduckt und kamen jetzt, vielleicht auf ein geheimes Zeichen hin, einer Entwarnung ihrer Mutter, hinter ihr her. Noch nie hatte ich eine Füchsin mit Welpen in freier Natur beobachten können. Und nun präsentierte sich mir diese Familie wie ein Geschenk. Wäre ich vorhin nur eine Sekunde früher oder später vom Gas gegangen, hätte ich abgebremst, statt das Fahrzeug ausrollen zu lassen, ich wäre an einer anderen Stelle zum Stehen gekommen und die Fuchsfamilie wäre mir verborgen geblieben. Zufall? Fügung? Fügung, klar!, entschied ich. Etwas hatte bestimmt, dass mir dieses Schauspiel geboten werden soll, da war ich mir seltsam sicher. Ich wurde von einem diffusen Gefühl erfasst, das vielleicht gläubige Menschen in Gotteshäusern empfinden: Mir wurde andächtig. Und da legte Mutter Natur in ihrer Fuchs- Family-Show noch ein Bonus-Programm obendrauf: Die Füchsin legte sich ins Gras, die Jungen gruppierten sich um sie, und ein tapsig-drolliges Fangspiel begann. Eine wilde Jagd um die Fähe herum. Die Welpen duckten sich hinter ihre Mutter, überfielen die Geschwister aus diesem Hinterhalt mit kühnen, wenngleich noch ungeschickten Sprüngen, rannten einander hinterher, balgten sich kurz und versteckten sich wieder hinter Mama, damit das Spiel von Neuem beginnen konnte. Mein andächtiges Gefühl wandelte sich in das Glück eines reich Beschenkten.
Aber leider war ich nicht allein auf der Welt mit «meinen» Füchschen. Von vorn sah ich schon das unweigerliche Ende des seltenen Schauspiels heranbrausen. In hohem Tempo näherte sich vom Dorf her ein petrolgrüner Geländewagen. Schon kreuzte er mich penetrant nah, Wuschhhh, der Luftzug ließ den Jeep kurz zu Seite wippen.
Die Füchse waren weg. Klar. Warum musste der auch so rasen, verdammt? Schade. Na ja, schön war's trotzdem! Nur viel zu kurz ... Ich wollte schon den Zündschlüssel drehen, da überraschten mich die Welpen. Drei kleine Köpfe spähten aus dem Gras in Richtung Wald, in welchen der Petrolgrüne gerade eintauchte. Wo war ihre Mutter? Seltsam. Die wird doch nicht ... Da, mit einem Riesensatz war sie wie aus dem Nichts plötzlich über ihnen. Knurrte sie an. Schimpfte sie. Wohl, weil sie ohne Erlaubnis die Deckung aufgegeben hatten? Die Familie setzte sich in Bewegung, trabte wieder ein paar Meter in die Wiese hinein. Doch die Welpen waren nun mal in Spiellaune, wollten balgen, nicht hinter Mama herlaufen. Die Fähe ließ sie gewähren, setzte sich und behielt konzentriert die Landstraße im Auge.
Im Seitenrückspiegel sah ich abermals Verkehr herannahen. Warum schon wieder, verdammt? Diese Straße lag doch oft stundenlang einsam da, ohne dass auch nur ein einziges Fahrzeug aufgetaucht wäre, und ausgerechnet jetzt ... Das darf doch wohl nicht wahr sein, schon wieder der Petrolgrüne! Jetzt kam er in umgekehrter Richtung, von hinten, auf uns zu und würde meine Füchse abermals vertreiben. Im Rückspiegel beobachtete ich ihn. Er wurde langsamer. Warum? Wollte der was von mir? Ich hatte keinen Bedarf für jedwede menschliche Ansprache, der sollte einfach vorbeifahren und mich in Ruhe mein Fuchs-Schauspiel genießen lassen. Ich unterdrückte den Impuls, einfach seitlich abzutauchen und unter dem Armaturenbrett in Deckung zu gehen. Der Petrolgrüne war leider bereits so nah, dass er die Bewegung gesehen hätte und dann erst recht neugierig geworden wäre. «Zieh dich doch einfach in dich selber zurück!», riet mein kleiner Schweizer. Gute Idee!
© 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Die kleinen Brandenburger Dörfer. Es gibt sie zuhauf. Die einen sind im Laufe der Jahrhunderte gewachsen und zieren sich heute mit Gebrauchtwagenhändlern, Garni-Hotels und Penny, Netto, Edeka oder sonstigen Lebensmittel-Verschleißstellen, die sich «Markt» nennen. Die anderen haben das Wachstum nicht geschafft und sind, weil Wirtschafts-Loser, Lebensqualität-Winner: eine Kirche, mehr oder weniger verfallen, eine Gaststätte, mehr oder weniger gut, ein Bürgerhaus, mehr oder weniger frequentiert, ein Denkmal für die Toten zweier Weltkriege, mehr oder weniger peinlich, und ein Laden mit mehr oder weniger Angebot und Nachfrage. Von diesen urtümlich gebliebenen Loser-Dörfern gibt es zum einen die Straßendörfer: Die Häuser und Höfe reihen sich entlang des Durchgangsverkehrs, durch großzügig dimensionierte Vorgärten gnädig von diesem distanziert. Und zum anderen gibt es die Pfuhlendörfer: Ihre Struktur erinnert, aus der Satellitenperspektive gesehen, an ein in der Landschaft liegendes Auge. Die dunkle Pupille bildet eben die dem Dorf seine Charakteristik aufprägende Pfuhle: ein Teich, auf welchem sich in früheren bäuerlichen Zeiten die Enten und Gänse der Dorfbewohner gemeinschaftlich getummelt haben. Die grüne Iris des Auges wird gebildet von einer Wiese, auf der sich heute genauso wie früher die Dorfbewohner selbst tummeln. Anlässlich von Dorf-, Feuerwehr und anderen Festen sowieso, klar, dann ist Dabeisein gern erfüllte Pflicht. Und im Alltag genießen sie den Anger, um dem Sommer zu frönen, ein Abendschwätzchen zu halten oder um zu sehen, ob sich nicht der eine oder andere Fisch aus dem Gewässer angeln ließe. Bäume und Büsche stehen in lockerer Formation auf dieser grünen Iris, und an ihrem äußeren Rande spendet fast immer eine riesige Friedenseiche entweder Schatten oder Schutz vor Regen, ganz nach Bedarf. Die Häuser des Dorfes gruppieren sich rund um den Anger und bilden so gewissermaßen das Weiß des Auges. Die Alleen entlang des Dorfes schließlich sind die Wimpern und Brauen, die weiten Felder hinter den Häusern prägen das Gesicht des weiten Landes.
Ein solches Pfuhlendorf, es sei Amerika genannt, soll hier Schauplatz sein für die Geschichten, die es zu erzählen gilt. Amerika ist nicht schöner als andere Dörfer, auch nicht hässlicher, aber es kann auftrumpfen mit einer Besonderheit, die es von allen anderen Pfuhlendörfern abhebt: Der Dorfanger Amerikas wird nämlich außer von ehrwürdigen riesigen Kastanienbäumen und der mächtigen Friedenseiche auch von einem Denkmal geziert. Ein Reiterdenkmal.
Millionen von Reiterdenkmälern auf der ganzen Welt erinnern an Tausende von verschiedenen Reitern: Mit martialisch historischer Kleidung ausstaffierte Helden, irgendwelche Völkerschlächter, die mit ihren Bluttaten in die an Bluttaten nicht gerade arme Geschichte der Menschheit eingegangen sind und nun in pathetischer Pose auf ihren Rössern thronen und ihre durch das Sterben zahlloser Untertanen gewonnene Unsterblichkeit prahlerisch symbolisieren.
Das Reiterdenkmal in Amerika weist eine erstaunliche Abweichung auf: Es ist ein Reiterdenkmal ohne Reiter. Lediglich ein sich ganz in der Manier von Reiterdenkmälern ungestüm aufbäumen des, kunstvoll modelliertes Bronzepferd auf einem Steinsockel. Der Popanz oben drauf wurde einfach weggelassen, jeder Betrachter kann im eigenen Geiste jeden beliebigen Helden auf den Pferderücken rücken. Sogar sich selbst.
Die wenigen Ausflügler aus der nahe gelegenen Metropole, die, gelenkt durch willkürlich eingetretene Irrtümer oder Zufälle, den Weg nach Amerika gefunden haben, lieben es, sich vor diesem Werk eines berühmten Bildhauers aus dem frühen 20. Jahrhundert gegenseitig zu fotografieren. Die Tollkühnen unter ihnen kraxeln für ihre Souvenirbilder sogar auf den rutschigen Bronzeleib des Pferdes und verklammern sich krampfhaft an dessen Hals, während sie Zähne zeigen, in der irrigen Meinung, ein Kameralächeln zu produzieren.
Wenn solche Besucher, nehmen wir mal an, nach Bronze- Pferde-Foto-Session, Umwanderung der Pfuhle und Betrachtung eines gewissen Hauses gegenüber dem Denkmal, dessen Fassade eine seltsame Kranke-Hunde-Kack-Farbe aufweist, wenn also solche Besucher nach solchen Verlustierungen angenommenerweise Hunger oder Durst verspüren würden und sie sähen sich um, wo man denn in diesem Amerika etwas käuflich erwerben könne, um es dem lechzenden Organismus zuzuführen, dann würden sie unweigerlich hinter den Kastanien am Rande des Angers ein großes Haus erkennen, daran eine grob gezimmerte Holzterrasse, fünf Stufen hoch, mit einem Geländer rundherum, ähnlich den Veranden in den alten Schwarz-Weiß-Wildwestfilmen. Sie würden, sich der Terrasse nähernd, ein Fenster erkennen, eine kleine Auslage mit allerhand Waren, einen Bild-Zeitungs-Werbereiter neben der Eingangstür mit den Blümchenglasscheiben. Sowie ein blechernes Schild, auf dem Industrie-Speiseeis angepriesen würde. Sie würden einander zurufen: «Ach, da ist ein Laden, lass mal gucken!» Und wenn sie dies sehr genau in die Tat umsetzen würden, das Gucken, was wir hiermit annehmen, hätten sie die Chance, am oberen Balken des Ladeneingangs eine fast verblasste Schrift entziffern zu können, die in altmodischen Buchstaben verkündet: «Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht.»
Es darf des Weiteren angenommen werden, die Besucher kämen just zu der Zeit, wo der Laden gerade offen hätte, also zur Öffnungszeit, und auf der Terrasse stünden drei Amerikaner, teils locker an die Hauswand gelehnt, teils sich mit den Ellenbogen schwer auf das Geländer stützend. Und die drei würden in jener vertrauten Gemeinsamkeit, die nur zwischen Menschen entsteht, die sich sehr, sehr lange kennen und viele, viele gute und schlimme Zeiten miteinander überstanden haben, als Nachbarn in diesem Amerika, wo jeder jeden kennt, weil es nur zweihundert Seelen zählt, in dieser Vertrautheit also würden die drei Ur-Amerikaner ihr Feierabend- Bierchen zischen, direkt aus den Flaschen.
Es ist durchaus möglich, dass es genau so wäre, wenn, wie gesagt, die Besucher just zu jener rechten Zeit kämen, in der es eben wirklich so wäre, wie wir ja eigentlich soeben nur angenommen haben. In diesem Falle würden die Besucher, um in den Laden zu gelangen, zu den dreien auf die Terrasse steigen müssen, und dabei könnten sie nicht umhin zu bemerken, dass diesem einen da, also dem mit der gedrungenen Figur und dem roten Bluthochdruck-Gesicht, dass diesem einen schneeweißes dünnes Babyflaumhaar um sein beeindruckendes Haupt mäandern würde, sich in alle Himmelsrichtungen immer wieder neu formierend, je nach Windhauch oder Kopfbewegung, wie das Gespinst von mystischen Seidenraupen.
«Ach, wat seid ihr denn für welche? Buletten, wa?», würde er mit schrill-lauter Stimme die Besucher willkommen heißen, worauf diese verdutzt verharren würden, nicht wissend, ob dies ein Scherz oder eine Beleidigung gewesen sei, und ehe sie zu einem Schluss kommen könnten, würde der Rotköpfige lauthals zu dem neben ihm stehenden Hünen, an dem alles rund wäre, runder Körper, rundes Gesicht mit runden Wangen und runden Äuglein, sogar die Ohren würden irgendwie rund wirken, zu diesem Riesen also würde der Rotköpfige rüberquäken: «Was sagt man denn dazu, Teddy, wa? Kommen hier angeschlurft und sagen keinen Ton, wa, nicht guten Abend, nicht wer sie sind, gar nichts, wa, Teddy?»
Worauf der Riese ein verlegen-gutmütiges Lächeln zu den Besuchern schicken und an den Rotgesichtigen gewandt sagen würde: «Mensch, Krüpki, nu lass doch man jut sein. Was tust du denn immer alle anbrüllen, als wie ob es deine Gäule sind?» Der, den Teddy gerade Krüpki genannt hätte, würde sich empört an die Besucher wenden, mit seinen dicken Fingern zuerst den weißen Babyflaum auf seinem Kopf mit einer Streichbewegung zu ordnen versuchen und dann auf Teddy deuten: «Was sagt man denn dazu, fällt mir der Große voll in 'n Rücken, wa? Dabei wollt ich euch Buletten nur ein wenig Zivilisation beibringen, wa? Scheint ja bei euch in der Stadt völlig in die Binsen gegangen zu sein! Bei uns macht man nämlich die Fresse auf, pardon, den Mund, wenn man wo dazu kommt. Und ich sag euch auch gerne den Text vor, falls ihr ihn nicht kennt: ‹Guten Abend›, ist so 'ne Variante, die hier in Amerika gerne genommen wird, wa, Teddy?» Krüpki würde einatmen und gespannt auf die Reaktion der Besucher warten, die, vor lauter Angst, er könnte gleich wieder loslegen, da er seine Lungen ja schon vorsorglich bestens gefüllt hatte, versuchen würden, mit eingezogenen Köpfen an den Männern vorbei in den Laden zu fliehen. Dies könnten sie aber nur, indem sie sich in eine für Städter erschreckend intime Nähe begeben müssten zu einem neben der Blümchenglastür an der Wand lehnenden dritten Amerikaner. Der Plan, grußlos, mit lebenslang in städtischer Anonymität eingeübter Nonchalance einfach an ihm vorbei in den Laden zu wischen, der ginge nicht auf, das würden die Fremden in brutaler Klarheit erkennen, denn dieser Mann mit den schweren Schuhen und dem grauen Arbeitskittel würde sie mit wachen Koboldaugen unter seinem schmalkrempigen schwarzen Lederhütchen hervor prüfend mustern, und in seinem braun gebrannten, furchigen Gesicht würde sich ein wissendes Grinsen breitmachen. Also würden die Besucher im Vorbeiwischen das tun, was für viele Metropolisten derart undenkbar ist, dass sie es lieber erst gar nicht wagen, nach Brandenburg hinauszufahren, sie würden nämlich zwischenmenschlichen Kontakt aufnehmen mit einem Brandenburger! In diesem Falle sogar mit einem Amerikaner, indem sie sein Grinsen mit einem unsicheren Lächeln quittieren und sagen, nein, eher murmeln würden: «Guten Tag.»
«Tach och», würde der Mann mit dem Hütchen erwidern
Krüpki würde schreien: «Na, geht doch!»
Teddy würde bemerken: «Dir tun se grüßen, Müsebeck, weil de von uns der Einzigste bist, der wo ein Hut aufhat.»
Der als Müsebeck Angesprochene mit dem Lederhütchen aber würde darauf nicht weiter eingehen, sondern ein wenig, aber wirklich nur ein wenig von der Tür abrückend die Besucher an sich vorbeiziehen lassen, in den Laden hinein. Und indem diese die Ladentür von innen wieder zuzögen, würden sie noch sehen, wie Müsebeck lässig mit dem Finger an sein Hütchen tippte und dann weg wäre hinter dem ins Schloss fallenden Blümchenglas. In die undefinierbar duftende, schummrig-halbdunkle Atmosphäre des Ladens eingetaucht, würden die Besucher sofort bemerken, dass dies kein Geschäft ist, das man einfach so betritt - wie einen Supermarkt. Sie würden spüren, dies ist ein eigenes Universum, das sich über Jahrzehnte aus dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage herauskristallisiert hat. Und sie würden auch die alles bestimmende Göttin dieses Universums erblicken, welche links neben dem Eingang hinter einem Resopalwändchen thronte, neben einer altertümlichen Registrierkasse, die in ihrem dunkelgrünen Bakelitpanzer an eine lauernde Kröte erinnern würde. Die Ladenbesitzerin selbst wäre in eine dieser fleckneutral gemusterten, fleckabweisenden Kleiderschürzen gehüllt, die wohl irgendein Frauenhasser in den siebziger Jahren erfunden hat. Im scharfen Kontrast zur Kittelschürze und dem leicht indignierten Blick, weil da schon wieder Kundschaft die Ruhe des Ladens stört, würde sich auf dem Kopf der Frau ein beeindruckendes Frisurgebilde türmen in grellem Hellblond.
«Gu-ten Taaaag», würde die Frau sagen, ihren millionenfach wiederholten Gruß fast singend, und die Besucher würden ebenfalls «Guten Tag» sagen, ahnend, dass es nicht gewiss war, ob dieser «Taaaag» wirklich gut würde. Und weil die Ladenfrau nichts weiter fragen, sondern nur stumm die Besucher angucken würde, und zwar so, wie nur jemand guckt, der sogar in einen Atomblitz sehen kann, ohne Schaden zu nehmen, weil also von der Ladenfrau keine weitere Kommunikation angeboten würde, wären die Besucher gezwungen zu sagen, sie hätten Hunger und Durst. Und nachdem die Ladenfrau diese Aussage ohne die geringste Reaktion zur Kenntnis genommen hätte, würden sie des Weiteren gezwungen sein zu fragen, was es denn so gäbe. Woraufhin die Frau mit ihrer Hand, an welcher grellrot, ja fast orange lackierte Fingernägel in der diffus neonbeleuchteten Düsternis des Ladens aufblitzen würden, mit großer Geste über das Sortiment deuten würde. Ein Sortiment, das typisch wäre für Läden, wie man sie früher, im Westen, als Tante-Emma-Läden bezeichnet hat, und die im Osten noch immer Konsum heißen, mit Betonung auf dem «o». Und die Frau würde sagen: «Was Sie brauchen, hab ich. Sogar Frischmilch.»
Und nach einer längeren Weile würden die Besucher, leicht enttäuscht, dass das Angebot des Ladens nicht ganz den Gourmetabteilungen der Metropolen-Warenhäuser entspricht, wieder auf die Terrasse treten, mit vollen Plaste-Einkaufstüten. Sie würden an Müsebeck, Teddy und Krüpki vorbeitrippeln, würden ein erleichtertes «Tschühüs» flöten, und Krüpki würde fragen: «Na, habt ihr alles?» Müsebeck würde nur wissend grinsen, und Teddy würde brummen: «Haut rinn.» Die Besucher aber würden recht rasch die Stufen von der Terrasse hinabsteigen, sich, unten angekommen, halb zu Teddy umdrehen und «Danke» sagen, vielleicht würden sie sogar, jetzt, wo sie die Begegnung mit echten Amerikanern unbeschadet überstanden hatten, ein Lächeln zustande bekommen, bevor sie zielstrebig, am Reiterdenkmal vorbei, zum Rand der Pfuhle strebten, wo sie in der Wiese sitzend, ihre Beute auspacken und ein Picknick im Grünen veranstalten würden.
Auf der Terrasse zurückgeblieben, würden die drei Amerikaner ihre Flaschen leeren, sich hernach anblicken und fragen «Na?», worauf alle drei einander zunicken würden, und Teddy würde die Blümchenglastür halb öffnen und hineinrufen: «Noch drei, Frau Widdel!» Die als «Frau Widdel» angerufene Ladenfrau würde mit drei Flaschen Bier erscheinen und bei jedem der Männer eine volle gegen eine leere Pulle eintauschen. Und bevor ihr blond-blonder Schopf wieder im Dunkel hinter der Eingangstür verschwände, würde sie sich umdrehen und mehr pro forma als fragend sagen: «Anschreiben?» Worauf der Große mit dem runden Gesicht, Teddy, erwidern würde: «Wat denn sonst?», und der mit dem weißen Flaum auf dem Kopf würde fragen: «Was sagt man denn dazu?» Frau Widdel aber würde dazu nichts sagen und Krüpki nur angucken, woraufhin dieser verstummen würde. Dann würde sie in die Weiten des Brandenburger Himmels schauen und nach oben fragen «Wer?», worauf Müsebeck sagen würde: «Uff Krüpki», und Teddy sagen würde: «Uff Müsebeck», und Krüpki sagen würde: «Uff Teddy», worauf Frau Widdel nicht lachen würde, sondern nur abwinken und zusammenfassen: «Zweie uff jeden.» Und bevor sie die Tür von innen zumachen würde, streckte sie noch einmal ihre blonde Haarpracht durch den Spalt und sagt: «Hier ist Feierabend, Jungs. Dass ihr mir dann die leeren Flaschen ordentlich aufs Fensterbrett stellt.» Und grußlos verschwände Frau Widdels Kopf endgültig, und die drei könnten deutlich hören, wie sie energisch von innen das Türschloss verriegelte.
Vielleicht würden die drei Männer noch eine Weile auf Frau Widdels Terrasse stehen und leicht von oben herab einfach nur so hineinblicken in dieses Amerika, vielleicht würden sie aber auch fachsimpeln über Krüpkis Pferde oder über die Schafe der Frau im Kranke-Hunde-Kack-farbenen Haus, die Teddy ihr zu versorgen half, vielleicht würden sie auch darüber reden, dass es bei den sinkenden Getreide- und den steigenden Bodenpreisen für Müsebeck nicht leichter werden wird, seinen landwirtschaftlichen Familienbetrieb in den schwarzen Zahlen zu halten. Vielleicht wären die drei aber auch noch auf ein Schwätzchen an die Pfuhle gegangen und hätten die Besucher mal näher in Augenschein genommen, wären womöglich sogar mit ihnen ins Gespräch gekommen und die Besucher wären spät nachts erst nach Berlin zurückgefahren und hätten einander gesagt: «Gar nicht so schlimm, in Brandenburg ...»
Wer kann schon sagen, wie es wirklich gewesen wäre? Möglich ist vieles in Amerika ...
Erscheinung
Wenn man mit dem Auto - von Schmachthagen her kommend - die Bundestraße Richtung Amerika verlassen, rumpelnd die stillgelegten Bahngleise überwunden und die kleinen Datschen links und rechts der Landstraße hinter sich gelassen hat, taucht man in einen Wald ein. Er bildet die Trennlinie, die Pufferzone zwischen zwei Welten: der Welt draußen, Hektik, Verkehr, Termine, Job, Sitzungen, Studios, Briefings, Hotels, Flugzeuge, Bahnfahrten. Und der Welt drinnen: Amerika. Etwas langsamer, etwas weniger oberflächlich, etwas intimer. Etwas relevanter.
Ich liebe diese Schlussetappe jeder Heimfahrt. Liebe den Moment des Auftauchens aus diesem Wald, wenn sich nach der letzten sanften Kurve unter Bäumen das Windschutzscheiben-Panorama öffnet, eine schnurgerade, von weiten Wiesen und Feldern gesäumte Straße präsentiert und wenn in der Ferne, fast am Horizont, die ersten Häuschen Amerikas sichtbar werden.
Tausendmal erlebt, tausendmal geliebt.
An diesem Tag herrschte Postkartenwetter. Majestätisch zogen weiße Wattegebirge über den tiefblauen Himmel, die mit Wildblumen gesprenkelten Wiesen präsentierten sich in sattem Grün, ein lauer Wind raschelte in den Blättern der Bäume. Es war einer dieser Frühsommertage, wie wir sie in Kinderbilderbüchern über das «Leben auf dem Lande» immer wieder illustriert sehen.
Als ich den Wald hinter mir gelassen hatte, nahm ich den Fuß vom Gaspedal und lies den Jeep im Leerlauf ausrollen. Ich wollte die Freude dieses Nachhausekommens ausdehnen, mein inneres Tempo der Städte drosseln und in den ruhigeren Rhythmus Amerikas wechseln. Ich schaltete noch im Rollen den Motor aus und ließ sämtliche Scheiben runter. Wiesenduft flutete in meine Blechzelle. Ich überließ es dem Zufall - oder den physikalischen Gesetzen von Tempo, Trägheit und Rollwiderstand - , jene Stelle des Weges zu bestimmen, an der mein Fahrzeug zum Stehen kommen würde. Gemächlich rollte der Wagen aus: Mofa-Tempo - Fahrradtempo - Lauftempo - Schritttempo - Stillstand.
Ich regte mich nicht. Ließ das seltene Gefühl der Tatenlosigkeit auf mich wirken. Nichts tun. Nichts denken. Nichts müssen. Nichts wollen, als einfach nur da sein und schnaufen. An diesem winzigen, vom Zufall bestimmten Punkt im Universum.
Friede.
In den Augenwinkeln registrierte ich zu meiner Linken eine kurze Bewegung in der Wiese. Ich wandte den Blick dorthin. Nichts. Nachwehen der Stadthektik?, dachte ich. Drehte den Kopf wieder nach vorn Richtung Amerika. Schloss halb die Augen. Da, wieder. Da war doch etwas. Doch ich sah nur Gras, die wellenförmige Bewegung des Windes im den schimmernden Halmen. Aber doch: dort! Etwa dreißig Meter entfernt. Ein Kopf tauchte auf, die spitzen Dreiecke zweier Ohren, ein rostbraun-pelziges Gesicht mit dunklen Augen, eine weiße Schnauze. Ein Fuchs! Konzentriert äugte er zu mir herüber. Wie gut sieht ein Fuchs?, fragte ich mich. Erkennt er nur die weiße Fläche des Autos oder registriert er, dass ein Wesen darin sitzt? Bestimmt sieht er mein Gesicht. Ich bereute, die getönte Scheibe heruntergelassen zu haben. Sieht er scharf genug, meine Pupillen erkennen zu können? Weiß er, dass mein Blick auf ihn gerichtet ist? Spürt er es nur, instinktiv?
Ich verharrte, bewegte mich keinen Millimeter. Er auch nicht. Nach gefühlten Minuten entschied er: Keine Gefahr, bloß eines dieser Blechdinger, die das Asphaltband niemals verlassen. Der Fuchs wandte sich ab, schnürte ein paar Meter in meine Richtung. Und jetzt - jetzt war er plötzlich in putziger Gesellschaft. Drei Fellknäuel von etwas blasserem Rostrot wurden sichtbar. Offenbar hatten sich die Welpen in eine Bodenwelle geduckt und kamen jetzt, vielleicht auf ein geheimes Zeichen hin, einer Entwarnung ihrer Mutter, hinter ihr her. Noch nie hatte ich eine Füchsin mit Welpen in freier Natur beobachten können. Und nun präsentierte sich mir diese Familie wie ein Geschenk. Wäre ich vorhin nur eine Sekunde früher oder später vom Gas gegangen, hätte ich abgebremst, statt das Fahrzeug ausrollen zu lassen, ich wäre an einer anderen Stelle zum Stehen gekommen und die Fuchsfamilie wäre mir verborgen geblieben. Zufall? Fügung? Fügung, klar!, entschied ich. Etwas hatte bestimmt, dass mir dieses Schauspiel geboten werden soll, da war ich mir seltsam sicher. Ich wurde von einem diffusen Gefühl erfasst, das vielleicht gläubige Menschen in Gotteshäusern empfinden: Mir wurde andächtig. Und da legte Mutter Natur in ihrer Fuchs- Family-Show noch ein Bonus-Programm obendrauf: Die Füchsin legte sich ins Gras, die Jungen gruppierten sich um sie, und ein tapsig-drolliges Fangspiel begann. Eine wilde Jagd um die Fähe herum. Die Welpen duckten sich hinter ihre Mutter, überfielen die Geschwister aus diesem Hinterhalt mit kühnen, wenngleich noch ungeschickten Sprüngen, rannten einander hinterher, balgten sich kurz und versteckten sich wieder hinter Mama, damit das Spiel von Neuem beginnen konnte. Mein andächtiges Gefühl wandelte sich in das Glück eines reich Beschenkten.
Aber leider war ich nicht allein auf der Welt mit «meinen» Füchschen. Von vorn sah ich schon das unweigerliche Ende des seltenen Schauspiels heranbrausen. In hohem Tempo näherte sich vom Dorf her ein petrolgrüner Geländewagen. Schon kreuzte er mich penetrant nah, Wuschhhh, der Luftzug ließ den Jeep kurz zu Seite wippen.
Die Füchse waren weg. Klar. Warum musste der auch so rasen, verdammt? Schade. Na ja, schön war's trotzdem! Nur viel zu kurz ... Ich wollte schon den Zündschlüssel drehen, da überraschten mich die Welpen. Drei kleine Köpfe spähten aus dem Gras in Richtung Wald, in welchen der Petrolgrüne gerade eintauchte. Wo war ihre Mutter? Seltsam. Die wird doch nicht ... Da, mit einem Riesensatz war sie wie aus dem Nichts plötzlich über ihnen. Knurrte sie an. Schimpfte sie. Wohl, weil sie ohne Erlaubnis die Deckung aufgegeben hatten? Die Familie setzte sich in Bewegung, trabte wieder ein paar Meter in die Wiese hinein. Doch die Welpen waren nun mal in Spiellaune, wollten balgen, nicht hinter Mama herlaufen. Die Fähe ließ sie gewähren, setzte sich und behielt konzentriert die Landstraße im Auge.
Im Seitenrückspiegel sah ich abermals Verkehr herannahen. Warum schon wieder, verdammt? Diese Straße lag doch oft stundenlang einsam da, ohne dass auch nur ein einziges Fahrzeug aufgetaucht wäre, und ausgerechnet jetzt ... Das darf doch wohl nicht wahr sein, schon wieder der Petrolgrüne! Jetzt kam er in umgekehrter Richtung, von hinten, auf uns zu und würde meine Füchse abermals vertreiben. Im Rückspiegel beobachtete ich ihn. Er wurde langsamer. Warum? Wollte der was von mir? Ich hatte keinen Bedarf für jedwede menschliche Ansprache, der sollte einfach vorbeifahren und mich in Ruhe mein Fuchs-Schauspiel genießen lassen. Ich unterdrückte den Impuls, einfach seitlich abzutauchen und unter dem Armaturenbrett in Deckung zu gehen. Der Petrolgrüne war leider bereits so nah, dass er die Bewegung gesehen hätte und dann erst recht neugierig geworden wäre. «Zieh dich doch einfach in dich selber zurück!», riet mein kleiner Schweizer. Gute Idee!
© 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
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Autoren-Porträt von Dieter Moor
Dieter Moor, 1958 in Zürich geboren, ist Schauspieler und Moderator. Anfang der 90er Jahre moderierte er das preisgekrönte Medienmagazin "Canale Grande" auf VOX. Nach verschiedenen Stationen beim deutschen und eigenen Talkshows im österreichischen und Schweizer Fernsehen präsentiert Dieter Moor seit 2007 das ARD-Kulturmagazin "Titel, Thesen, Temperamente". Gemeinsam mit seiner Frau Sonja betreibt er in der Nähe von Berlin einen Demeter-Bauernhof.
Autoren-Interview mit Dieter Moor
Es ist 11 Uhr und Sie sind gerade in Hirschfelde, dem Dorf, das Sie im Buch „Amerika" nennen. Wie sah Ihr Morgen bisher aus?Dieter Moor: Aufstehen, gemütlich Kaffee trinken, den jungen Katzen zugucken, wie sie die Welt erobern. Dann auf die Weide fahren, schauen, ob es den Kühen gut geht - mit vier Litern warmer Milch, weil ein kleiner Stier noch ein bisschen was dazukriegen muss. Die Flasche geben, weiter Kühe gucken, spazieren gehen, zurückfahren und frühstücken.
Sie sind ein bekannter TV-Moderator und waren einmal Stadtmensch, lebten u. a. in Zürich und Wien. Vor zehn Jahren zogen Sie mit Ihrer Frau Sonja nach Brandenburg, betreiben dort seitdem einen Demeter-Bauernhof. Wie kam es zu dieser Entscheidung für das Land, für Brandenburg?
Dieter Moor: Die Kurzfassung ist, wir hatten schon in der Schweiz einen Bauernhof gemietet, aber nur ganz wenig Land dabei. Da haben wir, wie vor 100 Jahren, ein bisschen Heu gemacht für Esel und Pferd, am Steilhang per Hand - da wissen Sie, was Arbeit ist ... Und als die Entscheidung fiel, die Schweiz zu verlassen und in die Nähe von Berlin zu ziehen, war es zugleich eine Entscheidung, aufs Land zu ziehen. Wir hatten da ja schon die Esel und Hunde und Enten und Katzen. Und da Berlin von Brandenburg umzingelt ist, wurde es eben Brandenburg. Meine Frau hat fast ein Jahr gesucht, bis wir ein geeignetes Objekt fanden, das auch nahe genug an der Stadt ist, dass ich Termine vernünftig wahrnehmen kann, und dann war klar, dass wir da keinen Idyllebauernhof wollen, sondern versuchen wollen, nach Demeter-Richtlinien Tiere zu züchten. Und seither ist das stetig im Aufbau und wächst und gedeiht und tut und macht.
Ihre Bücher sind Bestseller - was kommt als Leser-Feedback bei Ihnen an?
Dieter Moor: Ich hab fast nur positives Feedback. Vor allem freut mich das Feedback aus Brandenburg. Wenn
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ich Lesungen habe in der Gegend, bin ich immer etwas aufgeregter ... weil hier gilt es ja gewissermaßen. Und die Brandenburger sagen: Ja, genauso sind wir. Die sehen, erkennen sich wieder in den Figuren. Fast noch mehr freut mich die Reaktion von Leuten, die Brandenburg nicht kennen. Die sagen: Da muss ich mal hinfahren, das muss ich mir angucken. Das kommt auch von vielen Berlinern, die Brandenburg noch nicht entdeckt haben ...
Der Titel des aktuellen Buches lautet „Lieber einmal mehr als mehrmals weniger". Könnten Sie mit einer „Übersetzung"/Erklärung aushelfen?
Dieter Moor: Eine Übersetzung in dem Sinn gibt es nicht. Ich habe nach einem Titel gesucht, der klingt, als mache er sofort Sinn, aber dann merkt man, dass das doch nicht ganz so ist und fängt an, darüber nachzudenken. „Lieber einmal mehr als mehrmals weniger" gefällt mir gut, weil es auch sozusagen eine Antwort auf die große Frage ist, wie soll man sich ernähren, was soll man essen. Ich habe tatsächlich diese Philosophie, dass ich sage, bevor ich viermal, sagen wir, eine „schlechte" Wurst - im Sinne von industriell erzeugt - kaufe, verzichte ich lieber dreimal und esse einmal eine richtig gute Wurst. Eben: lieber einmal mehr als mehrmals weniger ...
Wie hat sich Ihre Art zu kochen, zu essen, einzukaufen während der zehn Jahre als Biobauer verändert?
Dieter Moor: Total natürlich, das hätte ich auch nicht geglaubt. Vorher dachte ich über den Bioboom eher, na ja, das ist ein bisschen Schickimicki und ob ich jetzt Bio kaufe oder nicht - Bio macht keinen großen Unterschied. Heute ist das komplett anders. Wir geben uns einfach Mühe, und wir schlachten auch selber. Unsere Tiere sterben direkt auf der Weide durch einen Kugelschuss, transportiert wird also nur noch der Schlachtkörper. Zu mir sagen dann viele Leute: „Wie könnt Ihr Tiere essen, die Ihr kennt und denen Ihr einen Namen gegeben habt? Wenn du das Stück Fleisch isst, weißt du, das war jetzt z. B. der Primus ..." Für mich ist diese Art der Wahrnehmung verschoben. Weil das Stück Fleisch auf meinem Teller ist natürlich nicht Primus, sondern das, was er zurückließ, er selbst - der ist ja längst im Kuhhimmel. Mir geht es so, dass ich mittlerweile immer mehr Schwierigkeiten damit habe, Fleisch von Tieren zu essen, die ich nicht kenne. Das hat sich bei mir völlig umgedreht. Das Fleisch, das wir luxuriöserweise selber herstellen und zu einem kleinen Teil auch selber essen, zu dem weiß ich die Geschichte. Ich habe also ein Gefühl dazu, ich esse ein Stück dieser Geschichte mit. Wenn ich im Restaurant Fleisch esse, dann muss ich mich schon sehr disziplinieren, um mir nicht vorzustellen, wie dieses Tier möglicherweise gelebt hat und zu Tode kam.
Haben Sie das Gefühl, dass sich bei den Verbrauchern da etwas verändert, sich das Einkaufsverhalten verändert, die Menschen bewusster Bio kaufen?
Dieter Moor: Total! Vor Kurzem war in der FAZ eine Untersuchung, die eine der Industrie nahestehende Stiftung durchgeführt hat. Und die Frage an „das Volk" - es wurden rund 12.000 Menschen hier in Deutschland befragt: „Wie kann man das Problem des Welthungers lösen?" Und zum Ärger der Industrie sagt das deutsche Volk, das sehr viel klüger ist, als man allgemein annimmt: „Wir brauchen politische Veränderungen. Wir brauchen andere Zölle, einen faireren Welthandel, Fairtrade, keine Felder für Energiegewinnung. Ökolandwirtschaft, die auch noch in 200 Jahren noch Erträge bringt und nicht das Land in zehn Jahren ruiniert hat ..." Die Menschen wissen genau, dass es um etwas Langfristiges geht und um ein Miteinander mit der Natur und den Menschen geht und nicht um Ausbeutung. Es geht nur mit Biomethoden und nicht mit den industriellen Methoden - sonst können wir die Welt vielleicht noch 50 Jahre ernähren - aber dann ist Ende des Lateins. Und genau das wissen die Leute - und es war wirklich toll, das auch zu lesen.
Der Artikel war übrigens negativ geschrieben, also in der Art „das dumme Volk, das keine Ahnung hat" - aber es ist natürlich das kluge Volk, das mehr Ahnung hat, als der Industrie lieb ist. Also: es hat sich viel verändert.
Die brandenburgische Landschaft ist wunderschön, doch über das Land kursieren ziemlich verdrießliche Klischees. Ob „überall Neonazis" oder „Landstrich der Verlierer" - was ist wirklich los in Brandenburg und warum haben Sie Ihr Herz an die Region verloren?
Dieter Moor: Bevor wir herzogen, hörten wir auch von diesem Image, die viele Arbeitslosigkeit und dass „der Ossi" an sich dazu neigt, nach Papa Staat zu rufen und selber keine Initiative hätte. Und dann kamen wir hierher und haben das Gegenteil festgestellt, alleine wie sich unser Dorf verändert hat in den letzten zehn Jahren, ist unglaublich. Mittlerweile schäme ich mich fast für unsere „kranke hundekackfarbene" Fassade, weil um uns herum die Häuser so verschönert worden sind. Wir haben z. B. im Freundeskreis Menschen, die vor 10 Jahren noch Hartz-IV-Empfänger waren und jetzt kleine Unternehmen gegründet haben und Arbeitgeber geworden sind. Es gibt unglaublich viel Eigenverantwortung und Initiative und vor allem diese preußisch-pragmatische Einstellung „Es ist wie es ist und wir müssen jetzt das Beste daraus machen" - die ist hier voll da. Ich kann also die Klischees über die Opferrolle und das Schreien nach dem Staat überhaupt nicht bestätigen und dieses falsche Klischee hat mich auch sehr geärgert. Und wunderbarerweise fiel mein Ärger auf fruchtbaren Boden und der Rowohlt Verlag hat mich gebeten, das doch aufzuschreiben.
Ihre herrlichen Figuren im Buch sind Kunstfiguren. Es gibt also keinen echten Krüpki?
Dieter Moor: Ja, die Figuren sind Kunstfiguren und sie haben sich mittlerweile wirklich verselbstständigt. Im ersten Buch kann man ansatzweise vielleicht noch vermuten, dass z. B. Krüpki eine halbwegs reale Figur ist. Gerade bei ihm gibt es drei Dorfbewohner, die denken, sie seien das. Da sich Krüpki nun im zweiten Buch weiterentwickelt hat, gibt es jetzt wahrscheinlich niemanden mehr, der glaubt, er sei es. Es sind Kunstfiguren, aber sie sind schon brandenburgisch inspiriert - deshalb freut mich auch dieses positive Feedback aus Brandenburg so.
Menschen an sich sind immer schräg, je genauer man sie beschreibt. Doch in „Lieber einmal mehr als mehrmals weniger" gibt es so viele „schräge" Figuren, dass es scheint, als ob man sich auf dem Land besser ausleben könnte. Haben dort auch nicht so ganz kompatible Naturen mehr Chancen?
Dieter Moor: Ja, man nimmt hier die Leute, wie sie sind. Auf dem Land oder in kleinen Strukturen braucht man eine wesentlich höhere Toleranzschwelle für das „Andersartigsein". In der Stadt - das hab ich ja in meinen 13 Jahren, in denen ich in Wien gelebt habe, selber erlebt - kann man sich sein soziales Umfeld praktisch wie im Supermarkt aussuchen. Man kann sich bedienen. Man kann theoretisch in der Stadt sagen, ich will jetzt nur noch mit gleichaltrigen Schauspielern zu tun haben und hat dann trotzdem einen großen Bekanntenkreis aus Schauspielern - oder alternativ Journalisten oder Galeristen. Auf dem Dorf geht das natürlich nicht. Da sind die da, die da sind - und mit denen muss man umgehen. Und der eine ist Lokführer und der andere ist Bauer und der Dritte ist Versicherungsmakler, und die haben verschiedene politische Ansichten und Rezepte, wie ein wertvolles Leben gelebt werden muss. Und natürlich sind die einem manchmal fremd und man denkt sich „das ist aber jetzt ganz anders, als ich das sehe" und trotzdem sind die da. Man muss offener sein und neugieriger sein für das Andere. Und genau deshalb wird das Andersartige hier als weniger gefährlich empfunden, hat darum auch Platz.
Der Hürlimann spielt in Ihrem neuen Buch „Lieber einmal mehr als mehrmals weniger" eine große Rolle. Für alle, die es nicht wissen sollten: Könnten Sie kurz erklären, was ein Hürlimann ist und natürlich, was das Besondere an so einem Hürlimann ist ...
Dieter Moor: Das Besondere an einem Hürlimann ist, dass ich schon als kleiner Bub davon träumte, so einen zu haben. Meine Tante hat ein Haus im Appenzeller Land und der Nachbarbauer hatte als junger Bauer einen Hürlimann gekauft. Und er gab deswegen ein Hoffest und ich sah diesen wunderschönen rotglänzenden, chromverzierten Traktor und war verzaubert. In der Schweiz gibt es einen Spruch; wenn etwas sehr gut läuft oder funktioniert, dann sagte man: Es läuft wie ein Hürlimann. Der Hürlimann ist außerordentlich zuverlässig und die Firma bekam deswegen tatsächlich Schwierigkeiten, weil ein Hürlimann eben ewig hält. Und als ich in Brandenburg lebte und ein Traktor her musste, da war für mich klar: Der muss es sein.
Ihre Frau Sonja Moor führt den Hof, Sie sind viel unterwegs. Was machen Sie in der Regel als Erstes, wenn Sie Zuhause ankommen?
Dieter Moor: Mein ideales Bestreben ist erstmal eine halbe Stund oder eine Stunde das Nichts. Einfach nur dazusitzen, mit meiner Frau plaudern und einen Kaffee trinken. Das ist wunderbar. Dann bin ich angekommen.
Sie schaffen es, Ihre privaten Geschichten so zu erzählen, dass man definitiv kein Dieter-und-Sonja-Moor-Fan sein muss, um Spaß an dem Buch zu haben. Wie bekommen Sie diese Balance in Ihre Texte, wie viel Textarbeit steckt dahinter?
Dieter Moor: Ich kann dafür nix. Ich kann nicht anders schreiben, als ich schreibe. Es ist Zufall, dass es funktioniert und es offenbar meine Leser freut. Es könnte aber auch genauso gut nicht funktionieren. Ich bin ja kein Profischreiber und halte mich auch nicht für einen Schriftsteller.
Ihre Nochlandsleute, die Schweizer, haben ja auf Ihre Ankündigung, Deutscher zu werden, ziemlich beleidigt reagiert ...
Dieter Moor: Wenn man was gegen die Schweizer sagt, ist man ein Nestbeschmutzer. Das ist ein normaler Reflex in der Schweiz, weil die Schweiz ist ja herrlich und darf nicht angegriffen werden. Aber mir macht das ja nix ...
Interview: Ulrike Bauer, Literaturtest
Der Titel des aktuellen Buches lautet „Lieber einmal mehr als mehrmals weniger". Könnten Sie mit einer „Übersetzung"/Erklärung aushelfen?
Dieter Moor: Eine Übersetzung in dem Sinn gibt es nicht. Ich habe nach einem Titel gesucht, der klingt, als mache er sofort Sinn, aber dann merkt man, dass das doch nicht ganz so ist und fängt an, darüber nachzudenken. „Lieber einmal mehr als mehrmals weniger" gefällt mir gut, weil es auch sozusagen eine Antwort auf die große Frage ist, wie soll man sich ernähren, was soll man essen. Ich habe tatsächlich diese Philosophie, dass ich sage, bevor ich viermal, sagen wir, eine „schlechte" Wurst - im Sinne von industriell erzeugt - kaufe, verzichte ich lieber dreimal und esse einmal eine richtig gute Wurst. Eben: lieber einmal mehr als mehrmals weniger ...
Wie hat sich Ihre Art zu kochen, zu essen, einzukaufen während der zehn Jahre als Biobauer verändert?
Dieter Moor: Total natürlich, das hätte ich auch nicht geglaubt. Vorher dachte ich über den Bioboom eher, na ja, das ist ein bisschen Schickimicki und ob ich jetzt Bio kaufe oder nicht - Bio macht keinen großen Unterschied. Heute ist das komplett anders. Wir geben uns einfach Mühe, und wir schlachten auch selber. Unsere Tiere sterben direkt auf der Weide durch einen Kugelschuss, transportiert wird also nur noch der Schlachtkörper. Zu mir sagen dann viele Leute: „Wie könnt Ihr Tiere essen, die Ihr kennt und denen Ihr einen Namen gegeben habt? Wenn du das Stück Fleisch isst, weißt du, das war jetzt z. B. der Primus ..." Für mich ist diese Art der Wahrnehmung verschoben. Weil das Stück Fleisch auf meinem Teller ist natürlich nicht Primus, sondern das, was er zurückließ, er selbst - der ist ja längst im Kuhhimmel. Mir geht es so, dass ich mittlerweile immer mehr Schwierigkeiten damit habe, Fleisch von Tieren zu essen, die ich nicht kenne. Das hat sich bei mir völlig umgedreht. Das Fleisch, das wir luxuriöserweise selber herstellen und zu einem kleinen Teil auch selber essen, zu dem weiß ich die Geschichte. Ich habe also ein Gefühl dazu, ich esse ein Stück dieser Geschichte mit. Wenn ich im Restaurant Fleisch esse, dann muss ich mich schon sehr disziplinieren, um mir nicht vorzustellen, wie dieses Tier möglicherweise gelebt hat und zu Tode kam.
Haben Sie das Gefühl, dass sich bei den Verbrauchern da etwas verändert, sich das Einkaufsverhalten verändert, die Menschen bewusster Bio kaufen?
Dieter Moor: Total! Vor Kurzem war in der FAZ eine Untersuchung, die eine der Industrie nahestehende Stiftung durchgeführt hat. Und die Frage an „das Volk" - es wurden rund 12.000 Menschen hier in Deutschland befragt: „Wie kann man das Problem des Welthungers lösen?" Und zum Ärger der Industrie sagt das deutsche Volk, das sehr viel klüger ist, als man allgemein annimmt: „Wir brauchen politische Veränderungen. Wir brauchen andere Zölle, einen faireren Welthandel, Fairtrade, keine Felder für Energiegewinnung. Ökolandwirtschaft, die auch noch in 200 Jahren noch Erträge bringt und nicht das Land in zehn Jahren ruiniert hat ..." Die Menschen wissen genau, dass es um etwas Langfristiges geht und um ein Miteinander mit der Natur und den Menschen geht und nicht um Ausbeutung. Es geht nur mit Biomethoden und nicht mit den industriellen Methoden - sonst können wir die Welt vielleicht noch 50 Jahre ernähren - aber dann ist Ende des Lateins. Und genau das wissen die Leute - und es war wirklich toll, das auch zu lesen.
Der Artikel war übrigens negativ geschrieben, also in der Art „das dumme Volk, das keine Ahnung hat" - aber es ist natürlich das kluge Volk, das mehr Ahnung hat, als der Industrie lieb ist. Also: es hat sich viel verändert.
Die brandenburgische Landschaft ist wunderschön, doch über das Land kursieren ziemlich verdrießliche Klischees. Ob „überall Neonazis" oder „Landstrich der Verlierer" - was ist wirklich los in Brandenburg und warum haben Sie Ihr Herz an die Region verloren?
Dieter Moor: Bevor wir herzogen, hörten wir auch von diesem Image, die viele Arbeitslosigkeit und dass „der Ossi" an sich dazu neigt, nach Papa Staat zu rufen und selber keine Initiative hätte. Und dann kamen wir hierher und haben das Gegenteil festgestellt, alleine wie sich unser Dorf verändert hat in den letzten zehn Jahren, ist unglaublich. Mittlerweile schäme ich mich fast für unsere „kranke hundekackfarbene" Fassade, weil um uns herum die Häuser so verschönert worden sind. Wir haben z. B. im Freundeskreis Menschen, die vor 10 Jahren noch Hartz-IV-Empfänger waren und jetzt kleine Unternehmen gegründet haben und Arbeitgeber geworden sind. Es gibt unglaublich viel Eigenverantwortung und Initiative und vor allem diese preußisch-pragmatische Einstellung „Es ist wie es ist und wir müssen jetzt das Beste daraus machen" - die ist hier voll da. Ich kann also die Klischees über die Opferrolle und das Schreien nach dem Staat überhaupt nicht bestätigen und dieses falsche Klischee hat mich auch sehr geärgert. Und wunderbarerweise fiel mein Ärger auf fruchtbaren Boden und der Rowohlt Verlag hat mich gebeten, das doch aufzuschreiben.
Ihre herrlichen Figuren im Buch sind Kunstfiguren. Es gibt also keinen echten Krüpki?
Dieter Moor: Ja, die Figuren sind Kunstfiguren und sie haben sich mittlerweile wirklich verselbstständigt. Im ersten Buch kann man ansatzweise vielleicht noch vermuten, dass z. B. Krüpki eine halbwegs reale Figur ist. Gerade bei ihm gibt es drei Dorfbewohner, die denken, sie seien das. Da sich Krüpki nun im zweiten Buch weiterentwickelt hat, gibt es jetzt wahrscheinlich niemanden mehr, der glaubt, er sei es. Es sind Kunstfiguren, aber sie sind schon brandenburgisch inspiriert - deshalb freut mich auch dieses positive Feedback aus Brandenburg so.
Menschen an sich sind immer schräg, je genauer man sie beschreibt. Doch in „Lieber einmal mehr als mehrmals weniger" gibt es so viele „schräge" Figuren, dass es scheint, als ob man sich auf dem Land besser ausleben könnte. Haben dort auch nicht so ganz kompatible Naturen mehr Chancen?
Dieter Moor: Ja, man nimmt hier die Leute, wie sie sind. Auf dem Land oder in kleinen Strukturen braucht man eine wesentlich höhere Toleranzschwelle für das „Andersartigsein". In der Stadt - das hab ich ja in meinen 13 Jahren, in denen ich in Wien gelebt habe, selber erlebt - kann man sich sein soziales Umfeld praktisch wie im Supermarkt aussuchen. Man kann sich bedienen. Man kann theoretisch in der Stadt sagen, ich will jetzt nur noch mit gleichaltrigen Schauspielern zu tun haben und hat dann trotzdem einen großen Bekanntenkreis aus Schauspielern - oder alternativ Journalisten oder Galeristen. Auf dem Dorf geht das natürlich nicht. Da sind die da, die da sind - und mit denen muss man umgehen. Und der eine ist Lokführer und der andere ist Bauer und der Dritte ist Versicherungsmakler, und die haben verschiedene politische Ansichten und Rezepte, wie ein wertvolles Leben gelebt werden muss. Und natürlich sind die einem manchmal fremd und man denkt sich „das ist aber jetzt ganz anders, als ich das sehe" und trotzdem sind die da. Man muss offener sein und neugieriger sein für das Andere. Und genau deshalb wird das Andersartige hier als weniger gefährlich empfunden, hat darum auch Platz.
Der Hürlimann spielt in Ihrem neuen Buch „Lieber einmal mehr als mehrmals weniger" eine große Rolle. Für alle, die es nicht wissen sollten: Könnten Sie kurz erklären, was ein Hürlimann ist und natürlich, was das Besondere an so einem Hürlimann ist ...
Dieter Moor: Das Besondere an einem Hürlimann ist, dass ich schon als kleiner Bub davon träumte, so einen zu haben. Meine Tante hat ein Haus im Appenzeller Land und der Nachbarbauer hatte als junger Bauer einen Hürlimann gekauft. Und er gab deswegen ein Hoffest und ich sah diesen wunderschönen rotglänzenden, chromverzierten Traktor und war verzaubert. In der Schweiz gibt es einen Spruch; wenn etwas sehr gut läuft oder funktioniert, dann sagte man: Es läuft wie ein Hürlimann. Der Hürlimann ist außerordentlich zuverlässig und die Firma bekam deswegen tatsächlich Schwierigkeiten, weil ein Hürlimann eben ewig hält. Und als ich in Brandenburg lebte und ein Traktor her musste, da war für mich klar: Der muss es sein.
Ihre Frau Sonja Moor führt den Hof, Sie sind viel unterwegs. Was machen Sie in der Regel als Erstes, wenn Sie Zuhause ankommen?
Dieter Moor: Mein ideales Bestreben ist erstmal eine halbe Stund oder eine Stunde das Nichts. Einfach nur dazusitzen, mit meiner Frau plaudern und einen Kaffee trinken. Das ist wunderbar. Dann bin ich angekommen.
Sie schaffen es, Ihre privaten Geschichten so zu erzählen, dass man definitiv kein Dieter-und-Sonja-Moor-Fan sein muss, um Spaß an dem Buch zu haben. Wie bekommen Sie diese Balance in Ihre Texte, wie viel Textarbeit steckt dahinter?
Dieter Moor: Ich kann dafür nix. Ich kann nicht anders schreiben, als ich schreibe. Es ist Zufall, dass es funktioniert und es offenbar meine Leser freut. Es könnte aber auch genauso gut nicht funktionieren. Ich bin ja kein Profischreiber und halte mich auch nicht für einen Schriftsteller.
Ihre Nochlandsleute, die Schweizer, haben ja auf Ihre Ankündigung, Deutscher zu werden, ziemlich beleidigt reagiert ...
Dieter Moor: Wenn man was gegen die Schweizer sagt, ist man ein Nestbeschmutzer. Das ist ein normaler Reflex in der Schweiz, weil die Schweiz ist ja herrlich und darf nicht angegriffen werden. Aber mir macht das ja nix ...
Interview: Ulrike Bauer, Literaturtest
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Bibliographische Angaben
- Autor: Dieter Moor
- 2012, 4. Aufl., 288 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499627620
- ISBN-13: 9783499627620
- Erscheinungsdatum: 18.09.2012
Rezension zu „Lieber einmal mehr als mehrmals weniger “
Wortgewandt preist Dieter Moor eine verkannte Region. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Pressezitat
Wortgewandt preist Dieter Moor eine verkannte Region. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Kommentare zu "Lieber einmal mehr als mehrmals weniger"
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